ABATON
Die Verlockung des Bösen
Staffel 2, Folge 2
Christian Jeltsch
Olaf Kraemer
Für Josephine, Tristan und Vincent
Impressum
Staffel 2, Folge 2 von 7
Text © Christian Jeltsch und Olaf Kraemer, 2012
Deutsche Erstausgabe © mixtvision Verlag, München 2012
Überarbeitete E-Serial-Ausgabe © mixtvision Verlag, München 2015
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten.
www.mixtvision-verlag.de / www.abaton-trilogie.de
Coverkonzept und –gestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten / glcons.de
E-Book Herstellung: mixtvision Digital / www.mixtvision-digital.de
978-3-95854-991-3 (Epub)
978-3-95854-990-6 (mobi)
Als Thorben am Nachmittag aus der Schule heimkam und die Wohnungstür aufschloss, hatten sich die Körper von Edda, Linus und Simon auf dem breiten Hochbett gefunden und aneinandergeschmiegt, sodass ihnen trotz der zu kleinen Decke warm geworden war. Sie schliefen tief und fest.
Thorben stand im Flur, horchte. Er hörte keine Geräusche, stellte seine Schultasche ab und ging durch die Küche, wo immer noch die Frühstückssachen standen, in sein Zimmer. Leise stieg er die Holztreppe zum Hochbett hinauf und lugte hinein. Edda hatte einen Arm um Simon gelegt und ihr Bein lag auf Linus. Eifersucht. Dann aber sah er etwas, was ihn sofort ablenkte: Die Jungs trugen seine Unterhosen! Und Edda hatte sich in seinen Kinderbademantel gekuschelt. Thorben lächelte. Wie hübsch sie darin aussah. Plötzlich konnte er sich gut vorstellen, wie ihre gemeinsamen Töchter aussehen würden.
Da drehte sich der Schlüssel in der Wohnungstür. Thorben erschrak. Seine Mutter war zurück! Weit vor ihrer Zeit. Hatte er sich mit ihrem Zeitplan geirrt? Wie ein Kugelblitz wirbelte er von der Leiter, lehnte die Tür an und flitzte geräuschlos zurück in die Küche, wo er hastig begann, das Geschirr zusammenzuräumen und in die Spüle zu häufen, während er Wasser einließ und Spülmittel darüberspritzte. In der Zeit, in der seine Mutter ihren Mantel aufgehängt und die Toilette benutzt hatte, war es ihm gelungen, die gröbsten Spuren seiner Freunde zu beseitigen. Mit der Handtasche unter ihrem Arm trat Thorbens Mutter in die Küche.
„Was war hier denn los? Ist hier eine Bombe explodiert?“
Skeptisch starrte sie auf das randvoll schäumende Waschbecken, von dem kleine Seifenblasen in die Höhe stiegen.
„Hallo, Mutti!“, strahlte Thorben mit freundlichem Gesicht. „Die letzten Stunden sind ausgefallen. Ich hab mir was zu essen gemacht.“ Breiter noch als sein Lächeln stellte er sich in Positur, um möglichst viel Chaos zu verdecken. Aber er wusste, er hatte keine Chance.
Mit einem Schwenk ihrer Augen scannte seine Mutter die Küche wie ein Haushaltsterminator, dem keine Veränderung, kein noch so kleines Detail entging. Schließlich blieb ihr Blick an Thorbens Kleidung hängen. Verdammt! Er hatte vergessen, die Kleidung zu wechseln. Im Schrank auf dem Flur lauerte sein Thorben-Kostüm wie eine Ganzkörper-Narrenkappe, die er in ihrer Gegenwart trug. Aus! Vorbei! Das nun war das Ende von Thorboy! Die Reaktion seiner Mutter ließ nicht lange auf sich warten, und obwohl Thorben froh war, dass sie nicht auf seine schlafenden Freunde im Zimmer nebenan gestoßen war, machte ihm die Entdeckung seiner vom Essensgeld abgesparten, mühsam in der Wohnung verborgenen und einsam gewaschenen Outfits Angst. Seine gesamte neue Identität, die er sich nach dem Camp aufgebaut hatte, drohte zu zerbröseln – wie trockenes Laub in einer geballten Faust. Er stellte erst einmal die Ohren auf Durchzug.
„Was hast du denn an? Du siehst aus wie aus den Bohnen gezogen! Wie ein Straßenköter.“
Sie rupfte an der Kleidung. Gute Miene, dachte Thorben. Gute Miene. Ein Mantra, das ihm schon in vielen Situationen geholfen hatte, die Fassung zu wahren, immer dann, wenn er eigentlich lieber mit einer großen Kreissäge für eine neue Ordnung der Dinge gesorgt hätte.
„Weiß ich doch, Mama“, schleimte er. „Glaubst du, ich würde freiwillig so rumlaufen? Einer in der Schule hat mich nass gespritzt und ich hab mir die Sachen aus der Schlamperlkiste geliehen.“
Innerlich freute er sich über den gelungenen Haken, den er da geschlagen hatte. In die Schlamperlkiste würde sie ihm nicht folgen können.
„Wer weiß, wer das angehabt hat. Vielleicht hat er Läuse! Wer hat dich nass gespritzt?“
„Einer aus der Oberstufe“, sagte Thorben. So beiläufig wie möglich.
Mit einem tiefen Seufzer, der bis in die Fundamente ihrer Beziehung zu Thorben reichte, ließ seine Mutter sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und legte den Kopf in die Hände. Gerade als wäre Thorbens schamloses Treiben eine zu schwere Last, eine, die das kleine, bunte Boot ihres Lebens nun jeden Augenblick zum Kentern bringen würde. Sie rollte kurz mit den Augen, schob die Unterlippe vor und schaute Thorben eindringlich an. Wie ein trauriger Karpfen, dachte er. Diese Gesichtskirmes! Wozu um alles in der Welt?
„Thorben, du musst lernen, dich durchzusetzen! Sonst wirst du ein Schwächling – genau wie dein Vater!“
Wie er es hasste, wenn sie so über seinen Vater sprach.
„War doch bloß Wasser.“
Kopfschüttelnd und mit vorwurfsvoller Miene starrte die Mutter ihren Sohn an, trieb ihn in die Ecke.
„Du hättest dich erkälten können, hättest die Schule verpasst. Und bist gezwungen, herumzulaufen wie ein Verbrecher. Sonst was kann dir in diesen Lumpen passieren! Wer weiß, welchem Tunichtgut sie gehören. Zieh sofort die Sachen aus! Gleich morgen gibst du sie zurück!“
Thorben dachte an Edda und die beiden Jungs, die in seinem Zimmer schliefen, und hoffte, dass sie durch das Gezeter nicht aufwachen und alles vermasseln würden. Und ganz sicher würde er jetzt nicht in sein eiterpickel-meliertes Thorbenkostüm schlüpfen, um alles zu ruinieren, was er sich mit Edda gerade aufgebaut hatte. Nein, dachte Thorboy, es war Zeit, sich von der Herrschaft seiner Mutter zu befreien und die schweren Ketten seines finsteren Daseins abzuwerfen, die Flügel zu spreizen und in den Himmel zu fliegen. Kettensäge oder nicht.
„Wieso hast du denn nicht die Schale vom Frühstück benutzt? Das ist doch wirklich nicht nötig, all das Geschirr dreckig zu machen!“
Sie trat neben Thorben und starrte in das Waschbecken, in dem Thorben sich bemühte, die Schüsseln und Teller unter einem Haufen Schaum verschwinden zu lassen. Gleichzeitig hob sie die Schachtel mit den Cornflakes vom Tisch und merkte, dass sie leer war. Ebenso die Packung Milch. Und Kakao war auch noch auf dem Tisch verstreut. Mit der Hand begann sie, ihn in die Packung zurückzustreichen.
„Sag mal, wie viel frisst du denn wieder in dich hinein?“
Thorben sagte nichts. Fliegen würde er, über den Wolken und neben ihm Edda. In jeder Hand eine Kettensäge. Ja, eine neue Ordnung musste her!
„Thorben!“
„Was?“
Wütend drehte er sich um, starrte in ihre Augen. Gute Miene. Gute Miene. Mute Giene. Gune Miete ...
„Hattest du Besuch? Waren fremde Leute hier in der Wohnung, während ich weg war? Bürschchen, so viel sag ich dir, wenn ich dahinterkomme, dass du hier ein doppeltes Spielchen treibst wie dein nichtsnutziger Vater ...“
Thorben drehte sich zu ihr.„Nein! Es waren keine 'fremden Leute' hier, während du weg warst!“
Sie starrten sich in die Augen und Thorbens Mutter trat immer näher, um zu überprüfen, ob seine Pupillen sich durch Lügen erweiterten. Er blickte sie fest an. Er log nicht! Erstens waren Edda und die beiden Jungs nicht fremd und zweitens waren sie noch da! Oh ja, dachte er bitter, sie hatte ihn gelehrt, sich in der weiten Welt der Halbwahrheiten einzurichten, um sich nicht permanent schuldig fühlen zu müssen, dafür, dass er ein Leben leben wollte, das nicht mit den Vorstellungen seiner Mutter übereinstimmte! Sein Leben! In dieser kleinen, mit Unfarben ausgelegten und Diddl-Mäusen beklebten Welt, in der er und seine Mutter sich jeden Tag begegneten wie in einem grausamen Menschenexperiment, das sich ein wahnsinniger Forscher ausgedacht haben musste und das kurz vor dem Zusammenbruch stand. Nein! Nicht vor einem Zusammenbruch. Vor einer Implosion von atomarer Qualität!