SIEGFRIED KOHLHAMMER
Islam und Toleranz
Von angenehmen Märchen
und unangenehmen Tatsachen
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Siegfried Kohlhammer,
Jahrgang 1944, studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik. Er lebt in Berlin und in Tokio und arbeitet als Autor und Übersetzer. Seine Beiträge erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift »Merkur«. In den vergangenen Jahrzehnten hat er sich immer wieder mit dem Islam in der Geschichte und der Situation der muslimischen Migranten hierzulande auseinandergesetzt. Als Buch veröffentlichte er zuletzt »Die Freunde und die Feinde des Islam«
(Göttingen 1998).
Cover
Titel
Zum Autor
Anstelle eines Vorworts
Ich bin ein selbsternannter Islamkritiker!
Oder: »Legitimiern S’Ihna!«
Der Haß auf die eigene Gesellschaft
Vom Verrat der Intellektuellen
Populistisch, antiwissenschaftlich, erfolgreich
Edward Saids »Orientalismus«
»Ein angenehmes Märchen«
Die Wiederentdeckung und Neugestaltung des muslimischen Spanien
Islam und Toleranz
Duldung, Ausbeutung, Demütigung
Kulturelle Grundlagen
wirtschaftlichen Erfolgs
Das Ende Europas?
Ansichten zur Integration der Muslime
Impressum
Fußnoten
Ich bin ein selbsternannter Islamkritiker!
Oder: »Legitimiern S’Ihna!«
KRITIKER des Islam, des kulturellen Systems des Islam oder auch nur einzelner Aspekte davon, können sicher sein, früher oder später »selbsternannte Islamkritiker« genannt zu werden, und das nicht nur von Muslimen, islamischen Gelehrten oder Geistlichen, von muslimischen oder nichtmuslimischen Islamforschern, sondern auch von säkularen Laien, vor allem im Feuilleton seriöser deutscher Zeitungen – von selbsternannten Islamkritiker-Kritikern sozusagen. Googelt man die Wortkombination, erhält man mehr als 20.000 Treffer, versucht man dasselbe mit »selbsternannte Atomkraftkritiker« erzielt man ein paar Dutzend Treffer, von denen keiner diese Wortkombination wörtlich enthält. Noch seltener sind »selbsternannte Faschismuskritiker« oder »selbsternannte Kommunismuskritiker«; die »selbsternannten Kapitalismuskritiker« bringen zwar fast 4.000 Treffer, aber nur einer davon gibt die Wortkombination wörtlich wieder. »Selbsternannte Stuttgart-21-Kritiker« gibt es nicht einen, auch wenn das Stichwort massenhaft Treffer erzielt. Islamkritiker scheinen auffällig oft zur Selbsternennung zu neigen. (Dagegen gibt es zwar zahlreiche »Religionskritiker«, aber keine »selbsternannten« – das versteh, wer will. Nimmt man dieses Ergebnis als Indiz ernst, dürfte es zwar unautorisierte Religionskritik geben, nicht aber die einer bestimmten Religion, des Islam.)
»Selbsternannt« ist keine neutrale Bezeichnung, noch weniger ein Lob: Es ist deutlich negativ, bezeichnet einen illegitimen Anspruch. »Das Attribut selbsternannt ist kein Kompliment an den Selfmademan. Es ist ein Schimpfwort, und zwar eins der tückischen, durch nichts widerlegbaren, gegen die der Beschimpfte wehrlos ist. Was es ihm an den Kopf wirft, ist eine Art Amtsanmaßung: daß er sich als etwas ausgibt, wozu er nur von anderen gemacht werden könnte«, schreibt Dieter E. Zimmer in der ZEIT (Zeitspiegel) vom 23. September 1999. Generell soll damit eine nicht erwünschte Meinung, vor allem eine Kritik delegitimiert werden: »Selbsternannter Kritiker« bringt es auf über 90.000 Treffer bei Google, wobei jede Art mißliebiger Kritik so bezeichnet werden kann – betreffe sie Filme oder Popmusik, die Politik sowieso, selbst ein »selbsternannter Klitschko-Kritiker« findet sich so gegeißelt. (Die »selbsternannten Experten« bringen es auf über 70.000.) Anders als Zimmer meine ich aber, daß dieses »Schimpfwort« durchaus widerlegbar ist (soweit es einen faktischen Kern impliziert) und man sich sehr wohl dagegen wehren kann.
Was die Wirkungskraft dieses Schimpfworts ausmacht, ist die Tatsache, daß es einen Bereich gibt, in dem es sinnvoll angewendet werden könnte: wo bestimmte Tätigkeiten oder sprachliche Äußerungen (wie etwa ein Gerichtsurteil oder eine ärztliche Diagnose, aber auch Kritik, Peer-Review zum Beispiel) tatsächlich Expertenwissen und -fähigkeiten, und zwar von zuständigen Institutionen anerkannte, voraussetzen. Das reicht vom Klempner und Dachdecker bis zum Richter oder Chirurgen. Wir ließen uns ungern von einem, dem die entsprechenden Voraussetzungen fehlen, den Blinddarm operieren oder über den Atlantik fliegen (oder auch nur eine Heizung installieren), weil wir davon ausgehen, daß das Vorhandensein derartiger anerkannter Befähigungen eine hohe Wahrscheinlichkeit des Gelingens bedeutet, deren Fehlen dagegen ein hohes Risiko. Das Vortäuschen einer derartigen offiziell oder institutionell anerkannten Befähigung wird aber in der Regel nicht mit dem Wort »selbsternannt« bemängelt, sondern eben als Täuschungsmanöver, als »Hochstapelei«. So bestraft der § 132 a des Strafgesetzbuches den Mißbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen. »Geschütztes Rechtsgut«, schreibt Wikipedia dazu, »ist der Schutz der Allgemeinheit vor dem Auftreten von Personen, die sich durch unbefugten, d. h. nicht ›verdienten‹ Gebrauch von Bezeichnungen den Schein besonderer Funktionen, Fähigkeiten und Vertrauenswürdigkeit geben.« Eben das insinuiert – heimtückisch, wie Zimmer richtig bemerkt – die Formulierung »selbsternannter Islamkritiker«, die den Vorteil hat, die juristische Terminologie zu vermeiden, die allzu offensichtlich auf den Fall von Islamkritik nicht zutrifft. Kritische Äußerungen über den Islam, so wird dabei stilschweigend unterstellt, bedürfen einer amtlich oder anderweitig anerkannten Befähigung (eines abgeschlossenen einschlägigen Fachstudiums zum Beispiel) und einer Approbation durch zuständige Autoritäten; wer darüber nicht verfügt, soll von Islamkritik Abstand nehmen, wie einer, der nicht Medizin studiert hat, auf die Behandlung von Patienten verzichten muß.
»Haben Sie überhaupt Abitur?« fragte Franz Josef Strauß einst einen, der ihm mit kritischen Fragen zusetzte.1 »Selbsternannter Islamkritiker« läßt den gleichen autoritätsgläubigen Geist erkennen. Es wird fälschlich unterstellt, daß es in unserer Gesellschaft besonderer oder gar offizieller Berechtigungsnachweise bedarf, um Kritik üben zu dürfen. Richtig ist vielmehr, daß in einer freien Gesellschaft jeder jeden und alles kritisieren kann – und zwar auch dann, wenn er Schulabbrecher ist und von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Das ist bitter für die Leute mit Abitur oder einem abgeschlossenen Hochschulstudium, aber so ist es. Historisch war es eines der Hauptargumente der Gegner der Demokratie, daß die ignorante Masse, der illiterate Pöbel, der von Policey- und Cameralwissenschaft, Diplomatie und Völkerrecht nicht nur keine Ahnung hatte, sondern nicht einmal von deren Existenz wußte, mitreden und die Geschicke des Gemeinwesens mitbestimmen sollte: »Vox populi – vox Rindvieh«, um noch einmal den wortgewaltigen F. J. Strauß zu zitieren. Und es ist ja auch nicht so, daß es an Beispielen dafür fehlte. Nur fehlt es eben auch nicht an entsprechenden Beispielen auf der Seite der Studierten und der Experten.2 Insgesamt hat sich das Prinzip der freien Meinungsäußerung, und das kann, wie gesagt, auch »frei von jeglichen Kenntnissen« bedeuten, bewährt. Wer sich ahnungslos öffentlich zur Quantenphysik, Steuerreform oder Mediävistik äußert, riskiert, daß ihm niemand zuhört, und wenn ihm jemand zuhört, daß er sich lächerlich macht: Das sind schon zwei ziemlich starke – und offenbar ziemlich erfolgreiche – Verhinderungs- und Blockierungsmechanismen. »Selbsternannte« Kritiker abzulehnen, ist Ausdruck einer vormodernen, antiliberalen und undemokratischen Geisteshaltung, und insofern verwundert es nicht, sie bei den Verteidigern des Islam anzutreffen.
Um eine unzutreffende Islamkritik zu kritisieren und zu delegitimieren, genügt eben die Bezeichnung »selbsternannt« nicht, es bedarf der Kritik, die Mängel und Unwissenheit nachweist. Das ist ein wenig zeitaufwendiger, aber so funktioniert das in einer freien Gesellschaft. Und es funktioniert insgesamt gut, trägt zur Erweiterung des Wissens und der Vermeidung von Irrtümern bei. John Stuart Mill hat die klassische liberale Begründung dafür vorgelegt: »… das besondere Übel der Unterdrückung einer Meinungsäußerung liegt darin, daß es am menschlichen Geschlecht als solchem Raub begeht. … Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum gegen Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhaftesten Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.« Und an anderer Stelle heißt es: »Unsere gesichertsten Überzeugungen haben keine verläßlichere Schutzwache als eine ständige Einladung an die ganze Welt, sie als unbegründet zu erweisen.« Nun würden die Kritiker der »selbsternannten Islamkritiker« es gewiß entrüstet von sich weisen, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung antasten zu wollen, aber eben darauf zielt die Formulierung »selbsternannte Islamkritiker« ab – deren Meinungsäußerungen sollen vom freien Meinungsaustausch als illegitim ausgeschlossen werden. Es geht um die argumentationsfreie Delegitimierung einer Kritik, und das ist vormodern und vorliberal: dogmatisch eben. Und es steckt immer noch der Denunziant, seine Geisteshaltung, dahinter: Herr Wachtmeister, hier wird selbsternannt Kritik geübt!
Die Kritiker des Islam ohne die Mühen des Arguments zu denunzieren und zu verunglimpfen hatten bereits die Formel vom »Feindbild Islam« und der Vorwurf der »Islamophobie« leisten sollen mit ihrer Pathologisierung der Islamkritik.3 Dazu ist seit einiger Zeit noch der Vorwurf des »Aufklärungsfundamentalismus« getreten, eine Art Retourkutsche: selber Fundi! Es fällt schwer, einen anderen Gegenstand zu finden, zu dessen Verteidigung – und zur Verunglimpfung von dessen Kritikern – ein derartiger Aufwand betrieben wird. Warum? Der häufige Vergleich von Islamkritik mit Antisemitismus könnte einen der Gründe andeuten: Man will an den Muslimen gutmachen, was einst an den Juden verbrochen wurde. Was damals, als es riskant und gefährlich war, unterlassen wurde, die Verteidigung einer verfolgten Minderheit, wird nun an einem ganz anderen Exempel gefahrlos, ja moralisch gewinnträchtig, exerziert. Aber der Islamkritik, soweit sie diesen Namen verdient, geht es nicht um eine Verfolgung der Muslime, es geht ihr um die gesellschaftlichen und politischen, das heißt um die öffentlichen, nichtprivaten, Implikationen einer Religion, wie sie heute von der Mehrheit der Muslime verstanden und gelebt wird. Es geht um die Kritik eines bestimmten Gesellschaftsbildes und Politikverständnisses, das uns alle betrifft, nicht nur die Muslime, es geht nicht um die Verfolgung von Muslimen, zumal ohnehin niemand von vornherein wissen kann, wie ein Muslim, eine Muslimin im individuellen Einzelfall seine/ihre Religion deutet und lebt. Der Islamkritik liegt in der Regel ein Interesse an historischer Wahrheit, an Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zugrunde, und das darf sich immer und überall und auch selbsternannt äußern.
Mich erinnert die Formel »selbsternannte Islamkritiker« an eine Szene in Karl Kraus’ »Die letzten Tage der Menschheit«, die 13. Szene: Elektrische Bahn Baden – Wien, in der ein »Schwerbetrunkener« seine Mitmenschen belästigt und grölend einen anderen Fahrgast, mit dem er in Konflikt geraten ist, auffordert, sich zu »legitimieren«: »A so a Binkel – wüll sich da aufbrausnen – wos hom denn Sö fürs Votterland geleisteet? Legitimiern S’Ihna! … Sö Binkel – i leist wos – legitimiern S’Ihna … legitimiern soll er sich – der Binkel – vur mir soll er sich legitimiern – hot nix geleisteet« usw. bis er schließlich »nur noch lallend« sein »Der Binkel – fürs Votterland – legitimiern –« von sich gibt. Die Kritiker der »selbsternannten Islamkritiker« mögen stocknüchtern sein, gehaltvoller und überzeugender ist ihre Monierung mangelnder Legitimation deshalb nicht.
Vom Verrat der Intellektuellen
KEINE andere Kultur, kein anderes gesellschaftliches System hat die Intellektuellen so gefördert und geschützt wie die westliche Moderne. Abgesehen von den notwendigen Voraussetzungen – Stadt und Arbeitsteilung –, stellte der entwickelte Kapitalismus den Intellektuellen ein zahlungskräftiges Massenpublikum zur Verfügung, das einerseits hohe Auflagen ermöglichte und andererseits auch für Nischenprodukte Absatzmöglichkeiten bot. Die unpersönliche Anonymität des Marktes und die Kommerzialisierung seiner Werke befreiten den Intellektuellen von der persönlichen Abhängigkeit von Fürst und Mäzen.
Der Schutz des Eigentums galt auch für das geistige Eigentum (Urheberrecht), die Freiheit der Meinungsäußerung und der Kunst, generell die gesetzlich festgeschriebene und praktizierte Toleranz schützten den Intellektuellen vor den Opfern seiner Kritik und seinen traditionellen Verfolgern, der Kirche und dem Staat (daß Intellektuelle »kritisch« sind, gehört mittlerweile zum Berufsbild wie die weiße Mütze zum Koch – das war früher nicht so, da waren sie eher zum Loben und Preisen ihrer Herren im Himmel wie auf Erden da). »Einen Voltaire verhaftet man nicht!« erklärte de Gaulle im Hinblick auf Sartres politische Umtriebe – 200 Jahre früher hatte man einen Voltaire noch ungestraft von seinen Lakaien verprügeln lassen können. Zwar findet sich auch weiterhin die Pose des mutigen Herausforderers der Mächtigen, der Risiken eingeht etc. pp., aber das gehört zur Folklore. Bereits 1954 schrieb Raymond Aron: »Kritik ist schon seit langem kein Mutbeweis mehr, wenigstens nicht in unseren freien westlichen Gesellschaften.« Hinzu kam eine wachsende gesellschaftliche Anerkennung und Einflußnahme der Intellektuellen, parallel zu der des Künstlers.
Nie zuvor also und nirgendwo anders waren die Intellektuellen materiell so abgesichert und vor Verfolgungen geschützt, so frei und anerkannt (und so zahlreich) wie im Westen. Und doch vertrat ein erheblicher Teil von ihnen, über längere Zeiträume auch eine Mehrheit, ein feindseliges Verhältnis zur westlichen Moderne, eine Art Fundamentalopposition ihr gegenüber, von rechts wie von links. Diese Opposition konnte auch den Momenten des Westens gelten, die Voraussetzungen ihrer gesicherten Existenz waren: der Stadt, der Arbeitsteilung, der kapitalistischen Marktwirtschaft mit ihrem Profitstreben, der Kommerzialisierung, dem Eigentum, dem Recht (»bürgerlich«, »Klassenjustiz«), dem Individualismus, selbst noch der Toleranz (»repressive Toleranz«).
In einem Interview des »Tagesspiegel«. (4. Februar 2007) kommt das genannte Paradoxon deutlich zum Ausdruck. Noam Chomsky erklärt zunächst, daß »dissidente Intellektuelle« wie er »schon immer ein extrem marginales Phänomen in allen Gesellschaften waren. Wer trank den Schierlingsbecher? Sokrates … Der normale Intellektuelle ist einer, der den Mächtigen schmeichelt.« Man fragt sich, in welcher Welt und Zeit Chomsky lebt, der international geachtete Professor an einer der besten Universitäten der Welt, Autor zahlreicher Bücher mit hohen Auflagen, Star der Vortragssäle: »Ach, seit ich denken kann, bricht eine Flut von Verachtung und Verleumdung über mich herein.« Erzbischof Romero habe in San Salvador das Schicksal eines dissidenten Intellektuellen erlitten: »Ihm wurde am Altar das Hirn rausgeschossen.« Auf den naheliegenden Hinweis der Interviewer, daß ihm, dem dissidenten Intellektuellen, das nicht zugestoßen sei, reagiert Chomsky wahrheitsgemäß mit: »Nein, man hat mir nie das Hirn rausgeschossen. Im Westen genießen wir große Freiheiten, Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes.« Im Westen nähmen nur in der Türkei die Intellektuellen »wirkliche Risiken auf sich«. Als Chomsky berichtet, wie sehr sich in den letzten 40 Jahren an seiner Universität die Situation der Frauen und Minderheiten verbessert habe, kommentieren die Interviewer: »Das System an sich ist gut, wenn es solche Fortschritte zuläßt.« Darauf Chomsky, der sich zuvor unwidersprochen als »Gegner des kapitalistischen Systems« charakterisieren ließ: »Ja, das System ist sehr gut dank Jahrhunderten des Kampfes … Meinungsfreiheit gibt es hier länger als irgendwo«.
Das System ist also »sehr gut«, man genießt »große Freiheiten«, es herrscht Meinungsfreiheit, und dennoch treibt eine tiefsitzende Malaise den Intellektuellen in die Dissidenz, läßt ihn als heroischen Verfolgten posieren (»Schierlingsbecher« – vielleicht war da doch etwas mit dem Hirn?).4
Zugleich verband sich nach der Entstehung der totalitären Regime im 20. Jahrhundert diese Fundamentalopposition gegen die eigene westliche Gesellschaft mit einer Verteidigung oder entschiedenen Parteinahme für deren erklärte Feinde, im eigenen Land wie im Ausland – für Gesellschaften, in denen den Intellektuellen entscheidende Existenzbedingungen verwehrt waren (auch wenn sie im Fall der Regimetreue mit materieller Sicherung und Anerkennung rechnen konnten). »Obwohl sie in ihren eigenen Gesellschaften der Regierung feindselig gesinnt waren, verhielten sich viele Intellektuelle sehr ehrerbietig gegenüber absolutistischen, repressiven und brutalen Regierungen in anderen Ländern oder gegenüber politischen Parteien und Bewegungen, die solchen absolutistischen Gesellschaften unterwürfigst ergeben sind«, schreibt der amerikanische Soziologe Edward Shils in seinem Essay »Intellectuals and Responsibility«.5 »Die Unterstützung der Tyrannei außerhalb der eigenen Gesellschaft und in einem derartigen Umfang ist wahrscheinlich ohne Beispiel in der Geschichte der politischen Beziehungen von Intellektuellen.« Er konstatiert eine »umfassende Xenophilie … unter westlichen Intellektuellen« sowie eine »mißtrauische, feindselige Haltung gegenüber der … eigenen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung.« Das ist in Formeln des (Selbst-)Lobs wie Sand im Getriebe, Stachel im Fleisch, unbequem usw. längst zu einem ermüdenden Konformismus geworden. Schon 1957 hatte Albert Camus festgestellt: »der Ort der Konformität ist heute die Linke.«
Mark Lilla hat den Typus des »tyrannophilen Intellektuellen« untersucht, bei dem es sich um ein »allgemeines Phänomen, nicht um isolierte Einzelfälle extravaganten Verhaltens« handle. »Wer sich daran macht, eine ungeschönte Geschichte der Intellektuellen Europas im 20. Jahrhundert zu schreiben, braucht einen starken Magen«, warnt Lilla. »Das gesamte Jahrhundert lang wurde die freiheitliche Demokratie des Westens als die eigentliche Heimstätte der Tyrannei verteufelt – der Tyrannei des Kapitals, des Imperialismus, der bürgerlichen Konformität, der ›Metaphysik‹, der ›Macht‹, selbst der ›Sprache‹.«6 Umgekehrt gab es, wie gesagt, zahllose westliche Intellektuelle, die das Lob der totalitären Gesellschaften sangen und ihre Pilgerreisen in die Neuen Jerusalems antraten7 – als führe die Abwendung von der eigenen Gesellschaft zu einem Vakuum, das nun gefüllt werden müßte.
Angefangen hat das wohl in Humanismus und Renaissance, als es genug Leute gab, die sich vom traditionellen, vom christlichen Glauben zusammengehaltenen Weltbild des Mittelalters zu entfernen und mit Hilfe der antiken Philosophie selbständig zu denken begannen. Während das traditionelle Bild die Gesellschaft als notwendig und unkorrigierbar sündige und unvollkommene sah und Hoffnung auf ein Jenseits gesetzt wurde, wird nun an die diesseitige Realität die Forderung nach Vernünftigkeit und Vervollkommnung gestellt, oder, um es mit Hollander zu sagen: Der Glaube an einen diesseitigen Himmel nahm in dem Maße zu, wie der Glaube an den jenseitigen schwand. Die Säkularisierung kompensierte das von ihr bewirkte Schwinden der Religion zwar nicht mit einer neuen Religion, aber mit einem Religionsersatz: Utopien der vollkommenen Gesellschaft (eine andere – bessere – Welt ist möglich) oder deren Projektion auf fremde Gesellschaften (eine bessere Welt gibt es schon, aber woanders). Letzteres findet sich bereits 1530 im »De Orbo Novo« von Peter Martyr von Anghiera, der der Habsucht, Intoleranz und Grausamkeit der Konquistadoren die glückliche Lebensweise der brasilianischen Indianer gegenüberstellte, »die kein Geld kennen, keine Gesetze, keine tückischen Richter, trügerischen Bücher noch die Sorgen einer ungewissen Zukunft«. Was gemeinhin als zivilisatorischer Gewinn gilt, wird hier verworfen, seine Absenz als Gewinn an Glück dargestellt.
Montaigne entwickelt dann in seinem Essay »Von den Menschenfressern« die wesentlichen Momente dieser Projektion, vom Edlen Wilden bis zum Tiersmondismus. Er leitet die Argumentation verbindlich mit dem unschwer zu akzeptierenden Satz ein, daß man Barbarei nicht schon das nennen könne, was nicht unserer Gewohnheit entspricht, geht aber dann sogleich zu der harten kulturrelativistischen These über, daß wir »in der Tat keinen Prüfstein der Wahrheit und der Vernunft haben als das Beispiel und Vorbild der Meinungen und Bräuche des Landes, in dem wir leben«. Im folgenden werden dann »Mutter Natur« und das, was die Natur von selbst schafft, unseren verfälschenden Eingriffen in die Natur gegenübergestellt, das heißt unseren Kunstfertigkeiten und Erfindungen, die die Natur ersticken.
Diese Opposition von positiver Natur und negativer Künstlichkeit wird nun auf die Völker der Menschenfresser und die Europäer übertragen. Erstere sind »ihrer ursprünglichen Unbefangenheit noch sehr nahe. Sie folgen noch den natürlichen Gesetzen, noch kaum durch die unsern verderbt … Was wir von diesen Völkern wissen, übertrifft nicht nur die alten Schilderungen des Goldenen Zeitalters und alle Erfindungen, um einen glücklichen Zustand der Menschheit auszumalen, sondern selbst den Begriff und das Wunschbild der Philosophie.« Diesen »glücklichen Zustand« macht aus, daß »es keinerlei Art von Handelsgeschäften gibt; keine Kenntnis der Schrift; keine Zähl- und Rechenkunst; keine Begriffe für Würdenträger oder staatliche Obrigkeit; keinen Zustand der Dienstbarkeit, des Reichtums oder der Armut; keine Verträge; keine Erbfolgen; keine Güterteilungen; keine anderen Beschäftigungen als Zeitvertreib«: kurzum, eine Form von »Vollkommenheit«.
All das wird man in den Utopien von Morus bis ins 19. Jahrhundert wiederfinden. Neben dem Rousseauismus und der Gestalt des Edlen Wilden hat Montaigne auch das apologetische Manöver der Äquidistanz entdeckt: »Ich bin nicht ungehalten darüber, daß wir die barbarischen Greuel … brandmarken, wohl aber sehr, daß wir, die wir so gut über ihre Fehler urteilen, für die unseren so blind sind.« Wenn wir jedoch ehrlich sind, werden wir uns eingestehen müssen, daß »wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen«. Und wie der Tiersmondismus hat Montaigne das Elend der Dritten Welt auf die Erste zurückgeführt: Eines Tages wird »die Kenntnis unserer Sittenzerrüttung ihrer Ruhe und ihrem Glück« teuer zu stehen kommen, aus diesem Verkehr mit uns wird »ihr Verderben entspringen«.
Was Morus über die 54 Städte seiner Utopia schreibt – »Wer eine von ihren Städten kennt, kennt alle!« –, gilt auch für die nach ihm verfaßten Utopien. Einig sind sich fast alle darin, daß Gütergemeinschaft beziehungsweise staatliches Eigentum die empfehlenswerte Form des Eigentums sei, daß das Privateigentum zu Privatinteressen und damit zur Selbstsucht führe und die angestrebte brüderliche Gemeinschaft zerstöre. »Die Gütergemeinschaft ist das Erlösungsmittel der Menschheit; sie schafft die Erde gleichsam zu einem Paradiese um«, erklärt Wilhelm Weitling 1838 in seinem völlig unironisch betitelten »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte«. Wie sie sein sollte, das zu entwerfen – bis ins letzte Detail oft, was dem Planungs- und Regulierungswahn dieser Utopien entsprach8 –, war Aufgabe von Intellektuellen: »Es ist eine heilige Pflicht, seinen Mitmenschen den Weg zu bezeichnen, der zum Ziele führt, und vor Irrwegen sie zu warnen.« Wie fast alle anderen Utopien sah auch die Weitlings im Geld die Quelle fast aller Übel; es abzuschaffen war nötig für die »allgemeine Vereinigung der ganzen Menschheit in einem großen Familienbunde«: die große Gemeinschaft. Morus schreibt, »daß es überall, wo es noch Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben«.
Die Abschaffung des Geldes in Utopia scheint der Abschaffung aller Probleme gleichzukommen: »Welche Last von Beschwerlichkeiten ist doch diesem Gemeinwesen abgenommen, welche Saat von Verbrechen mit Stumpf und Stiel ausgerottet, seit dort mit dem Gebrauch des Geldes zugleich jede Gier danach aus der Welt geschafft ist! Denn wer weiß denn nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub, Streit, Aufruhr, Zank, Empörung, Mord, Verrat und Giftmischerei durch die üblichen Strafen mehr nur geahndet als verhütet, mit der Abschaffung des Geldes zugleich abstürben und zudem Furcht, Kummer, Sorge, Mühsal und Schlaflosigkeit im selben Augenblick wie das Geld vergehen würden? Ja, die Armut selbst, die allein des Geldes zu bedürfen scheint, schwände sofort dahin, wenn man überall das Geld völlig abschaffte.« Intellektuelle! Man sollte öfter auf sie hören.
Nicht um Steigerung der Produktion geht es, um Luxus gar, sondern um einfache Lebensweise, Genügsamkeit. »Die echte Gemeinschaft«, heißt es bei Campanella, »aber mache alle zugleich reich und arm: reich, weil sie alles haben, arm, weil sie nichts besitzen; und dabei dienen sie nicht den Dingen, sondern die Dinge dienen ihnen.« Wie oft ist seitdem diese Kritik des Konsumismus vorgetragen worden! Ein derart sorgfältig geplantes und geregeltes Gemeinwesen mit Gemeineigentum, sprich Staatseigentum, erfordert entwickelte Planungsbehörden und Verteilungsapparate – eine weitreichende Bürokratie also und einen starken Staat (der als Zuteiler der Lebensmittel unvermeidlich Herr über Leben und Tod seiner Bürger wird).
Diese schriftlichen Utopieentwürfe, die meist von Intellektuellen der oberen und mittleren Schichten stammen, sind nicht explizit antichristlich oder antikirchlich noch häretisch. Diese säkularen Utopien ersetzen die Religion weitgehend durch ein alternatives Sinnangebot: die irdische Vervollkommnung des Menschengeschlechts (später auch »Fortschritt« oder »Weltgeschichte« genannt) und anstelle der Gemeinde oder Kirche der Gläubigen die »echte Gemeinschaft«. Durch und durch religiös, häretisch und antikirchlich waren dagegen die parallel zu den säkularen Utopien sich entwickelnden chiliastisch-messianischen Bewegungen der niederen Klassen und ihrer »Lumpenintelligentsia«. Norman Cohn, der diese Bewegungen in »Das Ringen um das Tausendjährige Reich« untersucht hat, gibt für sie fünf Unterscheidungsmerkmale an. Erstens: Die verkündete Erlösung ist eine kollektive