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Jens M. Gumpert

Leben leben

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Jens M. Gumpert

Leben leben

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2012 agenda Verlag GmbH & Co. KG
Drubbel 4, D-48143 Münster
Tel. +49-(0)251-799610, Fax +49-(0)251-799519
info@agenda.de, www.agenda.de

Lektorat, Satz und Umschlaggestaltung:
Astrid Jungmann, Susanne Welling
Druck und Bindung: TOTEM, Inowroclaw, Polen

ISBN 978-3-89688-465-7

Für Andrea

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

… 20 Jahre später …

Kapitel I

I

„Hallo, Herr Ober! Hallo!“

Der Oberkellner, im Smoking, steht nicht weit entfernt, neben dem langgestreckten Frühstücksbüfett und blickt ins Leere. Vor fünf Minuten hat Michael einen Tee bestellt. Er wurde noch nicht serviert.

Vom Nachbartisch breitet sich feiner Kaffeeduft aus.

Nein, es dauert einfach zu lange!

„Hallo, Ober!“

Es scheint so, als ob der Kellner nichts hört und nichts sieht.

Michael stöhnt leise, lehnt sich zurück und starrt vor sich hin. Im nächsten Moment richtet er sich wieder auf und schnippt mit den Fingern. Niemand reagiert.

Als wenige Augenblicke später eine Kellnerin sich zu ihm hinunterbeugt, um ein kleines silbernes Tablett mit einer Teekanne auf den Tisch zu stellen, schaut er ihr ins Dekolletee. Ein kurzer Blick trifft ihn. Er spürt, dass er rot wird und beschäftigt sich schnell mit den Brötchenhälften auf seinem Teller.

Aus der hinteren Ecke Geschirrklappern. Das Frühstücksbüfett wird abgeräumt. Gardinen werden zur Seite geschoben und Fensterklappen geöffnet. Sonnenstrahlen spiegeln sich auf dem blanken Parkettfußboden. Man spürt einen schwachen Luftzug.

Irgendwie kommt Michael nicht in Gang. Er hätte schon vor einer Stunde im Seminarraum seines Tagungshotels sitzen müssen, um den Beginn des dritten und letzten Tages des medizinischen Symposiums nicht zu verpassen. Dabei haben ihn die Vorträge der vergangenen Kongresstage interessiert. Es ging um die Behandlung der Herzinsuffizienz. Für seine künftige Praxis als Internist muss er sich möglichst viele Fakten und Zusammenhänge einprägen.

Er seufzt und schiebt den Teller mit einer müden Bewegung beiseite. Er fühlt sich wie gefangen. Einerseits belastet es ihn, dass er seine Pflichten so vernachlässigt; aber andererseits wieder Vorträge, immer ganz bei der Sache sein, Satz für Satz mitdenken.

Der Gast am Nachbartisch steht auf, rückt seinen Stuhl zurecht und verlässt den Frühstücksraum. Michael schaut kurz hin. Beim Abschied von der Klinik hatte sein ehemaliger Chefarzt gerade diesen Kongress besonders empfohlen.

Michael schmunzelt. Der Chefarzt hatte aber auch davon gesprochen, dass er es auf keinen Fall versäumen darf, sich die Ausstellung im Stadtschloss anzuschauen, und Theresa, Michaels Freundin, betont immer wieder, dass Museumsbesuche unbedingt zum kulturellen Leben dazugehören.

Er erinnert sich, wenige Wochen vor der Abiturprüfung mindestens drei Mal die Schule geschwänzt zu haben. Man hatte ihn nicht erwischt und das schlechte Gewissen blieb aus.

Schnell klappt er das Brötchen zusammen und steckt es in die Jackentasche. Im Foyer hält er kurz inne.

Sein Blick fällt auf eine elegant gekleidete Frau, die an der Rezeption steht und mit dem Portier spricht. Michael erkennt sie sofort. Es ist die junge Ärztin, die sich in den vergangenen Tagen im Seminar jedes Mal neben ihn gesetzt hatte. Sie scheint ihn nicht zu bemerken, darum dreht er rasch den Kopf zur Seite, schaut an ihr vorbei und geht mit festen Schritten auf den Ausgang zu.

II

Als Michael aus dem Taxi steigt, gerät er in eine Gruppe von Touristen. Mit ihren Fotoapparaten stürmen sie auf den Eingang des Stadtschlosses zu. Es ist heiß. Keine Wolke trübt den Himmel. Michael stöhnt leise und bleibt inmitten der kleinen Menschenmenge stehen, die ihn umspült, wie kabbeliges Hafenwasser eine Duckdalbe.

Oh nein, nur das nicht!

Er will seine Ruhe haben. Diese Touristen schnattern und laufen um ihn herum wie eine Horde kleiner Kinder.

Rasch bahnt er sich einen Weg aus der Menge und dreht dem Eingang des Museums den Rücken zu.

Er überlegt nicht lange. Es ist klar. Man kann um das Schloss herumgehen. Vom Taxi aus konnte man schon ein Stück von dem weitläufigen Schlosspark sehen.

Am Rand der Gartenanlage setzt er sich auf eine leere Parkbank. Endlich Ruhe ringsherum, niemand stört ihn. Eine dickstämmige Buche spendet Schatten. Vor ihm erstrecken sich die Wiesen und Wege des gepflegten Schlossparks.

Eigentlich will er nur einfach ganz still dasitzen, doch er rutscht auf seinem Platz hin und her. Schon beugt er den Oberkörper vor und blickt sich suchend auf dem Boden um. Plötzlich steht er auf, geht einen Schritt auf den Baum zu, bückt sich und streckt die Hand nach einem trockenen Zweig aus.

Zurück auf der Bank scharrt er mit dem Stöckchen Kreuze, Kreise und Dreiecke in den gelben Sand. Im nächsten Moment legt er den kleinen Ast beiseite und zieht aus der Tasche die Brötchenhälften hervor. Seine Finger puhlen kleine Stückchen aus dem weichen Inneren heraus. Er dreht sie zu Kügelchen und wirft sie auf den Boden.

Warum ist er schon seit einigen Tagen so unruhig?

Am Abend vor seiner Abreise hatte er sich früh von seiner Freundin Theresa verabschiedet. Ihm war danach zumute gewesen, allein in seiner Wohnung Musik zu hören. Es kam fast zu einem Streit, weil Theresa fest damit gerechnet hatte, dass er den Abend und die Nacht bei ihr verbringen würde.

Später, nachdem er die neue LP der Popgruppe „Ace of Base“, die sich Theresa niemals anhören würde, angestellt und es sich in seinem Schaukelstuhl gemütlich gemacht hatte, war es ihm unmöglich, sich auf die Musik zu konzentrieren. Dreimal drehte er sie lauter. Dann ging er zur Toilette. Auf einmal bekam er Durst auf ein Glas Cola und irgendwie war ihm plötzlich alles zuviel. Er haute aus seiner Wohnung ab, schlug die Tür ins Schloss. In der nächsten Kneipe kippte er mehrere Schnäpse hinunter und schimpfte vor sich hin: “So ein Mist, so ein verdammter Mist!“

Michael schaut zu Boden und bemerkt, dass er den Namen Theresa in Großbuchstaben in den Sand geschrieben hat. Abrupt steht er auf.

Vielleicht doch noch ins Museum?

Er wirft den Zweig auf die Erde. Seine Schuhsohlen verwischen die Spuren im Sand. Die Brötchenreste lässt er liegen, als Futter für die Vögel.

III

An der Museumskasse geht es nur schleppend voran. Eine genervte Angestellte sucht Prospekte aus einem Nebenraum heraus und erklärt einem Touristen die Ausstellung. Der Besucher fragt und fragt. Michael räuspert sich. Eine dicke Frau vor ihm tritt unruhig alle paar Sekunden von einem Bein auf das andere. Ihre Pfennigabsätze schlagen klickernd gegen die Marmorfliesen. Michael schaut auf den Boden und betrachtet eine Weile ihre hochhackigen Lackschuhe. Dann bleibt sein Blick an dem enganliegenden knappen Rock hängen, unter dem sie die Konturen des wenig knackigen Po deutlich abzeichnen. Theresas knabenhafte Figur fällt ihm ein, ihre schmalen Hüften und die langen schlanken Beine, die …

„Ja, bitte, … Sie sind dran!“

„Äh, ja, äh, eine Karte, für die Ausstellung.“

Er bezahlt rasch und geht. Die Kassiererin ruft ihn zurück. Eintrittskarte und Wechselgeld liegen noch auf dem Tresen. Er spürt, dass ihm heiß wird und vermeidet es, die Angestellte ein zweites Mal anzuschauen. Schnell verschwinden das Billett und die Münzen in der Jackentasche. Er mischt sich unter die Besucher.

Der Rundgang durch die Ausstellung beginnt im Erdgeschoss. Michael wendet sich jedoch dem kreisrunden Lichthof zu und steigt die geschwungene Treppe hinauf in das erste Stockwerk.

In den oberen Räumen stehen nur wenige Besucher vor den Vitrinen. Er schlendert von Raum zu Raum und bleibt hier und da einen Moment lang vor den Exponaten stehen. Die Texte auf den Schildchen und Täfelchen neben den Kunstwerken überfliegt er. Korinthisch, attisch, peloponnesisch, Bezeichnungen, wie aus seinem alten Geschichtsbuch. Als Dreizehnjähriger war er in die Sage von Troja ganz vernarrt.

Er runzelt die Stirn.

Wieso eigentlich?

Er geht in die Hocke und mustert einige Ausstellungsstücke intensiver.

Tatsächlich, das Urteil des Paris!

Eine Ziegenherde, ein Jüngling, drei Frauen und ein fülliger älterer Mann mit Bart und Kopfbedeckung.

Michael seufzt.

Das war’s?

Rasch richtet er sich wieder auf, tritt einen Schritt zurück und stößt beinahe mit jemandem zusammen, der direkt hinter ihm steht. Als er sich umdreht, lächelt ein etwas korpulenter Herr mittleren Alters ihn an, streicht sich langsam über seinen dunklen Vollbart, lupft kurz seinen Hut und geht dann wortlos weiter.

So ein Spinner!

Michael blickt unwillkürlich noch einmal zur Vitrine.

Irgendwas war da?

Ach was, Chefarzt hin oder her.

Kunstgeschichte war nie sein Fach. Er hat keine Lust mehr auf diese Ausstellung, egal was die anderen sagen.

IV

Mehrere Teenies versperren den Ausgang des Museums. Sie stehen dicht beieinander, diskutieren und gestikulieren lebhaft.

Wortfetzen erfüllen den Raum.

Michael versucht sich so rasch wie möglich vorbei zu drängeln.

„He, was ist denn mit dir los!“

Ein dunkelhaariges Mädchen, das direkt vor der Tür steht, weicht ihm aus.

Er ist gestolpert, weil er eine Stufe übersehen hat.

Plötzlich verstummen die Laute und alle schauen ihn an.

Eine stark geschminkte Blondine beugt sich vor und lächelt in seine Richtung.

„Na, du Hübscher! So ganz allein?“

„Was?“

Die Stimme des Mädchens an der Tür überschlägt sich beinahe.

„Der Typ … das kann doch nicht wahr sein, der Typ hat mich angerempelt!“ Die blonde Frau macht eine wegwerfende Handbewegung.

„Ach, zick‘ nicht rum!“

Michael muss unwillkürlich grinsen.

Bemerkungen wie „Traust dich wohl nicht!“ und „Dann beim nächsten Mal, du Süßer!“, beantwortet er, indem er, schon halb auf der Straße, sich kurz umdreht und Kusshände zuwirft.

Als die Tür ins Schloss fällt, ist es irgendwie still. Kein Laut dringt nach draußen. Es kommt ihm so vor, als ob die Mauern alles Lachen, Kichern und Meckern der jungen Frauen verschlucken. Auch der Platz vor dem Eingang, auf dem sich noch vor kurzer Zeit viele Touristen tummelten, wirkt wie verlassen.

Er zuckt mit den Schultern.

Na, wenn schon.

V

Michael geht geradeaus. Moderne glatte und alte verschnörkelte Häuserfassaden. Großstadtverkehr. Er schaut kaum hin.

Von einer Klassenfahrt, etwa ein Jahr vor dem Abitur, kennt er Teile der Innenstadt. Obwohl er kein Ziel verfolgt, läuft er schnell. Es ist, als würden diese raschen Bewegungen ihn entspannen und seine innere Unruhe dämpfen.

Schweißperlen tropfen von seiner Stirn. Die Hitze hält an. Einen Moment lang stehen bleiben und mit dem Taschentuch das Gesicht trocken wischen.

Will er vor etwas davonlaufen? Was für ein Gedanke! Nein, wie unsinnig!

Aber heute Morgen dieser Widerwille, diese schreckliche Unlust. Obwohl er rechtzeitig aufgewacht ist, kam er doch zu spät zum Frühstück. Wie ein Kind hat er herumgetrödelt. Löcher in die Luft gestiert. Es war nicht das Symposium. Das Kongressthema hat ihn nicht angeödet. In der Klinik gab es viele Patienten mit Herzschwäche. Er hatte sich in den vergangenen Jahren darauf spezialisiert und Seminare sind immer gut, immer mal etwas anderes als der Klinikalltag.

Naja, das ist nun vorbei.

Die Fußgängerampel steht auf Rot. Einige Passanten laufen noch schnell über die Straße. Ein Autofahrer hupt. Wenige Augenblicke später grün. Es geht weiter. Nein, das Symposium hat nichts damit zu tun.

Die Bank im Schlossgarten kommt ihm in den Sinn. Es war wie in der ersten Klasse. Er kann nicht stillsitzen, hatte die Lehrerin gesagt. Das Klassenzimmer, die Bänke, die Tafel, alles ist auf einmal wieder da.

Natürlich!

Abrupt bleibt er stehen.

Bremsen quietschen. Der Fahrer eines Lieferwagens beugt sich aus dem Fenster.

„Hör mal du Volltrottel, das ist eine Einfahrt! Ich muss da rein! Hau ab, aber sofort!“

Diese Buchstaben im Sand:

T-H-E-R-E-S-A ! Theresa!

Auf einmal drückt ihn der Krawattenknoten und er hat das Gefühl, der Kragen schnüre ihm die Luft ab. Michael atmet tief ein und aus.

Ein älteres Paar, das ihm entgegenkommt, starrt ihn an.