Tilo K. Sandner wurde im Oktober 1964 in Karlsruhe geboren. In seiner Kindheit lebte er mit seinen Eltern in Zürich, wo sein Vater als Opernsänger einerseits die Zuhörer in seinen Bann zog und andererseits seinen Sohn schon früh an die Schönheit der Muse heranführte.
1976 zog die Familie wieder nach Deutschland zurück. Dort besuchte Tilo K. Sandner das Gymnasium in Neuss am Rhein und machte 1985 sein Abitur.
Schon in seiner frühen Jugend begann er, Kurzgeschichten zu schreiben. Daraus wurde dann 2011 sein erster Fantasy-Roman „Dracheneid – Der Weg der Drachenseele“.
Außerdem hängt das Herz des Autors seit vielen Jahren an zwei naturverbundenen Hobbys: dem scheinbar schwerelosen Gleiten durch die Weiten der Lüfte als Segelflieger und dem lautlosen Segeln zu Wasser – beides Elemente, die auch den Drachen im Dracheneid nicht fremd sind.
Bei der Bundeswehr machte Tilo K. Sandner eine Ausbildung zum Jetpiloten und wurde später Lehrgangsleiter in der Unteroffiziersschule der Luftwaffe in Husum.
Heute lebt der Autor in Berlin und arbeitet bei einem führenden deutschen Automobilhersteller. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Mehr Informationen über Tilo K. Sandner finden Sie unter:
www.dracheneid.de
Die Gefährdung des friedvoll lebenden Drachenlandes durch die grausamen Horden des Ostlandes, die von ihrem bösartigen schwarzen Druiden Snordas angeführt werden, wird fast täglich beunruhigender.
Aber nicht jeder Bewohner des Drachenlandes hat bisher etwas von dieser Bedrohung mitbekommen. Besonders die Menschen und das Volk der Zwerge lebten völlig abgeschirmt für sich, ohne nachbarschaftliche Beziehungen zueinander zu pflegen. Aber sowohl die wachsamen Elfen als auch die friedlichen Drachen des Eisgebirges hatten diese Gefahr längst erkannt, die allen Völkern des Drachenlandes drohte. Unter Leitung des weisen Drachenrates sollten geeignete Maßnahmen getroffen werden, den Plänen des schwarzen Druiden entgegenzuwirken.
Doch Snordas’ krankhafte Gier, das ganze Land mit Hilfe seiner bestialischen Feuerkopfdrachen zu unterwerfen, die sich zur Abschreckung und als äußeres Erkennungszeichen ihre Gesichter verbrennen ließen, konnte zumindest kurzfristig durch das unerwartete Erscheinen des Erwarteten gestoppt werden.
Der fünfzehnjährige Adalbert von Tronte wurde erst vor wenigen Monaten durch ein tragisches Erlebnis aus seinem bisherigen Leben gerissen, als er im letzten Herbst mit ansehen musste, wie sein Vater, der berühmteste Drachenjäger des ganzen Landes, einen wunderschönen silbernen Drachen kaltblütig ermordete. Dabei hörte er nicht im Geringsten auf das Bitten und Flehen seines Sohnes, diesen doch zu verschonen.
Der Drache, der keinesfalls als wilde Bestie bezeichnet werden konnte, hatte mehrfach vergeblich versucht, diese tödliche Auseinandersetzung mit dem erfahrenen Jäger zu vermeiden. Doch Adalberts Vater hatte seinen Ruf nicht mit Mitleid für diese einzigartigen Geschöpfe verdient und so kam es schließlich, dass dieser majestätische Drache sterbend vor Adalberts Füßen auf den harten Boden aufschlug.
Doch bevor der silberne Drache starb, erkannte er in Adalbert den Erwarteten des Drachenlandes und übertrug ihm mit seinem letzten Atemzug seine Drachenseele.
Abgestoßen von der unglaublichen Brutalität seines Vaters, kehrte ihm sein Sohn den Rücken und rannte davon. Dabei lief Adalbert ausgerechnet einem riesigen Drachen über den Weg. Schnell entwickelte sich aus dieser Begegnung mit dem goldenen Drachen Merthurillh, der bereits vor über hundert Jahren vom weisen Drachenrat damit beauftragt worden war, nach dem Erwarteten zu suchen eine tiefe Freundschaft. Dabei gingen der Drache und der Junge eine seltene Verbindung miteinander ein, die sogenannte Bandarurh. Mit dieser schenkte jeder dem anderen einen Teil von sich selbst. Adalbert erhielt eine schützende Drachenhaut, die ihn vor ernsthaften Verletzungen bewahren konnte, und einen ganz besonderen Drachensinn, der ihn dazu befähigte, sich selbst in der schwärzesten Dunkelheit einer Höhle zu orientieren. Der Drache Merthurillh bekam von Adalbert das Geschenk der Gesundheit und erlangte dadurch wieder zwei gesunde Augen und somit das räumliche Sehvermögen, was für die Fliegerei eines Drachen unverzichtbar war.
Doch die Hauptaufgabe, die den goldenen Drachen Merthurillh und den Knaben Adalbert noch wesentlich tiefer verband, als selbst die Bandarurh es vermochte, war die Suche nach der Rettung für die Drachenseele in Adalberts Brust, die sie nur gemeinsam meistern konnten. Denn der von Adalberts Vater ermordete silberne Drache war Allturith, der Sohn Merthurillhs. Diese traurige Information hätte beinahe das Ende ihrer Freundschaft bedeutet, wenn der erfahrene Elfenkönig Erithjull nicht erkannt hätte, dass keiner der beiden ohne den anderen diese Suche würde alleine bewältigen können.
So hatten sie sich damals im westlichen Elfenwald gemeinsam aufgemacht, den Weg der Drachenseele zu beschreiten.
Cover
Titel
Über den Autor
Drachenland
Impressum
Vorgeschichte
1. Ein großer Schreck
2. Der Ratsbeschluss
3. Der Weg des Ritters
4. Im hohen Eisgebirge
5. Verpatzte Landung
6. Der weiße Wolf
7. Im Nasli Karillh
8. Geänderte Pläne
9. Der große Weiße
10. König und Ritter
11. Eine traurige Pflicht
12. Gift für den König
13. Ein törichter Streich
14. Ritter der Lüfte
15. Im Fluge vereint
16. Eissturm
17. Höhenflüge
18. Der Schneekrieger
19. Die Drachenhöhle
20. Nächtlicher Aufbruch
21. Alleine am Abgrund
22. Hoffnungsschimmer
23. Verlockende Versuchung
24. Ramarsarrh
25. Rorgaths Truhe
26. Die Falle schnappt zu
27. Das Verhör
28. Die Wächter des Sekuriaths
29. Abschied
30. Der Rückmarsch
31. Neue Aufgaben
32. Aufbruch zum Zwergenhain
33. Eine unbekannte Welt
34. Der Zwergenrat
35. Hauptmann der Königsgarde
36. Der neue Zwergenkönig
37. Die Krönungsfeier
38. Wolkenrausch
39. Gefahr über den Wogen
40. Azurrillh
41. Ein gewagter Plan
42. In höchster Not
43. Die Santarush
Namen und Begriffe
Das weite Drachenland war noch in eine besonders ruhige und dunkle Nacht gehüllt, als Adalbert von Tronte schweißgebadet aus einem Alptraum erwachte. In seinen schlimmen Träumen durchlebte er wieder und wieder die grässlichen Erlebnisse und Qualen seiner Gefangenschaft im düsteren Ostland. Nur mit viel Glück und durch die Heldentat des Zwergenkönigs Zarvodd, der sein eigenes Leben gegeben hatte, um Adalbert und seine Gefährten zu retten, war ihnen die Flucht vor den Peinigern des bösartigen Druiden Snordas gelungen.
Noch immer mit den schrecklichen Erinnerungen seines Albtraums beschäftigt stand Adalbert verschlafen auf und suchte die Nähe zu seinem Drachenfreund Merthurillh. Plötzlich hatte er den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte. Zuerst konnte er sich nicht erklären, woher dieses beklemmende Gefühl kam, doch es sollte nicht lange dauern, bis er erschreckt feststellte, dass er weder das tiefe Schnarchen des Drachen noch sonst irgendein Atemgeräusch hören konnte. Merthurillh lag völlig regungslos da.
„Merthurillh!“, schrie Adalbert verzweifelt. Besorgt legte er sein Ohr an die mächtige Brust des goldenen Drachen, doch er konnte keinen Herzschlag wahrnehmen.
„Merthurillh, wach doch bitte auf!“, flehte er seinen leblosen Freund erneut an. Vor lauter Sorge schrie er dieselben Worte noch lauter, doch der goldene Drache regte sich nicht. Weder die Schreie noch das kräftige Schütteln des Jungen konnten daran etwas ändern.
„Beim großen Axtschwinger, was ist denn hier los?“, knurrte Kronglogg verschlafen. Seit er wieder an der Drachenschule war, teilten sie sich die Höhle zu dritt, wobei sich der Zwerg vorbildlich um die zahlreichen Verwundungen und um die teils recht übelriechenden Zahnzwischenräume seines alten Drachenfreundes kümmerte.
„Merthurillh ist tot!“, schluchzte Adalbert mit Tränen in den Augen.
„Nun mal ganz langsam, mein junger Freund. So schnell stirbt ein halbwegs gesunder Drache nicht. Ich werde ihn mir mal etwas genauer ansehen.“
Kronglogg trat an den leblosen Körper Merthurillhs heran und untersuchte ihn ausgiebig. Doch auch er wurde zunehmend nervöser und Adalbert erkannte voller Entsetzen, dass der Zwerg zu dem gleichen Ergebnis kam wie er. Kronglogg schüttelte betrübt den Kopf und wischte sich verlegen ein paar Tränen aus den Augen. Nun konnte sich der Junge nicht mehr zurückhalten, er warf sich dem toten Drachen, der inzwischen wie ein Vater für ihn geworden war, an die Brust und weinte.
„Du kannst mich doch nicht alleine lassen! Wir müssen doch nach Rorgath suchen, um deinen Sohn zu retten!“, flehte er seinen Freund verzweifelt an.
Von Adalberts Schreien angelockt, eilten die drei Elfenbrüder Trulljah, Maradill und Jordill herbei. Maradill erkannte die Situation am schnellsten und untersuchte den leblosen Drachenkörper.
„Nicht auch noch du, mein lieber Freund!“, murmelte Jordill erschüttert, als er neben Adalbert auf die Knie sank. „Es können doch nicht all meine Helden sterben! Zuerst Antharill, dann der Zwergenkönig Zarvodd und jetzt auch noch du! Das geht doch nicht!“
„Ich fühle keinen Puls mehr! Ich befürchte, unser Freund ist für immer von uns gegangen und zu seinen Ahnen am nächtlichen Himmelszelt aufgestiegen!“, teilte Maradill den anderen traurig mit, nachdem er Merthurillh gründlich untersucht hatte.
Trulljah reagierte am schnellsten und wandte sich an seinen Bruder: „Jordill, hol Lady Sintarillh! Ich wüsste nicht, wer Merthurillh sonst noch helfen könnte.“
Nur wenige Augenblicke später stürmte die schöne Drachenlady in die Höhle und stupste Merthurillh mehrfach prüfend mit der Schnauze an. Dann ging sie zu seinem Kopf. Wie schon damals am Krähenpass presste sie nun ihre Stirn gegen die von Merthurillh. Zwischen ihnen kniete Adalbert, der seinen Freund nicht so einfach gehen lassen wollte. Plötzlich vernahmen alle ein tiefes und befreiendes Durchatmen der lindgrünen Drachin.
„Ich habe eine gute Nachricht. Unser lieber Freund ist nicht tot! Die Aufregungen der letzten Tage und Wochen waren einfach zu viel für ihn. Wenn wir Drachen durch intensive körperliche oder seelische Schmerzen zu sehr gequält werden, fallen wir manchmal in einen besonders tiefen Schlaf. Diesen Heilschlaf kann man sehr leicht mit dem Tod verwechseln, denn dabei verfällt der ganze Körper in eine heilende Starre.“
„Aber sein Herz schlägt doch nicht mehr!“, unterbrach sie Adalbert mit einem vagen Hoffnungsschimmer in der Stimme.
„Auch das kommt dir nur so vor, mein Junge. Sein Herz schlägt noch, aber in sehr großen Abständen. Sein Unterbewusstsein steuert die Herzfrequenz so, dass ein Mindestmaß an Blut durch seinen Körper gepumpt wird und er nicht stirbt.“
„Dann ist Merthurillh also nicht tot?“, fragten Adalbert und Jordill gleichzeitig.
„Ich kann euch alle beruhigen. Merthurillh ist auf dem besten Wege, möglichst schnell wieder richtig gesund und stark zu werden. In zwei bis drei Tagen wird er völlig erholt erwachen. Aber ihr könnt euch gerne selbst davon überzeugen, dass er noch lebt.“
Sie forderte Maradill auf, mit seinem Messer vorsichtig eine der stark durchbluteten Flügeladern Merthurillhs zu öffnen. Der Elf sah sie nur fragend an.
„Mach ruhig. Ihr werdet sehen, dass das Blut noch langsam fließt und die Wunde sich sofort schließt.“
„Aber das tut Merthurillh doch weh!“, protestierte Adalbert.
„Nein. Er wird davon bestimmt nichts spüren und ihr werdet die Gewissheit haben, dass es eurem Freund gut geht.“
„Wenn mein dicker Drache schon aufgeschlitzt werden muss, dann aber bitte nur durch mich! Schließlich habe ich mit dem Draggen ja noch eine alte Rechnung offen!“, sagte Kronglogg bestimmt. Er nahm es Merthurillh und Adalbert immer noch übel, dass die beiden ihn vor einiger Zeit mit seinem eigenen Kochtopf betäubt und dann, auf dem Rücken des Drachen festgebunden, zum Elfenwald gebracht hatten, um sein Leben zu retten. Allein bei der Erinnerung an dieses unrühmliche Erlebnis musste sich Kronglogg angewidert schütteln. Er blickte kurz zu Adalbert, der ja schließlich der Topfschwinger gewesen war, und versuchte dabei möglichst streng zu schauen, was ihm aber nicht wirklich gelang. Anschließend bemühte er sich, auf den Zehenspitzen stehend, an den Flügel des Drachen heranzukommen. Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch reckte und streckte, er war einfach zu klein. Trulljah schob ihm lächelnd eine Kiste zu.
„Was gibt es denn da zu grinsen?“, knurrte der Zwerg in der ihm typischen mürrischen Art. Unter stillem Protest stieg er dann auf die Kiste und öffnete sehr behutsam eine deutlich hervortretende Ader, die Maradill ihm vorgeschlagen hatte.
„Die hätte ich auch genommen!“, murmelte Kronglogg dabei.
Tatsächlich, ein kaum erwähnenswertes, schwaches Rinnsal des warmen Drachenblutes floss aus dem winzigen Schnitt, der sich gleich darauf wieder schloss. Adalbert streichelte liebevoll die Wunde, wischte das wenige Blut seines Freundes behutsam ab und ging danach zu Merthurillhs Kopf. Er packte den Drachen bei den Hörnern und hätte ihm am liebsten einen dicken Kuss auf die Nüstern gedrückt, wenn er sich dabei nicht selbst zu kindisch vorgekommen wäre.
Nachdem sich nun die Aufregung etwas gelegt hatte, forderte Sintarillh alle auf, gemeinsam frühstücken zu gehen und dem goldenen Drachen seine wohlverdiente Ruhe zu gönnen.
In der großen Speisehalle herrschte bereits reges Treiben. Es hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass Merthurillh in den Heilschlaf gefallen war. Der weiße Lorhdrache Okoriath forderte Adalbert mit einer einladenden Geste auf, direkt neben ihm an seinem Tisch Platz zu nehmen.
„Guten Morgen, mein Jungritter Adalbert von Tronte. Ich vermute, die heutigen Ereignisse haben dich ganz schön aus der Bahn geworfen.“
Adalbert nickte zustimmend und stellte fest, dass ihm die Anrede als Jungritter sehr gut gefiel.
„Wie fühlst du dich denn?“
„Der Schreck war groß, aber jetzt geht es mir schon deutlich besser und ich bin einfach nur noch froh. Eure Tochter Sintarillh hat uns erklärt, dass Merthurillh nicht tot ist, sondern nur in den Heilschlaf gefallen ist.“
„Ich wusste gleich, dass meinem dicken Herumtreiber nichts passiert sein konnte!“, mischte sich Kronglogg in das Gespräch ein und setzte sich mit den Elfenbrüdern zu ihnen.
Der Junge versuchte krampfhaft, sich nicht anmerken zu lassen, dass er bei diesen Worten am liebsten laut losgelacht hätte. Er hatte den Zwerg längst durchschaut, aber das wollte er ihm nicht zeigen. Kronglogg war mindestens genauso um Merthurillh besorgt gewesen wie Adalbert. Warum sonst hatte er den heilkundigen Elfen Maradill daran gehindert, die Ader zu öffnen, und dann selbst äußerst behutsam den Beweis dafür erbracht, dass der Erste Drachenritter des Rates noch am Leben war?
„Gleich nach dem Frühstück werden wir uns alle zu einer Ratsbesprechung zurückziehen, denn der ehrenwerte König Erithjull muss uns leider noch heute Abend verlassen“, sagte der Lorhdrache in die Frühstücksrunde.
„Aber Euer Erster Ritter Merthurillh schläft doch noch“, wandte Adalbert ein.
„Glaube mir, ich würde gerne auf Merthurillh warten, aber Erithjulls bevorstehende Abreise und interessante neue Erkenntnisse unseres Historikers Olstaff lassen mir keine andere Wahl. Wir müssen noch heute darüber sprechen. Das wäre auch in Merthurillhs Interesse.“
„Kann ich irgendetwas dazu beitragen, dass Merthurillh etwas schneller gesund wird und wieder aufwacht?“
Adalbert hatte die Frage zwar an den Lorhdrachen Okoriath gerichtet, bekam die Antwort aber von der ersten Drachenlady Coralljah, die den Jungen schon die ganze Zeit mit seltsamen Blicken gemustert hatte.
„Weißt du, mein lieber Adalbert, du bist für unsere Schule zu einer echten Bereicherung geworden. Du zeichnest dich nicht nur durch deine ehrlichen Worte, sondern noch mehr durch deine guten Taten aus. So hast du es geschafft, die äußerst gefährliche Aufgabe erfolgreich zu meistern, das verlorengegangene Horn von Fantigorth zurückzubringen. Und du hast dabei unbewusst dafür gesorgt, dass dich jeder hier an der Drachenschule in sein Herz geschlossen hat. Deine Liebe zu Merthurillh ist etwas ganz Besonderes. Vertrau mir, wir werden uns bestens um seine Pflege kümmern. Gerade in diesem Moment ist die heilkundige Sintarillh bei ihm und kümmert sich um sein Wohl. Du hast doch schon zuvor am Krähenpass gesehen, dass sie eine wirkliche Könnerin ist, die eine Menge von ihrem schweren und geheimnisvollen Fach versteht.
Nach unserer Ratsbesprechung möchte ich mit dir endlich zu der Stelle gehen, an der sich dir die alten Runen offenbart haben. Es muss doch einen Grund dafür geben, warum du sie sehen konntest. Ich glaube nicht an einen puren Zufall, sondern bin davon überzeugt, dass es einen ganz besonderen Grund dafür gab. Nennen wir es eine Vorbestimmung, die mich ahnen lässt, warum das Horn genau an dieser Stelle so seltsam reagiert hat, den Stollen in dieses unheimliche grüne Licht gehüllt hat und gleichzeitig dein Geistdrache genau dort den Kontakt zu dir gesucht hat. Diesem Mysterium sollten wir unbedingt auf den Grund gehen! Ich kann es dir zwar nicht erklären, aber ich bin fest davon überzeugt, dass es irgendwie mit deiner Suche nach deinem Geistdrachen zusammenhängt. Aber selbst wenn das nicht so sein sollte, muss ich unbedingt erfahren, welches Geheimnis diese alten Drachenrunen seit so langer Zeit unbemerkt verborgen halten.“
„Lady Coralljah, ich weiß doch gar nicht, ob ich die genaue Stelle wiederfinden werde und ob das Horn dort auch wieder sein grünes Licht freigeben wird. Vielleicht reagiert es gar nicht und wir werden nichts erkennen können.“
„Wir werden sehen, was geschehen wird. Sei doch etwas zuversichtlicher, mein junger Adalbert. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du die Stelle wiederfinden wirst. Wenn wir im Stollen sind, werden wir die genaue Situation nachstellen, die zu diesem besonderen Ereignis geführt hat. Also sollten wir die drei Elfenbrüder und das Horn mitnehmen.“
Adalbert hoffte, dass die Drachenlady Recht behalten würde. Bei dem Gedanken, an der bevorstehenden Ratsrunde ohne seinen Drachenfreund teilzunehmen, fühlte er sich unwohl, denn er konnte sich nicht vorstellen, ganz alleine in Merthurillhs Loge zu sitzen.
Mach dir keine Gedanken, Adalbert. Es ist bestimmt in Merthurillhs Sinne, dass wir unter diesen Gegebenheiten den Rat einberufen, ohne dass er anwesend ist. Außerdem wird es sicherlich noch genügend Möglichkeiten geben, ihn über das Besprochene zu informieren.
Die Stimme des Lorhdrachen erklang direkt in Adalberts Kopf. Schon wieder hatte er seine Gedanken gelesen. Doch der Junge war ihm nicht wirklich böse, da seine Worte ihn tatsächlich etwas beruhigt hatten. Er schmunzelte nur leise lächelnd und schüttelte ungläubig den Kopf. Okoriath konnte es einfach nicht lassen, in die Gedanken anderer einzudringen.
Entschuldige bitte, ich weiß, du magst es nicht, wenn ich auf diese Weise Kontakt mit dir aufnehme. Aber glaube mir, ich arbeite schon an mir, kam die Antwort auf Adalberts Kopfschütteln in seinen Gedanken. Dem Jungen war völlig klar, dass der Lorhdrache niemals der lockenden Versuchung würde widerstehen können, in die Köpfe anderer einzutauchen.
Völlig unerwartet hielt jemand Adalbert von hinten die Augen zu. Sofort wurde er an seinen Elfenfreund Antharill erinnert, wie dieser ihn damals davor bewahrt hatte, blind vor Wut in die Arme der Trolle zu laufen. Als er so die Hände auf seinen Augen fühlte, stiegen schöne und gleichzeitig auch sehr traurige Erinnerungen in ihm hoch. Trotzdem wusste er, dass jemand jetzt und hier darauf wartete, von ihm erraten zu werden.
„Das kann nur die kleine, freche und süße Biggi sein!“
„Ich bin nicht klein!“, antwortete das Mädchen kess, als es seine Hände von Adalberts Augen nahm.
„Das stimmt, du bist schon richtig groß“, stimmte er ihr zu.
„Birgit ist schon beinahe so groß wie Kronglogg. Im nächsten Jahr wird sie ihn bestimmt schon überholt haben!“, fügte Jordill lächelnd hinzu.
„Auf die körperliche Größe kommt es doch überhaupt nicht an!“, brummte Kronglogg. „Dass ihr Elfen und Menschen euch immer so viel auf eure Länge einbildet. Ein prächtiger Zwerg kann viel größer sein, als beispielsweise der längste Mensch!“
Als Kronglogg keine Widerworte hörte, nickte er zufrieden.
„Komm, setz dich zu mir und frühstücke mit uns“, forderte Adalbert Biggi liebevoll auf und zog ihr einen Stuhl heran. Das ließ sich das Mädchen natürlich nicht zweimal sagen.
Nachdem das ausgiebige Frühstück beendet war, folgten alle Ratsmitglieder dem Lorhdrachen Okoriath zur Ratshalle. Natürlich war Adalbert wieder einmal völlig begeistert, als er bestaunen konnte, wie sich, nachdem der Lorhdrache die geheime Öffnungsformel gesprochen hatte, der massive Felsen vor ihm mit seltsamen, kreisförmigen Bewegungen zu einem Eingang in die Ratshalle verwandelte.
Sie waren jedoch nicht die Ersten, die diese heiligen Hallen betraten, denn der oberste Elfenkönig Trillahturth und der Waldelfenkönig Erithjull saßen bereits auf ihren Plätzen und unterhielten sich leise. Jedes Ratsmitglied nahm seinen angestammten Platz ein und Adalbert fühlte sich in Merthurillhs Loge einsam und verlassen. Ohne seinen goldenen Freund war es einfach nicht dasselbe.
„Komm doch bitte zu mir herüber, dann brauchst du nicht so alleine in eurer Loge zu sitzen“, forderte ihn die Erste Drachenlady Coralljah auf und bot ihm den Sitz zu ihrer Linken an. Sie hatte natürlich erkannt, in welcher unbehaglichen Situation sich der junge Adalbert befand.
„Das ist sehr lieb von Euch, schöne Lady Coralljah. Aber Euer linker Platz gehörte meinem Freund Antharill, der sein Leben für mich gab. Auf seinem Platz zu sitzen, erscheint mir irgendwie nicht richtig. Ich werde die Erinnerung an seine Freundschaft für den Rest meines Lebens in meinem Herzen tragen.“
Bei diesen Worten berührte Adalbert mit seiner rechten Hand die Stelle, an der sein Herz schlug. In seinen Gedanken konnte er den stolzen Hengst, in den sich der Elf nach seinem tragischen Tod verwandelt hatte, im gestreckten Galopp über eine saftige Hügellandschaft galoppieren sehen.
„Außerdem ist dies hier mein Platz und ich möchte meinen Freund Merthurillh würdig vertreten, wenn er schon nicht selbst an dieser Versammlung teilnehmen kann. Ich hoffe sehr, dass ihr meine Ablehnung nicht als unhöflich betrachtet.“
„Hört, hört! Die Worte eines echten Jungritters!“, sagte der alte Drache Rostorrh anerkennend, bevor sich der Lorhdrache an alle Ratsmitglieder wandte.
„Teuerste Lady Coralljah, wunderbare Lady Zaralljah, mein alter Freund Trillahturth, du Oberster aller Elfen des Drachenlandes, mein Freund vieler Abenteuer König Erithjull, Ritter Rostorrh, alter Kampfgefährte so mancher schlimmen Schlacht, meine stolzen Jungritter Tomporillh und Adalbert, mein überaus geschätzter Ratgeber Kronglogg und, nicht zu vergessen, unser treuer Chronist und Freund Olstaff, wir sitzen heute in dieser Ratsrunde zusammen, weil es dringende Angelegenheiten gibt, denen wir schnellstmöglich nachgehen müssen. Wie ihr sicher bereits alle wisst, ist mein Erster Ritter Merthurillh in einen wohltuenden Heilschlaf gefallen und kann deshalb nicht hier sein.
Gestern Abend informierte mich König Trillahturth darüber, dass sich nach seiner Kenntnis hier in der Drachenschule ein Hinweis auf die geheime Formel befinden muss, die Adalbert benötigt, um die finale Seelenübertragung einzuleiten. Gemeinsam haben er, König Erithjull, unser Archivar Olstaff und ich selbst in der vergangenen Nacht jede verfügbare Schrift und alle Unterlagen durchforstet und sind jedem Hinweis nachgegangen, der auch nur im Entferntesten auf diese Formel hinweisen könnte. Doch wir konnten nichts Konkretes finden. Da sich jedoch, wie jeder hier weiß, der weise König Trillahturth noch nie geirrt hat, sollten wir jetzt gemeinsam darüber beratschlagen, wo wir noch nach der verloren gegangenen Formel suchen könnten.“
Der uralte Olstaff mit seinen liebenswürdigen Augen räusperte sich vorsichtig und wies darauf hin, dass sie die Zeit, in der sich Merthurillh im Heilschlaf befand, nicht ungenutzt verstreichen lassen sollten, schließlich hätten sie nur ein Jahr Zeit, die Drachenseele aus Adalberts Brust zu befreien, sonst würde diese zu Wargos auffahren.
„Ich glaube, ich weiß, wo die Formel ist“, erwiderte Adalbert leise und unsicher, denn er konnte sich kaum vorstellen, dass noch kein anderer auf die Idee gekommen war, die ihm gerade durch den Kopf ging.
„Na, da sind wir ja mal sehr gespannt, Jungchen!“, warf der alte Drache Rostorrh ungläubig ein. Es war dem besonderen Klang seiner Stimme anzuhören, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass ausgerechnet dieser Junge den Ort kennen sollte, nach dem die klügsten Köpfe des Drachenlandes die ganze Nacht hindurch vergeblich geforscht hatten.
„Kümmere dich nicht um die ruppige Art des Alten, er meint es nicht wirklich so. Du weißt doch, dass Ritter Rostorrh nicht so schnell zu überzeugen ist“, entschuldigte sich der Lorhdrache bei Adalbert für den alten Kämpfer.
„Eine Entschuldigung ist nicht nötig, denn ich kann Ritter Rostorrh nur zu gut verstehen. Ich wäre auch überrascht, wenn ausgerechnet jemand wie ich behaupten würde, solch verborgene Dinge zu wissen. Dennoch ist es so. Vielleicht irre ich mich ja, aber ich fühle, dass ich weiß, wo die Formel zu suchen ist.
Wir haben bereits darüber gesprochen und die wunderschöne Lady Coralljah wollte mit mir schon längst dort hingehen und die Stelle aufsuchen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir zu den Runen gehen müssen, die sich mir in der Höhle tief unterhalb der Drachenschule gezeigt haben, als ich mit dem Horn von Fantigorth und meinen Freunden Trulljah, Maradill und Jordill dort war.“
„Das könnte tatsächlich sein“, stimmte die Drachenlady Coralljah zu. „Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, warum das Horn gerade diese Stelle mit seinem magisch-grünen Licht erhellt hat. Nun ergibt es endlich einen Sinn. Das Horn von Fantigorth oder dein Geistdrache Rorgath wollten dir zeigen, wo du die geheime Formel finden kannst.“
„Ich selbst konnte mit den geheimnisvollen Runen zu diesem Zeitpunkt nichts anfangen und war auch mit der Botschaft meines Geistdrachen zu sehr beschäftigt, als dass ich sie mir gemerkt hätte, aber die drei Elfenbrüder taten es“, fügte Adalbert noch hinzu.
„Wortrillh, bitte hole die Elfen zu unserer Besprechung hinzu und sorge dafür, dass eine Schiefertafel bereitsteht, auf der sie ihre Erinnerungen an die Runen aufmalen können“, bat Okoriath den Anführer der Saalwache, die sowohl aus eleganten Elfen als auch aus stämmigen Zwergen des Hochgebirges bestand.
„Euer Wunsch sei mir Befehl, edler Lorhdrache!“, sagte der pflichtbewusste Wortrillh, gab einigen seiner Elfen und Zwerge ein schnelles Zeichen und machte sich dann unverzüglich auf den Weg.
Nachdem der Anführer der Saalwache die Elfenbrüder kurz darauf in die Ratshöhle geführt hatte, wurden auch sie von Okoriath begrüßt, der anschließend das Wort an Lady Coralljah übergab.
„Trulljah, als Ältesten von euch drei Brüdern möchte ich dich fragen, ob ihr euch noch an die Runen erinnern könnt, die ihr in der Höhle gesehen habt, nachdem sie durch das Horn grün erhellt wurde?“, fragte die Lady Coralljah freundlich, die sich mit den alten Schriften und Überlieferungen auskannte wie kein anderer Drache.
„Ich denke schon, dass wir uns noch an die eine oder andere Rune erinnern können“, antwortete der Elf selbstsicher.
„Dann möchte ich euch bitten, alle Runen, die euch noch in den Sinn kommen, jetzt auf die Tafel zu malen“, forderte sie die drei Brüder auf.
Trulljah blickte kurz zum Lorhdrachen hinüber, um sicherzugehen, dass dieser der Bitte der Drachenlady zustimmte, worauf Okoriath freundlich nickte. Also begannen die Elfen, eine Menge Runen auf die Tafeln zu bringen. Besonders fleißig war dabei Maradill, der sich augenscheinlich die meisten Zeichen gemerkt hatte. Nachdem er dann als Letzter der Brüder die Kreide aus der Hand gelegt hatte und ein paar Schritte zurückgetreten war, betrachtete jeder Einzelne in der Ratshöhle schweigend die Schiefertafel. Damit auch Zaralljah und der Jungritter Tomporillh einen Blick auf die Tafel erhaschen konnten, mussten sie ihre Logen verlassen.
„Nun schönste Lady Coralljah, lasst uns nicht in Unwissenheit schweben, wenn Ihr bereits etwas von diesen wirren Runen lesen könnt“, bat sie der Lorhdrache, der als einziger Drache im ganzen Land ein weißes Schuppenkleid hatte. Dieses war ein Zeichen für seinen Rang und seine Weisheit.
„Ich bin mir nicht wirklich sicher. Viele dieser Zeichen kann ich so nicht eindeutig erkennen. Aber bei einigen Runen könnte ich mir vorstellen, was sie bedeuten oder worauf sie hinweisen.“
Nach diesen Worten erhob sich Lady Coralljah, ging näher an die Tafel heran und zeigte dann auf ein nahezu dreieckiges Symbol am oberen rechten Rand der Schiefertafel.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Zeichen Einleitung bedeutet. Bei diesen beiden Symbolen“, hierbei deutete sie auf zwei übereinandergeschriebene Runen am linken Rand der Tafel, „könnte es sich wohl um die Bedeutung Hinüberführung, Übertragung oder Geburt handeln.
Die drei Zeichen in dieser speziellen Anordnung hier unten können nur eines bedeuten: der Neugeborene!“
Ein Raunen ging durch die Runde der erstaunten Zuhörer in der Halle.
„Seid Ihr Euch da ganz sicher, werte Lady Coralljah?“, fragte der alte Elfenkönig Trillahturth eindringlich.
„Ja, daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Ich bin mir ganz sicher, dass uns die Zeichen zumindest einen Hinweis auf die verborgene Beschwörungsformel geben könnten, die Adalbert hoffentlich bald benötigen wird.“
„Olstaff, was denkst du? Könnte das die Formel sein?“, fragte der Lorhdrache nun seinen Archivar.
Der alte Mann strich sich mehrfach zutiefst nachdenklich durch seinen langen, grauen Bart, betrachtete eine gefühlte Ewigkeit lang die verschiedenen Runen und blickte dem Lorhdrachen Okoriath dann tief und fest in die Augen.
„Als ich seinerzeit hier an der Drachenschule ankam, gab es so gut wie keinerlei Dokumente oder Schriftrollen über die Geschichte des Drachenlandes. Erst im Laufe vieler Jahrzehnte konnte ich mit Hilfe einiger Elfen, Zwerge und Drachen das zusammentragen, was unsere heutige Bibliothek und das Archiv mit teilweise unvorstellbar wertvollen Schriften und Rollen ausmacht. Dabei haben mir besonders die sorgsam überlieferten Schriftrollen der Elfen und die Steinreliefe der Zwerge aus den tiefsten und finstersten Stollen des dunklen Nordlandes unermessliche Hilfe geleistet. Glücklicherweise durfte ich sie alle übertragen und konnte das Wissen der Elfen und Zwerge mit dem der Drachen hier an der Drachenschule vereinen.
Schon sehr oft habe ich mich gefragt, ob es aus früheren Jahrhunderten noch weitere Überlieferungen gibt. Tatsächlich bin ich fest davon überzeugt, doch ich hatte keine Ahnung, wo ich danach suchen sollte. Bis heute. Denn warum sollten diese Überlieferungen nicht hier in den unzähligen Höhlen, Gängen und Stollen der Drachenschule zu finden sein, die in früheren Jahrhunderten zwar keine Schule, aber schon immer ein Drachenhort war? Soviel ich weiß, lebten hier in grauer Urzeit sogar einmal die grässlichen Trolle mit den Drachen gemeinsam, was auch die unsauber gehauenen Stollen erklärt, die …“
„Eure Forschungen in Ehren, aber jetzt und hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, um einen ausschweifenden Exkurs in die Geschichte des Drachenlandes zu machen“, unterbrach Lady Coralljah den gelehrten Olstaff, der sich gerade warmzureden schien.
„Also gut, dann fasse ich mich kurz. Wenn ich richtig darüber nachdenke, gibt es eigentlich keinen besseren und logischeren Ort, wo die verschollene Formel versteckt sein könnte, als genau hier, tief unter unseren Füßen“, sagte der Chronist, der gerne noch mehr ins Detail gegangen wäre.
„Adalbert, es ist nun an dir, uns zu der Stelle zu führen, wo wir uns die Runen selbst ansehen können. Kaum zu glauben, dass wir seit Jahrhunderten nie etwas von diesen Geheimnissen erfahren haben. Wer weiß, was da noch so alles im Verborgenen schlummert und nur darauf wartet, entdeckt zu werden.“
Mit diesen Worten löste der Lorhdrache die Versammlung auf und forderte alle auf, dem nervösen Jungen zu folgen. Adalbert hoffte inständig, dass er die genaue Stelle wiederfinden würde und dass sich die geheimnisvollen Runen unter Zuhilfenahme des Horns von Fantigorth dann auch erneut zeigen würden. Deutlich war die knisternde Spannung zu spüren, die über jedem Einzelnen der Gruppe hing.
Draußen wartete die kleine Birgit. Frech ergriff sie die Hand ihres Freundes Adalbert und ließ es sich nicht nehmen, an der Spitze des Drachenrates neben ihm, Lady Coralljah und dem Lorhdrachen Okoriath zu laufen. Keiner wies das kleine Mädchen zurecht, denn sie war allen ans Herz gewachsen.
„Adalbert ich habe dich so lieb! Du bist mein großer Held!“, schmachtete Birgit unterdessen. Der Junge, dem das zu viel des Lobes war, versuchte vergeblich, seine Hand zu befreien, doch Birgit ließ das nicht zu.
„Ich bin doch kein Held“, antwortete er verlegen.
„Oh doch Adalbert, ich muss Birgit Recht geben. Du bist ein Held und es werden noch unzählige Abenteuer vor dir liegen, die deine Heldenhaftigkeit noch mehrfach auf die Probe stellen werden“, pflichtete die Drachenlady dem kleinen Mädchen bei.
„Ich gebe ja zu, Adalbert hat für sein knabenhaftes Alter schon Großes vollbracht. Ihn aber deshalb gleich als Helden zu bezeichnen, halte ich für etwas übereilt“, murmelte der mürrische Altkrieger Rostorrh. „Ein Held zu sein, ist etwas ganz Besonderes und bedarf viel mehr als nur eines bestandenen Abenteuers. Fantigorth und Rorgath, das waren Helden!“
„Ich denke ebenso wie Ihr, Ritter Rostorrh. Ich bin kein Held und möchte auch gar keiner sein. Wenn ich etwas Gutes für unser schönes Drachenland tun kann, wenn ich täglich an meinen Tugenden arbeiten darf und wenn ich denjenigen helfen kann, die dringend Hilfe benötigen, dann bin ich zufrieden“, ergänzte Adalbert.
Sowohl Rostorrh als auch der Lorhdrache Okoriath nickten zustimmend.
„Siehst du, mein Junge, das soll dein Weg sein. Folge ihm weiterhin, ohne vom rechten Pfad abzukommen. Das ist der ehrenvolle Weg des Ritters und deine wirkliche Bestimmung. Glaube nicht, dass das eine leichte Aufgabe sein wird, aber sei dir gewiss, wir stehen immer geschlossen hinter dir. Von uns allen erhältst du die nötige Rückendeckung.“
Um seine Worte noch etwas zu untermauern, stupste der alte Ritter den nachdenklichen Adalbert mit seiner grauen, vernarbten Schnauze freundschaftlich an.
Durch viele Stollen und Gänge führte der Junge die Gruppe, doch je länger sie unterwegs waren, umso unsicherer wurde er, ob er überhaupt den richtigen Stollen würde finden können. Natürlich hatten die Elfen lodernde Fackeln und die Zwerge ihre warm scheinenden Grubenlampen mitgenommen und sorgten somit für ausreichend Licht, das selbst in die dunkelsten Ecken fiel, aber auch diese Beleuchtung half Adalbert nicht weiter. Er überlegte schon, die Suche abzubrechen und auf später zu verschieben.
Doch plötzlich hielt er mitten im Marsch inne: „Genau an dieser Wand sind uns die Runen erschienen, nachdem das Horn von Fantigorth kurz zuvor alles in dieses seltsame grüne Licht getaucht hatte.“
Er war sich sicher, dass dies die richtige Stelle war, denn etwas Seltsames lag über diesem Ort. Nun legte er seine Hand an die nasskalte Höhlenwand. Die drei Elfenbrüder wollten ihn gerade unterstützen, indem auch sie wie beim letzten Mal die Wand berührten, doch Adalbert winkte ab.
„Ich glaube, ich werde eure Hilfe diesmal nicht benötigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass mir die Runen ihr Geheimnis verraten werden.“
Kronglogg stellte sich neben ihn, hob seine Grubenlampe hoch und untersuchte aufgeregt die kalte Wand, die für Adalbert aussah wie tausend andere Wände auch.
„Siebte Zwergen-Dynastie, vielleicht sogar sechste, aber auf jeden Fall dieses Zeitalter. Eine wundervolle Arbeit“, staunte der Zwerg ehrfürchtig. „Nichts, was darauf hinweist, dass schwere Werkzeuge wie Hammer und Meißel diese Wand je berührt haben. Schaut euch das doch nur einmal an! Die Oberfläche wurde mit dem feinsten Meeressand, den man nur an der Küste des westlichen Drunskwest findet, in mühsamen Schleifbewegungen über den Zeitraum von mindestens zwei Vollmonden hinweg bearbeitet. Ihr werdet weder die geringste Unebenheit noch den kleinsten Kratzer finden!“
Sicherlich hätte sich Kronglogg noch stundenlang über diese vortreffliche Zwergenarbeit auslassen können, doch das knurrige Räuspern des Lorhdrachen erinnerte ihn daran, dass es nicht die künstlerischen Fähigkeiten seines Volkes waren, deretwegen sie hier waren.
„Lieber Freund, ich weiß, dass dich diese einzigartige Arbeit des Zwergenvolkes begeistern muss, daher verspreche ich dir, dass ich selbst derjenige sein werde, der zu einem günstigeren Zeitpunkt eine genaue und detaillierte Erkundung aller Stollen hier unter deiner Führung beauftragen wird. Das ganze Felsmassiv unter der heutigen Drachenschule ist mit unzähligen Gängen und Stollen durchzogen. Die meisten davon sind für uns Drachen zu eng und daher von uns auch noch nie erforscht worden. Ich bin davon überzeugt, dass du und Olstaff hier viel zu tun haben werdet. Ein detaillierter Stollenplan und eine genaue Datierung aller Gänge wären sicherlich sehr sinnvoll. Wer weiß, was es dort unten noch zu erforschen und zu entdecken gibt.“
„Das ist eine Aufgabe ganz nach meinem Geschmack!“, freute sich der Zwerg und klopfte dem Chronisten für Zwergenbegriffe sanft auf die Schulter.
„Nicht doch immer so brutal, du gefühlloser Zwerg“, protestierte der schmächtige Olstaff hustend.
Alle drängelten sich jetzt höchst gespannt um Adalbert, wobei die mächtigen Drachen den Elfen den Vortritt ließen, damit diese auch etwas sehen konnten. Birgit stand an Adalberts Seite und ließ sich diesen Platz nicht nehmen. Der Chronist Olstaff hatte sich dicht an Adalberts linke Seite gestellt und zog aus seiner Umhängetasche aus schlichtem Leder eine schieferne Schreibtafel und einen Grafitstift hervor. Er wollte unbedingt jedes einzelne Symbol so schnell wie möglich dokumentieren, bevor es wieder unsichtbar wurde, falls sich die Runen überhaupt erneut zeigten.
Nachdem endlich jeder seinen Platz gefunden hatte, wurde es so still, dass man problemlos gehört hätte, wenn in der nächsten Höhle eine Nadel zu Boden gefallen wäre. Nun legte Adalbert auch seine zweite Hand gegen die nackte Felswand, schloss die Augen und konzentrierte sich.
„Bitte Wand, gib mir dein Geheimnis frei und zeig mir erneut deine Inschriften, damit ich erfahre, wie ich die Seele von Allturith in mir retten kann“, flüsterte Adalbert leise, der sich irgendwie selbst dumm dabei vorkam. Wie konnte er eine Wand aus kaltem Fels um einen Gefallen bitten?
Doch als wenn diese nur auf seine Bitte gewartet hätte, begann sie plötzlich ganz leicht zu vibrieren und wurde zunehmend wärmer. Das Horn von Fantigorth, welches sich Adalbert über seine Schulter gehängt hatte, reagierte ebenfalls und leuchtete kaum wahrnehmbar. Und mit jedem einzelnen seiner Atemzüge wurde das grünliche Schummerlicht heller.
„Da ist es wieder, das seltsame Licht“, murmelte Jordill aufgeregt. „Ihr seht, wir haben euch kein Märchen erzählt!“
Doch daran hatte sowieso keiner auch nur den geringsten Zweifel gehabt. Instinktiv nahm Adalbert das Horn von der Schulter und drückte es behutsam gegen die Wand. Wie kleine Blitzstrahlen schossen plötzlich unzählige grüne Leuchtkugeln, groß wie Hagelkörner, aus der Stelle, wo die Wand vom Horn berührt wurde. Entgegen aller Erwartungen verletzten diese Leuchtkörper keinen der erschrockenen Anwesenden. Jedes Mal, wenn sie jemanden berührten, änderten sie ziellos ihre Richtung und schwebten scheinbar schwerelos im Raum umher. Mit ihrem geheimnisvollen Licht verwandelten sie den ganzen Stollen in eine mystische Stätte.
Wenige Augenblicke später vereinten sich alle Lichtpunkte zu einem einzigen grünen Lichtkörper, der direkt über Adalberts Kopf schwebte und an eine grünfarbene Sonne erinnerte. Doch diese Sonne schickte ihr Licht nicht in Strahlen aus, sondern in harmonischen Wellenbewegungen, die fast einem rhythmischen Muster zu folgen schienen. Mit der dritten oder vierten Lichtwelle gegen die Felswand wurden dann die geheimen Runen sichtbar.
Olstaff war so von diesem einzigartigen Schauspiel verzaubert, dass er nur staunend da stand. Erst als Lady Coralljah ihn bat, doch endlich die Runen auf seine Tafel zu schreiben, wurde er schlagartig so eifrig, als ob sein Leben davon abhinge.
Lady Coralljah schob sich an Okoriath und Rostorrh vorbei und kam ganz dicht an Adalbert und die schimmernde Wand heran. Sie wollte sich nicht allein auf Olstaffs Schreibgeschwindigkeit verlassen, sondern sich die Runen unbedingt selbst einprägen, ehe sie womöglich wieder in der Dunkelheit verschwanden.
„Es wird die Zeit kommen“, begann sie langsam und mühsam mit der schwierigen Übersetzung der geschwungenen Runen, „da die geheimen Worte zur Einleitung der heiligen Tragorarrh gesprochen werden müssen, um die Übertragung – oder Hinüberbringung, da bin ich mir nicht so sicher – der edlen Seele zur Wiedergeburt eines mächtigen Drachen einzuleiten. Nur der erwählte Seelenträger selbst darf der Tragorarrh beiwohnen und die behütete Formel leise sprechen, die als allerhöchstes Geheimnis von einem Lorhdrachen auf den nächsten Lorhdrachen weitergegeben wird.“
„Was ist denn eine Tragordingsda?“, fragte Birgit Jordill flüsternd.
„Das ist die endgültige Übertragung der Seele, die Adalbert in seiner Brust trägt, auf den neuen Drachenkörper“, erklärte der Elf leise. Birgit nickte zwar verstehend, aber Jordill ahnte, dass sie nicht wirklich verstanden hatte. Er nahm sich vor, es ihr später genau zu erklären.
Nun trat eine nervenzerreibende Stille ein. Lady Coralljah schien mit ihrer Übersetzung nicht weiterzukommen.
„Wenn ich die nächsten Runen richtig interpretiere, denn ich kenne sie nicht und kann ihre Bedeutung nur aus dem Zusammenhang heraus deuten“, begann sie endlich erneut, „dann wird aus der möglichen Einheit des Parkardorrhs und des wiedergeborenen Drachen, Wargos’ erster Krieger, der edle Sekuriath!“
„Wer oder was soll Wargos’ erster Krieger sein und was ist ein Parkardorrh?“, fragte Ritter Rostorrh nachdenklich.
„Die Antwort darauf muss ich dir leider schuldig bleiben, denn darüber steht hier nichts weiter“, antwortete die Lady.
„Ich bin der Parkardorrh, ich bin der Seelenträger!“, antwortete Adalbert selbstsicher. Diese Antwort hätte jeder von der wissenden Lady Coralljah erwartet, aber bestimmt nicht von ihm.
„Was steht da noch? Wie geht denn nun die Formel, die ich können muss?“, wollte er wissen.
Er hatte seine Worte kaum zu Ende gesprochen, als sich das Licht wieder aus der Wand zurückzog und in der schwebenden Lichtkugel aufging. Das grüne Leuchten wurde zunehmend schwächer, bis die Kugel mit einem leisen Zischen erlosch. Die Runen waren verschwunden und die Wand wieder kalt.
„Oje, jetzt konnten wir die Formel nicht lesen! Das kann doch nicht alles gewesen sein“, stöhnte Adalbert enttäuscht, der instinktiv wusste, dass sich die Runen nicht ein drittes Mal zeigen würden.
„Es gab nichts mehr zu lesen, als das, was ich euch übersetzt habe, aber das war doch schon sehr viel, lieber Adalbert“, beruhigte ihn Coralljah.
„Wir haben etwas sehr Wichtiges erfahren“, fügte Olstaff hinzu. „Der genaue Wortlaut für die Seelenübertragung müsste eigentlich unserem Lorhdrachen Okoriath bekannt sein!“
Jeder blickte nun zum Lorhdrachen, der ziemlich ratlos erschien, und seine Tochter Sintarillh bat ihren Vater, doch endlich zu erzählen, was er wusste.
„Es tut mir wirklich leid, aber ich kann euch nicht helfen“, war die ernüchternde Antwort.
„Als ich seinerzeit zum Lorhdrachen gewählt wurde, war die Ratsrunde völlig verwaist und verlassen. Ich konnte kein Wissen und schon gar keine geheimen Formeln von meinen Vorgängern erfahren und übernehmen. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist die Tatsache, dass meine Vorgängerin die Lorhdrachin Murwirtha war.“
„Die ehrenwerte Lady Murwirtha!“, wiederholte der Elfenkönig Trillahturth andächtig ihren Namen. „Es muss schon eine Ewigkeit her sein, dass ich das letzte Mal ihren Namen gehört habe. Angeblich soll sie sich damals in das hohe Eisgebirge zurückgezogen haben, um dort in der Nähe der Kalten Hand einsam das Leben einer Eremitin zu führen und den damaligen Schrecken des Drachenlandes zu entfliehen. Doch das sind nur vage Überlieferungen und keiner weiß, ob sie nicht schon längst gestorben ist.“
„Dann lasst sie uns suchen, denn sie muss ja schließlich die geheime Formel kennen!“, forderte Adalbert die anderen hastig auf.
„In Wargos’ edlem Namen, so soll es sein!“, bekräftigte der Lorhdrache Adalberts Tatendrang.
Nachdem die Mitglieder des Drachenrates etwas Zeit gefunden hatten, die einzigartigen Ereignisse in der grünleuchtenden Höhle zu realisieren, denen sie vor wenigen Augenblicken hatten beiwohnen dürfen, bat der Lorhdrache Okoriath sie zur Abschlussbesprechung in die heilige Ratshöhle. Nicht nur zu Adalberts Überraschung wurden auch der Jungritter Torgorix, der immer noch sehr verstörte Erik und der Ritter Knut von Tronte dazu eingeladen.
Nachdem der weiße Drache die drei Letzteren über die wesentlichen Ereignisse des heutigen Vormittages informiert hatte, bat er sie, sich zur weiteren Besprechung in die freie Loge der ehemaligen Gemarkung des Ostlandes zu setzen, sozusagen zur Linken Adalberts. Es benötigte keiner besonderen Drachenkenntnis, um zu sehen, mit welcher Ehrfurcht sich Torgorix auf den verwaisten Drachenplatz legte. Dabei blickte er immer wieder verstohlen zu seiner Mutter, als wenn er sie fragen wollte, ob er das denn auch wirklich dürfe. Als ihm Lady Coralljah wohlwollend zunickte, genoss er das dicke Kissen, welches ihm von einem Logenwächter unter das Kinn geschoben wurde.
„Es erschwert unser Vorhaben ungemein, dass ich von meiner Vorgängerin, der ehrenwerten Lorhdrachin Murwirtha, keinerlei Informationen erhalten habe und somit auch die geheime Formel nicht kenne, die Adalbert zur Übertragung der Seele Allturiths benötigt. Doch wir wären keine Mitglieder des Drachenrates, wenn wir uns dadurch entmutigen ließen. Probleme und Schwierigkeiten werden tatkräftig angegangen und schließlich gelöst. Wir wachsen an unseren Aufgaben.“
Jeder der Anwesenden erkannte deutlich, dass Okoriath sehr darüber verärgert war, dass er nicht über das wichtige Wissen verfügte, welches ihm als Lorhdrachen zugestanden hätte. Voller Tatendrang fuhr er dann jedoch fort: „Somit werden sich jetzt vier wesentliche Aufgaben für uns ergeben, denen wir unverzüglich nachgehen müssen und von deren Ausgang das Wohl des gesamten Drachenlandes abhängen könnte. Jede einzelne dieser Aufgaben ist ein Teil des gesamten Schutzplanes gegen die Bedrohung durch den Druiden Snordas mit seinen fürchterlichen Kriegshorden und darf nicht scheitern.
Trotzdem besteht keinerlei Zweifel daran, dass die höchste Priorität der Aufgabe zukommt, Allturiths Seele zu retten. In einer längeren Besprechung sind sich in der letzten Nacht die weise Lady Coralljah, die ehrenwerten Elfenkönige Trillahturth und Erithjull, unsere schlauer Freund Kronglogg, der erfahrene Ritter Rostorrh, der geschätzte Freund Olstaff und ich darüber einig geworden, dass uns die Rettung von Allturiths Seele nicht nur den Sohn von Zaralljah und Merthurillh wiederbringen wird, sondern von viel größerer Wichtigkeit für das Wohl des ganzen Landes sein könnte, als wir heute zu ahnen oder gar zu erkennen in der Lage sind.