Arik der Schwertkämpfer
Götter, Helden und Dämonen
Band 13
Im Land der Roten Stürme
von Kerstin Dirks & Alfred Wallon
© dieser Digitalausgabe by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
www.alfredbekker.de
postmaster@alfredbekker.de
EDITION BÄRENKLAU, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius
Das Siegel der dunklen Mächte – Die große Fantasy-Saga von Alfred Wallon und Marten Munsonius
© by Kerstin Dirks & Alfred Wallon und Edition Bärenklau, 2015
Cover © by Steve Mayer mit Hubert Schweizer, 2015
Der Umfang dieses Ebooks entspricht 210 Taschenbuchseiten.
1. digitale Auflage 2015 Zeilenwert GmbH
ISBN 9783956174148
Jorgas und drei andere Kinder saßen in dem großen Gemeinschaftszelt, welches den Mittelpunkt der Siedlung bildete. Sie hatten sich um das blaue Feuer versammelt und lauschten Jorgas Worten. Stolz berichtete der Junge von seinem Abenteuer mit Arik.
Riumar, die erste und auch größere der beiden Sonnen, neigte sich am östlichen Horizont langsam ihrem Untergang zu. Erfreut schaute Jorgas aus dem Zelt und sah zum Himmel auf, der an dieser Stelle eine dunkelrote Farbe angenommen hatte. Endlich sah der Junge die Möglichkeit gekommen, nach Arik zu sehen.
Es dauerte nicht lang und er hatte den Schwertkämpfer in einem abgelegenen Zelt am Rande der Siedlung ausgemacht. Arik hatte die Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen und war tatsächlich in dieser gekrümmten Haltung, auf Fellen sitzend, eingeschlafen. Ein leises Schnarchen kam über seine leicht geöffneten Lippen. Jorgas musste bei dem friedlichen Anblick, den Arik bot, herzhaft lachen.
Trotz seines muskelbepackten Körpers erinnerte ihn der weiße Krieger in diesem Moment an ein kleines Kind, welches im Sitzen eingeschlafen war.
Ungewollt weckte der Junge Arik durch sein schrilles Gelächter. Dieser fuhr erschrocken hoch und blickte sich verstört um, als hätte jemand das Horn zum Angriff geblasen. Es dauerte einige Sekunden, ehe sich der Schwertkämpfer orientiert hatte.
Wo war er hier?
Langsam kam die Erinnerung zurück …
„Du bringst mich immer wieder zum Lachen, weißer Krieger“, amüsierte sich Jorgas.
Arik gab ein grimmiges Schnauben von sich und verkniff sich eine sarkastische Bemerkung. Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass Jorgas sich gern über ihn lustig machte und immer alles besser wusste. Inzwischen hatte er sogar das unbestimmte Gefühl, dass es dem Jungen Freude bereitete, ihn in Verlegenheit zu bringen.
„Riumar ist untergegangen, du kannst jetzt aus dem Zelt kommen. Heute war ein besonders heißer Tag. So heiß wird es nur alle zwanzig Jahre, wenn sich die Sonnen am höchsten Punkt für mehrere Stunden überschneiden. Aber nun ist es überstanden“, erklärte Jorgas in einem altklugen Tonfall, obwohl er mit seinen zwölf Jahren nie zuvor den „Tag Atrius“ erlebt hatte.
„Gut, dann kann es ja losgehen.“
„Losgehen?“
Arik nickte ernst und wollte sich an dem Kind vorbei aus dem Zelt schieben, doch Jorgas hielt ihn am Arm zurück.
„Warte! Was meinst du mit: ‘Dann kann es losgehen?’“
Arik drehte sich zu dem Jungen um und erklärte: „Lat-Zong hat mein Schwert. Ich brauche aber diese Waffe um zu überleben! Und genau deshalb werde ich sie mir jetzt zurückholen.“
Jorgas kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und brachte dadurch ungewollt sein rotes, filziges Haar durcheinander.
Er braucht ein Schwert zum Überleben?
Beinah hätte Jorgas erwidert, wie leicht es doch war, auch ohne Waffen in der Wüste zu bestehen. Doch dann fiel ihm ein, wie ungeschickt sich der weiße Krieger seit ihrer ersten Begegnung angestellt hatte. Er hatte nicht gewusst, wo Wasser zu finden war, und einen Sandsturm hätte er auf zehn Schritt Entfernung nicht erkannt. Die Tatsache, dass Jorgas Arik aufgrund seiner hellen Haut und der sonnenfarbenen Haare zuerst für einen Gott gehalten hatte, erschien dem jungen Nomaden nun umso lächerlicher.
Vermutlich ist er tatsächlich auf diese Waffe angewiesen, so traurig es auch ist …
„Ich werde dir helfen!“, sagte Jorgas plötzlich entschlossen.
Arik hob erstaunt eine Augenbraue. Hatte er sich gerade verhört? Wollte Jorgas ihm tatsächlich helfen?
War ihm denn nicht bewusst, dass er dadurch gleichzeitig den Anführer seines Stammes hinterging?
„Jetzt schau mich nicht so entsetzt an, Arik. Du bist doch ein Freund, und Freunden helfe ich immer“, sagte Jorgas aus tiefster Überzeugung.
Freund …
Wie gut es tat solche Worte zu hören. Arik erkannte, er war nicht allein in dieser Welt, er hatte einen treuen Freund. Und dass Jorgas seiner Freundschaft würdig war, hatte der Junge mehr als nur einmal bewiesen.
Dankbar klopfte der Schwertkämpfer Jorgas auf die Schulter. Auch er empfand tiefe Freundschaft für ihn. Und das war erstaunlich, bedachte man dass sie sich erst seit zwei Tagen kannten.
„Ich habe auch schon eine Idee“, erklärte Jorgas aufgeregt.
„Lat-Zong wird das dunkle Schwert bei sich tragen. Ich lenke die Wachen ab, indem ich sie in ein Gespräch verwickle und ihnen etwas Rumbrak in den Telfor mische. Das wird sie schläfrig machen. Du stiehlst dich in der Zwischenzeit in Lat-Zongs Zelt, schnappst dir das Schwert, und dann treffen wir uns wieder hier. Hast du das verstanden, Arik?“
„Natürlich“, zischte der Schwertkämpfer etwas gekränkt. Viel gab es da ja auch nicht zu verstehen. Obgleich er sich unweigerlich fragte, was wohl ein „Rumbrak“ und ein „Telfor“ waren?
„Mach dir keine Sorgen wegen Lat-Zong. Er hat einen sehr tiefen Schlaf. Und wenn ich tief sage, meine ich auch tief!.“
Ein vielsagendes Grinsen zeichnete sich auf Jorgas Lippen ab.
„Klingt gut. Lass es uns versuchen.“
„Nicht so schnell. Noch ist Atriu nicht untergegangen. Erst wenn es dunkel wird, legt sich Lat-Zong zur Ruh. Wir müssen warten!“
„Es ist soweit“, flüsterte der Junge. Endlich war auch die zweite Sonne am westlichen Horizont untergegangen. Ihre letzten Strahlen tauchten den Himmel in rote und blaue Farben, die sich zu einem einzigartigen Muster vereinten.
„Ich sehe nach dem Rechten. Lass Lat-Zongs Zelt nicht aus den Augen, ich gebe dir ein Zeichen! Doch zuvor muss ich noch einiges vorbereiten. Also übe dich in Geduld.“
„Ich werde es versuchen …“
Auf leisen Sohlen schlich Jorgas zum Zelt der alten Schamanin Malya. Wenn jemand Rumbrak-Kräuter und Telforsaft besaß, dann war es seine Ziehmutter! Die Rumbrak-Kräuter waren sehr selten, besonders in dieser Gegend. Darüber hinaus waren sie äußerst begehrt, da schon ein Rumbrak-Blatt genügte, um eine ganze Sharlane zu betäuben. Aus diesem Grund wurden die Kräuter gern von Jägern und Kriegern verwendet, die ihre Waffen mit dem Saft gepresster Rumbrak-Blätter beträufelten.
Auch der Telforsaft galt als wertvoll. Er wurde aus den so genannten Telforfrüchten gewonnen. Diese waren erst dann reif und genießbar, wenn sie in einer strahlend roten Farbe schimmerten. Telforfrüchte wuchsen nur in wenigen Oasen. Dem Saft, der ähnlich wie die reife Frucht ein sehr markantes Rot besaß, sprach man zudem eine kräftigende und heilende Wirkung zu.
Zu Jorgas Glück war Malya, wie schon so oft zuvor, in einem tranceartigen Zustand, als er ihr Zelt betrat. Die alte Frau saß auf ihrem Nachtlager, hatte die Beine zum Schneidersitz übereinander geschlagenen, die Hände auf ihre Knie gelegt und den Kopf in den Nacken geworfen. Leise sprach sie mit den Geistern, dann summte sie ihre Melodien und ließ sich nicht von Jorgas stören, der flink einige Rumbrak-Kräuter aus einem kleinen Beutel nahm und diese in einen mit Telfor gefüllten Lehmkrug tat. Den kleinen Finger tunkte Jorgas in die Brühe und rührte diese kräftig um, so dass sich die bläulichen Kräuter mit dem roten Saft vermischten.
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen dachte Jorgas an die beiden Wachmänner, die von der roten Farbe des Telforsaftes getäuscht, sein Gebräu gierig herunterschlucken würden.
Ich wünsche eine geruhsame Nacht ….
Die beiden Wächter, die links und rechts neben dem Ausgang des Zeltes positioniert waren, blickten den Jungen, der ihnen mit einem gefüllten Lehmkrug zuwinkte und dabei hastigen Schrittes in ihre Richtung lief, neugierig an.
„Ich habe etwas für euch!“, sagte Jorgas, als er die schwarzen Männer erreicht hatte. Diese konnten ihre gierigen Blicke gar nicht von dem Krug lassen, als rochen sie bereits den Telfor.
„Was ist das?“, fragte der eine.
„Frischer Telforsaft. Was dachtest du denn? Meine Ziehmutter Malya schickt mich. Sie sagt, sie hätte etwas herein getan, das euch stärkt. Die Nacht ist noch lang, und ihr könnt doch gewiss eine kleine Stärkung vertragen.“
Verführerisch hielt Jorgas den Krug Telfor unter die Nase der Männer. Selbst für die Nomaden, die in den Oasen der roten Wüste zu Hause waren, war Telfor ein kostbares Gut. Nichts ging über frischen Telforsaft.
Die Männer konnten nicht widerstehen. Gierig trank der Erste fast den ganzen Krug leer. Für den Zweiten blieb nicht viel übrig. Doch es war genug, um ihm binnen von Sekunden die Kräfte zu rauben. Betäubt sackten beide Wächter in sich zusammen und blieben regungslos am Boden liegen. Jorgas nahm schnell den Krug an sich und winkte Arik, der alles von seinem Zelt aus beobachtet hatte, zu sich herüber.
„Du hast etwas gut bei mir, Kleiner“, flüsterte Arik seinem Freund zu. Dann betrat er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, Lat-Zongs Zelt.
Der Anführer der Nomaden lag auf mehreren Kissen gebettet in der Mitte des Zeltes. In einem gleichmäßigen Rhythmus hob und senkte sich sein gewaltiger Bauch, während sein Atem von einem schier ohrenbetäubenden Schnarchen begleitet wurde. Hektisch sah sich Arik nach dem Schwert um. Irgendwo hier musste es sein. Er durfte keine Zeit verlieren. Dann entdeckte er die dunkle Klinge. Sie lag am Boden, zu Lat-Zongs Rechten. Seine fleischige Hand umschloss den Griff, und es schien fast so, als würde er das Schwert sogar im Schlaf fest umklammern. Auf leisen Sohlen schlich Arik zu ihm heran. Sein Herz schlug so heftig in seiner Brust, dass es ihm fast Schmerzen bereitete.
Vorsichtig legte Arik eines der Felle, die über den Sandboden ausgebreitet worden waren, auf die Waffe. Er fürchtete, dass die Berührung seiner Hand das edle Metalls zum Surren bringen würde. Dieses Geräusch hätte womöglich Lat-Zong geweckt. Das konnte und wollte Arik nicht riskieren. Er packte das Schwert an der Klinge. Auch wenn er noch so behutsam vorgegangen war, riss die Schneide ihm durch das Fell die Haut auf. Der Schwertkämpfer zischte leise vor Schmerz. Fest biss Arik die Zähne zusammen, um den Aufschrei noch im Keim zu ersticken, und zog das Schwert vorsichtig in seine Richtung. Tiefer bohrte sich die Klinge in seine Hände. Er spürte, wie das Blut bereits durch das Fell sickerte und zwischen seinen Fingern hindurch quoll. Doch er durfte jetzt nicht aufgeben und sich dem Schmerz ergeben. Erst musste er das Schwert aus Lat-Zongs Griff befreien. Und schließlich hatte der junge Krieger die Waffe so weit gelöst, dass er die Klinge auf den Boden legen und das Schwert beim Griff nehmen konnte. Das Blut rann an dem Knauf herab und tropfte herunter, direkt auf Lat-Zongs Hand. Schweiß trat auf Ariks Stirn, als Lat-Zong plötzlich laut schnaubte und sich im Schlaf aufzubäumen begann.
Verdammt! Wach jetzt bloß nicht auf.
Unruhig wälzte sich der Anführer der Nomaden von einer Seite zur anderen. Doch anstatt die Augen aufzuschlagen, legte er sich schließlich mit einem schmatzenden, zufrieden klingenden Laut auf den Bauch und schlief seelenruhig weiter, als könne ihm die ganze Welt nichts anhaben.
Ein zentnerschwerer Stein fiel Arik vom Herzen.
Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen, dachte er und nahm die Beine unter die Arme. So schnell er konnte, eilte er nach draußen. Dort stieß er fast mit Jorgas zusammen, der inzwischen eines der Pferde losgebunden hatte.
„Jorgas … was … was soll ich mit dem Pferd?“, stammelte Arik, der sich erst einmal von dem Schrecken erholen musste.
„Zu Pferd bist du schneller“, erklärte Jorgas und drückte Arik die Zügel in die blutverkrustete Hand. Die Wunde war nicht sonderlich tief und hatte sich bereits geschlossen.
Arik nickte seinem kleinen Freund verstehend zu. Er war Jorgas unendlich dankbar für alles, was er für ihn bisher getan hatte.
„Es ist gefährlich in der Nacht aufzubrechen, doch dir bleibt wohl keine andere Wahl. Was hast du jetzt vor?“, fragte der Junge, während er sich gemeinsam mit Arik von den Zelten entfernte und auf einen Sandhügel zuhielt. Bei Nacht sah die Wüste seltsam friedlich aus. Das Meer aus roten Sandkörnern schimmerte nun in einem sanften Grauton und die Sterne funkelten wie kleine Diamanten am Firmament. Kaum vorstellbar, dass die Wüste gerade in der Nacht die meisten Gefahren barg.
„Ich werde den Augur suchen.“
Der Augur????
Jorgas Herz machte vor Schreck einen Sprung. Entsetzt klammerte er sich an Ariks Arm.
„Ich habe dir doch erzählt, wie gefährlich der Augur ist. Wieso hörst du nicht auf mich?“
„Mach dir keine Sorgen um mich, Jorgas. Ich habe das Gefühl, der Augur kann mir helfen. Er und nur er allein.“
„Und was ist, wenn du dich irrst? Wenn er dich mit Haut und Haaren verschlingt, so wie all die anderen zuvor?“
„Das wird er nicht, denn ich habe das hier!“ Arik hielt das dunkle Schwert in die Höhe, steckte es dann schwungvoll in seine Scheide und sprang einen Atemzug später auf das Pferd.
Jorgas schüttelte nur bedrückt den Kopf. „Es ist zu gefährlich“, wiederholte er. Doch er wusste, dass er Arik nicht umstimmen konnte. Er kannte den Schwertkämpfer inzwischen gut genug, um das zu wissen.
„Jorgas, sag mir, wo ich ihn finden kann, wenn du es weißt.“
Wortlos deutete der Nomadenjunge nach Westen.
„Gut. Dann werde ich in diese Richtung reiten … mach’ s gut, Kleiner. Und pass auf dich auf!“, sagte Arik und stieß seine Stiefel in die Flanken des Tieres. In Windeseile galoppierte er in die Nacht hinein. Jorgas brachte kein Wort des Abschieds über seine Lippen. Er sah seinem Freund nur nach, bis er hinter den gewaltigen Dünen verschwunden war.
Am nächsten Morgen wurden die Nomaden von einem lauten Schrei geweckt. Lat-Zong war aufgewacht und hatte schlaftrunken nach dem Schwert greifen wollen. Doch seine Finger waren ins Leere geglitten. Wo war die Klinge? Panik stieg in ihm auf. Plötzlich war er hellwach.
„Wo ist das Schwert?“, schrie er aufgebracht. Doch niemand wusste seine Frage zu beantworten. Wütend ballte der Nomadenführer die Hände zu Fäusten und eilte aus dem Zelt, um seine Männer zur Rede zu stellen.
„Wo ist der Fremde?“, herrschte er die beiden Wächter an. Doch die Nomaden konnten sich nicht an die letzte Nacht erinnern. Hatte Jorgas ihnen den Telfor gebracht? Oder hatten sie nur geträumt? Ihre Erinnerungen waren weg, als hätten sie nie existiert oder wären mit einem Schlag ausgelöscht worden.
„Du hast ihm doch aufgetragen das Lager zu verlassen, sobald der Morgen angebrochen ist“, erinnerte ihn Jorgas, der schnell zum Ort des Geschehens geeilt war, in einem freundlichen Ton.
Lat-Zong nickte ernst. Ja, das hatte er. Aber der Fremde hatte das Lager ohne die Waffe verlassen sollen! So war es nicht geplant gewesen. Lat-Zong war sich sicher, wenn jemand das Schwert an sich genommen hatte, dann war es dieser Fremde. Der Fremde, der Unglück über ihn und seinen Stamm bringen würde, wie es schon vor Jahrtausenden vorausgesagt worden war. Irgendwie musste es ihm gelingen, das Schwert zurückzuholen und zu verhindern, dass sich die Prophezeiungen doch noch erfüllten.
Arik wusste nicht mehr, wo er sich befand. Im Grunde genommen hatte er schon die Orientierung seit einigen Stunden verloren – aber er hatte sich das nicht eingestehen wollen. Diese monotone Landschaft sah überall gleich aus, und der Schwertkämpfer ertappte sich bei dem Gedanken, dass er womöglich diese Stelle hier schon einmal passiert hatte und nur im Kreis geritten war. Nachprüfen konnte er das nicht, denn der stetig auf- und abflauende Wind hatte jegliche Spuren verwischt und mit dem allgegenwärtigen roten Sand bedeckt.
Hinzu kam die Hitze der beiden Sonnen, vor deren grellem Licht es kein Ausweichen gab. Selbst jetzt noch empfand er diese gleißende Helligkeit als quälend, obwohl die Mittagszeit wahrscheinlich schon längst verstrichen war. Arik konnte das nur grob abschätzen, denn er war nach wie vor ein Fremder in dieser Welt und eigentlich noch hilfloser als ein einzelnes Staubkorn in der Wüste ….
Was für ein Vergleich, sinnierte er und blickte weiter hinüber zum weiten Horizont, wo die Hitze ganz stark zu flimmern begann. Seine Kehle fühlte sich ganz ausgetrocknet an, und dem Pferd erging es nicht besser. Trotzdem konnte Arik das Tier noch nicht tränken, weil er mit dem vorhandenen Wasservorrat haushalten musste. Denn der Gedanke, dass er sich vermutlich trotz der Hinweise von Jorgas verirrt hatte, behagte ihm gar nicht.
Ursprünglich hatte er nach Westen reiten und dort nach dem Auguren suchen wollen. Nun musste er feststellen, dass die Sonnen sich doch weiter östlich befanden und er zu sehr mit seinen eigenen Gedanken zugange gewesen war. Ein Fehler, der sich jetzt rächte, denn es sah alles danach aus, als wenn er vom Weg abgekommen war. Viel schlimmer noch – er wusste noch nicht einmal, in welcher Richtung sich das Zeltlager der Nomaden befand, denn der feine Sand hatte alles zugeweht.
Es juckte ihn am ganzen Körper, und er hätte alles dafür gegeben, wenn er eine Quelle gefunden hätte und sich von dem klebrigen Sand hätte reinigen können. Aber das verwehrte ihm das Schicksal, indem es dafür gesorgt hatte, dass er in die Irre geritten war.
Das Tier unter ihm verfiel in einen holprigen Trab. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um zu erkennen, dass es förmlich nach frischem Wasser lechzte. Wenn Arik nicht bald eine Wasserstelle fand, dann bedeutete dies das Ende. Also nahm er notgedrungen den Beutel aus Ziegenleder, öffnete den Verschluss und schüttete ein wenig von dem kostbaren Nass in seine Handfläche. Damit feuchtete er die Nüstern des Tieres an, das sich dafür mit einem kräftigen Schnauben bei ihm bedankte. Anschließend spülte Arik seinen Mund mit einem kleinen Schluck aus und atmete dann kräftig durch.
Dieses Land ist die Hölle, dachte er. Ich weiß zwar nicht, wie es an anderen Orten auf dieser Welt aussieht, aber der FÄHRMANN scheint sich wohl einen großen Spaß daraus gemacht zu haben, mich ausgerechnet an dieser Stelle abzusetzen. Ob er mich immer noch prüfen will …?
Die Antwort darauf blieb ihm jetzt und hier verwehrt. Nach wie vor musste er ums Überleben kämpfen – ohne die Hilfe seiner Gefährtin Jesca und der Götterklinge Valnir. Und je länger er darüber nachdachte, umso unwirklicher erschienen ihm all die Ereignisse, die ihn in den Besitz des Schwertes gebracht und all die gefährlichen Abenteuer hatten erleben lassen. Aber all dies gehörte endgültig der Vergangenheit an, denn der FÄHRMANN hatte ein Urteil gefällt und Ariks einstige Welt dem Untergang preisgegeben. Mehr wusste Arik nicht, und wahrscheinlich würde er auch nie etwas erfahren …
Seine Blicke schweiften über die Dünen. Dass ihn die Nomaden und insbesondere Jorgas für einen Narren hielten, das war ihm klar. Jeder, der freiwillig hier draußen nach dem Auguren suchte, musste in deren Augen wahrscheinlich komplett wahnsinnig sein. Aber Arik konnte nicht anders – er musste einfach diesen Weg gehen. Denn sein Gefühl sagte ihm, dass er nur so des Rätsels Lösung näher kam. Denn noch immer klammerte er sich an einen winzigen Fetzen Hoffnung, vielleicht doch eines Tages diese Welt wieder verlassen und zu seiner eigenen wieder zurückkehren zu können. Auch wenn er nicht wusste, was zwischenzeitlich dort geschehen war und ob Jesca überhaupt noch am Leben war. Vielleicht hatte ihn der FÄHRMANN ja auch nur täuschen wollen …
Arik stieg aus dem Sattel und führte das Tier am Zügel, um ihm wenigstens etwas Erleichterung zu verschaffen. Mittlerweile hatte sich der Wind erneut gedreht und blies ihm die Sandkörner jetzt direkt ins Gesicht. Sofort senkte Arik den Kopf und kniff die Augen zusammen. Der Wind ließ erst nach, als er eine Senke erreicht hatte und dann seinen Weg im Schütze einiger Dünen fortsetzte, die den größten Teil des Windes abhielten. Nun türmten sich zu beiden Seiten große Sandberge auf und versperrten ihm den Blick über die weite Ebene. Aber er kam nun auch besser und schneller voran, und nur das zählte.
Wahrscheinlich hätte Arik seine Meinung sehr rasch geändert, wenn er gewusst hätte, welche Gefahr jenseits der Dünen auf ihn lauerte …
Prinz Nygal lächelte grausam, als er in der Feme die Silhouette des einsamen Reiters bemerkte. Gleichzeitig wuchs das Gefühl der inneren Unruhe, als sich die Konturen im Licht der gleißenden Sonnen verdeutlichten. Zuerst wollte der Prinz gar nicht glauben, was er da sah. Aber dann wurde ihm bewusst, dass dieser einzelne Reiter ein Fremder war – ein Krieger mit heller Haut und einer Haarfarbe, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Der Traum …“, murmelte er gedankenverloren. „Jetzt gewinnt er an Bedeutung. Ich wusste, dass ich die Wahrheit hier draußen zwischen den Dünen finde …“
Sofort wandte er sich ab und winkte den Männern zu, die ihn auf diesem Ritt begleitet hatten. Unweit der Anhöhe, auf der der Prinz hinter einigen Geröllbrocken stand und schon seit geraumer Zeit seine Blicke über die trostlose Ebene schweifen ließ, hatten seine Krieger ein kleines Lager errichtet und gönnten sich eine kurze Ruhepause. Obwohl jeder von ihnen ganz genau wusste, dass die Unruhe den Herrscher bald wieder antreiben würde, die Suche in der Wüste fortzusetzen.
„Aufsitzen!“, rief er ihnen zu. „Ein Reiter kommt. Schnappt ihn euch – aber ich will ihn lebend. Habt ihr verstanden?“
Es bedurfte keiner weiteren Worte. Die Männer hatten sofort begriffen, was ihr Herr von ihnen verlangte. Sie erhoben sich rasch, gingen hinüber zu den Pferden und saßen auf. Ihre Waffen hatten sie griffbereit und warteten jetzt nur noch auf die Befehle des Prinzen.
„Kreist ihn von zwei Seiten ein“, trug er ihnen auf, nachdem er ebenfalls aufgesessen war. „Zeigt ihm, dass er keine Chance hat! Los jetzt!“
Die Krieger nickten und trieben ihre Pferde an. Längst hatten sie ihre Schwerter und Streitäxte gezogen und würden sie bedenkenlos einsetzen, wenn der fremde Reiter sich zu wehren versuchte. Aber das würde er sicher nicht tun, denn jemand, der gegen solch eine waffenstarrende Übermacht zu kämpfen versuchte, war ein blutiger Narr!
Arik wischte sich mit einer fahrigen Bewegung eine Haarsträhne aus der Stirn. Er schwitzte stark, denn sein Körper hatte sich natürlich nicht so schnell an die permanente Hitze gewöhnen können. Der Schwertkämpfer fühlte sich wie in einem gigantischen Backofen und spürte immer mehr, wie mürbe ihn dieses Klima machte. Zu allem Überfluss war auch noch die schützende Lakratzwurzel vollständig von seiner Haut gebröckelt. Deshalb hielt er Ausschau nach einem Schatten spendenden Platz, wo er bis zum Sonnenuntergang ausharren und erst dann seinen Weg fortsetzen konnte.
Schließlich fand er eine Stelle zwischen zwei Dünen, wo sich einige Geröllbrocken befanden, die für etwas Schatten sorgten (überhaupt schienen Schatten in diesem krassen Sonnenlicht eher eine Ausnahme zu sein). Sofort dirigierte er sein Pferd darauf zu.
Er wollte schon erleichtert aus dem Sattel steigen, als er plötzlich den Reiter bemerkte, der auf der anderen Seite der Dünen auftauchte und in seiner rechten Hand eine blitzende Lanze schwang. Arik zuckte zusammen und tastete mit der rechten Hand nach dem dunklen Schwert. Rasch riss er es aus der Scheide, während jetzt ein Gedanke den anderen jagte.
Zu seinem Entsetzen tauchten noch vier weitere Reiter auf – alle ebenfalls schwer bewaffnet. Sie zugehen ihre Tiere in einiger Entfernung und beobachteten stumm, wie sich Arik jetzt verhielt. Der Schwertkämpfer wollte in einer plötzlichen Entscheidung sein Tier an den Zügeln herum reißen und dann die Flucht ergreifen – aber daraus wurde nichts mehr. Denn ein weiterer Reitertrupp näherte sich von der anderen Seite der Dünen und nahm ihn damit praktisch in die Zange.
Arik wog die Klinge in seinen Händen, während er fieberhaft überlegte, was er jetzt tun sollte. Er schalt sich selbst einen Narren, weil er nicht rechtzeitig darauf geachtet hatte, ob sich Verfolger auf seiner Fährte befanden. Oder war er womöglich in einen Landstrich eingedrungen, wo man jedem Fremden sofort mit der Waffe entgegen trat? Möglich war alles, denn Arik wusste ja kaum etwas über Tulian, seine Bewohner und die unterschiedlichen Stämme und Völker.
„Was wollt ihr?“, rief er dennoch mutig und reckte die Klinge in Richtung der Gegner. „Wenn ihr kämpfen wollt, dann versucht es! Einige von euch werden es mit dem Leben bezahlen …“
„Wirf dein Schwert weg!“, forderte ihn jetzt eine raue Stimme auf. „Sieh her – du hast keine Chance!“
Von einem unguten Gefühl getrieben, folgten Ariks Blicke dieser Aufforderung. Dann entdeckte er weitere drei Männer zwischen den Dünen, die mit gespannten Bögen nach ihm zielten. Es bedurfte nur eines einzigen knappen Befehls, und schon würden die gefiederten Todesboten die Sehne verlassen. Keine Frage, diese Pfeile würden ihr Ziel auch treffen – da war Arik machtlos.
„Worauf wartest du noch?“, erklang dieselbe drohende Stimme nochmals. „Oder willst du jetzt und hier sterben?“
Arik überlegte fieberhaft, aber er konnte es drehen und wenden wie er wollte. Es gab keine andere Lösung, als sich diesen Kriegern zu ergeben. Eine unbändige Wut ergriff ihn, als er notgedrungen sein Schwert fallen lassen musste. Was von den Kriegern natürlich mit einem hämischen Gelächter quittiert wurde.
Nur Bruchteile von Sekunden später ritten drei der Gegner auf Arik zu. Einer von ihnen zielte mit seiner Lanze auf ihn, während ein anderer rasch aus dem Sattel stieg und nach der dunklen Klinge griff, die zu seinen Füßen im Sand lag. Der Krieger nahm die Waffe rasch an sich und trat dann schnell wieder zurück. In seinen Zügen spiegelte sich ein triumphierendes Grinsen wider.
„Ihr könnt stolz darauf sein“, richtete Arik das Wort an die Krieger. „Es ist keine große Kunst, einen Einzelnen mit solch einer Übermacht in die Knie zu zwingen und …“
Noch während die letzten Silben über seine Lippen kamen, erhielt er plötzlich einen unerwarteten Schlag mit der Breitseite eines Schwertes. Der Mann, der Ariks Waffe an sich genommen hatte, war es gewesen. Arik ging in die Knie und spürte Übelkeit in seinem Magen. Er musste kurz die Augen schließen und versuchte, sich rasch wieder zu erheben.
Als er dann den Kopf hob, sah er einen weiteren Reiter auf sich zukommen. Es war ein Mann, der ganz in dunkle Gewänder gehüllt war und auf dem Haupt einen wuchtigen silbrig schimmernden Helm trug. Kein Zweifel – dieser Mann war der Anführer des Reitertrupps, und als er genau auf Arik zuritt, verstummten die anderen Krieger.
„Das Schwert!“, befahl er dem Mann, der Arik die Waffe entrissen hatte. „Gib es mir – schnell!“
Der Krieger zögerte keine Sekunde mehr, sondern händigte seinem Herrn die dunkle Klinge rasch aus. Was Arik erneut signalisierte, dass dieser Mann gefährlich war. Der Schwertkämpfer beobachtete, wie der Mann die Klinge in die Hand nahm und mit den Fingern der linken Hand fast zärtlich über die Schneide strich, während sich ein triumphierendes Lächeln auf seinen blassen Gesichtszügen abzeichnete.
Für Arik sah es so aus, als wenn der Mann beim Berühren der Klinge plötzlich zusammengezuckt war – weil er etwas gespürt haben musste, was von dem Schwert selbst ausging. Arik erinnerte sich jetzt wieder an den Augenblick, wo er selbst die Klinge zum ersten Mal in der Hand gehalten hatte. Damals hatte er ähnliche Empfindungen verspürt. Aber der Anführer dieses Kriegertrupps schien auf … seltsame Art und Weise mit dem dunklen Schwert verbunden zu sein. Ohne dass sich das Arik erklären konnte. Er wusste einfach, dass es so war.
„Packt ihn und fesselt diesen Hund!“, erklang dann die Stimme des Anführers. Dann waren auch schon vier Krieger herbeigeeilt und stürzten sich auf den Schwertkämpfer. Mit brachialer Gewalt zwangen sie Arik nieder und fesselten ihn dann. Dann musste Arik im Sand knien, und einer der Männer drückte sein Haupt zu Boden, um ihm auf diese Weise klarzumachen, dass er in ihren Augen nichts anderes war als ein Tier, mit dem man nach Belieben verfahren konnte.
„Weißt du, wer ich bin?“, richtete der Anführer der Krieger nun das Wort an Arik. Seine Augen blitzten kurz vor Zorn auf, als Arik ihm nicht gleich antwortete. Deshalb vollzog er mit der linken Hand eine knappe Geste. Einer der Krieger trat von hinten heran und trat Arik in die Rippen. Der Gefesselte stöhnte vor Schmerz und krümmte sich kurz.
„Ich bin Prinz Nygal“, hörte er den Anführer der Krieger. „Ich herrsche über die Stadt der Opale und alles Land bis weit zum Horizont. Du bist in mein Reich eingedrungen, Fremder. Und ich habe gehört, dass du mit diesen verfluchten Rebellen Kontakt aufgenommen hast. Dafür wirst du büßen …“
„Behandelt man so friedliche Reisende?“, erwiderte Arik mit trotziger Stimme. „Kennst du das Recht der Gastfreundschaft nicht, Prinz Nygal?“ Er betonte den Titel besonders abfällig, und das entging Nygal natürlich nicht. Deshalb handelte sich Arik einen weiteren schmerzhaften Tritt ein, der ihn wieder stürzen ließ. Trotzdem rappelte er sich so gut es ging wieder auf, um seinen Gegnern ja keine deutliche Schwäche zu zeigen.
„Es sind kühne Worte – du wirst sie noch bereuen“, sprach der Prinz weiter. „Wir werden die Wahrheit schon noch erfahren – du wirst uns alles erzählen, glaube mir. Dann wirst du einen gnädigen Tod bekommen. Los, packt ihn – wir nehmen ihn mit zur GRAUSAMEN QUELLE. Dort wird sich sein Schicksal erfüllen …“
Arik wurde von den Kriegern hart nach vorn gerissen und zu seinem Pferd geschleppt. Dort hievte man ihn dann in den Sattel und band seine Beine unter dem Bauch des Tieres zusammen. Jetzt war er den Kriegern des Prinzen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert!
„So fremd bist du in Tulian nicht mehr, du Hund!“, richtete Nygal das Wort an seinen Gefangenen. „Ich habe gewusst, dass wir uns eines Tages begegnen werden – und ich danke den Göttern, dass dies schon so früh geschehen ist …“
Dann gab er seinen Männern das Zeichen zum Aufbruch, und der Reitertrupp setzte sich mit dem gefangenen Arik langsam in Bewegung. Arik befand sich inmitten der Krieger. Er hätte noch nicht einmal ohne Fesseln eine Chance gehabt. Selbst jetzt, wo er ganz offensichtlich wehrlos war, hielten drei der Männer des Prinzen noch ihre Schwerter griff bereit – ein deutliches Zeichen, dass sie ihn für sehr gefährlich hielten. Auch wenn sich Arik nicht erklären konnte, warum das so war. Oder reichte schon die Tatsache, dass er ein Fremder war und dieses Land ohne die Erlaubnis des Prinzen betreten hatte?
Von Jorgas wusste Arik ja schon, dass Prinz Nygal dieses Reich mit eiserner Hand regierte und die Rebellen einen erbitterten Widerstandskampf gegen ihn führten. Blut war schon unzählige Male auf beiden Seiten geflossen, und Arik wurde nun auf ganz besonders dramatische Weise in diese Ereignisse mit hineingezogen.
Das würde ihn Kopf und Kragen kosten!
Ich hätte besser bei den Nomaden bleiben und auf Jorgas Rat hören sollen, schoss es Arik durch den Kopf, während einer der Krieger sein Pferd an den Zügeln lenkte. Was nützt mir jetzt noch die Suche nach dem Auguren? Ich muss völlig blind gewesen sein und bin dem Feind buchstäblich in die Arme gelaufen …