Lisa Graf-Riemann, in Passau geboren, studierte Romanistik und Völkerkunde und war als Redakteurin und Autorin für große Schulbuchverlage tätig. Sie schreibt Kriminalromane und Reisebücher. Seit vielen Jahren besitzt die Autorin ein altes Natursteinhaus in Südfrankreich, das sie eigenhändig renoviert hat. Der Roman ist auch eine Liebeserklärung an das Languedoc und seine Bewohner.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Im Anschluss an den Roman finden Sie eine Auswahl von Rezepten zu südfranzösischen Gerichten, die im Roman serviert werden.
© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Photononstop/LOOK-foto
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne Bartel
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-817-5
Südfrankreich Krimi
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Du siehst, dass ich noch tiefer
in den Süden gegangen bin –
ich habe zu deutlich gemerkt,
dass der Winter weder meiner Gesundheit
noch meiner Arbeit guttut …
Die Frauen hier sind sehr schön,
das ist kein Schwindel.
Vincent van Gogh
Ein Heiliger kann kein Voodoo
Es wird noch zur Manie, dachte Isa und fragte sich im nächsten Augenblick, ob sie jetzt langsam durchdrehte. Mit wachsendem Glauben hatte das jedenfalls nichts zu tun, ihr Glauben war in den letzten Tagen ganz bestimmt nicht stärker geworden, auch wenn sie hier sonntags manchmal zur Messe ging. Verzweiflung, das war schon eher der Grund für ihre vielen Wallfahrten. Isa war verzweifelter geworden, und ihre Verzweiflung war auch der Grund, weshalb sie jetzt schon wieder hier heraufpilgerte, zum heiligen Martin von den Eiern, und das auch noch in der Mittagshitze. Es gab Gründe, und die wurden mit jedem Tag stärker. Allerdings hatte das rein gar nichts mit der Umgebung zu tun, denn die war immer noch atemberaubend, Verzweiflung hin oder her.
Eine märchenhafte Landschaft in den Ausläufern der Cevennen. Grüne Kastanienwälder, aus denen ein paar felsige Gipfel ragten, jahrhundertealte Pfade mit ausgetretenen, abgeschliffenen Steinpflastern markierten die Verbindungslinien zwischen den uralten Siedlungen. Nach Süden hin wurde das Land flacher. Weinfelder, Mandelbäume und Granatapfelsträucher, die Gebirgsbäche flossen durch fruchtbare Täler dem Meer zu. Endlose Platanenreihen säumten die Landstraßen. Isa musste bei ihrem Anblick immer an Napoleons Fußtruppen denken, die hier dankbar den Schatten der Bäume genossen hatten. Die Gegend war es also nicht, die sie langsam, aber sicher zum Verzweifeln brachte. Eher schon ihre Bewohner.
Nichts gegen ihre Gastgeberin. Isa wäre froh, würde sie in deren Alter nicht mehr Macken und Ticks haben als sie heute. Aber anstrengend war das tägliche Zusammensein mit ihr trotzdem. Heute Morgen hätte Isa sie glatt auf ein entfernteres Gestirn schießen wollen, der Mars wäre ihr definitiv zu nahe gewesen. »Ich kam in die Küche«, hätte sie ihrer besten Freundin gern am Telefon erzählt, »und rief fröhlich: ›Guten Morgen!‹« Aber Isa befand sich in einer etwas abgelegenen Gegend von Südfrankreich, im Herzen des Languedoc, und bis hierher reichte noch kein Handynetz. Sie rief also »Hallo!« und »Einen schönen guten Morgen!«, da behauptete ihre Gastgeberin Madame Giselle Merckx, ihr Auftritt käme nicht unbedingt überraschend. Sie habe Isa schon lange gehört, denn sie stapfe ja wie ein Elefant durch das historische Haus mit seinen mit Strohmatten und Lehm ausgestopften Zwischenböden. Mit dieser Bemerkung hätte Isa sogar noch leben können. Immerhin war Giselle Merckx mindestens doppelt so schwer wie sie, daher traf sie der Elefantenvergleich nicht. Zumindest nicht besonders.
»Jetzt sind die Eier hart, Mist!«
Sie hatte es genau so gesagt. So, als sei nur Isa daran schuld. Aber das war natürlich Quatsch, was hatte sie denn schon getan? Nichts, nur freundlich gegrüßt. War ja nicht verboten, nicht einmal in diesem Haus, dachte Isa. Zumindest war das bis vor Kurzem noch so gewesen. Außerdem war Giselle fünfundsiebzig. Sie hätte Zeit genug gehabt, das Eierkochen zu lernen oder sich mit einer Eieruhr auseinanderzusetzen. Trotzdem musste Isa schlucken, und Giselle Merckx bemerkte es.
»Ach, Kindchen«, sagte sie, »das war doch nicht so gemeint.«
Wie denn dann?, fragte Isa sich.
»Du isst dein Ei doch auch, wenn es hart ist, nicht?«, fragte Giselle. Die Frage war rhetorisch gemeint, eine Antwort unnötig. Schon lag ein zerplatztes Ei mit weißen Blasen auf Isas Frühstücksteller.
»Im Übrigen solltest du jetzt wirklich bald etwas unternehmen«, keifte sie auch schon, bevor Isa noch den ersten Schluck Kaffee trinken konnte. »Jetzt bist du schon fast eine Woche hier, und es ist immer noch nichts passiert.«
Isa brauchte Hilfe, das war ihr so was von klar. Sie trank ihren Kaffee aus, steckte sich das hart gekochte Ei und ein Stück Baguette in die Tasche und machte sich auf den Weg.
»Zeig’s ihnen endlich!«, rief Madame Merckx ihr noch hinterher und fuchtelte mit dem Kochlöffel herum, als führe sie ein Florett. Isa hätte ihre Worte gern nicht mehr gehört.
Vor der Haustür stolperte sie über eine der beiden Katzen, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte. Die dicke Braune gab ihr fauchend zu verstehen, dass Isa ihr nicht sonderlich sympathisch war.
Sie nahm den direkten Weg vom Dorf hinüber auf die andere Seite des Flusses. Im Sommer führte er nur wenig Wasser, und davon zweigten einige Leute, darunter an erster Stelle Mados Ehemann, Jean Vidal, sich auch noch etwas für die Bewässerung seines Gartens ab. Im Fall von Jean handelte es sich sogar um Gärten, im Plural. Eigentlich war es eine Frechheit und außerdem nicht erlaubt, was Jean da mit seinem Schlauch anstellte. Er hatte ihn sorgfältig getarnt, aber alle wussten Bescheid. Trotzdem würde niemand ihn auf der mairie anschwärzen. Im Dorf hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn einer sich mehr Wasser genehmigte und bei den anderen dafür die Blumen vertrockneten.
Isa hüpfte in ihren Turnschuhen auf den großen weißen Steinen über den Fluss und kämpfte sich am anderen Ufer die steile Böschung hinauf. Seit Jérôme hier kein Holz mehr für seinen Kamin schlug, sondern es sich im Baumarkt kaufte, wucherte der Weg zu. Erst hatten sich die Brennnesseln, dann die Brombeeren ausgebreitet, für die Isa eine Machete mitgebracht hatte. Vielleicht auch als Waffe. Nicht weil sie sie wirklich einsetzen wollte, sondern um zumindest den Schein von Wehrhaftigkeit zu erwecken oder sich selbst Mut zu machen.
Beinahe wäre sie automatisch auf den Trampelpfad abgebogen, der direkt zu ihrem Haus führte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass sie dort nicht einfach aufkreuzen konnte und ihr Besuch auch nicht erwünscht war. Isa kämpfte sich den so gut wie weglosen Hügel hinauf. Blöde Idioten! Richteten sich in ihrem Haus ein, zahlten seit Monaten keine Miete und ließen über das Gelände auch noch zwei schwarze Hunde patrouillieren, die so groß waren, dass kein Pferdemetzger der Welt Skrupel gehabt hätte, Wurst aus ihnen zu machen. Scheiß Schurkenpack!
Isa wusste schon, warum die für sich bleiben wollten. Denn trotz ihrer Vorsicht gab es ein paar Stellen, von denen aus man einen Blick auf die Stauden werfen konnte, die jetzt in ihrem ehemaligen Vorgarten wuchsen. Wie die Soldaten standen sie da, eine neben der anderen, und es war leicht zu erkennen, dass ihre tausend Hände mehr als fünf Finger hatten. Isa bildete sich sogar ein, das Kraut bis hierher riechen zu können. Wenn ihr kleiner Bruder und seine Kumpel gewusst hätten, was hier angebaut wurde, hätte sie sie wahrscheinlich nicht mehr halten können. Ihr Brüderchen hätte alles dafür gegeben, um bei ihren zahlungsunwilligen Mietern einen Job als Erntehelfer zu bekommen – genauso wie seine Freunde, Freundesfreunde und Freundesfreundefreunde.
Isa überlegte schon, einen der beiden Polizisten, die sich im Nachbarort sinnlos den Hintern ihrer Uniformhosen durch Sesselsitzen abwetzten, anzurufen und ihn aufzufordern, in dieser Sache tätig zu werden, machte dann aber doch einen Rückzieher. Denn schlagartig war Isa eines klar geworden: Ließ sie die Bewohner ihres Hauses hochfliegen, bekäme sie nie mehr ihre Miete von ihnen. Also änderte sie ihre Pläne und drückte ihnen beide Daumen, zumindest bis zur Ernte und zum folgenden Zahltag, zu dem sie sich dann pünktlich bei ihnen einfinden würde.
Weiter hinauf, keuchen, Pause, weiter hinauf, keuchen, Pause. Isa hielt den Rhythmus durch bis zum heiligen Martin. Endlich geschafft. K.o., aber besser gelaunt als noch beim Frühstück, setzte sie sich auf die Stelle, wo schon seit Langem eine Bank fehlte.
Und auf einmal wurde ihr auch klar, warum es an ebendieser Stelle kein Bänkchen gab. Durch ein akustisches Phänomen, das ihr bisher nicht aufgefallen war, weil sie so gut wie immer allein hier oben war, hörte man an dieser Stelle jedes einzelne Wort, das in der Kapelle an den Heiligen von den Eiern, Saint Martin des œufs, gerichtet wurde. Die obere Hälfte der grün lackierten Eisentür war lediglich vergittert und stand den Schallwellen so quasi sperrangelweit offen.
»Dass Rebecca auf ihre Klausur an der Uni ein Gut und Neffe Sébastien endlich seinen Führerschein wiederbekommen hat, das hast du wirklich toll gemacht. Und auch, dass Jeans Motorsense jetzt wieder astrein läuft, damit er weitermähen kann, ohne zu fluchen. Denn mähen muss er ja immer. Danke auch, Saint Martin, dass ihn noch niemand im Dorf wegen seiner Wasserleitung angezeigt hat. Und auch dafür, dass von der zweiten und der dritten Leitung anscheinend noch keiner etwas weiß. Du bist so gut zu uns, aber dafür bringe ich dir ja auch zweimal die Woche frische Blumen. Und das heimliche Schnäpschen, das wir hier zusammen trinken, bleibt auch weiterhin unser Geheimnis, n’est-ce pas?«
Die Stimme, die Isa hörte, war die von Jeans Frau Madeleine, genannt Mado, mit Betonung auf dem o. Isa hatte sie sofort erkannt. Aber sie wusste auch, dass es eigentlich nicht schicklich war, andere Menschen zu belauschen. Doch so schnell und lautlos kam sie jetzt gar nicht mehr hoch von ihrem Sitzplatz, und außerdem war die Neugier zwar ein Laster, aber keine Todsünde.
»Was ich mir heute von dir erbitte, cher Martin, das ist von einem ganz anderen Kaliber. Es wäre schön, wenn du mir dabei helfen könntest. Wenn es nicht zu egoistisch ist. Du entscheidest. Aber ich erzähle es dir trotzdem, einverstanden? Jeder von uns hat doch seine Träume. Erinnere dich, du warst doch auch mal ein Mensch. Sogar Soldat in der römischen Armee. Da wirst auch du allerhand erlebt und gesehen haben, nicht nur Heiliges, hab ich recht? Nein, nicht dass du auf falsche Gedanken kommst. Von etwas Unzüchtigem träume ich gar nicht. Ich bin seit dreißig Jahren verheiratet, und mein Jean ist immer noch sehr aktiv. Und das, obwohl er abends immer Baldriantee trinkt. Aber mein Jean oder besser sein Trieb scheint immun dagegen zu sein. Manchmal habe ich sogar den Verdacht, dass der Tee bei ihm den gegenteiligen Effekt hat. Ich habe ja nichts gegen ihn, also gegen den Trieb, aber manchmal ist es mir einfach zu anstrengend, verstehst du das? Andererseits … Oh, entschuldige, ich quassle hier mit dir, einem Heiligen, als wärst du meine Nachbarin. Mein Problem ist also nicht so sehr der, ja, also, der Sex, sondern vielmehr Jean mit seiner Eifersucht und dass er mich immer bei sich und um sich herum haben will, so als wäre ich seine Kurtisane, sein Hund oder seine Geisha. Er ist ganz der Pascha oder der Sonnenkönig, und ich soll ein Satellit sein, der Tag und Nacht um ihn kreist. Ich weiß, zu deiner Zeit war das genau wie in meiner Jugendzeit noch üblich. Eigentlich seltsam, dass sich über die Jahrhunderte hinweg gar nicht so viel geändert hat, zumindest in dieser Hinsicht, oder? Aber die Dinge, von denen ich träume, gehen in eine ganz andere Richtung. Meinst du, ein Mensch kann seine Träume lenken, vielleicht sogar in die Gegenrichtung? Als junger Mensch, ja, das könnte ich mir sogar vorstellen, aber auch noch in meinem Alter? Meine Träume werden immer stärker, ich habe fast schon das Gefühl, sie sind bereits stärker als ich. Könnte das eine Prüfung sein? Nein, das glaube ich nicht. Ich bin doch keine Heilige. Warum sollte Gott mich prüfen wollen? Und ich träume auch nicht davon, heilig zu werden. Allerdings möchte ich so gern Mitglied im ›Club Voyage‹ in Bérieux werden. So, jetzt ist es draußen. Findest du das verwerflich? Du bist mit deiner Armee doch auch viel herumgekommen. Von Rom nach Südfrankreich, das war damals eine halbe Weltreise. Und als sie dich festhalten und zum Bischof weihen wollten, das hab ich nachgelesen, also kannst du es ruhig zugeben, da hast du dich in einem Gänsestall versteckt, weil du Angst hattest, deine Freiheit zu verlieren. Aber die Gänse haben so laut geschnattert, dass sie dich verraten haben. Okay, dass du vielleicht auf das Federvieh nicht so gut zu sprechen bist, das kann ich ja sogar verstehen. Aber dass man ihnen bis heute an deinem Namenstag an die Gurgel geht, das finde ich wirklich nicht in Ordnung. Das hast du nicht gewollt, sagst du? Das ist nur eine Legende? Na gut, aber in Ordnung finde ich es trotzdem nicht. Wie? Mit den Eiern ist es dasselbe? Auch alles nur ein Lügenmärchen? Aber die Leute bringen Eier herauf zur Kapelle, um sie von dir segnen zu lassen, seit ich denken kann. Warum sagst du ihnen dann nicht, dass dir die Eier am …? Entschuldige! Ich meine, dass du für Eier überhaupt nicht zuständig bist. Dass alles nur ein großes Missverständnis ist. Ja, klar, du sprichst nicht mit jedem. Nein, bitte, du machst mich ganz verlegen. Ich weiß ja gar nicht, was ich dazu sagen soll. Mein Traum? Ach so, ja, der Traum. Also, der Club organisiert nämlich Reisen in die ganze Welt, und meine Nachbarinnen sind alle schon lange dabei: Giselle, die Belgierin, Sévérine, Claudine, sogar Arlette. Sie hat es so organisiert, dass eine Krankenschwester ins Haus kommt und nach Arnault, ihrem Mann, sieht, wenn sie unterwegs ist. Arnault sagt immer, sie soll ruhig mitfahren und etwas von der Welt sehen, auch wenn er nach seiner Krankheit das Haus fast nicht mehr verlassen kann. Das ist mal eine Prüfung! Aber zum Glück ist Arnault vernünftig und gönnt seiner Frau den Spaß und die Erholung. Mein Jean ist da leider nicht so vernünftig, und gegönnt hat er mir noch nie auch nur irgendwas.«
Ja, das wissen alle im Dorf, dachte Isa und wunderte sich nur, dass der heilige Martin es anscheinend noch nicht gewusst hatte. Dann lauschte sie weiter. Sie wollte unbedingt wissen, wie dieser Kuhhandel ausgehen würde.
»Jean hat mir verboten, dem Club beizutreten. Er hat gesagt, das erlaubt er nicht. Bin ich vielleicht kein Mensch? Bin ich nicht erwachsen? Sind wir im Mittelalter? Brauche ich seine Erlaubnis, um etwas ganz Normales zu tun? Nein, die brauche ich ganz sicher nicht. Also bin ich beigetreten, aber Jean weiß es noch nicht. Ja, stimmt schon, der Beitritt ist also nicht mehr mein Problem, denn ich bin ja schon dabei. Es kostet auch nichts. Nur wenn man sich für eine Reise anmeldet, bezahlt man eben das, was die Reise kostet. Eine faire Sache, findest du nicht? Na gut, okay, du willst dich da raushalten, ich versteh schon. Jedenfalls habe ich Geld auf die Seite gelegt, schon seit einigen Monaten, und jetzt habe ich die Reisekosten beisammen. Wohin es gehen soll, fragst du? Marokko, stell dir das mal vor! Im Oktober. Ja, gut, das ist ein moslemisches Land, aber die Römer waren lange Zeit auch keine Christen, oder? Und überleg doch mal. Das Problem sind nicht die Moslems. Das Problem ist Jean, der noch gar nichts von meinen Plänen weiß. Er weiß noch nicht einmal, dass ich Club-Mitglied geworden bin.«
Isa hörte tiefes Seufzen und war gespannt, wie der Eierheilige sich da aus der Affäre ziehen würde.
»Ich weiß, dass ich es ihm einfach sagen muss. Er wird bestimmt toben, er ist ja so cholerisch. Er wird um sich schlagen, Geschirr vom Tisch hauen, seine Weinflasche zerdeppern. Und er wird mir damit Angst machen. Das schafft er ganz leicht. Ich soll eine Freundin mitnehmen, wenn ich es ihm sage? Das kann ich nicht, da würde ich mich ja zu Tode schämen. Und hinterher müsste ich dafür büßen, weil auch Jean sich schämen würde. Nein, das geht so nicht, das habe ich mir doch alles auch schon überlegt. Es gibt einfach keine Lösung! Deshalb bin ich ja hier. Deshalb habe ich dir die allerschönsten Schwertlilien aus Jeans Garten mitgebracht, natürlich habe ich sie heimlich geschnitten, damit er es nicht merkt. Er weiß, dass ich dir immer wieder Blumen aus seinem Garten bringe, aber es passt ihm nicht. Er ist nicht sehr religiös, weißt du? Du musst mir helfen, Martin, mein geliebter Heiliger, nur du kannst es. Denk nur an Sébastiens Führerschein und Rebeccas Noten an der Uni. Und an Jeans alte Motorsense. Das hast du doch auch hingekriegt. Du kannst es! Ich verlasse mich auf dich.«
Isa stellte sich vor, wie sich Mado nach diesen letzten Worten theatralisch vor dem Altar auf den Boden warf. Aber sagte man zu einem Heiligen tatsächlich: »Ich verlasse mich auf dich«? Das war doch wohl der falsche Text. Stattdessen müsste es »Ich vertraue auf dich« heißen, dachte Isa und erinnerte sich an die Gebete, die sie als Kind gelernt hatte. Na, egal, der Heilige würde auch so verstanden haben, dass Mados Anliegen wirklich wichtig war und er sich jetzt etwas einfallen lassen musste.
»Nein, nein, nein, mich darfst du nicht fragen, was du machen sollst. Würde ich dich denn bitten, wenn ich es selbst wüsste? Hier, ich habe ein Unterhemd von Jean mitgebracht. Ein getragenes.«
Isa schüttelte sich, denn sie wusste, wie Jean normalerweise herumlief, und zwar nicht nur in seinen eigenen vier Wänden: im Unterhemd nämlich. Und so, wie die französischen Zigaretten früher gelb statt weiß gewesen waren, weil sie in Maispapier eingerollt wurden, so lief auch Jean grundsätzlich in grauen und nicht in weißen Unterhemden herum. Ein hundertmal verwaschenes Graphitgrau war das, mit sich überlagernden gelblichen Schweißringen unter den Achseln und Verschleißlöchern auf der Brust, die aussahen wie die Wurmlöcher in der Lindenholz-Statue des heiligen Martin von den Eiern. Der sich anscheinend eine Denkpause gegönnt hatte, denn in der Kapelle war es seit einigen Sekunden mucksmäuschenstill.
»Ich weiß, dass du kein Voodoo-Priester bist«, unterbrach Mado die Stille. »Denk bitte nicht so schlecht von mir. Du kennst mich doch! Komme ich nicht seit zwanzig Jahren mindestens einmal in der Woche zu dir herauf? Du weißt, dass ich nicht abergläubisch bin. Deshalb esse ich auch keine Gänse zu St. Martin. Das finde ich nämlich nicht in Ordnung. Gut, dann packe ich das Unterhemd eben wieder in meine Tasche. Ich bitte dich um Verzeihung, aber ein Heiliger kann ja sowieso nicht nachtragend sein, oder? Also vergessen wir es und werden es nie wieder erwähnen. Okay? Hast du schon eine Idee? Es muss ja keine Herzkrankheit sein wie bei Arnault, nein, das muss es auf keinen Fall. Jean würde auch nie eine fremde Person zur Pflege akzeptieren. Nie! Dass er mit mir zusammen verreist? Wo denkst du hin? Jean hat drei riesige Gärten zu betreuen. Bis Oktober ist Erntezeit, ich muss Gemüse milchsauer einlegen, Beerenwein keltern, Marmelade einkochen und Kompott kochen, denn weiter oben auf dem Hügel hat er sogar eine kleine Obstplantage mit Äpfeln, Pfirsichen, Kirschen und Birnen. Williams Christ, die sind phantastisch, und jedes Jahr werden die Früchte mehr und größer. Leider sind sie extrem empfindlich und müssen sofort verarbeitet werden, sonst werden sie braun. Sofort, verstehst du? Ja, entschuldige, natürlich verstehst du. Ich bin schon ganz durcheinander. Im Winter verreisen? Hallo? Da ist in Marokko alles weiß, die haben genauso hohe Berge wie wir in den Alpen. Nein, ich werde mit den anderen aus dem Dorf im Oktober fahren. Ich habe schon gebucht, und wenn ich zurücktrete, bekomme ich mein Geld nicht wieder. Das Flugticket ist auch schon reserviert, so etwas muss man schließlich planen! Wenn man einmal unterschrieben hat, kann man nicht am nächsten Tag sagen, dass man doch nicht will. Und außerdem will ich ja. Es wird meine erste Reise seit neunundzwanzig Jahren. Damals haben wir unsere Hochzeitsreise nachgeholt. Wir waren in der Schweiz, aber dort hat es mir nicht so gut gefallen. Ich hatte immer nur Bauchschmerzen von dem schweren Essen. Aber die arabische Küche, die wird mir schmecken. Manchmal hole ich uns donnerstags Couscous mit Hühnchen von Paul, unserem Metzger. Jean hält das für Verschwendung, weil wir doch so viel Gemüse im eigenen Garten haben. Er will nie etwas kaufen oder außer Haus essen, was in unserem Garten wächst, also isst er im Restaurant immer nur Berge von Fleisch. Aber ich mag Couscous, und ich mag es auch, wenn ich nicht immer selbst kochen muss. Ich würde ja gern mehr ausprobieren, auch fremde Gewürze und so, aber Jean stochert dann immer nur im Essen herum und sagt, es schmeckt ihm nicht.«
Das konnte Isa sich lebhaft vorstellen, wie die beiden da zusammen hausten und sich das Leben gegenseitig schwer machten. Sie hätte Jean auch nicht bei sich am Esstisch sitzen haben wollen. Schon wegen des verschwitzten grauen Unterhemds nicht, das er auch zu den häuslichen Mahlzeiten nicht wechselte. Wäre ja Verschwendung gewesen.
»Oh, so spät schon!«, hörte sie Mado plötzlich aufschreien. »Jetzt muss ich aber zurück ins Dorf, sonst schimpft Jean mich wieder eine Betschwester. Sogar auf dich ist er eifersüchtig, stell dir das mal vor!« Sie kicherte. »Also, mein lieber heiliger Martin, lass dir bitte etwas einfallen, ja? So viel Zeit habe ich nicht mehr! Du weißt ja, wie schnell der Sommer vorübergeht, und bald kommt Rebecca aus Montpellier, und wir beide fahren bestimmt öfter ans Meer. Dann kann ich vielleicht nicht mehr so oft zu dir heraufkommen. Das nächste Mal werde ich dir aber wieder etwas Leckeres mitbringen. Der Johannisbeerlikör müsste bis nächste Woche fertig sein. Ich hab ihn schon probiert. Er wird ein Gedicht, sage ich dir! Ich bin schon so gespannt, was dir zu Jean einfallen wird, wie du ihn bekehren kannst. Aber wenn aus einem Saulus ein Paulus werden kann, dann müsste aus einem Jean doch auch ein frommer Jean Paul zu machen sein, oder? Ein Belmondo muss er ja nicht mehr werden.«
Während Isa hörte, wie Mado kicherte und ihre Sachen zusammenpackte, stützte sie sich mit den Händen am Boden ab und stemmte sich auf wenig elegante Weise so überhastet in die Vertikale, dass ihr schwindelig wurde. Als Mado aus der vergitterten Tür trat, fiel Isa ihr fast entgegen. Mado bekreuzigte sich vor Schreck.
»Jesus, Maria und Josef! Was machst du denn hier oben?«, fuhr sie Isa an. »Bist du über Nacht etwa katholisch geworden?«
»Ich gehe hier spazieren«, antwortete Isa. »Ich muss über einige Dinge nachdenken.«
»Und denkst du schon lange nach? Ich meine, bist du schon länger hier oben?«
»Ich bin gerade erst raufgekommen«, log Isa. »Eine Bank, auf der man sich ausruhen könnte, gibt es hier ja immer noch nicht.«
Mado sah sie prüfend an.
»Mit wem hast du denn da drinnen gesprochen?«, fragte Isa, als Mado sich schon sicher fühlte. »Ist da noch jemand?«
»Quatsch! Ich habe gebetet«, behauptete Mado. »Das solltest du vielleicht auch manchmal tun. Die Heiligen wissen so viel mehr als wir, nicht wahr?«
»Keine Ahnung«, sagte Isa. »Mit mir sprechen die nicht.«
»Dann musst du ihnen mehr Gelegenheit dazu geben. Bei mir hat es auch fünfzehn Jahre gedauert, bis er mir geantwortet hat. Oder bis ich ihn gehört habe.«
»Wen denn überhaupt?«, fragte Isa.
»Wartest du auf mich?«, fragte Mado und wich so einer Antwort aus. »Ich bin gleich fertig, dann können wir zusammen zurück ins Dorf gehen.«
Sie warf einen letzten Blick auf ihr Schwertlilien-Arrangement in der Plastikvase, sperrte die Tür mit einem zehn Zentimeter langen Schlüssel mit langem Bart ab, bekreuzigte sich ein letztes Mal und hakte sich bei Isa unter. Zusammen nahmen sie den Schotterweg den Berg hinunter, der für Pilger und das Auto des Pfarrers angelegt worden war. Unter ihnen lag Isas Grundstück, von dem man nur ein Stück des Hausdaches und den von Pappeln dicht umstandenen Garten sehen konnte, in dem nun diese Exoten-Plantage lag, deren Pflanzen wuchsen und gediehen. Auf der anderen Seite des Flusses breitete sich das Dorf mit seinen Natursteinhäusern mit den blassroten Ziegeldächern und den schwarzen, traditionell mit Schieferplatten belegten Wetterseiten aus. Doch immer mehr Hausbesitzer hatten den Schiefer in den letzten Jahren abgenommen, statt ihn zu reparieren. Er war nicht mehr modern und zu pflegeintensiv. Und wer heute solche dunklen Platten neu anfertigen ließ, musste dafür ein Vermögen hinlegen.
Es war heiß geworden, und die beiden Frauen nahmen immer wieder Schleichwege, die von dem Serpentinenweg durch den Kastanienwald abzweigten, um der prallen Sonne zu entgehen. Mado erzählte Isa, wie sie ihre crème de marrons* [* Dieses Rezept und einige andere der Speisen, die im Roman serviert werden, sind im Anhang zu finden.] herstellte, als in den Bergen ein Schuss krachte und der Schall sich in einem unheimlichen Echo zweimal wiederholte. Oder waren es drei Schüsse hintereinander gewesen? Eine Amsel stob zeternd aus dem Unterholz, dann war es wieder still.
Laurents erstes Mufflon
Der Himmel war noch grau, als sie am frühen Morgen das Haus verließen. Sie wollten schon ein gutes Stück des Aufstiegs hinter sich gebracht haben, wenn die Sonne über die Felskante steigen und auf sie herunterbrennen würde. Verfluchte Sonne, die das Wasser aus den Böden des Midi sog, die Pflanzen trocknete wie Dörrobst und die Menschen träge machte. Die Touristen, die in Cap d’Agde und Sérignan Plage ihre Ferien vertändelten, hatten keine Ahnung davon, wie sich die Hitze und Dürre im Hinterland anfühlten, ohne Meer und ohne kühle Brise am Wasser. Davon, wie es war, dabei zuzusehen, wie der Fluss immer weniger Wasser führte, der Wasserspiegel in den Stauseen sank und sank und die Leute von der mairie aufgefordert wurden, Wasser zu sparen. Im schlimmsten Fall wurde das Wasser dann tatsächlich für mehrere Stunden am Tag abgeschaltet. Aber da die Leute trotzdem noch ihre Tomaten im Garten wässern mussten, mussten sie sich in diesem Fall eben etwas einfallen lassen.
Bald hätten sie das verlassene Dorf erreicht, dessen letzte Bewohner in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weggezogen oder ausgestorben waren. In den Achtzigern waren einige Hippies hier heraufgekommen und hatten die alten Steinhäuser mit den maroden Dächern besetzt, aber auf Dauer war ihnen der lange Aufstieg zu mühevoll gewesen, und auf eine anständige Straße hätten sie wohl ewig warten müssen. Da hätte schon ein Filmstar oder eine von diesen Sängerinnen, die halb nackt auf der Bühne herumsprangen, hier aufkreuzen müssen, um eine Zufahrt zu bekommen. Aber diese berühmten Leute würden einen Teufel tun und von ihren Villen an der Küste mit gepflegtem Rasen, Swimmingpool und Personal hier in die Einöde ziehen.
Jean zog ein verwaschenes Stofftaschentuch mit grünem Rand aus einer der vielen Taschen seiner Jagdhose und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Na, alter Mann, kannst du nicht mehr?«, fragte Laurent.
Vieil homme, so nannte er Jean, doch der würde mit keiner Miene erkennen lassen, dass ihm das etwas ausmachte. Es stimmte ja auch, er war ungefähr doppelt so alt wie Laurent. Der Junge hätte sein Sohn sein können, und warum sollten die Jungen die Alten nicht auch Alte nennen? Sie würden es schon selbst noch merken, wie sich das anfühlte. Das Altwerden selbst und dass einen jemand Alter nannte. Altwerden machte zwar keinen wirklichen Spaß, aber noch war kein Kraut dagegen gewachsen. Und Jean wollte so richtig alt werden. Das hatte er sich jedenfalls fest vorgenommen. Er tat alles dafür, möglichst lange durchzuhalten. Er war es gewohnt, viel zu arbeiten, und Arbeit hielt ja, wenn man dem Volksmund Glauben schenkte, fit. Nachdem er seinen Weinberg aufgegeben hatte, weil sich die Plackerei einfach nicht lohnte, hatte er sich erst einen zweiten, dann einen dritten Garten zugelegt. Er ging so oft wie möglich auf die Jagd und versuchte dabei, mit den jungen Kerlen wie Laurent mitzuhalten, was ihm bislang noch ganz gut gelang. Dass er dabei stärker schwitzte als die anderen, das war schon so gewesen, als er noch jung gewesen war. Er war ein guter Jäger, hatte immer noch ein scharfes Auge und kannte sich in den Bergen aus. Und er hatte eine Frau zu Hause, die auf ihre Figur aufpasste und sich die Haare färbte, kurz: die insgesamt sehr auf ihr Äußeres achtete. Nur dass sie ihm neuerdings ständig mit diesem Reiseclub in den Ohren lag, das nervte ihn. Was interessierten ihn schon China oder die Karibik? Und was hätte er denn den ganzen Tag auf einem Kreuzfahrtschiff anfangen sollen? Faul im Liegestuhl herumzufläzen, das war nichts für ihn. Am Schluss wollte Mado noch allein mit den anderen Frauen aus dem Dorf verreisen, deren Männer entweder nicht mehr gut zu Fuß, geistig nicht mehr fit oder schon gestorben waren. Den Floh mit dem »Club Voyage« hatte ihr bestimmt Giselle, die resolute Belgierin, ins Ohr gesetzt. Sie war Witwe. Ihr Mann, der schon magenkrank hierhergezogen war, lag seit zwei Jahren auf dem Friedhof von St. Julien und schaute sich die Weinreben von unten an. Obwohl sie, seit er sie kannte, nur in T-Shirts und Sandalen aus dem Supermarkt herumgelaufen war, musste die Merckx Geld haben. Die Renovierung ihres Hauses hatte sicher ein Vermögen gekostet. Jean hatte den beiden Maurern dabei zugesehen, wie sie mit der Hand die Hohlräume zwischen den Natursteinen mit ciment blanc, weißem Zement, verputzt hatten. Pro Fassade hatte das ungefähr eine Woche gedauert. Dabei waren die Handwerkerlöhne heutzutage, wie jeder wusste, fast unbezahlbar geworden. Natursteinmauern errichten und verputzen, das konnten sowieso nicht mehr viele Maurer. Und selbst wenn sie es konnten, waren die wenigsten von ihnen zu dieser Knochenarbeit bereit. Genauso, wie die wenigsten Kunden dazu bereit waren, die horrenden Handwerkerrechnungen zu bezahlen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Giselle sich noch eine Wohnung am Meer gekauft, in die sie an den Wochenenden fuhr und die sie im August an Urlauber vermietete. Und dann gondelte sie auch noch in der Weltgeschichte herum. China, Australien, weiß Gott, wo sie überall schon gewesen war. So weit hatten Jean und Mado es nicht gebracht. Sie lebten nicht schlecht, ihre beiden Kinder hatten sie auf ein gutes Internat schicken können, aber jetzt auch noch Weltreisen? Nein, das ging dann doch etwas zu weit. Außerdem wollte Jean nicht, dass Mado große Reisen unternahm. Frauen mussten im Haus bleiben, dort hatten sie doch genug zu tun. Und war es nicht immer schon so gewesen? Außerdem war Mado immer noch verdammt attraktiv, ein bisschen zu aufmüpfig vielleicht, aber oh là là, das gab ihr doch erst den richtigen Pfeffer. Ein paar Widerworte, dieses Sich-Zieren, wenn er sich ihr mit eindeutigen Absichten näherte, das gehörte doch zum Spiel, oder nicht? Das hielt ihn jung. Und solange sie sich ihm später doch noch fügte, war das auch völlig in Ordnung. Damit konnte er leben, genauso wie damit, dass sie ein- bis zweimal wöchentlich zu diesem Heiligen hinaufpilgerte. Jean konnte immer noch nicht begreifen, dass sie vor fünfzehn Jahren tatsächlich dieses dämliche Küsteramt in der Kapelle übernommen hatte, das keinen Centime einbrachte, dafür aber Arbeit machte. Doch Mado schleppte wirklich immer wieder seine Blumen zu dem Heiligen in seiner schwindsüchtigen Hütte hinauf und unterhielt sich mit ihm. Er hatte selbst gehört, wie sie ihm vom Trieb ihres Mannes, also von seinem, Jeans Trieb, vorjammerte, als er ihr einmal gefolgt war. Hehe! Jean grinste bei dem Gedanken, dass sich der Heilige die Zähne ausbeißen würde, sollte er in der Hinsicht irgendwie tätig werden wollen. Jean fühlte sich stark wie ein Pferd und sorgte dafür, dass das noch möglichst lange so bleiben würde.
»Fertig mit deiner Pause?«, fragte ihn Laurent.
Jean wusste nicht, ob er eingeschlafen war oder nur vor sich hin geträumt hatte. Er nickte. Die Sonne stand bereits über der Schlucht. Es würde ein wolkenloser heißer Tag werden, aber noch hatte sie nicht ihre volle Kraft. Also weiter.
»Immer schön in Deckung bleiben, Junge«, ermahnte Jean den Jüngeren. »Hier oben hab ich schon ganze Herden von Mufflons gesehen. Lass also die Finger von Rebhühnern, Eichelhähern und solchem Kleinzeug. Damit würden wir die Mufflons nur vertreiben, und nur die interessieren uns heute.«
»Schon klar«, entgegnete Laurent, und Jean konnte sehen, dass er nun doch etwas nervös wurde. Es war bestimmt sein erstes Mufflon, das er heute schießen würde. Gut möglich, dass Laurent noch nie ein so großes Tier erlegt hatte.
»Sind ganz schön wendig, diese Wildschafe«, sagte Jean. »Du musst schnell zielen und abdrücken, möglichst im Liegen oder aus der Deckung. Wenn sie dich sehen oder riechen, kannst du’s vergessen, kapiert?«
»Kapiert, kapiert.«
»Dein erstes Mufflon?«, fragte Jean.
Laurent grunzte und vermied ein eindeutiges Ja oder Nein. Damit war die Sache klar.
Sie bezogen auf einem Felsvorsprung im oberen Drittel der Schlucht Position. Von hier aus hatten sie das gegenüberliegende Steilufer des Wildbaches gut im Blick. Solche Aussichtsplätze waren auch bei Mufflons beliebt. Vielleicht, weil sie so die Schlucht nach möglichen Feinden oder nach Futterquellen absuchen konnten. Vielleicht genossen sie aber auch nur die tolle Aussicht. Jedenfalls würden Jean und Laurent hier warten, bis eines der Tiere auftauchte.
Nun war es Laurent, der schwitzte, obwohl ihre Nische noch im Schatten lag. Es war definitiv sein erstes Mufflon, und er machte sich ins Hemd vor dem ersten Schuss. Das zu sehen wiederum freute Jean. Erfahrung war das Einzige, womit ein Älterer gegenüber einem jungen Kerl wie Laurent punkten konnte. Der Gedanke daran ließ Jeans Hand ganz ruhig werden.
Die Felsen wirkten wie von Riesen aufgetürmt, die mit den einzelnen Blöcken Lego gespielt hatten. Der Fluss hatte sie wie eine gigantische Schleifmaschine über die Jahrtausende hinweg glatt geschliffen. Der Wasserlauf war zu dieser Jahreszeit nur mehr ein dünnes Rinnsal. Weiter unten konnte man nahe den Gumpen und Becken, die vom Flusslauf abgetrennt waren, den leichten Modergeruch wahrnehmen, aber hier oben war davon nichts zu bemerken.
Plötzlich gab Jean Laurent ein Zeichen. Mit einer leichten Kopfbewegung wies er zur anderen Seite hinüber. Etwa fünfzig Meter unter ihnen war ein Mufflon um einen Felsvorsprung gehüpft. Jean bedeutete Laurent, ruhig zu bleiben und ja nichts zu überstürzen. Vielleicht war das Tier nicht allein. Und wirklich sprang im nächsten Moment ein zweites, kleineres Wildschaf auf das Felsplateau, das aus ihrer Perspektive nicht breiter als ein Fenstersims wirkte. Es war das Junge des Mufflonweibchens, wahrscheinlich erst im Frühjahr geboren. Das Muttertier ließ den Blick über das enge Flusstal schweifen und nahm dabei auch das gegenüberliegende Ufer ins Auge. Jean und Laurent blieben reglos liegen. Jean wusste, dass Mufflons hervorragend sehen konnten. Mit den seitlich am Kopf stehenden Augen konnten sie, ohne den Kopf drehen zu müssen, einen weiten Umkreis überblicken. Wenn die Hornspitzen bei Widdern so lang wurden, dass sie ihr Sichtfeld einschränkten, dann scheuerten sie sogar die Spitzen ab. Allerdings konnten sie räumlich tatsächlich nur in einem begrenzten Gesichtsfeld sehen. Außerhalb dieses engen Winkels nahmen sie nur Bewegungen wahr, aber wenn eine Bewegung sie beunruhigte, drehten sie schnell den Kopf in diese Richtung, um das Objekt im Raum zu orten. Erst im Anschluss versuchten sie, durch Wittern und über den Gehörsinn weitere Informationen aufzunehmen, um eine Gefahr, die von dem erspähten Objekt ausgehen konnte, richtig einzuschätzen. Noch in tausend Meter Entfernung konnten sie Menschen mit bloßem Auge erkennen. Jean selbst hatte schon beobachten können, dass Mufflons, die ihr Rudel verloren hatten, zuerst nervös hin und her liefen und nach den anderen Tieren Ausschau hielten. Erst wenn sie damit nicht weiterkamen, nutzten sie ihren Geruchssinn, um dem Rudel zu folgen.
Dieses Schaf auf der anderen Flussseite schien sich mit seinem Jungen gefährlich weit vom Rudel entfernt zu haben. Jean wartete ab, bis das Muttertier, das bestimmt fünfunddreißig Kilo wog und achtzig bis neunzig Zentimeter Schulterhöhe maß, sich zu seinem Jungen umsah. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte.
Auf beide Ellbogen gestützt, legte er die Büchse an, dann zerfetzte ein Schuss die morgendliche Stille über der Schlucht.
Jagdsaison
»Jagdsaison?«, fragte Isa.
»Was sonst?«, fragte Mado zurück.
»Ich warte wirklich auf den Tag, an dem ein Hirsch lernt, ein Gewehr zu bedienen, und einen Jäger erschießt.«
»Du hast vielleicht Ideen«, sagte Mado. »Wird bei euch in Deutschland nicht gejagt?«
»Nicht wie hier, wo sie auf alles ballern, was sich bewegt. Sogar auf Hunde und Katzen.«
»Ja, unsere Männer sind ganz verrückt danach, oh là là!« Mado schnalzte mit der Zunge.
Isa konnte Mados Reaktion nicht nachvollziehen. Sie fand jagende Männer nicht besonders sexy. »Hast du’s ihm schon gesagt?«, brachte sie Mado wieder zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Was?«, fragte sie. »Wem?«
»Na, deinem Mann«, antwortete Isa. »Dass du jetzt in den ›Club Voyage‹ eingetreten bist.«
»Ich warte noch auf die passende Gelegenheit.« Mado kickte eine stachlige Kastanienschale weg. »Was ist denn jetzt eigentlich mit deinem Haus?«, versuchte sie abzulenken. »Hast du’s verkauft?«
»Vermietet«, sagte Isa.
»Für Geld?«
»Wofür denn sonst?«
»Ich meine, zahlen die Mieter auch pünktlich?«
»Es ginge schon noch pünktlicher«, wich Isa aus. Tatsächlich hatten ihre Mieter die ersten beiden Monate die Miete überwiesen wie vereinbart, aber dann war damit Schluss gewesen. Isa hatte ihnen stapelweise Mahnungen geschickt, per Einschreiben und per normaler Post. Bisher ohne jeden Erfolg. Nicht einmal eine Antwort hatte sie bekommen. Deshalb war sie jetzt hier. Die Mieter sollten entweder zahlen oder ausziehen.
»Hoffentlich hast du dir da keine Mietnomaden angelacht«, sagte Mado. »Heutzutage ist ja alles möglich. Und wenn die sich mal eingenistet haben, kriegst du sie nicht wieder raus.«
»Aber ich will doch nur erreichen, dass sie jeden Monat ihre Miete zahlen.«
»Na dann, bonne chance! Haben sie noch diesen großen Hund, den Giselle mal drüben gesehen hat?«
»Wer weiß, vielleicht sind es sogar zwei«, sagte Isa. Die Plantage in ihrem Garten verschwieg sie. »Ich habe schon daran gedacht, zur Polizei zu gehen.«
»Zur Polizei? Zu unserer Dorfpolizei?« Mado pfiff durch die Zähne. »Von denen erwarte dir mal lieber nicht zu viel. Ich weiß nicht, was unsere policiers den ganzen Tag so machen, aber wenn es darum geht, Geld von Mietern einzutreiben, solltest du dir wohl besser einen Anwalt suchen.«
Das Mufflon war bewaffnet
Jean begriff nicht sofort, was passiert war. Es hatte gekracht, ja, verdammt, das war ja nicht zu überhören gewesen. Und der Schuss war nicht aus seiner eigenen Büchse gekommen, das hätte er gemerkt. Er hatte weiterhin das Wildschaf und seinen Nachwuchs im Visier gehabt, aber genauso schnell, wie der Schall den Schuss getragen hatte, hatten Mutter und Kind ihre Köpfe gewandt, waren hinter eine Felskante gesprungen und dann verschwunden. Den Fluchtweg hatten sie ganz ohne ihren famosen Gesichtssinn gefunden.
Von einer instinktiv richtigen Einschätzung der Lage war Jeans Hirn gerade dennoch meilenweit entfernt. Der Krach hatte seine Leistung runtergefahren, und die Verarbeitung des Gehörten, Gesehenen und Gedachten lief alles andere als simultan ab. Es war, als ob die verschiedenen Sinne durch den Knall die Bereitschaft zur Zusammenarbeit verloren hätten. Als Jean schließlich realisiert hatte, dass mit ihm alles in Ordnung und das Schaf mit seinem Sprössling offenbar unverletzt auf und davon war, hörte er auch schon Laurent ein wiederholtes »Merde, merde, merde!« zwischen den Zähnen hervorstoßen. Es klang wie eine Verwünschung. Als Jean zu ihm hinübersah, bemerkte er, dass Laurents Gewehr zu seinen Füßen lag und etwas auf das Stück Fels tröpfelte, auf dem Laurent stand und wie ein Betrunkener hin und her schaukelte. Das Etwas war aber nicht etwa der warme Sommerregen, auf den die Dorfbewohner bereits so lange warteten, dass sie selbst schon nicht mehr daran glaubten, dass er vor Oktober fallen würde, sondern eine Flüssigkeit, die durch Laurents Schwanken allmählich eine kleine Straße bildete, die sich dunkler und dunkler färbte. Wasser sah anders aus, auch diese Erkenntnis drang nun ganz allmählich bis zu Jean durch. Er schaute hoch. Laurents Gesicht war vom Schmerz verzerrt. Er hatte die Zähne zusammengebissen und presste die Hand auf die rechte Schulter. Rote Rinnsale liefen über seine glatte, unbehaarte Hand mit den sehr kurzen Nägeln. Sie sammelten sich an den Fingerkuppen und fielen als Tropfen zu Boden. Es war unfassbar.
Ich habe ihn nicht angeschossen, überlegte Jean, aber das Mufflon war es auch nicht. Also musste der Idiot sich selbst getroffen haben. Ein gemeines, schadenfrohes Lachen stieg in Jeans Kehle auf. Schon hätte er laut loslachen und nie mehr aufhören mögen, aber da stöhnte Laurent auf und schwankte so stark, als würde er gleich neben seinem Gewehr zu Boden sinken.
»So hilf mir doch«, jammerte Laurent. »Du musst mir helfen.«
So, muss ich das?, dachte Jean, und die Zornesröte zeichnete sein Gesicht. Warum hatte er dieses Greenhorn bloß mitgenommen? Laurent hatte ihnen das Jagdglück verdorben und war gerade dabei, ihm den ganzen Tag zu versauen, denn womöglich erwartete er jetzt auch noch von ihm, dass er ihn den Berg hinunterschleppte. Laurel und Hardy auf dem langen Rückweg ins Dorf. Alle würden furchtbar erschrocken tun, aber der Spott des ganzen Dorfes war ihnen gewiss. Himmel, Herrgott noch mal, dabei hatte er das Mufflon schon im Visier gehabt. Er hätte nur noch abdrücken müssen.
»Was ist passiert?«, knurrte Jean und rührte sich immer noch nicht vom Fleck.
»Das Scheißding ist mir runtergefallen«, jammerte Laurent, als hätte das Scheißding ein Eigenleben und könnte selbst entscheiden, wann es herunterfiel und wann es lieber in der Hand des Jägers blieb. Er stand jetzt ganz schief, die linke Schulter unnatürlich hochgezogen, die rechte, aus der das Blut lief, schlaff nach unten hängend.
»Runtergefallen«, wiederholte Jean. »Und wie kann ein geladenes Gewehr so einfach runterfallen? Ist es vielleicht gesprungen?«
»Irgendwie ist der Trageriemen aufgegangen. Es ist heruntergefallen, und dabei hat sich ein Schuss gelöst.«
»Aufgegangen, ja?«, äffte Jean ihn nach. »Aufgegangen also. Wie die Sonne oder der Mond.« Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein Trageriemen gelöst hat, dachte er. In meinen fünfunddreißig Jahren nicht, die ich schon jage. Und ich habe in dieser Zeit schon viele Idioten getroffen, aber so einer wie du, Freundchen, so einer ist mir noch nie über den Weg gelaufen. Aufgegangen! Da muss man ja fast froh sein, dass er nur sich selbst angeschossen hat. Hätte ja auch mich treffen können, dieser Armleuchter!
»Was tun wir jetzt?«, fragte Laurent, aber Jean hatte schon verstanden, was er eigentlich meinte: Tu irgendwas! Dann jammerte Laurent los, er habe schon kurz hinter dem Dorf keinen Handy-Empfang mehr gehabt.
»Und ich hab nicht mal ein Handy«, sagte Jean und öffnete seinen Rucksack. »Du kannst doch laufen?« Die Frage war rhetorisch, ein Nein war eigentlich nicht vorgesehen.
»Ich kann’s versuchen«, sagte Laurent. »Aber das Blut …«
Jean zog ein Päckchen Verbandzeug aus dem Rucksack. »Die Kugel ist bestimmt nicht mehr drin«, sagte Jean, woraufhin Laurent noch einmal aufstöhnte. Noch leidender.
»Woher willst du das wissen?«, jammerte er.
»Ich werde die Wunde jetzt verbinden, und dann steigen wir ab«, entschied Jean. »Tragen kann ich dich nicht, das hält mein Rücken nicht aus. Wenn du also nicht laufen kannst, muss ich dich hierlassen und allein runtergehen. Im Dorf verständige ich dann die Rettung. Es kann allerdings dauern, bis die hier oben auftaucht.«
»Lass mich nicht allein«, bettelte Laurent. »Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen.«
So, kann ich nicht?, dachte Jean. Ihr jungen Kerle müsst irgendwann auch lernen, dass ihr für den Scheiß, den ihr baut, selbst einstehen müsst.
Die Sonne brannte ihnen auf den Nacken. Laurent hatte seinen gesunden Arm um den Älteren gelegt, Jean lief der Schweiß in die Augen. Er hatte sein Hemd ausgezogen und war nun so unterwegs, wie man ihn im Dorf kannte: in seinem grauen Unterhemd, das von der Brust bis zum Saum dunkel war vom Schweiß. Lange würde Laurent das nicht durchhalten und er selbst auch nicht. Die Hitze stand über ihnen, kein Lüftchen regte sich. Laurent hing immer schwerer an ihm. Wie ein Sack. Sein Stöhnen begleitete ihren Abstieg, doch Jean gewöhnte sich mit der Zeit daran. Ein Mensch, der jammerte, war immerhin noch bei Bewusstsein und am Leben.
Einmal kreuzte eine Wachtelfamilie ihren Weg, eine Mutter mit ihren sechs Jungen. Die Vögel beeilten sich nicht einmal besonders, schnell wieder im Wald zu verschwinden, als wüssten sie genau, dass die beiden glücklosen Jäger ihnen heute nicht gefährlich werden konnten.
In dem verlassenen Dorf hielt Jean an, bettete den stiller gewordenen und immer häufiger wegdämmernden Laurent hinter eine halb eingefallene Steinmauer in den Schatten und legte seine eigene Wasserflasche neben ihn. Laurent protestierte nicht. Er hatte verstanden, dass er Kräfte sparen musste, wenn er durchhalten wollte, bis die Rettungskräfte kamen. Wenn sie denn überhaupt rechtzeitig kamen. Jean wechselte ihm noch einmal den Verband, dann machte er sich auf den Weg ins Dorf.
Der Himmel war klar und blau. Eine einzelne, fast runde Wolke zog wie ein Raumschiff durch das glatte Blau des Himmels. Jean erreichte das Dorf am späten Vormittag. Arlette, die alle Ankömmlinge im Dorf als Erste durch ihr Küchenfenster erspähte, rief ihm durch das geöffnete Fenster entgegen: »Kommst du etwa mit leeren Händen von der Jagd? Wo hast du denn Laurent gelassen? Seid ihr heute Morgen nicht zusammen aufgebrochen?«
»Dir entgeht aber auch gar nichts, Arlette«, antwortete Jean einsilbig und griesgrämig wie immer.
»Und wo ist er jetzt?«
»Wer?«, fragte Jean.
»Was heißt hier wer? Laurent natürlich! Hat er dich alten Mann vielleicht in den Bergen abgehängt? War es dir zu heiß heute?«
Ja, meckere du nur, du alte Ziege, dachte Jean. Dein Maul muss auch extra erschlagen werden, wenn du irgendwann mal den Löffel abgibst.
»Wo ist Laurent denn nun abgeblieben?«
Jean stöhnte. Arlette konnte ganz schön hartnäckig sein. Sie hatte schon das halbe Dorf, also die Frauen, für den »Club Voyage« angeworben. Was eine Frau im Dorf anfing, das mussten die anderen der Reihe nach nachmachen. Egal, ob es um Kiwis in der Erdbeermarmelade ging, um eine bestimmte Haarfarbe oder um das Stricken von Babysöckchen. Auch wenn es nur ein einziges Baby im Dorf gab, das die Söckchen tragen konnte, Frauen waren so. Dann wurden die Socken eben auf dem Gemeindebasar für einen guten Zweck verkauft oder versteigert.
»Hab ich dir was getan, dass du mir nicht antwortest, Jean Vidal?«
Und neugierig sind sie auch alle, dachte Jean. Eine wie die andere.
»Was ist denn jetzt mit Laurent?« Arlettes Stimme war so schrill geworden, dass nun auch Mado im Haus nebenan am geöffneten Fenster auftauchte.
»Ein Mufflon hat ihn angegriffen«, sagte Jean, ohne stehen zu bleiben. »Es war bewaffnet.«
Arlette reckte ihren Kopf noch weiter aus dem Fenster und sah zu Mado hinüber. Sie hob die Arme, als wolle sie sagen: Ist dein Mann verrückt geworden?
Stumm bewegte Mado ihre Lippen: Warte, bis er im Haus ist, dann werde ich es schon herausbekommen.
Jean betrat schwitzend und stinkend wie ein Waschbär das Haus.
»Was soll das für eine Geschichte sein mit dem bewaffneten Mufflon?«, fragte Mado aus der Küche, wo sie gerade dabei gewesen war, einen dünnen Tarte-Boden auszurollen.
»Ein Scherz natürlich, was denkst du denn?«, antwortete ihr Mann.
»Und wo ist Laurent jetzt?«
»Er liegt oben in dem verlassenen Weiler«, sagte Jean. »Ruf die ambulance, aber beeil dich. Er hat einen Streifschuss abbekommen, und sein Blutvorrat ist nicht unendlich.«
»Machst du Witze?«, fragte Mado.
»Bin ich ein Clown?«, fragte Jean zurück und ging hinauf ins Badezimmer.
Da griff Mado endlich zum Telefonhörer.
Schwarze Katze von links
Marcel hatte am Morgen verschlafen. Eigentlich hätte er schon viel früher starten wollen, bei kühlerer Luft, aber er hatte es vermasselt. Der neue Klingelton des Handyweckers war einfach nicht penetrant genug gewesen. Er hatte ihn gehört und war dann wieder eingeschlafen.