booklet
herausgegeben von Simon Rothöhler
diaphanes
Ins Spiel zerrt uns ein Held mit Schrammen.
Alte und neue Makel und Schwächen entstellen ihn innen und außen.
Die Welt entspringt seinem Auge, sie ist dschungelgrün gegen mitternachtsblau schraffiert. Einige ihrer Lichtnähte sind schon geplatzt, das nennen wir Dschungel. Ein Hund grüßt aus dem Dickicht. Der Held richtet sich unter Mühen auf. Das Hemd hängt aus der Hose, die Krawatte sitzt locker, ungepflegte Stoppeln am Kinn und auf dem Kopf verraten, dass dieser Mann unruhige Tage hinter sich hat, die noch unruhiger werden wollen.
Er rennt los. Ein Schuh hängt im Gestrüpp (den sehen wir in sechs Jahren wieder, bitte nicht vergessen). Die Kamera müht sich, dem Gehetzten zu folgen. Sie schreibt ihm damit einen Status als Halt versprechende Größe zu. Er ist allerdings schneller und hängt sie mehrmals ab. Das nennen wir Panik. Urwald wischt an ihm vorüber, frenetische Musik treibt ihn vor sich her. Stehenbleiben.
Meerblick, offene Abstraktion: Nein, tut mir leid, zu groß. Weg damit.
Das nächste Szenenbündel weist dem Mann einen neuen Ort zu. Spiel begegnet Widerspiel, Geschichte beginnt.
Da sind andere, die drehen sich um ihn, das heißt, er stürzt horizontal zwischen ihnen aus sich heraus in ihre Probleme, nein, falsch herum, wie jetzt, wer wen?
Es geht hier, erfährt man unter Lärm, Explosionen und Versuchen des Helden, sich im konfusen Schrecken einer Flugzeugabsturzstelle zu orientieren, um ihn nur so weit, wie er uns helfen kann, herauszufinden, was wir sehen sollen. Ein Ensemble nämlich, das wir kennenlernen, indem jener, ein ausgebildeter Arzt von unbändigem Rettertemperament, sich im irritierten Gesichtskreis an ihm entlangarbeitet: Wer braucht Erste Hilfe?
Wer kann dabei nützlich sein? Wer irrt planlos herum, wer steht auf Wrackteilen und schreit?
Wer sind diese Leute?
Aus der disparaten Menschenmenge werden bald weitere Heldinnen und Helden angeboten.
Nie allerdings verliert man den Mann vom Anfang ganz aus dem Blick.
Man wird ihn, wenn man will, über Jahre begleiten, sowohl in erzählter Zeit wie in Erzählzeit, und aus einem besonderen Grund, den man nicht zu schnell erraten darf, um nicht zu viel zu verstehen und zu wenig zu sehen, bleibt er, der bereits als Beschädigter auftritt und im Laufe des Erzählten deutlich weiter herunterkommt, der interessanteste Fall einer seltsam zurückhaltend realisierten Art subjektgebundener Wagner’scher Leitmotivik, die diese Show durchpulst: Wiedersehen macht Ahnung; Wiederholungen befestigen Urteile über Charaktere, die gleichwohl nie zu Stereotypen sedimentieren dürfen. Gute? Böse?
Am sprichwörtlichen Meeresufer: die berühmten Gesichter im Sand.
Alles andere darf sich gegen Figuren und Figurationen wie gegen unverrückbare Geodätische verschieben. Ihre Wege aber sind zusammen das, was die Welt Lost ausmacht. Manchmal freilich überwuchert etwas diese Wege, wir ahnen sie dann nur noch. Ihr Wegmaß ist, wenn am Ende alles geklappt hat, was Lost leisten will, mit unserer Aufmerksamkeitsleistung zur nachtwandlerisch sicheren Deckung gebracht: Wir sollen glauben, dass diese Leute einander wichtig sind, und eben das soll sie auch uns wichtig werden lassen, wobei das konkrete Einzelschicksal sich in einem Zusammenhang auflösen darf, der keiner und keinem Einzelnen ganz gehört, von niemandem allein erzähl- oder erklärbar ist.
Damit das funktioniert, muss die Serie gedacht und gemacht sein wie Musik, nicht wie Epik.
Ihr Generalmusikdirektor eint sie darum mehr als alle Autorinnen, Regisseure, Schauspielerinnenblicke, Sehnsüchte, Fronten.
Der Komponist Michael Giacchino hat für Lost das Füllhorn neu erfunden; es sitzt ein hochprofessionelles Orchester drin, The Hollywood Studio Symphony.
Für zarte Zweisamkeiten zückt er mozarteske Spezereien. Wenn Monster drohen, kommen sie donnernd Beethovens Marmortreppenbauten heruntergerollt oder klappern wie an den Ohren aus George Antheils Mechanik gezogen. Antworten auf metaphysische Fragen findet man zwischen brucknersteilen Nebelgipfeln. Ist man verwirrt, dann zupft ein Kupferdraht-Boulez, wie Grillen zirpen. Wird es komisch, blinkt ein unverschämt talmiglänzend bunter Terry-Riley-Pointillismus.
Das alles sind, man darf es zugeben, akademische Stimmen, im Sinn von: schulmäßige, studierte, gelernte. Jedes Mittel, das abendländische Musiktradition der Filmvertonungsarbeit bereitstellt, lässt Giacchino springen, in nie versiegender Großzügigkeit, immer entlang den Erzählpfaden, endlos permutabel, aber unterm unbedingten Anspruch des Figurengebundenen, der Treue: Die Üppigkeit ist eine dienende, so wie sich auch andere Signale des Reichtums, zum Beispiel das Wuchern und Leuchten der Drehorte auf Hawaii, wie Orchesterbestandteile einer Disziplin fügen, die dirigiert wird und komponiert bleibt.
Dass Giacchino, ohne den die ganze große Tafel samt gigantischem Buffet auseinanderbrechen müsste, derselbe Mann ist, der kurze Zeit nach diesem Gipfel seines Schaffens die abstoßend stumpfe Hollywood-Meterware des Super 8-Soundtracks signiert hat, beißt jeder Genie-Ästhetik böser ins Bein als tausend Abhandlungen über den Tod des Autors.
Verhält sich also, wenn man schon auf dem Gelände von Sonatenform und Opernouvertüre herumsteht, der Held des Anfangs zum übrigen Ensemble wie, sagen wir: ein Thema zu seinen Variationen?
Das Verhältnis, das er zu den anderen wirklich hat und in das wiederum sie zu ihm und zueinander gesetzt sind, spricht er eine Woche nach dem Absturz selber aus, und die Kamera ist dabei erneut zu beschäftigt, die menschlichen Dimensionen um ihn zu ordnen, als dass sie an ihm hochgucken wollen würde, wie man das bei traditionellen Helden soll: »Every man for himself is not going to work. It’s time to start organizing. We need to figure out how we’re going to survive here. Now, I found water. Fresh water, up in the valley. I’ll take a group in at first light. If you don’t want to go, then find another way to contribute. Last week most of us were strangers. But we’re all here now. And God knows how long we’re going to be here. But if we can’t live together, we’re going to die alone.« (LO 1.5) *
Matthew Fox investiert Pathos in den Monolog, aber kein öliges: Die Lage wie ihre Vorgeschichte haben das Deklamatorische an seinem Appell zur borderline-manischen Diamanthärte zusammengepresst.
Der Organisator und Prophet, Tatmensch und Vernunftapostel wird, entgegen dem heroischen Aufbruch in den ersten Minuten der Show, vor allem als Gefäß der Ungnade des Publikums gebraucht: Fast alle Lost-Fans durchlaufen eine mal längere, mal kürzere »Ich hasse diesen Typen«-Phase (manchmal sind’s mehrere). Denn kaum jemand aus dem Ensemble begeht folgenreichere Fehler, kaum jemand auch hat bitterer an ihnen zu leiden.
Fox, man sieht ihm das an, weiß genau: An dieser Rolle, diesem Sandsack für Unzufriedenheiten, wird mein Verdienst einmal gemessen werden, egal, was ich danach in anderen Filmen oder Fernsehserien noch veranstalten mag.
Die Figur heißt Doctor Jack Shephard.
Der »Gute Hirte« scheint durch den Nachnamen. Wie alles Religiöse oder Philosophische, dem man bei Lost begegnen kann, verweist das nicht auf angemaßte Erhabenheit, sondern ist schlichte Lektürehilfe: Diese Leute, sagen solche Markierungen hier stets, müssen durch etwas hindurch, das sich in den Nöten der Immanenz, im Stress des Diesseitigen nicht erschöpft (Jacks Vater zum Beispiel, man scheut keine Deutlichkeit, heißt mit Taufnamen »Christian«).
Im Lauf der ersten Staffel wird Jack Shephards wichtigstes Gegenüber einer namens John Locke (Terry O’Quinn).
»Gegenüber« heißt dabei weniger zerstörerischer Widersacher als hilfreicher Herausforderer.
Mit Spürsinn für den Wechselgesang zwischen Modernem und Mythischem wird das Erwartungsmuster, das die Eigennamen »Shephard« und »Locke« ahnen lassen, vorsätzlich umgekrempelt: Derjenige, der erstens nach dem Gottsucher mit der Leiter und zweitens nach einem soteriologischen Symbol heißt, ist ein Skeptiker, ein ungläubiger Thomas, ein »Man of Science«; der andere dagegen, den man nach einem Aufklärer benannt hat, dem jede politische und ästhetische Macht der Kirche zuwider war, scheut keine Anstrengung und robbt sich pausenlos an eine Transzendenz heran, von der er nicht weiß, ob sie ihn zermalmen wird, wenn er sie findet – ein »Man of Faith«.