»It’s just so much fluff«

Eine Serie über nichts Besonderes

Die berühmteste Bestimmung von Seinfeld hat die Serie selbst in Umlauf gebracht: »a show about nothing«. Eine ganze Serie, in der es um nichts geht, das wäre eine avantgardistische Zurückweisung der Anforderungen eines populären Mediums, wenn nicht von vornherein ein Ding der Unmöglichkeit. Denn »nichts« kann am allerwenigsten in Serie gehen. »Aus nichts wird nichts«, weiß schon der Volksmund. Mit »nichts« muss hier also doch etwas (wenigs­tens negativ) Bestimmtes gemeint sein. Es verhält sich damit so wie mit den philosophischen Bestimmungen des Nichts auch – sie gewinnen ihre Schärfe erst aus der Abgrenzung zu »etwas«. »I think you might have something here«, sagt Jerry Seinfeld in The Pitch (SE 4.3)* zu seinem besten Freund George Costanza, dem spontan diese Idee einer Serie über »nichts« eingefallen ist. Sie fiel ihm zu, weil er in der Lage war, sich über den weitgehenden Gleichklang der Wörter »salsa« und »seltzer«1 so zu wundern, dass ihm etwas auffiel: Das, was uns im Lauf der Tage so beschäftigt, ist im Grunde nichts (Besonderes). Vorausgesetzt, man ist nicht Architekt oder Meeresbiologe oder hat sonst einen wichtigen Beruf, wie George es sich für sein Leben gelegentlich erträumt. An zentraler Stelle missversteht er sich als Autor, etwa in The Pitch (in einer späteren Folge wird er von zwei Frauen verlacht, weil er in einem so verächtlichen Metier wie der Sitcom tätig ist). Mit dem »something« der Idee einer Serie über »nothing« gehen Jerry und George zu NBC, um den Verantwortlichen des großen Networks ein Konzept zu unterbreiten. So kehrt Seinfeld in der vierten Saison (dem Jahr ihres kommerziellen Durchbruchs) zu den Anfängen zurück, in denen der Erfolg einer »Serie über nichts« nur als absurder Gedanke erscheinen konnte.

Es zählt zu den wesentlichen Charakteristiken von Seinfeld, dass die Analyse des Dargebotenen in die Serie selbst aufgenommen ist. Sie ist im Grunde immer schon klüger als auch die raffiniertesten Zuschauer. Kommentatoren haben den Seinfeld-Nihilismus anspruchsvoll und sinnlos hergeleitet, haben dafür Sartre gelesen2 (und Heidegger übersehen), aber was ist diese ganze Mühe gegen ein paar klingenscharfe Dialogzeilen aus der Serie selbst? Paradoxalität des Nichts (»Well, maybe in philosophy. But even nothing is something.«), Narrativität (»What’s the story?« – »There is no story.«), Fiktionalität (»I could be a character. People always say to me: You know, you’re quite a character.«), ­Zuschauerinteresse (»Why am I watching it?« – »Because it’s on TV.« – »Not yet.«), Rollenspiel (»You can’t be ­Kramer. – »I am Kramer.« – »But you can’t act.«), Autorenpathos (»I, for one, am not going to compromise my artistic integrity. This is the show, and we’re not gonna change it.«) – all das sind Themen eines Texts über Seinfeld und sind auch schon in der Serie selbst verarbeitet.

Es empfiehlt sich also, vorerst einmal mit dem »something« zu beginnen, um von da zum »nothing« zu kommen. Was ist Seinfeld? Eine Sitcom um einen Stand-up-­Comedian namens Jerry Seinfeld (Jerry Seinfeld), der allein in einer nicht allzu großen Wohnung mit Wohnküche an der Upper West Side in New York lebt und seine Zeit vor allem mit drei nominell erwachsenen Personen verbringt: mit George Costanza, seinem besten Freund seit College-Tagen; mit Elaine Benes, mit der er einmal eine Beziehung hatte, jetzt aber einen kumpelhaften Umgang pflegt; und mit seinem Nachbarn Kramer, der die Wohnung von Jerry nicht als Privatsphäre respektiert, sondern als Erweiterung der eigenen, chaotisch strukturierten Lebensbereiche. Der master shot, das frontale visuelle Grundelement jeder Sitcom, besteht aus einer Aufnahme dieses Raums mit einer Küchenzeile rechts, einem (sehr wichtigen) Kühlschrank (»Snapple?« – »No, thanks«), einer Couch, einem ins Bad und ins Schlafzimmer führenden Flur und einer Tür mit Gegensprechanlage. Dass die Tür meistens in der Bildmitte ist, ist ungewöhnlich und verweist auf den eigentümlichen Charakter dieses Raums, der eben nicht einmal der Illusion von Privatheit dient, wie das in den traditionellen Sitcoms mit seitlichem Auftritt noch der Fall ist, die klassisch mit der Abwesenheit der vierten Wand operieren. Jerrys Wohnzimmer ist halböffentlich, und zwar nicht nur deswegen, weil Kramer niemals anklopft, bevor er eintritt, und weil Jerry dem Anschein der Serie nach kaum einmal allein zu Hause ist. Das Wohnzimmer ist ein im Grunde öffentlicher Raum auch deswegen, weil Seinfeld gerade darauf basiert, dass es keine »Geheimnisse des Alkovens« gibt, sondern alles in das Licht der Serie, des tabulosen Gesprächs und damit der gesellschaftlichen Verständigung geholt wird, und dass ständig jemand die Szene betritt. Das Wohnzimmer ist nicht der geschützte Bereich in der Innenwelt gegenüber dem zweiten master set in der Außenwelt, einem typischen New Yorker Café-Diner (Monk’s ist de facto ein Studioset, die Außenaufnahmen wurden an der 112. Straße Ecke Broadway gedreht), sondern eine Art Agora im Gegensatz zu der Koje im Café.

Die erste Folge von Seinfeld wurde 1989 ausgestrahlt, die letzte 1998, als Korpus liegen 180 Folgen aus neun Staffeln vor, die Serie ist aber bis heute im amerikanischen wie im internationalen Fernsehen höchst präsent und hat in der weltweiten Syndication nicht an Popularität verloren. Mit der vierten Staffel übernahm Seinfeld den wichtigsten Programmplatz, den es für eine Sitcom in den USA gibt: Donnerstag 21.00 auf dem Network NBC. Davor war an dieser Stelle Cheers (1982–1993) gelaufen, dessen Star Ted Danson dort einen Barkeeper in dem kleinen Universum einer Bar in Downtown Boston spielt. Für den zum Ressentiment neigenden, aber niemals länger in ein konkretes verfallenden George Costanza ist dieser Ted Danson eine ständige (unangemessene) Vergleichsgröße, er misst sich als subalterne fiktionale Figur am realen Starwert von Danson. Mit seinen beiläufigen Beziehungen und den »Kollegen als Familie« ging Cheers über klassische Sitcom-Modelle hinaus und öffnete das Format für neue Aspekte. Man könnte sogar sagen, dass die Figur von Norm in Cheers, der allabendlich seinen Stammplatz am Tresen besetzt und darüber hinaus wenig tut, außer gelegentlich eine Bemerkung zu machen, schon auf das »Nichts« vorausweist, um das es in Seinfeld geht. (Bezeichnenderweise trifft George in The Trip (SE 4.1) im Vorzimmer der Garderobe der Tonight Show, in der Jerry einen Auftritt hat, auf George Wendt, den Darsteller des Norm, und schlägt ihm eine Neuerung für Cheers vor: »enough with the bar already« – mit seinem zielsicherem Instinkt für das Falsche will er das Alleinstellungsmerkmal der Serie abschaffen.) Traditionell ist Seinfeld letztlich nur noch in Hinsicht auf das Format, es ist die Grundeinheit des »Sitcosmos«: Jede Folge hat um die 23 Minuten Länge und ist mit Werbeumgebung auf eine halbstündige Programmeinheit im Sendeschema hin konzipiert.