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Die Handlung und die Figuren dieser Geschichte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten bzw. mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und auf keinen Fall beabsichtigt. Auch die Namen des tödlichen Virus und des Medikaments entsprangen meiner schriftstellerischen Fantasie.
© 2010 KaMeRu Verlag, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung und Satz: www.diaphan.ch, Stephan Cuber, Bern
Umschlagabbildung: cydonna/photocase.com
Die Printausgabe dieses E-Books ist im Buchhandel unter der ISBN 978-3-906739-55-7 oder beim kameru Verlag erhältlich
E-ISBN 978-3-906082-05-9
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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So ein Unsinn, denkt sie, doch sie fragt: »Virus?«
»Ja, Skar.«
»Skar?«
»Ja, das Skar-Virus.«
Es erscheint ihr wie das Amen in der Kirche. Jetzt müsste sie aufstehen, gehen und diesen Jeker mit seinem Virus hinter sich lassen.
Simone runzelt die Stirn.
Doktor Jeker nimmt seine Brille ab, legt sie neben das Mikroskop und reibt sich die Augen. Dann blickt er Simone an. Sie fragt sich, warum er sie so wortlos fixiert. Für sie handelt es sich um eine Routineuntersuchung. Sie geht zweimal im Jahr zu ihrem Gynäkologen, und bis zu diesem Tag hat er nie ein längeres Gespräch mit ihr geführt.
»Sie haben sich infiziert«, sagt er nach einer Weile. Er scheint seinen Gedanken nachzuhängen.
Simone schaut ihn fragend an.
»Und leider ist Ihr Körper nicht in der Lage, diese Viren abzuwehren.« Er schiebt seine Brille von einer Hand in die andere.
Simone fragt sich, ob er nervös ist oder es aus Gewohnheit macht.
»Frau Hartmann, Skar ist heute noch nicht heilbar.«
»Und, was heißt das?« Sie spürt, wie ein Schweißtropfen aus ihrer Achselhöhle langsam in Richtung der Taille rinnt.
Doktor Jeker sagt: »Bis heute gibt es kein Medikament, welches dieses Virus erfolgreich bekämpft. Leider.«
»Ich habe Skar«, sagt sie langsam. In Gedanken zeigt sie sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Der spinnt ja völlig! Dafür sieht sie ihn fassungslos an. Doktor Jeker starrt auf die Platte seines Schreibtisches. Simone erfasst den Sinn seiner Worte noch immer nicht.
»Und wenn ich dieses Virus in mir habe und es nicht zu bekämpfen ist, was bedeutet das dann?« Sie hat das Gefühl, sie rede über einen Klienten, den es zu verteidigen gilt. Dieses Gespräch hat nichts mit ihr zu tun.
»Ihre Zeit läuft ab. Ein halbes Jahr, ein Jahr, vielleicht. Genau lässt sich das nicht sagen …« Er zieht die buschigen Augenbrauen hoch und Simone sieht all die Falten, die seine Stirn durchziehen.
Was für ein Gerede!, denkt sie abwehrend.
»Wissen Sie überhaupt, was Sie mir da sagen?«
Doktor Jeker, der nie ein großartiger Redner war, atmet laut aus und presst die Lippen aufeinander. »Unheilbar!«, sagt er entschuldigend.
Simone fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Wie?« Sie schüttelt den Kopf, als ob sie seine Worte loswerden wollte.
In dieser Unmöglichkeit der Existenz vergeht schweigend, hilflos die Zeit.
Später wird sie sich an diese Zeitspanne nicht mehr genau erinnern können. Sie wird es verpassen, Paul aufs Genaueste von diesem einen Augenblick zu erzählen.
Als sie nach Hause kommt, wird sie an den Schreibtisch gehen und nach einem Blatt Papier suchen. Stehend wird sie SKAR darauf schreiben. Mit dem Zusatz: Lies im Internet nach. ICH HAB’S.
Sie wird das Blatt auf den Küchentisch legen, neben die Fruchtschale und neben die Zeitungen, und ihre schwarze Lederjacke anziehen. An der Türschwelle wird sie stehen bleiben und sich an die Stirn greifen. Dann wird sie sich umdrehen, zurückgehen, das Blatt vom Tisch nehmen und es zerknüllen. Den Papierball wird sie in die Jackentasche stecken und danach die Wohnung verlassen. Ohne Ziel. Einfach weg.
Doktor Jeker setzt seine Brille wieder auf. Er stützt die Ellenbogen auf den Tisch. »Skar wird während des Geschlechtsverkehrs übertragen. Und zwar vom Mann auf die Frau.« Er reißt sie aus ihrer verschlossenen Gedankenwelt. »Der Mann gibt Skar an die Frau weiter. Ihn greift das Virus nicht an, er bleibt gesund.« Er wartet einen Augenblick, bevor er weiter spricht: »Bitte, Frau Hartmann, denken Sie nach. Mit wem hatten Sie in den letzten Monaten Geschlechtsverkehr?«
Diese direkte Frage hätte er ihr nicht gestellt, wenn sie nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Das weiß Simone. Sie erträgt ihn kaum und hat Mühe, ihn anzusehen.
»Warum?«, stellt sie möglichst gleichgültig eine Gegenfrage und fügt hinzu: »Das muss schließlich noch lange nichts bedeuten!«
»Dieser Mann ist ein Täter! Sie müssen die Polizei informieren«, sagt Doktor Jeker.
»Die Polizei?«, wiederholt sie beinahe tonlos. Sie spürt ihren Puls im Hals.
»Ja, Sie sind sogar dazu verpflichtet! Er darf nicht noch mehr Frauen anstecken!«
Simone greift sich an den Hals. Ihr ist schwindlig. Sie schließt die Augen und atmet tief durch die Nase ein. Doktor Jeker sieht sie besorgt an und beginnt, einige Notizen in ihre Krankenakte zu schreiben.
In Simone dreht sich alles. Sie beruhigt sich nicht. Sie hat das Gefühl, überall und doch nirgends zu sein. Nach einer Weile fragt sie leise: »Und wie bekommt ein Mann Skar? Wie kann er sich anstecken?«
Doktor Jeker legt den Stift zur Seite und kratzt sich am rechten Ohr. »Durch Geschlechtsverkehr …«
Will er noch mehr sagen?
Er schweigt.
Was es auch immer sein mag, es ist ihr egal. Der Schock hat sie gegen die Gemütslagen anderer unempfänglich gemacht. »Ein halbes Jahr, bis ein Jahr, sagen Sie?«
Er nickt.
Simone blickt aus dem Fenster; einzelne Sonnenstrahlen fallen auf ihr gelocktes Haar, es glänzt.
»Ich muss Sie an einen Spezialisten überweisen, Frau Hartmann.«
Obwohl es im Praxiszimmer nicht kalt ist, fröstelt es sie. Sie zieht die Schultern hoch und atmet laut aus. Das alles ist zu viel. Viel zu viel! Sie murmelt etwas, dass sie an diesem Tag doch nur zu einer Routineuntersuchung gekommen und jetzt völlig verstört ist. Doktor Jeker sieht sie mit ernstem Gesichtsausdruck an und fragt, ob sie ein Glas Wasser möchte. Sie antwortet ihm nicht.
Unerwartet steht sie auf und streckt ihm ihre Hand entgegen. »Ich muss mir das alles durch den Kopf gehen lassen!«, sagt sie.
»Ja, selbstverständlich!«, antwortet er rasch und steht ebenfalls auf. »Bitte, kommen Sie in den nächsten Tagen wieder, wir müssen noch einiges besprechen.«
Sie nickt stumm. Als sie die Praxis verlässt, blickt sie zu Boden. Sie will nicht, dass jemand ihre Tränen sieht.
Im Fahrstuhl schluchzt sie los.
Im Erdgeschoss öffnet eine fremde Frau die Fahrstuhltür und sieht Simone erschrocken an. »Oh, soll ich Hilfe holen?«, fragt sie besorgt, doch Simone wehrt ab. Sie geht an der Frau vorbei und lehnt sich an die Wand. Vergeblich versucht sie, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. So will sie nicht auf die Straße. Sie zittert am ganzen Körper. Die Fremde wartet ab. Dann kommt sie näher. Leise fragt sie: »Soll ich nicht doch Hilfe holen?«
»Bitte, gehen Sie!«, schluchzt Simone. Sie ist erleichtert, als die Frau sich abwendet und mit dem Fahrstuhl nach oben fährt.
Simone putzt sich die Nase. Ihre Augen brennen und sie tupft sie mit einem Taschentuch ab. Mit zittriger Hand sucht sie in der Handtasche nach dem kleinen Spiegel und dem Lippenstift.
»Skar«, flüstert sie, als sie ihre roten Augen im Spiegel begegnet. »Skar!«
So gut es geht, malt sie ihre Lippen an. Dann öffnet sie die Puderdose, bepudert ihr bleiches Gesicht und tritt auf die Straße hinaus.
Am folgenden Wochenende macht sie nichts Außergewöhnliches. Nur dass sie mit Paul keinen Sex hat. Es ist das Einzige, was anders ist.
Paul ist wie immer mit sich selbst sehr beschäftigt. Am Samstagmorgen macht er sich auf den Weg in die Kanzlei, abends studiert er verschiedene Akten, zu Hause in seinem Arbeitszimmer. Er ist ehrgeizig, die Arbeit für die Kanzlei verlangt seinen ganzen Einsatz. Bei ihm scheint sich nichts verändert zu haben. Wie aus einem Nebel heraus sieht sie ihn an.
Paul? Wer bist du? Skar?
So verbringt Simone ihre Zeit allein zu Hause. Auf der Couch oder im Bett liegend, versucht sie, nachzudenken, doch sie weiß nicht wirklich, worüber sie nachdenken soll. Sie lebt wie in Trance.
Skar … Wer? Was soll ich jetzt machen? Ich sterbe … Sterbe ich?
Alles ist bedeutungslos geworden, die Freude erstickt. Abends nimmt sie eine Schlaftablette. Nur um nicht wach zu liegen und in dumpfe Gedanken zu verfallen.
Am Mittwochabend geht Simone mit ihrer Freundin Anna essen.
Doch auch mit ihr spricht sie nicht über Skar. Sie weiß, dass sie sich in der Ich-will-es-nicht-wahrhaben-Phase befindet, somit erübrigt sich jedes Gespräch. Dieses Verhalten übernahm sie als Scheidungsanwältin von ihren Klienten. Immer wieder konnte sie bei diesen den Prozess der aktiven Verdrängung beobachten. Innerlich schüttelte sie jeweils den Kopf über diese Dummheit. Sie konnte es nicht nachvollziehen, dass es im Leben manchmal besser ist, so zu tun als ob, als gar nichts zu tun. Jetzt versteht sie es. Doch durch das Verdrängen erfährt sie keinen Trost. Ihr Herz ist schwer, ihr Verstand wie gelähmt.
Wie soll sie auch denken können? Man hat ihr das Schrecklichste offenbart, was es überhaupt gibt: Die Aussicht auf einen sinnlosen, viel zu frühen, unabwendbaren Tod.
Doktor Jekers Worte kreisen in ihren Gedanken, wie ein Vogel um sein Nest. An etwas anderes kann sie gar nicht mehr denken. Skar ist plötzlich allgegenwärtig geworden und doch so verdammt weit weg. Sie sieht es nicht, sie spürt es nicht: Sie hat es!
Und trotz allem, irgendwo in ihrem Kopf, sagt ihr eine Stimme, dass dieser Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, nicht ewig anhält.
Am Samstag bleibt Simone im Bett.
Sie fühlt sich schon am Morgen schwach und weinerlich. Als sich Paul über sie beugt und ihr ins Ohr flüstert: »Ich muss in die Kanzlei«, ist sie erleichtert. Sie will allein sein. Ihre Tränen hätten ihn verunsichert, und sicher hätte sie seine Fragen beantworten müssen. Er wäre auf der Bettkante sitzen geblieben und hätte sie fragend, abwartend angesehen, hätte von ihr eine Erklärung für ihre Tränen verlangt.
All das geschieht nun nicht. Paul verlässt leise das Zimmer, ohne zu bemerken, wie schlecht es ihr geht.
Sie liegt den ganzen Morgen über – und auch den ganzen Nachmittag – im Bett. Die Stunden vergehen langsam. Hin und wieder weint sie, vergräbt dann ihren Kopf im Kissen und heult laut hinein. Die Tränen schenken Trost, erleichtern ihr Herz aber nur ein wenig. Oder sie starrt stundenlang, auf dem Bauch liegend, zur Zimmerdecke hoch. Sie betet, dieser Jeker möge sich geirrt haben.
»Entschuldigen Sie, ein Irrtum«, wird er sagen …
Und dann schläft sie erschöpft wieder ein. Erst gegen Abend spürt sie, wie hungrig sie ist. Sie zwingt sich, aufzustehen – eine alltägliche Sache, die ihr nun aber sinnlos erscheint. Duschen? Warum?
Unter der Dusche wird ihr schwindlig.
Das wird der leere Magen sein, versucht sie, sich zu beruhigen. Doch es gelingt ihr nicht. Ihre Beine beginnen zu zittern, und vor ihren Augen dreht sich alles. Sie lehnt sich an die Wand und atmet langsam ein. Ihre Knie geben trotzdem nach und sie muss sich auf den Boden der Duschkabine setzen. Sie zieht die Beine an die Brust, umschlingt sie mit den Armen und legt den Kopf auf die Knie. Warmes Wasser rieselt auf sie herab.
»Beruhige dich!«
Doch diese Bitte erfüllt sich nicht. Sie sagt es immer und immer wieder, doch mit jedem Mal fühlt sie sich verzweifelter.
»Beruhige dich, bitte beruhige dich!«
Ein hilfloser Versuch. Die Gefühle brechen hervor. Simone beginnt zu weinen, zuerst leise, dann lauter. Schließlich brüllt sie und schlägt mit den Fäusten um sich. Nichts vermag den Sturm aufzuhalten, der ihr Inneres heimsucht. Unaufhörliches Heulen, das sie wie ein Rettungsring in die Tiefen des Lebens wirft. Vergebens! Nirgendwo findet sie Halt. Zitternd kippt sie zur Seite.
Beinahe eine halbe Stunde liegt sie so da, vielleicht auch länger.
Simone hat das Zeitgefühl verloren. Es ist bedeutungslos geworden. Erst als sie versucht, sich aufzurichten, spürt sie, wie kalt ihr ist. Sie fährt sich mit der Hand über ihre nassen, kleinen Brüste. Sie sind kalt, obwohl warmes Wasser auf ihren Körper fällt.
Mein Gott, wie kalt mir ist!
Sie zwingt sich, ihr Gesicht in den Wasserstrahl zu halten.
»Warum?«, ruft sie. »Was ist mit mir geschehen?«
Sie lässt den Kopf hängen, sieht den Wassertropfen zu, wie sie auf den Boden der Dusche fallen. »Was jetzt?«, flüstert sie.
Stille.
Wer hilft mir?
Sie hat Angst.
»Oh nein!«, ruft sie. »Aufhören!«
Sie will aus dieser Gefühlshölle raus.
Abrupt öffnet sie die Tür der Dusche und greift nach einem großen, dunkelblauen Frotteetuch, das über dem Heizkörper hängt. So gut wie möglich bindet sie es sich um den zitternden Körper. Aus ihrem Haar tropft Wasser auf die Schultern.
Simone stellt sich vor den Badezimmerspiegel. Sie lässt den Kopf noch immer hängen und stützt sich mit beiden Händen auf das Waschbecken, doch dann zwingt sie sich, ihr Gesicht im Spiegel anzusehen. Sie atmet tief und laut, ihr Puls pocht in den Schläfen. Gegenwart und Zukunft treten ihr aus dem Spiegelbild entgegen. Zuviel! Es fällt ihr schwer, sich auf diese Art und Weise zu begegnen.
»Soweit ich es beurteilen kann, gibt es im Paradies noch Platz!«, sagt sie zynisch.
Mit tränenerfüllten Augen verlässt sie das Bad und geht in ihr Büro. Dort zieht sie zwei große Fotoalben aus dem Regal. Sie setzt sich auf den Boden und schlägt das dunkelgrüne Album auf. Sie blättert, ihre Augen suchen nach Fotos, auf denen sie weint. Sie findet keines. Und so öffnet sie das dunkelblaue. Vergebens! Sie schüttelt den Kopf. Ein sinnloses Unterfangen. Sie hätte es wissen müssen. Ihr Kopf fällt in den Nacken und mit weit geöffneten Augen blickt sie zur Decke hinauf.
Und jetzt?
Einen Augenblick lang bleibt sie regungslos sitzen, dann steht sie mit einem Seufzer auf. Sie friert und wickelt sich das Frotteetuch erneut um den Körper. Mit den Händen fährt sie sich über die Oberarme. Es wird ihr bewusst, dass sie noch nie in das Gesicht einer Halbtoten geblickt hat. Ein unbehagliches Gefühl steigt in ihr hoch.
Simone ist verwirrt. Oder sie glaubt, es zu sein. Bewusst atmet sie tief und langsam durch die Nase ein und aus und hofft, das Unwohlsein möge sich dadurch legen, abflachen. Doch nichts geschieht, nichts verändert sich. Dieses so ganz eigenartige Gefühl haftet, klebt an ihr. Simone runzelt die Stirn, fährt sich mit beiden Händen durchs feuchte Haar.
Was ist das?
Dieses Gefühl regt sie auf und verunsichert sie.
Sie streckt die Beine aus und legt die Arme auf die Sessellehnen, den Kopf legt sie nach hinten und schließt die Augen. Das Gefühl verflüchtigt sich zwar nicht, doch sie sieht viele Sternchen tanzen.
Wenigstens die Sterne sehe ich!
Sie atmet tief und lange durch den Mund ein und aus.
Das Frotteetuch verrutscht wieder, sie muss es sich wieder um den Oberkörper binden.
Das Unbehagen lässt sie nicht los.
Woher kenne ich dieses Gefühl?, fragt sie sich. Von irgendwoher muss ich es doch kennen, ganz bestimmt.
»Denk nach!«, flüstert sie und spitzt die Lippen. Irgendetwas Verborgenes liegt hinter diesem Gefühl. So, als ob etwas geschehen wäre, woran sie sich jedoch nicht erinnern kann.
»Absurd!«, sagt sie laut und schüttelt den Kopf. »Das ist doch absurd!«
Warum soll sie diesem diffusen Gefühl nachgehen, wenn sie doch bald sterben wird? Statt einem Schatten nachzujagen, sollte sie sich besser überlegen, wie sie mit Paul über Skar reden kann.
Er wird schockiert sein!
Sie zuckt zusammen. Wenn er erfährt, wie man sich mit Skar ansteckt, denkt sie, wird er sich wieder an unser Gespräch im Sommer erinnern. Und er wird mich einer Tat überführen, die ich nicht begangen habe.
Im Sommer musste Paul für einen Monat Militärdienst leisten. Als sie danach ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten, beobachtete sie im Spiegel, wie er sein Hemd auszog und die rechte Hand nach einem Kleiderbügel ausstreckte. Doch plötzlich hielt er inne. »Hast du all die Nächte ohne mich, allein, verbracht?«, fragte er unerwartet.
»Natürlich!«, antwortete sie und lächelte. »Dummkopf!« Und warf ihm das Kopfkissen zu. Paul lachte ebenfalls und warf es ihr zurück. In dieser Nacht schlief sie lange nicht ein und fragte sich, ob er wirklich glaubte, sie hätte während seiner Abwesenheit eine Liebschaft gehabt.
Am nächsten Morgen fragte sie ihn danach. Er nahm ihren Kopf in die Hände. »Nein, das glaube ich nicht!«, murmelte er in ihre Haare. »So etwas würdest du nicht tun.« Und dann fügte er hinzu: »Es war eine lange Zeit, ich würde es dir nicht übel nehmen.«
Sie war an diesem Morgen sehr erleichtert gewesen, denn er hatte keinen Grund, sie der Untreue zu verdächtigen. Trotzdem: Wieso stellte er ihr diese Frage? Und was war mit ihm? Hat er eine Liebschaft gehabt? Sie fragte ihn nicht danach.
Paul und ein Verhältnis?, überlegt sie, und auf ihrer Stirn bilden sich zwei lange Denkerfalten. Nein! Und doch bleibt die Frage offen. Sie denkt darüber nach, was sie ihm antworten wird, wenn er sie fragt, wie sie sich dieses Virus eingefangen hat. Sie hält die Antwort bereit: »Ich habe mit keinem anderen Mann geschlafen, ich bin treu.«
Und er? Kann es sein, dass er mir untreu war? Eine One-night-Geschichte mit bitterem Ende?
Sie weiß nicht, ob sie ihm böse sein soll, wenn sich herausstellt, dass er sie betrog. Ihre Gedanken schweben auf zwei Ebenen, die nicht zueinander passen: Einerseits ist es zu schwierig, darüber nachzudenken, anderseits zu einfach.
Simone steht auf. Sie geht in die Küche und schneidet sich ein Stück Brot ab. Ohne Butter, ohne Honig isst sie es. Sie kaut lustlos und langsam und starrt dabei aus dem Fenster, ohne irgendetwas wirklich wahrzunehmen. Ab und zu versucht sie, wenigstens ansatzweise, sich darüber klar zu werden, was es für sie heißt, Skar in ihrem Körper zu haben. Kein Onkel, keine Tante, keine Freunde verstarben in den letzten Jahren. Sie war schon lange an keiner Beerdigung. Der Tod schien so weit weg zu sein. Und er ist es noch. Seltsam! Das Leben lässt sich nicht berechnen.
Simone schüttelt den Kopf. Was hat sich seit dem Gespräch mit Doktor Jeker verändert? Eigentlich nichts.
Paul könnte noch vor mir sterben, überlegt sie. Niemand kennt den Zeitpunkt seines eigenen Todes. Und dieser Jeker maßt sich an, meine Lebensspanne festzulegen! Was sollen solche Prognosen? Ich kann jetzt, in diesem Augenblick, sterben!
Verzweiflung bricht wieder über sie ein. Sie steht auf.
»Verdammt!«, ruft sie.
Es wäre schön, Paul wäre jetzt bei ihr, um sie festzuhalten. Sie würde ihm keinen Vortrag halten, sie würde sich einfach nur an ihn schmiegen.
Doch diese Sehnsucht ist quälend, störend. Sie sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Trotz ihres Ohnmachtgefühls, des Nichtswahrhabenwollens und des Annehmenmüssens, trotz ihrer Zerrissenheit ist es besser, dass Paul noch nicht zu Hause ist. Sie ist noch nicht bereit, mit ihm über die Diagnose zu sprechen. Schlafen ist angenehmer als reden.
Simone geht ins Badezimmer, putzt sich die Zähne und nimmt eine Schlaftablette ein, dann legt sie sich ins Bett. Sie dreht sich auf den Bauch und schließt die Augen.
Plötzlich muss sie an Frank denken. Vor einer Woche schickte er ihr eine SMS. Und sie hat sich bis jetzt nicht bei ihm gemeldet.
Sein sonnengebräuntes Gesicht taucht vor ihren Augen auf.
Sie begegneten sich am ersten Abend in der Hotelhalle.
Er war ein wenig kleiner als sie, von schlanker Statur, doch seine Arme waren sehr muskulös. Seine ganze Gestalt erweckte den Anschein, er sei unverwüstlich. Er war keine Schönheit, und doch fühlte sie sich in seiner Gegenwart wohl. Er konnte ihr zuhören, ohne gleich zu psychologisieren, und er hatte einen gesunden Humor. Er brachte sie oft zum Lachen. Am letzten Abend, als sie nach dem Essen am Strand von Kos spazierten, küsste er sie.
Nein, ich hatte keinen Sex mit ihm!, sagt sie sich zur Beruhigung und schließt die Augen.
Ihr Körper fühlt sich bleischwer an, und in ihrer Brust und in ihrem Kopf kreist Unruhe, die sie nicht zu bekämpfen vermag – sogar die Schlaftablette ist dagegen machtlos.
Wenn ich sterbe, wünsche ich mir, dass ich mir meine Augen selbst schließe.
Sie erinnert sich an eine Sequenz aus einem Film: Ein Mann, ein Autolenker, der einen Unfall verursacht, stirbt am Steuer. Als die Polizei die Wagentür öffnet, ist er bereits tot. Ein Polizist schließt dem Toten die Augen.
Dass fremde Finger ihre Augenlider berühren, will sie nicht! Und wenn doch?
Mit dieser Frage schläft sie endlich ein.
Den Sonntag verbringt sie mit Paul zu Hause.
Sie ist froh, dass er lange schläft. Am Nachmittag liegt er im Wohnzimmer auf der Couch und verfolgt am Fernseher eine Sportsendung, zwischendurch blättert er in irgendwelchen Akten. Sie regt sich nicht – wie an anderen Sonntagen – darüber auf. Und sie beschimpft ihn innerlich auch nicht als Workaholic. An diesem Sonntag passt es ihr. Alles ist ihr angenehmer als zu sprechen. Sie mag ihm nicht in die Augen sehen, obwohl sie ihm außer Skar nichts verheimlicht.
Als er auf der Couch einschläft, mustert sie ihn prüfend.
Paul, Sex mit einer andern? Nein, es wäre für dich doch zu mühsam, etwas mit einer anderen einzufädeln. Aber wieso habe ich dann Skar?
Gegen Abend muss sie wieder an Frank denken und daran, nicht auf seine SMS geantwortet zu haben. Gleich am ersten Abend sagte er ihr, dass auch er allein unterwegs ist. Daraufhin verbrachten sie die sechs folgenden Ferienabende zusammen. Er hatte ein unwahrscheinlich starkes Bedürfnis, über sich zu sprechen und erzählte ihr einiges. Sie dachte, dass sie einen Beruf hat, der sich gut zum Zuhören eignete, und so ließ sie ihn reden und reden. Glücklicherweise langweilten sie seine Monologe keineswegs. Er berichtete lebendig. Am letzten Abend, als sie nach dem Essen am Strand von Kos spazierten, küsste er sie. Seine Zunge drang in ihren Mund ein und erkundete ihn in frecher Vertrautheit, wanderte umher, stieß und zog. Und dann ließ er so plötzlich von ihr ab, wie er begonnen hatte.
»Nach all unseren Gesprächen wollte ich dich berühren, du schöne Frau!«, sagte er und lachte.
Sein Zungenkuss war nicht umwerfend. Sie musste lachen und gleichzeitig stieß sie ihn ein wenig von sich. Und das nicht wegen seines unverhofften Kusses, sondern weil sein Geruch ihr gefährlich war. Er roch nach Lavendel. Diesen Duft hatte sie noch nie zuvor an einem Mann gerochen. Sie reagierte heftig darauf; unkontrolliert verlangte sie nach seinem Mund an ihren Knospen. Und gleichzeitig ärgerte sie sich über diese Lüste.
Sie schüttelte den Kopf. »Männer!«, sagte sie und sah ihm ins Gesicht.
Doch sie dachte: Du riechst schärfer als du küsst!
Frank strich ihr mit der Hand durchs Haar. »Hundert Bürstenstriche!«, sagte er und grinste.
An diesem Abend fragte sie nach der Nummer seines Handys, obwohl sie nicht ernsthaft vorhatte, ihn nach diesem Ferienflirt wieder zu treffen. Sie fragte nach seiner Nummer, weil sie wusste, es würde ihm gefallen oder weil sie dachte, es wäre nach dem Kuss angebracht, danach zu fragen.
Das war jetzt schon fast einen Monat her.
Und ich habe ihn nie angerufen.
Nein, geschlafen hatten sie nicht miteinander. Da war sie sich ganz sicher. Sie dachte vielleicht daran, doch dann verwarf sie diese Fantasie wieder. Feriensex wollte sie nicht.
Und jetzt habe ich Skar!
Paul?, überlegt sie erneut, doch gleich darauf schüttelt sie den Kopf.
Ihr geschmeidiger Paul war für eine Liebschaft hinter ihrem Rücken nicht der Richtige.
Sie sieht ihn vor sich, seine feinen Gesichtszüge, die ziemlich geraden Brauen, seine großen, dunkelbraunen Augen, seine ebenso dunklen, über der Stirn gewellten Haare. Ja, für ihn kann sie die Hand ins Feuer legen. Paul ist der einzige Mann, den sie aushält. Er atmet und schluckt leise, er schnarcht und schmatzt nicht, und er schaut sie an, wenn sie ihm etwas erzählt. Er ist leise und wenn er liest, vergisst er seine Umwelt, das schätzt sie. Er ist kritisch gegenüber allem und das ganz grundsätzlich, nicht nur hin und wieder wie aus einer Laune heraus. Paul erwartet vom Leben nicht, dass es aufgeht. Sein größter Vorteil aber besteht darin, dass er nicht aufdringlich ist. Wenn sie im Bad steht, um ihre widerspenstigen Locken aufzudrehen, wartet er in der Küche. Und das liebt sie.
Paul ist der einzige Mann, mit dem sie zusammenleben kann. Das ist ihr klar.
Doch wenn nicht er, wer dann?
Am Montagmorgen geht sie wieder zur Arbeit. Doch bereits nach der ersten Klientensitzung ruft sie Doktor Jeker an.
Dieses Skar nimmt mir auch meine Arbeit!
Nach diesem Anruf fühlt sie sich irgendwie besser. Doktor Jeker ist im Augenblick der Einzige, mit dem sie reden kann.
Über Mittag sitzt sie mit einer Arbeitskollegin im Restaurant. Sie zwingt sich, zu essen und spielt die Gelassene. Niemand soll auch nur das Geringste von ihrer Verzweiflung merken.
Kurz vor sechs Uhr abends eilt sie über den Bellevueplatz. Sie ist auf dem Weg zur Praxis ihres Gynäkologen.
Das Wartezimmer ist leer. Vor ihr liegen auf einem langen, niedrigen Glastisch verschiedene Frauenzeitschriften. Doch Simone mag keine durchblättern. Sie beginnt, die Stühle an der gegenüberliegenden Wand zu zählen. Sechs, genau wie auf ihrer Seite.
Ob bereits eine andere Frau mit Skar auf einem dieser Stühle saß?
Sie kommt nicht mehr dazu, über eine Antwort auf diese Frage nachzudenken. Die Praxisassistentin bittet sie ins Untersuchungszimmer. Simone steht auf und folgt der jungen Frau mit den langen, dunklen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Sie nickt ihr freundlich zu, als sie die Türe schließt.
Dasselbe Zimmer!, schießt es Simone durch den Kopf, als sie auf dem weißen Stuhl vor einem großen Schreibtisch Platz nimmt. Hier hat alles angefangen …
Doktor Jeker betritt den Raum.
»Guten Abend, Frau Hartmann.«
»Guten Abend«, antwortet Simone. Sie schlägt die Beine übereinander. Sie fröstelt, ihre Hände sind kalt.
Simone sieht den Arzt auf die Art und Weise an, als ob sie sagen wollte: »Glauben Sie nicht auch, dass Ihnen ein diagnostischer Fehler unterlaufen ist?«
Wie bei ihrem letzten Gespräch nimmt er auch diesmal zuerst die Brille ab und legt sie neben das kleine Mikroskop, dann reibt er sich die Augen. Und wieder sieht ihm Simone dabei zu. Kurz darauf setzt er die Brille wieder auf und schaut sie mit offenem Blick an.
»Wie war Ihre Woche?«, fragt er zu ihrer Überraschung leise.
Simone bricht den Blickkontakt ab und sieht zur Decke hoch. Sie überlegt. »Wissen Sie«, und sie muss langsam sprechen, damit sie ihre Gefühle kontrollieren kann, »es ist schrecklich!«
Doktor Jeker rückt mit dem Stuhl ein wenig vom Schreibtisch weg. Er faltet die Hände über dem Bauch und nickt. »Ja, das glaube ich.«
Schweigen. Beide hören, wie das lange Pendel der alten Schwarzwalduhr an der Wand langsam hin und her schwingt.
Doktor Jeker räuspert sich. »Es ist ein Schock.« Er drückt die Finger fester gegeneinander und fragt: »Haben Sie darüber nachgedacht?«
»Sie meinen, ob ich mir jetzt im Klaren darüber bin, wer mich mit Skar angesteckt haben könnte?«
Doktor Jeker nickt.
Simone schüttelt den Kopf. »Ich lebe seit Jahren in einer festen Beziehung. Ich bin mir sicher, mein Partner hat mich nicht angesteckt. Er nicht.«
Während sie spricht, fährt Doktor Jeker mit dem Zeigefinger den Nasenrücken auf und ab. »Mhm.« Er schaut ins Leere. Und dann wiederholt er es wieder, dieses Mhm.
Was will er damit sagen?
Nach einer kurzen Weile meint er dann: »Es kann vorkommen, dass man mit jemandem Sex hat und am nächsten Morgen nichts mehr weiß.« Abwartend schaut er Simone an.
Doch sie will sich auf dieses Gespräch nicht einlassen. Fast schroff antwortet sie: »Ich pflege mich vor dem Sex nicht zu betrinken. Und Drogen nehme ich auch keine, falls Sie an so etwas denken.«
»Ja, sicher nicht«, entgegnet er rasch. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Frau Hartmann!«