Dana Grigorcea
Das primäre Gefühl
der
Schuldlosigkeit
Roman
DÖRLEMANN
Die Arbeit an diesem Roman und die Publikation wurden von Stadt und Kanton Zürich großzügig unterstützt. Autorin und Verlag danken herzlich.
eBook-Ausgabe 2015
Alle Rechte vorbehalten
© 2015 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-921-8
www.doerlemann.com
Für P.
1
Ein metallenes Schimmern, von dem anstehenden Gewitter herrührend, tilgt das Relief der Stadt und lässt sie zu einer gemalten Kulisse werden, so wie jene im Fotostudio Diamandi, in dem meine mondäne Großmutter die ominöse Aufnahme von sich als erster Bukaresterin in kurzem Rock machen ließ, am Arm meines Großvaters, der, ungeduldig, samt Spazierstock und Gangsterhut, in die Unschärfe der Zeit hinaustritt.
Jetzt, im aufziehenden Sturm, erscheint Bukarest ohnehin wie eine Nostalgie-Kulisse, eine, vor der keine Pose unpassend wirkt – ganz im Gegenteil, würde ich sagen.
Ich setze mich auf die marmorne Treppe vor der Nationalen Spar- und Anlagebank und rauche die allerletzte Zigarette, bevor ich definitiv mit dem Rauchen aufhören werde – ganz bewusst die Tatsache missachtend, dass dabei zwei weitere Zigaretten übrig bleiben werden im Päckchen und mich aber die in meinem Beruf unabdingbare Disziplin zwingt, angefangene Sachen immer schön abzuschließen. Die Ruhe für eine letzte Zigarette ist mir aber nicht vergönnt. »Küss die Hand, Fräulein Direktorin, mit ihrer Erlaubnis gehen wir jetzt, bevor es stürmt. Ihre Kollegen gehen auch.«
Unser Chef-Sicherheitsmann nennt fast alle Kollegen Direktor oder Direktorin. Das ärgert nicht einmal die, die es tatsächlich sind und die sich, laut unserer Direktorin für Teambildung und Angleichung an Europäische Standards, vom Rest der Angestellten wenn, dann nur durch die Tatsache unterscheiden sollten, dass sie auf Betriebsausflügen den Fisch mit der Hand essen dürfen.
Den Chef-Sicherheitsmann selbst nennen wir nur »Chef«. Schließlich streben wir eine flache Hierarchie an.
War ich es, die den Sicherheitsleuten die Erlaubnis gab zu gehen? Die Polizeiakte wird das offenlassen.
Ich stehe draußen vor der großen Schiebetür, abgewendet von den in den Feierabend hinausziehenden Kollegen, atme den Rauch tief ein und wieder aus, sehe der bläulichen Wolke nach, einen halben Meter hoch, sehe darin das Museum für Nationalgeschichte gegenüber; ein Schritt nach hinten würde den Rauchalarm auslösen.
Vorbeifliegende Blätter und Äste scheinen die Distanz zur weiter unten liegenden Passage in immer kleinere Segmente teilen zu wollen. Flavian wartet dort auf mich. Vergangene Woche ist er zum Vorsitzenden des Rumänischen Instituts für Urbanistik ernannt worden – eine kleine Sensation. »Weil es niemand sonst übernehmen wollte«, sagte mir Flavian am Telefon. Wie dem auch sei, wir wollen es feiern.
Das gelbe Licht des geschwungenen Deckenfensters füllt die Passage Macca-Villacrosse mit einer trüben Viskosität, in der sich die Bewegungen der Passanten entschleunigen. Ich kann von den paar zerbrochenen Fenstern absehen, unter die der ägyptische Wirt Joghurteimer stellt, hoffe nur, dass es vom Taubenschlag nicht allzu schlimm nach nassem Hund riechen wird.
Auf keinen Fall will ich stundenlang in Flavians Geländewagen hocken müssen und über die alten Tanten seines Instituts reden, unsere Blicke starr auf die rot aufblitzenden Regentropfen gerichtet, dahinter der Bukarester Stau. Dinu, mein früherer Freund, hatte sich für diese Fälle noch ein Blaulicht besorgt gehabt; sobald er es auf dem Autodach ansetzte, zog sich durch den Verkehrswirrwarr ein Scheitel, aber auch der nicht so sauber, wie er hätte sein können. Also wurde ein Hupen nötig und ein aus dem Fenster geschriener Satz: »Und wenn es wirklich ein Notfall wäre, ihr Arschlöcher?«
Nun, da ich nach dem Vorfall beurlaubt bin, lese ich ein Buch über Bukarest um 1800, darin schreibt ein Kapitän der englischen Marine, Charles Colville Frankland, der sich auf dem Rückweg aus Konstantinopel befand, dass er in Bukarest eine Stadt voller goldener Kaleschen vorgefunden hat, darin die Bojaren in feuerroten Gewändern und Pelz. Auch ein französischer Generalkonsul ist äußerst angetan von den vielen Kutschen, den neumodischen Equipagen mit den livrierten Kutschern, allerdings bemängelt er den stockenden Verkehr, denn »da gab es noch die transsilvanischen Karren, in denen die ganze Sippe Noahs mitfuhr, gezogen von je acht, zehn oder gar zwanzig Pferden, deren Fohlen frei herumtrabten«. Den Pferdemist soll man an den Stadtrand gebracht haben, ganze Hügel entstanden daraus. Sobald sie trocken waren, wurden sie angezündet.
Ich überlege, ob es sich schickt, die Zigarette bis zum Filter zu rauchen, als letzte Extravaganz einer Suchtgeschichte.
Es blitzt wie aus einem Stroboskop. Grellweiße Möwen werden die neoklassizistischen Prachtbauten der Siegesstraße entlang zur Dambovita hinuntergeweht. Jemand, der wahrscheinlich schon die ganze Zeit gerufen hat, ruft nun noch lauter einen Frauennamen, Stanca oder Bianca. Ob Flavian schon da ist, damit er ein bisschen auf mich warten kann?
Ich drücke die Zigarette aus und will zurück zur Bank; die Tür ist verschlossen. Ich schaue durch die Fenster. Sind alle Kollegen gegangen und haben mich ausgesperrt? Es macht den Anschein. Trotzdem klopfe ich weiter an die Scheibe, koste die Erniedrigung, die ich mir mit meiner einzigen Sucht eingetragen habe, ein Weilchen aus, denn sie würde mich, die junge, so erfolgreiche Bankangestellte, vor einem Rückfall feien. Die Seitentür, durch die nur die Sicherheitsleute gehen dürfen, öffnet sich, ein junger Sicherheitsmann lässt mich herein, damit ich meine Tasche holen kann.
Warum ich dafür ganze fünfundzwanzig Minuten brauche, kann ich nicht überzeugend erläutern. Der Polizeibeamte stellt die Vermutung in den Raum, dass ich es nicht eingesehen habe, wegen einem neu eingestellten Burschen vom Land früher Feierabend machen zu müssen, als mein Angestelltengewissen es zugelassen hat, und so ein ganzes Weilchen in der kalten Passage Macca-Villacrosse hätte herumsitzen müssen. Ich lasse es damit bewenden.
Auf der Polizeistation ist mein Kostüm zerknittert und die Schminke, die mich wie eine fröhliche Stewardess wirken läßt, zerflossen. Kein Wunder, dass sich die Beamten nicht, wie andere so oft, von meinem Vornamen Victoria verleiten lassen, mich als Wendekind und damit zehn Jahre jünger einzuschätzen.
Der Streit mit dem jungen Sicherheitsmann ist harmlos.
»Wo ist die Spendenbox der Tierschützer?«, frage ich.
»Dort vorn, in der Abstellkammer«, antwortet er, ohne sich umzudrehen.
»Sie müsste doch in der Eingangshalle stehen.«
»Der Chef hat sie weggetragen.«
»Tagsüber war sie auch nicht da.«
Der Sicherheitsmann dreht sich um, irgendwie amüsiert, und mir wird schlagartig klar, dass ich an Respekt eingebüßt habe.
»Sie war in der Abstellkammer.«
»In der Abstellkammer?«
Ich lächle zurück. Er erinnert mich an jemanden; die Erinnerung ist nicht etwa schlecht. Würde ich einen Schritt auf ihn zu machen, wir würden übereinander herfallen.
»Sie muss aber in der Eingangshalle bleiben, sonst können die Leute nicht spenden«, sage ich.
Er wendet sich wieder ab. »Da kann sie geklaut werden, sagte der Chef.«
Das Echo unserer Stimmen in der hohen Glaskuppel verselbständigt sich einen Augenblick lang. Ich rolle die Spendenbox für die Tierschützer zurück in die Eingangshalle, der Sicherheitsmann sagt ein paar Mal: »Das können wir nicht tun«, und es ist ihm anzusehen, dass er Wert darauf legt, meine Unternehmung rückgängig zu machen, ohne mich oder die Box zu berühren. Denn er rollt die Fäuste in der Hosentasche, und als das nichts nützt, setzt er einen Fuß vor die Rädchen der Spendenbox, zieht ihn aber gleich wieder zurück. »Machen Sie das doch morgen, wenn der Chef da ist.«
»Der Chef oder der Direktor?«, donnert es von der Glaskuppel herab.
Wir lachen. Erst jetzt entdecken wir den alten Mann neben uns.
Der Mann wirft eine dieser billigen, ganz klein faltbaren Nylontaschen zwischen uns. »Gestatten die Herrschaften, das ist ein Bankraub!«
So wie er aussieht, scheint er einem Film noir entstiegen, trägt Hut und einen langen Mantel, eine Revolver-Ausbeulung in der linken Tasche; überhaupt sieht er diesem neulich verstorbenen Schauspieler ähnlich – sein Name will mir nicht einfallen, aber er war ein Mythos –, ein Schmierenschauspieler eigentlich, über dessen Beisetzung eine landesweite Debatte entbrannt ist, ob die Kremierung mit der christlich-orthodoxen Tradition Rumäniens überhaupt vereinbar ist.
»Und nun?«
»Das Geld!«
»Welches Geld?«
Der Sicherheitsmann und ich schauen uns an. Der Alte ist senil. Wie ich später auf der Polizeistation erläutern sollte, zwinge ich mich immer wieder, den Alten die nötige Sympathie wenn auch nur für ihre weißen Haare entgegenzubringen, aber es gelingt mir nicht – im Wissen, dass diese Alten keine echten Alten sind, wie es jene vor ihnen noch gewesen sind. Sie tragen vielmehr eine billig patinierte Maske des Alters vor sich her und bleiben dahinter die ewigen Kinder des Kommunismus mit den schnellen Augen, so jung wie ihre umfassende Missgunst.
Ich bleibe höflich, wie ich es mit jedem Kunden bin, egal mit welcher Anfrage er ankommt, und erkläre, warum wir ihm kein Bargeld aushändigen können, erläutere den Devisenverkehr und die Ausländerkonvertibilität, die uns zurzeit lähmt. Der Alte seufzt – oder war das der Sicherheitsmann, bei dem ich mir jetzt sicher den verlorenen Respekt zurückerlangt habe? –, und dann sagt er: »verdammte Spekulanten«, aber ich bleibe bei meinem professionellen Lächeln, etwas abgemildert im Feierabend, und sage ihm, dass das nicht in meine Zuständigkeit falle und keiner anwesend sei, der befugt wäre, Auskünfte zu erteilen.
Als der Alte seinen Revolver auf den Sicherheitsmann richtet, breche ich das Spiel ab und fülle den Nylonsack mit gebündelten Banknoten. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verlässt die Bank durch die große Schiebetür. Wieso ihm der Sicherheitsmann folgt, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall nimmt er die Spendenbox der Tierschützer mit.
Von der Straße dringt ein peitschendes Schussgeräusch zu mir her.
2
In der Halbzeit gehe ich uns Holundersaft holen, wobei Flavian, der mir auf den Balkon gefolgt ist, angesichts der Korbflasche, in der ich nach den Regeln der Kunst – mit getrocknetem Holunder und viel Hefe – mein extrasaisonales Getränk braute, bouche bée bleibt. Das stachelte mich an, zum Holundersaft ein paar Plätzchen mit Rosinen zu backen.
»Ich habe noch Teig im Kühlschrank«, lüge ich und bestehe darauf, dass er im Wohnzimmer bleibt und sich die Wiederholungen im Fernsehen anschaut; ich tue das auch in der Ahnung, dass er heimlich durch die Kanäle zappen will, durch die vielen Nachrichtensendungen, die es jetzt zum Banküberfall geben muss und die sicher auch die trauernde Mutter zeigen, eine einfache Frau mit schwarzem Kopftuch, inmitten anderer Frauen mit schwarzem Kopftuch, alle furchterregend heulend.
Als ich hereintrete mit den missglückten Plätzchen, schießt der FC Rapid ein Tor, »Gooooooool«, hallt es von der Straße her, und Flavian hätte mich vielleicht umarmt, wäre der Treffer nicht so spektakulär gewesen. Die vielen Wiederholungen zeigen einen levitierenden Pancu, der im Fallen eine Flanke mit der Hacke erwischt und aus großer Distanz den Ball im Torwinkel versenkt.
»Zu Hause kriegt man mehr Tore zu sehen«, sagt Flavian und isst hastig von meinen verbrannten Plätzchen.
»Gooooool, Gollgollgollgoooool«, rufen die Kommentatoren durcheinander, die Südkurve fängt Feuer, »Gooooooooooool«, rufen gleich mehrere Nachbarn auch bei den Wiederholungen; und mir kommen die Tränen, wie immer in solchen Momenten.
Als Mémés zweiter Ehemann im Sterbebett lag, ein hagerer Mann, schwer gezeichnet vom Arbeitslager am Donaukanal, stemmte er sich ein letztes Mal hoch und rief mit krächzender Stimme, das Heilige Abendmahl im Mund, halbzerkaut: »Hai Rapid«, und sein Beichtvater, ein strenger Priestermönch von der Hl. Stavropoleos, erwiderte: »Amen. Amen. Amen.« An der Beerdigung gab die Blaskappelle zuallerletzt auch die FC-Rapid-Hymne. Eine wunderschöne Melodie, passend für alle Anlässe, darin heißt es: »Wir sind überall daheim, die Tore tun sich uns auf.«
»Und du bleibst jetzt hier«, sagt Flavian, »du scheinst den Jungs Glück zu bringen.«
Rapid siegt 4:2. »Welch eine Nacht«, ruft der Moderator, noch bevor die Nacht angebrochen ist. Es ist die Nacht, in der Flavian bei mir einziehen sollte, er wolle mich nach den Ereignissen in der Bank nicht allein lassen.
Ich führe ihn ins große Schlafzimmer, und wir legen uns ins Bett meiner Eltern, das einzige Bett im Haus, seit ich nach meiner Heimkehr das Kinderzimmer in ein Büro umgewandelt habe; ein tiefes Bett mit eingebauter Federmatratze, die allerdings zwei große Kuhlen aufweist, da, wo meine Eltern gelegen haben, recht weit auseinander, wie ich feststelle. Wir legen uns in die Kuhlen und liegen da wie zwei in Stein gemeißelte Tote auf dem Sarkophag. Die Hände über dem Laken zusammengefaltet, starren wir auf die geordneten Lichtwaggons, die die vorbeifahrenden Autos auf die Zimmerdecke werfen.
»Magst du noch ein Glas Wasser?«, fragt Flavian.
»Nein, danke.«
Ich habe schon zwei Tage lang unentwegt Wasser getrunken, weil mir von allen Seiten ein Glas Wasser angeboten worden ist und ich es unter den Umständen angebracht fand, auch jedes Glas zu trinken.
»Und du?«, frage ich Flavian, um die Stille aufzuwirbeln.
»Im Moment nicht.«
»Vielleicht sollten wir eine Flasche neben das Bett stellen, damit wir nachts nicht aufstehen müssen.«
Umständlich steht er auf, stellt die Wasserkaraffe und die beiden Gläser auf seinen Nachttisch. »Hübsche Gläser.«
»Von meiner Oma.«
Er geht im großen Bogen um das Bett und stellt ein Glas auf meinen Nachttisch. Dann nimmt er mein Gesicht in seine Hände und schaut mir in die Augen.
»Du weckst mich, wenn du Durst hast, ja?«
Er küsst mich auf beide Wangen und auf die Stirn, macht wieder einen großen Bogen um das Bett und schlüpft mit dem langärmligen schwarzen Seidenpyjama, das er sich kleingefaltet wie ein Taschentuch im Aktenkoffer mitgebracht hat, zurück unter das Laken, das nach Lauge riecht. Frau Jeny hat wieder einmal die Bettwäsche mit ihrer Hausseife behandelt, sie schwört auf Traditionelles. Nur schwer hatte ich sie überzeugen können, die Möbel nicht mit Petrol zu putzen. Rieche ich nun doch einen leisen Petrolgeruch?
»Stört es dich, wenn ich das Fenster öffne?«
Flavian schläft schon.
Bei offenen Fenstern kommt von der Stadt eine noch viel größere Stille in die Wohnung, als wenn sie geschlossen sind.
Die Stille schwillt an zu einem immer lauteren Grillenzirpen, wobei das Wogende im Geräusch dieses Zirpen fast schon aufhebt und es zu einer dumpfen Unruhe werden lässt.
Nun bin ich, wegen der laufenden Ermittlungen und des mir zugeschriebenen Schockzustands, beurlaubt, das erste Mal seit meiner Rückkehr aus Zürich, komme also nicht mehr umhin, das Administrative für die meiner Familie zurückerstatteten Häuser, Wälder und Weinberge zu regeln – die vier Grüfte auf dem Bellu-Friedhof nicht zu vergessen. An der Gruftmauer nach Norden hin findet man oft nach unten abgebrannte Kerzenstummel. Die Grabpflegerinnen erzählen mir, dass da jemand des Nachts kommt, um in einem komplizierten Ritual einen Feind zu verfluchen – wohl eine sehr alte Person, denn die kommt jetzt schon seit meiner Kindheit. »Armer Ur-Onkel Neagu«, klagt meine Mutter, und sie beklagt eigentlich die Degradierung der trauernden Frauen aus Stein – »von Raffaelo Romanelli!« –, die sich, nur von ihren langen Haaren verhüllt, an der Gruftmauer abstützten. »Du musst unbedingt den Missetäter finden, das sind wir den Ahnen schuldig.« Die Security-Firma meiner Bank damit zu beauftragen, kommt wohl nicht mehr in Frage.
Hitze und Lindenduft erfüllen das große Schlafzimmer, die Hitze verstärkt den Lindenduft; ich weiß, dass ich heiser bin, obwohl ich kein Wort sage. Drei, vier Mal kommen Motorengeräusche auf, das Auf und Ab lässt mich eine Hügellandschaft imaginieren: Bedrohlich rasen die Maschinen zu mir herauf, um dann mit Geheule wieder ins Wellental zu fallen.
Am Vormittag habe ich wieder meine Eltern in Nizza angerufen. Sie haben Gäste und sind beschwipst.
»C’est notre fille, qui est rétourné à Bucharest«, höre ich meinen Vater rufen.
»Ah, oh«, kommentieren die Gäste.
»C’est romantique!«, ruft meine Mutter, und die Gesellschaft lacht zustimmend. »C’est romantique!«
Ich habe zwar mitgelacht, kann mich aber an ihre laute Art nicht gewöhnen; in den langen Sommernächten meiner Kindheit, als wir im Seitengarten unter der Weinlaube Freunde empfingen, haben sie immer leise gesprochen und fast lautlos gelacht, so dass man wohl im ersten Stock dachte, wir würden schweigen oder es sei niemand da. Ein Spion konnte eine Herzattacke bekommen, wenn einer der Freunde auf den Siphongriff drückte, um sich den Gespritzten nachzufüllen. Damals war es nachts so dunkel, dass ich bei längerem Schweigen nicht wusste, ob ich noch unter der Laube war oder woanders, die Augen auf hatte oder zu, ob ich mich bewegte oder das nur vorhatte. Damals genoss ich solche Verwirrungen, ein taumelndes Gefühl der Schwerelosigkeit, ja, wenn ich jetzt zurückdenke, entsinne ich mich eines primären Gefühls der Schuldlosigkeit.
Der Lindenduft breitet sich weiter über die Nacht aus; er hat mich bis ins Bett verfolgt, wo wir reglos liegen – zwei warme Leichen, die bei dieser Hitze nicht abkühlen. Der Himmel bleibt hell und sternenlos. Ins Fenster, ganz nah, ragt auf einem Hügel das hell erleuchtete Haus des Volkes, umringt von Möwen, die langsam auf und ab schweben wie in einer Schneekugel. 5100 Räume, 200 Toiletten, 480 Kronleuchter, 150000 Glühlampen – ich zähle alles auf und schlafe ein.
Grelles Deckenlicht sticht mir in die Augen. Ich liege im Bett, die Fenster sind zu, der Raum hat sich etwas abgekühlt. Flavian hüpft halbnackt durchs Zimmer, das Pyjamaoberteil aus schwarzer Seide in der Hand. Er jagt Mücken.
»Keine Sorge«, sagt er, »mit feuchtem Klopapier kriegen wir alle Blutspuren von den Wänden runter.«
Ich sitze auf dem Bettrand, und als meine Augen sich endlich scharfstellen, ist auch die letzte Mücke erledigt, ein kleiner roter Blutfleck unter Uromas Bild in Tracht und Lederschuhen vor einer bemalten Hügellandschaft mit Schober; und während Flavian entzückt meine Uroma betrachtet und mir zu ihrem guten Aussehen gratuliert wie zu einem Baby, frage ich mich, wen wohl die Mücke gestochen haben mag.
Aus ihren barocken Bilderrahmen schauen mich allerlei vornehme Verwandte mit dem Anflug eines Lächelns an; Mémés Onkel Neagu scheint sich, die Hände am Revers des kurzen Pelzjäckchens, kaum noch eines Lachanfalls erwehren zu können – auf der Bildrückseite zusätzlich gekitzelt von einer länglichen, nach rechts geneigten handschriftlichen Notiz mit hellblauer Tinte: »Neagu, immer gut aufgelegt, hier mit einem herrlichen rumänischen Lammpelzjäckchen.«
Ein Knall, und das Licht geht aus – die Glühbirne oder eine durchgebrannte Sicherung. Mir schießen letzte Lichtkreise in die Augen, als hätte man mich mit Blitz fotografiert. Flavian sagt etwas, keine Armlänge von mir entfernt, ich ziehe ihm das lächerliche Seidenhemd aus der Hand und werfe es weg in die Finsternis.
Als wir erwachen, ist es, aus der glühenden Hitze zu schließen, spät am Morgen. Ein Lichtstrahl hängt schräg über uns, darin tänzelt der funkelnde Staub. Die Rokokomöbel mit den goldenen Blumenketten gewinnen allmählich Kontur, auch Tonitzas Gemälde »Mädchen mit roter Kappe« und die rundherum aufgehängten Fotos von Mémés ehrwürdigen Verwandten, die ich nur von diesen Fotos her kenne. Beim Aufstehen erblicke ich im venezianischen Spiegel wie üblich das Gemälde mit der von Jupiter gelockten Danae, und wie so oft ist mir, als stünde jemand ganz dicht hinter mir, es fehlt nur noch die Schreckensstimme: »Ihre Fahrkarte, bitte!«
Vor dem Haus hupt ein Taxi nach meiner Nachbarin, der Apothekerin. Flavian und ich beugen uns nackt übers Fensterbrett, um durch das Lindenlaub hinabzusehen, vorbei an der geblümten Steppdecke, die mein Nachbar Codrin täglich zum Auslüften über das Fensterbrett wirft, ganz so, wie es auch seine Großmutter gemacht hat, als er noch ein Bettnässer war.
Wenn ich morgens zur Bank gehe, steht das Taxi für die Apothekerin schon vor dem Haus, darin der Taxifahrer in gelöster Pose, er liest die Zeitung oder ein Buch, macht sich gefasst auf eine längere Auszeit, die Autotür offen. Irgendwann faltet er die Zeitung dann doch zusammen und zieht sich am Lenkrad hoch, um zu hupen. Nach einiger Zeit kommt die Apothekerin Aristita auf den Gehsteig gerannt, mit ihrer wallenden Mähne, die ergraut ist, und macht ihre wegwerfende Geste. »Starten Sie schon den Motor!« So ist das jedes Mal.
Ein strammer Straßenkehrer im gelben Overall und einem Smiley auf dem Rücken zieht am gelben Taxi vorbei und pfeift die Melodie »Heaven, I’m in heaven, and my heart beats so that I can hardly speak …« Flavian meint, es sei von Glenn Miller.
»Hey Smiley, von wem ist das Lied?«, ruft ihm Flavian zu.
Der Zigeuner schaut in die Lindenkronen, und als er uns nicht ausmachen kann, streckt er den Mittelfinger hoch.
Und dann kommt wie immer ganz unverhofft Aristita heraus, mit wallender Mähne, und der Taximotor hebt an wie der eines Flugzeugs. Als der Lärm in der Ferne, an der Dambovita-Zeile in Richtung Haus des Volkes, verstummt, ist auch Smiley außer Sicht, und seine Melodie fast nicht mehr zu hören.
Wir umarmen uns am Fenster, Flavians Atem kitzelt mich im Nacken. Ich rede ununterbrochen, erzähle ihm von meinen Nachbarn, die plötzlich, wie um mein Erzählen anzuspornen, aus ihren Häusern kommen und über die Straße spazieren, gemächlichen Schrittes. Die meisten von ihnen habe ich seit Jahren nicht gesehen, und jetzt sind sie wieder da, sehr vertraut und fremd zugleich, wie die Ahnen, die mich im ganzen Haus von den Fotos und Gemälden anschauen. Es lässt sich so leicht von ihnen erzählen. Und mit jeder Geschichte, die ich ihm erzähle, wird mir Flavian weiter vertraut.
3
Wir erkannten ihn sofort als vom Schlag des Generals, an seinen Bewegungen und seiner Miene – schon als er kurz nach den grausigen Ereignissen mit seiner verwirrt wirkenden Frau am Tatort einzog. Sie sahen aus, Hand in Hand und beide mit kleinen Handkoffern und Hütchen, als kämen sie gerade aus einem Kurort. Am Vortag hatte ein Hausmeister die Namensschilder ersetzt. Im hellen Nickelglanz war zu lesen: Herr N. O. Iosif, General der Reserve.
Die Meinen ließen ihre Filmnachmittage ausfallen, verblieben aber mit ihren Freunden in derselben konspirativen Atmosphäre, die grünen Vorhänge zugezogen, grünliches Sonnenlicht auf den Kaffeetassen. »Eine Zigarette mit Filter, Maria?«, »Au ja!«, »Despina, bring bitte die Schachtel von Sorin!«, »Pssssst, schrei nicht so, Dimi!«, »Sorry, Liebling!«. Wir saßen auf dem Perserteppich, den meine Großmutter Mémé hergebracht hatte – die durchgescheuerten Stellen markierten Pfade, die wohl in einer anderen Wohnung und in einem anderen Leben entstanden waren. Im Schneidersitz saßen alle vor den massiven Sesseln, meine Eltern und ihre Freunde von der Uni, und die Stille um die Rokokomöbel meiner unbekannten, aber illustren Urahnen verlangsamte alle Gesten, machte sie zum feierlichen Déjà-vu.
Vielleicht kann ich mich deshalb an alle Einzelheiten des Mordes aus dem ersten Stock erinnern; weil mir die brutalen Fakten, die niemand vergessen konnte, die Erinnerungen an die Zeit näherbringen, da ich sie zum ersten Mal kolportierte – die Zeit meiner Kindheit.
Ich erzähle Flavian, wie Nenea Sandu mehrmals die Woche nach der Arbeit vor dem Haus an seinem Auto werkelte, das große Radio auf dem Zaun abgestellt; verrauscht die unsterblichen Schlager von Angela Similea und Mirabela Dauer, an Wochenenden die nasalen Fußballberichte. Nenea Sandu steckte in einer langen Trainingshose, bei großer Hitze in einer kurzen, den nackten Oberkörper ölverschmiert, er lag öfter halb unter dem Auto. Mein Vater und er führten den ewig selben Dialog, der unserer guten Nachbarschaft eine süße Verlässlichkeit verlieh.
»Ich grüße Sie, Nene Sandu! Wohlauf?«
»Ja, danke. Hier, unterm Auto.«
»Tanti Felicia?«
»Mit ihren Dingen beschäftigt.«
»Der kleine Codrin?«
»Spielt, der Bengel.«
An den Abenden zog er den Wasserschlauch aus dem Garten, wusch das Auto, seifte es sorgfältig mit dem Schwamm ein, spülte es rundum ab und trocknete es mit Tüchern aus Rehleder. Dann jätete er das Unkraut, das aus dem Kopfsteinpflaster der Straße wuchs, er bewässerte die Rosen vor dem Haus und die Weinlaube im Seitenhof, zog dem Auto die Schutzhaube über und ging endlich hinauf zu Tanti Felicia. Am späten Abend trug der tüchtige Mann auch noch den Müll hinunter, und da hörten wir manchmal Tanti Felicia rufen: »Sandu, Lieber, abends trägt man keinen Müll raus. Bringt Unglück«, und sein beruhigendes Murmeln: »Ach was.«
Wenn uns Mémé besuchte, würdigte sie den vor dem Haus werkelnden Nenea Sandu keines Blickes. Ein kommunistischer Parvenü sei er, eingenistet im Haus ihres verstorbenen Vaters, basse classe, von der Sorte mit dem dicken Darm.
Durch den Lüftungsschacht hallte allabendlich das Gelächter des Nachbarpaars in unser Bad; sie badeten ihren Sohn. Ich wartete arglos, mit shampoonierten Haaren, bis sie damit fertig waren und das warme Wasser auf meiner Seite wieder aufsteigen konnte. Manchmal ging Mutter auch ein bisschen Wasser kochen, damit ich nicht so lange warten musste.
Im Sommer wurde das Familienauto feierlich in Betrieb genommen. Die Schutzhaube wurde von Nenea Sandu und Tanti Felicia sorgfältig gefaltet und im Kofferraum verstaut, die großen Koffer und die Gefriertruhe mit Seilen am Dachständer und durch die geöffneten Seitenfenster des voll bepackten Autos befestigt. »Kommt schauen, wie die Iancus losfahren«, rief mein Vater, und wir lehnten uns über den Fensterrahmen und schauten hinunter, durch die rauschenden Zweige des Lindenbaums.
Bei Herbstbeginn würden sie wieder heimkehren, die Iancus, braungebrannt und mit ihren immer gleichen Geschichten von glücklich überstandenen Pannen und spontanen Picknicks am Straßenrand, eine Tasche voller geklauten Sonnenblumenkerne als Beute.
Wer hätte gedacht, dass diese Menschen, die in ihrer Routine ewig zu sein schienen, dann doch an einer großen Leidenschaft untergehen würden?
»Hast du es kommen sehen, Dimi?«, fragte Mutter.
Vater verneinte.
Das Unheil nahm damit seinen Lauf, dass sich Nenea Sandu – was sich niemand so recht vorstellen konnte – offenbar eine Geliebte genommen hatte, und zwar ausgerechnet die Apothekerin Aristita aus dem Parterre, die einzige Nachbarin, mit der sich Mémé unterhalten mochte.
Aristita war alleinstehend und kokett und ließ sich, wie erwähnt, jeden Tag von einem Taxi zur Arbeit und wieder zurück nach Hause fahren. Ich glaube, das irritierte Nenea Sandu, vor allem, wenn dabei zu nahe an seinem Auto geparkt wurde. Irgendwann freundete er sich aber mit den Taxifahrern an und redete mit ihnen über dies und das, bis Aristita herauskam. Dann schaute er dem Taxi hinterher und blieb noch ein Weilchen untätig unter dem Lindenbaum stehen, hörte Radio; oft, ja immer öfter wurde damals ein Schlager von Mirabela Dauer gesungen: »Das Mühlrad, das dreht sich – zack, zack, zack. Das Herz, das quält sich – zack, zack, zack.«
Doch immer seltener arbeitete Nenea Sandu an seinem Auto, manchmal hob er nur die Schutzhaube über die Fahrertür hoch, stieg ins dunkle Auto ein und blieb lange darin.
An einem warmen Herbsttag soll er, zumindest wird es nun so erzählt, den Entschluss gefasst haben, drei Tage bei seiner Geliebten zu bleiben. Also packte er sorgfältig einen kleinen Koffer, oder er ließ ihn sich von seiner Frau packen, sagte, dass er auf Geschäftsreise gehe, und zog heimlich bei Aristita im schattigen Parterre ein.
Es war ein ruhiger Herbstabend, etwas diesig, der Asphalt hell; Hundertschaften von Grillen, die einmal in der Ferne, dann wieder ganz nah zirpten. Wir waren am Fenster, winkten unseren Freunden, die gerade das Haus verließen. Unten hörten wir sie jemanden begrüßen. Es war Nenea Sandu, der gerade den Müll seiner Geliebten herunterbrachte. »Ich grüße Sie, Nene Sandu! Wohlauf?«, riefen unsere Freunde. Und auch Vater grüßte ihn vom Fenster aus.
Aus Gewohnheit ging er an diesem Abend, in seinem blau karierten Hausmantel und den Hausschuhen, von den Mülltonnen hinauf in die erste Etage, in seine Wohnung. Als er die Tür geschlossen vorfand, klingelte er verschlafen, einmal, zweimal, mehrmals, und zog schließlich gähnend und mit dem falschen Mülleimer an seiner verdutzten Frau vorbei.
Was dann folgte, stand in der Zeitung, und grausige Einzelheiten machten die Runde im Quartier. Man munkelte, ein indiskreter Milizmann habe sich Freunden anvertraut, wir aber waren damals im Raum darüber, und, bei aller Hellhörigkeit im Haus: wir hörten nur das Rauschen des Laubes draußen, die Tauben unter dem Dach, ab und zu das Zirpen der Grillen – erst gegen Morgen dann den Schrei, anschließend Martinshörner, blitzend durch den Nebel, und als wir in den abgeriegelten Hof hinunterschauten, sahen wir zwischen einer Handvoll Milizmännern die Mülltonne. Daraus ragten die Beine des Nenea Sandu spitz nach oben, an einem Fuß steckte ein Hausschuh.