Ein reiches Leben
Vorwort
Peter Jenny-Lüthi
Das Leben nach dem Tod ist nur schwer vermeidbar
Anita Senti-Jenny
This war der Typ »harte Schale, weicher Kern«
Heiz Dürst
Kindheit in Sool
Richi Jenny
Ist erledigt!
Sibylle Hösli-Jenny
This war ein starker, strenger Vater zu uns Schwestern
Fritz Schiesser
Haslen – ein Dorf mit zwei Schulzimmern und einem Skilift mit zwei Bügeln
Fritz Rhyner
Lebensschule auf zwei Brettern
Angelo Umberg
Danggä sägä choschtet nüt
Hanspeter Ricetti
Als Lohn vier Franken fünfzig pro Stunde
Chäpp Rhyner
Kein »aber«, kein »vielleicht«, kein »wenn es noch reicht«. Immer: »Ich will!«
Walter Iten
Wenn der Zug oder das Flugzeug kommt, kannst du die auch nicht anhalten
Adolf Ogi
Der Jenny war ein absoluter Draufgänger
Heidi Jenny
Du, ich hätte schon mal gern Kinder
Fritz Marti
Ä güäts Gfühl! Es mönd dr all zuälosä, ob si welled oder nüd
Heinrich Aebli
Von Dorfpolitik und Niveaupunkten
Paul Kölliker
Als Politiker muss man auch über Scheisse reden können
Bettina Jenny
Wir wussten, mit dem Vater kommen wir überall runter
Fritz Grob
Nicht geboren, um Zweiter zu sein
Konrad Müller
Was ist mit euch los? Müsst jetzt ihr sterben oder ich?
Vreni Spoerry
This, ein Meister innovativer Lösungen
Erika Hösli
Gern hätte ich mit dir noch einige Jahre zusammengearbeitet
Matthias Jenny
Vater, Vorbild und Kollege
Thomas Rageth
This’ Stärken waren deutliche Worte, klare Abmachungen und Vertrauen
Werner Hösli
Einfach war This nicht. Er war mehr, viel mehr!
Klaus Jenny
Wenn es darauf ankam, konnte man auf This zählen
Hans Hess
Wenn der Jenny nicht kommt, ist er entschuldigt nicht da. Fertig!
Anita Fetz
This forderte mich auf, die Ohren steifzuhalten
Peter Föhn
Wenn du einen Freund wie This hast, brauchst du keinen Psychiater
Ursula Abgottspon
Der Jenny verliebt sich doch nicht mehr!
Rolf Blumer
Niemand ist so schlecht wie sein Ruf. Aber auch niemand so gut wie sein Nachruf
Nachwort
This Jenny – Ein Leben in Jahreszahlen
»Die Kindheit war hart, unglaublich hart. Ab zwanzig gings dann nur noch aufwärts. Einfach immer aufwärts. In den letzten Jahren dachte ich manchmal, so kann es nicht immer weitergehen… Aber damit habe ich nicht gerechnet.«
Mit »damit« meint This Jenny den Magenkrebs, der nicht nur seinen erfolgreichen Aufstieg bedroht, sondern sein Leben. This sitzt mir im Chefbüro seiner Baufirma Toneatti AG am Besprechungstisch gegenüber. An diesem Mittwoch im Oktober begegnen wir uns das erste Mal – und auch das letzte Mal. Er ist einverstanden, dass ich ein Buch über ihn schreibe – genauer, dass ich in einem Text festhalte, was er mir aus seinem Leben erzählt. This, abgemagert und müde, berichtet, wie ihn zuerst Beschwerden beim Schlucken plagten, wie er auf das Drängen ihm Nahestehender sich zur Magen- und Darmspiegelung anmeldete, wie ihn am 6. Februar 2014 die Diagnose »Magenkrebs« in ihrer radikalen, tödlichen Bedrohung kalt erwischte. Wie die Chemotherapie so gut griff, dass eine Operation möglich wurde. Wie er wieder Hoffnung schöpfte.
This trinkt Limonade, beim Schlucken verzieht er schmerzvoll das Gesicht, die Falten auf seiner Stirn werden tiefer, und er wechselt zur Aktualität: »Seit ein paar Tagen geht es mir wieder schlechter. Ich glaube, die Antibiotika sind dafür verantwortlich. Darüber muss ich jetzt erst mal wegkommen. Jetzt auch noch Zeit für unsere Gespräche freischaufeln, das geht nicht. Im November will ich sowieso noch Ferien auf den Kanaren machen. Kommen Sie im Januar wieder, dann fangen wir an.« Wir reden kurz darüber, was wäre, wenn der Tod doch vor der Tür stehen würde.
»Wenn ich da nicht rauskomme, wenn der Krebs zurückkommt, weiss ich, was ich tun werde. Die letzten vierzehn Tage will ich mir und meinem Umfeld nicht zumuten. Dann kürze ich das ab, ich bin Mitglied bei Exit. Schluss. Punkt. Aus die Maus.«
Nach einer halben Stunde verabschieden wir uns mit einem Händedruck. This sagt, er erwarte meinen Anruf im Januar.
Das war am 15. Oktober 2014. Zwei Tage später musste er wieder ins Spital. Sie behielten ihn dort. Und am 15. November 2014 schied er aus dem Leben. Schluss. Punkt. Aus die Maus.
Tage später rief mich This’ Lebenspartnerin an: Es bleibe dabei, das Buch solle trotzdem erscheinen, das sei sein Wunsch gewesen. Wenn nicht ein Buch mit This, dann halt eines über This. Doch wo beginnt man, um einem Menschen gerecht zu werden, dem man gerade einmal eine halbe Stunde gegenübersass? Auch dafür fand This eine Lösung. Er hinterliess am Vorabend seines Todes Namen von Menschen, die ihn ein Stück auf seinem Lebensweg begleitet hatten: Familienmitglieder, Freunde, politische Weggefährten. Menschen, die für ihn wichtig waren, die etwas zu erzählen wussten. Denn This wollte keine Biografie, gespickt mit blossen Fakten und Jahreszahlen, er wollte Geschichten. Geschichten, die das Leben schrieb, sein Leben. Und so finden sich in diesem Buch Geschichten von dreissig Männern und Frauen, die This nahestanden. Sie sind seine Biografen.
Steht in diesem Buch die Wahrheit über This Jenny? Mag sein, dass sich Wahrheit mit konkreten Jahreszahlen, dokumentierten Siegen und Niederlagen belegen lässt. Das aber wäre nur die halbe Wahrheit. Viel wichtiger ist die Wahr-Nehmung, wenn wir einem Menschen begegnen, mit ihm streiten, lachen, Berge versetzen und Krisen meistern. Was wir wahrnehmen, wenn wir uns auf ihn einlassen, im Lieben und Leiden. Jeder hat seine eigene Wahrnehmung, geprägt durch das individuelle Erleben. Widersprüchliche Beurteilungen mögen uns irritieren. So vielleicht auch in den Geschichten in diesem Buch: Dreissig Menschen berichten, wie sie This erlebten. Die einen haben ihre Gedanken selbst zu Papier gebracht und mir zugesandt, andere haben mir ihre Erlebnisse mit This in einem Interview mitgeteilt: Erinnerungen zu This’ düsterer Kindheit, zum Familienleben, zu den beruflichen und sportlichen Aktivitäten, zu seiner politischen Tätigkeit, zu seiner Krankheit … Mir scheint, als hätte ich mit jeder Geschichte ein weiteres Teilchen eines Puzzles gefunden, die ineinandergefügt ein Bild ergeben. Das Bild von This Jennys Leben.
This war gut vernetzt, weitherum bekannt, »ein bunter Hund« nannte ihn einer. Und wenn man weiss, wie sehr This Hunde liebte, so ist das durchaus als Kompliment zu verstehen. Gewiss gibt es noch andere Menschen, die von This erzählen könnten. Ich habe mich an die Liste mit jenen Namen gehalten, die This seiner Lebenspartnerin am Vorabend seines Todes nannte. Hätte This mehr Zeit gehabt, hätte er wohl noch manchen Namen hinzugefügt. Eines aber weiss ich mit Sicherheit: Die Menschen, die sich in diesem Buch an ihn erinnern, waren für This nicht nur wichtig, er war ihnen allen für ihr Dasein, ihre Freundschaft, ihre Liebe tief dankbar.
Die Geschichte eines Menschen beginnt lange vor seiner Geburt. Die Erlebnisse unserer Vorfahren, die Erfahrungen unserer Eltern wirken auf uns nach, prägen uns, ob wir wollen oder nicht. Und ohne Zweifel wirkt unser Sein in dem, was wir tun und lassen, auch in die Zukunft. Ob wir wollen oder nicht: Wir hinterlassen immer Spuren. Wenn ich all das Gehörte und mir Zugetragene reflektiere, so kommt mir zu This Jenny das Bild eines Leuchtturms in den Sinn: Sein Licht ist Orientierung im Dunkeln, das uns sicher zum Hafen leitet oder uns davor bewahrt, an gefährlichen Klippen zu zerschellen. Ein Leuchtturm strahlt weit. Doch wirft Licht immer auch Schatten. Wie sagte This selbst: »Niemand ist so schlecht wie sein Ruf. Aber auch niemand so gut wie sein Nachruf.« Typisch This.
This war ein Sonntagskind, und das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Der 4. Mai 1952 – sein Geburtstag – war ein Sonntag. Ein von Frankreich herannahendes Tief verursachte an diesem Tag eine für das Glarnerland so typische Föhnlage. Während der angehende Erdenbürger sich im Gebärsaal des Spitals Glarus durch den Geburtskanal seiner Mutter auf die Welt zwängte, standen die Mannen – wohlverstanden damals nur die Männer – ein paar hundert Meter entfernt im Ring, stimmten über Sachgeschäfte ab und wählten politische Vertreter ihres Vertrauens. Es war ein Landsgemeinde-Sonntag. This wurde die Politik sozusagen in die Wiege gelegt.
This’ erste Lebensjahre liessen jedoch das Wort vom »Sonntagskind« schnell Makulatur werden. Er wuchs in Sool auf, einem kleinen Ort auf einer Bergterrasse über dem Tal, in dem das Wasser der Linth zum Walensee drängt. Auch wenn es nur wenige Kilometer sind, gefühlt lag Sool damals, vor gut sechzig Jahren, etwa so weit weg vom Hauptort Glarus wie dieser von Zürich. Telefone waren noch nicht weitverbreitet, in den Dörfern gab es noch eine »Umesägeri«, die von Haustür zu Haustür ging und den Leuten Geburten und Tod von Mitbürgern verkündete. Das Klima war rau, die Sitten auch und das Leben für den kleinen This hart. Davon, und wie er sein Leben gemeistert hat, wird in den folgenden Geschichten berichtet.
Ueli Oswald, September 2015
Peter Jenny-Lüthi, geb. 1942, emeritierter ETH-Professor, ist This’ Halbbruder aus der ersten Ehe des gemeinsamen Vaters. Die beiden wuchsen nicht zusammen auf, aber die familiären Bande brachten sie immer wieder zusammen, entspannt und ohne jedes Vorurteil.
Als This starb, war er überzeugt, dass es kein Leben nach dem Tod geben wird.
Dem hätte sein Vorfahre, Hans Jenny von Sool, wohl widersprochen, war er doch auch schon Baumeister wie This und Kirchmeier, als er 1699 starb. Nicht wissen konnte er, wie lange ein Weiterleben – in diesem Fall das berufliche – gelegentlich auf sich warten lässt: 253 Jahre dauerte es, bis sich sein Baumeister-Gen in unserer Familie durch This’ Geburt endlich wieder manifestierte.
Es war im April 1961 an der Beerdigung unserer Grossmutter väterlicherseits, als ich This das erste Mal wirklich wahrgenommen habe. Damals betrat ich zum letzten Mal – ich war gerade neunzehn Jahre alt – das Haus, die Metzg in Sool. Vor dem Haus standen Frauen und Männer, dabei war auch ein neunjähriger Bub, Thisli, der Sohn aus der zweiten Ehe meines Vaters. Ich kannte ihn vorher kaum, da ich das monatliche Besuchsrecht bei meinem Vater nicht wirklich nutzte; wir waren uns ziemlich gleichgültig. Natürlich war mein Vater an der Beerdigung seiner Mutter, aber in meiner Erinnerung an diesen Tag sehe ich nur meine verstorbene Grossmutter und This, der ratlos und verloren, aber tapfer vor dem Haus stand. Da unsere verstorbene Grossmutter eine »Bubengrossmutter« war (sie verpasste es, sich an den Enkelinnen zu erfreuen), stelle ich mir die Einsamkeit vor, die This an diesem Tag gefühlt haben musste. Nachdem sich die Trauergemeinde versammelt hatte, bewegte sich der Leichenzug mit Ross und Wagen die steile Strasse hinunter nach Schwanden zum Friedhof. Obschon sich der Lenker des Wagens alle Mühe gab und die Räder seines Gefährts mit den Bremsen blockierte, wurde dieses immer schneller, und es entstand ein immer grösserer Abstand zwischen dem Leichenzug und dem Wagen an der Spitze. Nur This hielt Schritt mit dem schnellen Wagen und unserer Grossmutter, die Sool nur selten verlassen hatte, es nun aber plötzlich sehr eilig damit zu haben schien.
Aber wie bei vielen miteinander verwandten Menschen: Man trifft sich selten, ausser ein Angehöriger stirbt. Jahre später war es unser Vater, der gestorben war. This war schon der erfolgreiche Bauunternehmer und ich Professor an der ETH, als wir uns von unserem Vater verabschiedeten. Unser älterer Bruder Hans (ebenfalls aus der ersten Ehe meines Vaters) war auch dabei, und wir diskutierten miteinander über Gott und die Welt im Allgemeinen und über unseren Vater im Besonderen. Etwas hatten wir doch vom Vater geerbt: unser Freisein von Aggressionen, trotz den schwierigen Verhältnissen. Szenen des Abschieds, die doch sehr emotional sein sollten, so die Erwartung, blieben bei Vaters Beerdigung aus. Die Sargträger – so bemerkte This – übernahmen stellvertretend für uns die sorgenvollen und traurigen Gesichter.
Ein weiteres Bild von der Abdankung hat sich bei mir eingeprägt: In der Kirche stand eine Frau mit Trauerschleier etwas abseits der Trauergemeinde. This, mein älterer Bruder und ich schmunzelten. Vater, der dreimal verheiratet war, blieb sich anscheinend bis zum Schluss treu: Er hinterliess Rätsel. An die Worte des Pfarrers kann sich wohl niemand mehr erinnern. Die Frage, wer diese unbekannte Frau war, hat dagegen mehr Bestand. Das Geheimnis wurde nie gelüftet.
Ja, das mit den Fragen ist so eine Sache…
Heute, nach dem frühen Tod von This gibt es vieles, was ich ihn gern noch gefragt hätte. Privat traf ich meinen Halbbruder nie, im Zug sah ich ihn gelegentlich. Zwischen Ziegelbrücke und Zürich boten sich vierzig Minuten für unsere Gespräche. Meistens stellte er mir, dem Älteren, die Fragen, und ich antwortete, so gut, wie ich eben konnte. Wir waren verbunden durch den gemeinsamen Vater und die gemeinsamen Zugfahrten. Das Herumwühlen in der Vergangenheit geschah im Zug. Da immer eine gewisse Zeit zwischen unseren zufälligen Treffen verstrich, zeigten sich unsere äusserlichen Veränderungen deutlicher. Mit seinen zunehmenden Erfolgen als Baumeister und Ständerat wurden auch This’ Kleider erlesener, und mit grossem Erstaunen stellte ich fest, dass er unserem 1879 geborenen Grossvater immer ähnlicher wurde, wie ein Familienfoto von 1929 zeigt.
Der Unterschied: Der Grossvater war vielleicht zweimal im Leben – bei seiner Hochzeit und beim Fototermin – so sorgfältig wie auf dem besagten Foto gekleidet, während bei This dieses Auftreten zum beruflichen Alltag gehörte. Entsprechend wurden die beiden unterschiedlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen: Beim Vorfahren also eine knappe Handvoll Bilder, bei This eine stete Präsenz in allen Medien. Die Medien mit ihrer Flut von Bildern und Berichten verändern zwangsweise ein Leben. This bekam insbesondere zu spüren, dass sich das Klischee »vom Tellerwäscher zum Millionär« immer noch grosser Nachfrage erfreut.
Ich denke, This genoss die Öffentlichkeit, er freute sich darüber, wenn wildfremde Menschen ihn erkannten, und erwiderte dies mit Freundlichkeit, Humor oder mit ein paar träfen Worten. Er brachte es fertig, dass sich wildfremde Menschen vom Smartphone lösten und erfreut feststellten: »Hoppla, ich habe This Jenny gesehen, und er hat mich gesehen.«
Gedankenwechsel: Ich gestehe, Skifahren ist für mich nicht so wichtig. Dennoch freute ich mich, wenn This das Parlamentarier-Skirennen in ununterbrochener Folge gewann. Auch er zeigte sich unterschiedlichen Interessen gegenüber aufgeschlossen, zum Beispiel 1984, als die Kulturinitiative zur Abstimmung kam. Unter seinem SVP-Präsidium warb ich (als SP-Mitglied) am SVP-Parteitag für die Ja-Parole. Die Anwesenden stimmten mir fast einstimmig zu, was vermutlich ziemlich einmalig war in der SVP Schweiz. Nach meinem Kultur-Votum bot mir This an, für den Heimweg nach Glarus seinen Mercedes zu benutzen. Als ich gestand, leider nicht Auto fahren zu können, kam er doch etwas ins Grübeln und bemerkte, dass ja auch unser Vater nicht Auto fahren konnte. Ich beliess es dabei und erwähnte nicht, dass dafür meine Mutter immerhin einst die zweite Frau mit einem Fahrausweis im Kanton war.
Bei unseren Gesprächen im Zug interessierte sich This immer stärker dafür, welche Krankheiten in der Familie bekannt waren, woran unser Vater gestorben war, was zum Tod meines älteren Bruders geführt hatte. Fragen, die ihn beschäftigten, als er sich körperlich auf dem Höhepunkt fühlte. Einerseits in Topform, andererseits in Angst vor Krankheiten. Das schliesst sich nicht aus, sondern bedingt sich. Wer hat, fürchtet den Verlust. Klagen wollte er dennoch nie, vielleicht empfand er dies als undankbar oder unmännlich, weil er ja viel Erfolg hatte. Das letzte Mal, als wir gemeinsam im Zug sassen, war er unterwegs zur Promotionsfeier seiner Tochter Bettina. Ihr akademischer Abschluss erfüllte ihn mit grossem Stolz. Aber er wollte auch hier ein Gleichgewicht des Lobens, denn gleichzeitig erzählte er vom Sohn Matthias, von Heidi, der Mutter seiner Kinder, von Ursula, seiner neuen Partnerin, die er mir auf einer früheren Fahrt vorgestellt hatte. Er war beim Erzählen immer nahe bei den Menschen, bei seinen Angehörigen und seinen Freunden. Er konnte auch austeilen, aber er liebte seine Mitmenschen. Auf dieser letzten gemeinsamen Zugfahrt erzählte er mir, was er nun, nachdem er alle Ämter und Würden niedergelegt hatte, noch alles unternehmen wollte: nach Rom reisen oder nach Afrika. Ich bin überzeugt, dass er beim Kolosseum sofort den Renovationsbedarf erkannt hätte und ihm wohl beim Anblick der afrikanischen Wildtiere die Erinnerung an seinen Hund in die Quere gekommen wäre. Wenigstens das Rennen und »Strütten« (sinnloses Eilen) auf den Flughäfen blieb ihm erspart.
Ich erwähnte, dass ich This gern noch ein paar Fragen gestellt hätte. Zum Beispiel: Welche drei Eigenschaften hättest du gern von deinen Vorfahren geerbt? Welche drei Eigenschaften von dir und Heidi würden dich freuen, wenn sie auf deine Nachkommen übertragen würden? Eine Wertevorhersage anstelle einer Wettervorhersage.
Es ist und bleibt wie bei unserem Vorfahren: Das Leben nach dem Tod ist nur schwer vermeidbar. Erinnerungen haben dabei einen grossen Stellenwert – wenn wir sie weitergeben. Das gilt auch für This.
Anita Senti-Jenny, geb. 1953, ist die jüngere der zwei Schwestern von This. Die beiden wohnten nur in der frühen Kindheit bei den Eltern – vernachlässigt und auf sich selbst gestellt. This war für Anita eine Art Ersatzvater.
Ich habe mit meinen Kindheits- und Jugenderfahrungen abgeschlossen, und ich denke, auch This konnte das. Natürlich kamen von ihm immer wieder kritische Bemerkungen zu jener Zeit, aber ich glaube, letztlich wollte This zeigen, dass man es schaffen kann, auch wenn das soziale Umfeld problematisch und die Startchancen schlecht sind. Wenn er aus jener Zeit erzählte, wollte er nicht auspacken, um anzuklagen. Er wollte kein Mitleid. Er wollte zeigen, dass man etwas aus sich machen kann. Das war seine Botschaft. Aber wer weiss, ohne die Grosseltern…
In den ersten Jahren lebten This und ich noch mit Vater und Mutter zusammen, während unsere ältere Schwester Sibylle schon bei den Grosseltern mütterlicherseits in Haslen wohnte. Meine ersten Erinnerungen gehen in diese Zeit zurück, da war er wohl etwa fünf und ich vier. Wir lebten in Sool, einem Ort mit damals etwa 150 Einwohnern. Wir wohnten in einem Haus mit zwei Wohnteilen, ein Teil gehörte den Eltern meines Vaters, im anderen war ursprünglich eine Metzgerei. Die betrieb früher unser Grossvater, später der Vater. Aber zu meiner Zeit gehörte die Metzgerei nicht mehr uns, dort wohnten bereits die Hürlimanns. Damals hatten die Eltern eine Metzgerei in Filzbach. Das muss man sich vorstellen: Nur unsere Mutter konnte Auto fahren. Und wenn es in Filzbach zu tun gab, musste sie Vater jedes Mal den Kerenzerberg hochfahren. In meiner Erinnerung war jene Metzgerei höchstens zwei oder drei Tage pro Woche offen, vielleicht auch nur halbtags.
Der Vater hatte das Arbeiten nicht gerade erfunden, dennoch war er immer irgendwo unterwegs. Mutter arbeitete den ganzen Tag, und wenn sie abends nach Hause kam, sagte sie: »Ich muss jetzt noch nach Glarus zum Servieren gehen, sonst reicht das Geld nicht.«
This und ich waren immer allein. Die Eltern schickten uns vermutlich am Morgen noch in die Schule, aber wenn wir mittags und abends nach Hause kamen, war keiner da. Nachts vor elf oder zwölf waren die nicht da! Wir zwei Kinder mussten uns selber helfen. Die Wirtin im »Bären«, Frau Luck, nahm sich unser ein wenig an. Der »Bären« lag ein bisschen tiefer unten im Tal, da durften wir hin, und Frau Luck gab uns Suppe zu essen. Manchmal waren auch Kartoffeln mit dabei. Es hiess, das werde Ende Monat abgerechnet; ob die Eltern jemals bezahlten, kann ich nicht sagen. Ich weiss nur, dass This später der Frau Luck aus Dankbarkeit schon mal etwas hat zukommen lassen. Und wenn er sie zufällig in Glarus traf, ging er mit ihr ins Café und nahm sich Zeit für sie. Ja, die Lucks waren feine Leute. Ihre Kinder spielten mit uns, die haben uns nicht geschnitten. Genauso wenig wie die Ruth Hürlimann und ihre Geschwister aus dem anderen Hausteil.
Damit wir Kinder etwas zum Abendessen hatten, holten wir im Konsum Brot und mussten es anschreiben lassen. Es war schon auch Essbares im Haus, gelegentlich sogar ein Mocken Fleisch. Aber wir mussten uns alles selber zubereiten. Warmes Wasser gab es keines, und geheizt wurde mit Holz. This hatte ein eigenes Zimmer, ich schlief meistens bei den Eltern. Es gab zwar genügend Zimmer, aber die waren nicht geheizt; da blühten im Winter die Eisblumen an den Fenstern. Wahrscheinlich wars bei den Eltern im Zimmer wärmer. This musste auch Holz hacken, um den Ofen zu heizen.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse hatten wir noch einen kleinen Stall mit ein paar Kühen. This melkte am frühen Morgen, noch bevor er zur Schule musste, die Kühe und mistete aus. Ich nehme an, dass die Mutter oder der Vater sagte: »Du musst jetzt den Stall ausmisten und die Kühe melken.« Wenn er da als Bub im Stall am Melken war und ich kam zu ihm rein, dann zielte er mit der Zitze auf mich und spritzte mich ein bisschen mit Milch voll. This hatte immer einen trockenen Humor.
Als Kleinkind hing ich This an der »Chutte« (Rockzipfel), er war ja der Einzige, der zu mir schaute. Als älterer Bruder war er, selbst noch ein Kind, fast auch Vaterersatz. Ohne ihn hätte ich das als kleines Mädchen nicht geschafft. Es waren wirklich grauenhafte Zustände: Warmes Wasser war kaum da, und wir Kinder standen manchmal vor Dreck. Die »Häggeler«, wie wir Glarner die Schmutzflecken nennen, brachte man kaum mehr von der Haut weg. Wer unsere Wäsche wusch, weiss ich nicht mehr, vermutlich die Grossmutter. Wir waren verwahrlost.
Gelegentlich fingen wir auch einen »Watsch« ein, das war ja früher normal. Eigentlich eher von der Mutter. Einmal flog ein Schuh in meine Richtung, ich konnte mich gerade noch bücken, der Schuh flog ins Fenster, und das Glas ging in die Brüche. Das war aber wegen eines Streits zwischen den Eltern.
Arm waren auch viele andere, das ist klar, aber dass man seine Kinder über Jahre von morgens bis nachts um zwölf allein lässt, das war schon schlimm. Wenn aus einem dann nichts Rechtes wird, heisst es oft: »Ja, kein Wunder bei den Verhältnissen.« Aber das liess This nicht gelten, er wollte sich davon unbedingt befreien.
Nach der Scheidung zog meine Mutter von Sool nach Haslen, This war da wohl in der fünften Primarklasse und ich in der vierten. Mutter konnte sich aber nur eine kleine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung unterm Dach im Haus eines – ungeschminkt formuliert – alten »Glüstlers« leisten. This hätte da gar kein Zimmer gehabt, und so konnte er wie unsere grosse Schwester Sibylle zu den Grosseltern mütterlicherseits ziehen, die auch in Haslen, in einem Haus wohnte. Ich durfte zum Mittagessen zu ihnen und war auch abends oft dort. Bis die Grossmutter jeweils sagte: »So, jetzt wirds langsam dunkel, jetzt musst du schon nach Hause.« Das waren nur ein paar Wegminuten.
Schon als Kind schaute This zu mir, er sagte mir aber auch früh, wo es langgeht. Darunter litt ich nie, ich kannte ihn nicht anders. So war This. Er blieb für mich zeit seines Lebens eine Respektsperson. Wenn ich gern mal ein Glas Wein trank, schaute er sehr kritisch. Er selbst trank gar nichts, vielleicht auch, weil die Eltern getrunken und manchmal gewaltige Abstürze hatten. Mein Mann sagt manchmal zu mir: »Du bist wie der This, du bist manchmal unanständig ehrlich.« Es stimmt, da bin ich wie er: Wir kennen nur Schwarz und Weiss. Das kommt von der Kindheit her.
This und ich heirateten kurz nacheinander, ich 1986 und er 1987. Ich zog mit meiner Familie in die Bündner Herrschaft. Am Anfang trafen sich die Familien noch mit den Kindern und den Grosseltern an Familienfeiern. Ich sehe Grossmutter heute noch vor mir mit der Katze auf dem Schoss… In späteren Jahren kam This eher selten dazu. Das hatte bestimmt auch mit seinem Arbeitspensum zu tun. Was er alles leistete, da hätte ein Tag eigentlich vierzig Stunden haben müssen. Aber ich konnte immer zu hundert Prozent auf This zählen. This war der Typ »harte Schale, weicher Kern«.
Dass jetzt wirklich Schluss mit This war, konnte ich einfach nicht glauben. Er hatte einen ungemein starken Lebenswillen. Als mein Mann und ich ihn im Spital in Zürich besuchten, sagten wir zu uns: »Ach komm, der macht sicher noch zehn Jahre.« Für mich war er unsterblich. Und wenn er stirbt, dachte ich, dann durch einen Herzinfarkt oder einen Unfall.
Durch seine Krankheit intensivierte sich unser Kontakt wieder. Einmal sagte er mir am Telefon: »Du musst mich nicht jeden Tag anrufen.« Er wollte kein Mitleid. Über die Vergangenheit mochte ich nicht mehr mit ihm reden, sonst hätte sich This wieder ein Gewissen gemacht, weil ich in jener Zeit, in der ich mit der Mutter allein wohnte, noch viel Negatives erlebte. Wir redeten von Alltäglichem, er von seinem neuen Auto, das er noch bestellt hatte. Auch seinen Witz und Spott verlor er bis zum Schluss nicht. Bei meinem letzten Spitalbesuch sagte eine andere Besucherin zu mir: »Jenny – so nannten mich alle seit der Schulzeit – Jenny, du redest ja kaum mehr im Glarner Dialekt.« Ich erwähnte, dass ich schon über dreissig Jahre im Bündnerland wohne. This grinste und motzte: »Ja, ja, da fahren die zwei-, dreimal nach Zürich oder ins Bündnerland, und schon können sie nicht mehr Glarnern.« Das ist typisch This.
Heiz (Heinrich) Dürst, geb. 1953, wuchs in der Nachbarschaft von This in Sool auf. Sie spielten zusammen und besuchten zusammen die Primarschule. Heiz erinnert sich sehr genau, welcher Entbehrung, Vernachlässigung und Gewalt This ausgesetzt war.
This Jennys Grossvater väterlicherseits war Metzger und Viehhändler. Er war ein wohlhabender, wenn nicht der wohlhabendste Sooler. Die Metzgerei und der schönste Stall von Sool, im Föhnen, waren im Besitz der Familie. This’ Vater hatte Ende der Fünfzigerjahre schon sehr viel Familienvermögen verloren. Er genoss zusammen mit seiner zweiten Frau Illa das Leben in vollsten Zügen. Damals gab es in Sool fünf Autos, und eines davon fuhr die junge Illa, die Mutter von This, einen dunkelgrünen Vauxhall. Ein Auto war in jenen Jahren ein erstrebenswertes Gut. Das Motorrad mit Seitenwagen, das hinter dem Hause stand, fuhr Illa nur noch gelegentlich.
Die Metzgerei war schon nicht mehr im Familienbesitz, der Föhnenstall dagegen schon. Pferde und Kühe standen aber immer weniger im grossen und schönen Stall. Der Knecht, der im Föhnenstall hauste und die Tiere besorgte, war eines Tages nicht mehr da. Es war vor allem die Grossmutter, die jetzt, arm und gebrechlich und unter der Häme der Bevölkerung, zu This und seiner jüngeren Schwester Anita schaute, die so ohne Wohlstand und leidlich beaufsichtigt ihre Vorschulzeit in Sool durchlebten.
Nach dem Tod der Grossmutter Jenny hausten die Geschwister mehr oder weniger allein im Hausteil neben der Metzgerei. Die Eltern verliessen jeden Werktag um etwa sechs Uhr morgens das Haus und kamen meistens nach neun Uhr abends zurück. Damals musste man am Samstagmorgen noch zur Arbeit oder zur Schule.
Meine Erinnerungen an This und seine Schwester Anita beginnen 1961 mit der Beerdigung ihrer Grossmutter Jenny in Sool. Zu jener Zeit war die Beerdigung einer Dorfbewohnerin ein Ereignis. Es gehörte sich, dass von jeder Familie ein Mitglied den dahingeschiedenen Dorfbewohner auf seiner letzten irdischen Reise im Trauerzug von Sool auf den Friedhof nach Schwanden hinunter begleitete.
Für mich war das die erste Konfrontation mit der Tatsache, dass gelebt und gestorben wird. Für die Kinder Anita und This war es der Beginn einer Verwahrlosung inmitten einer »funktionierenden« Gemeinschaft. Sie wurde von allen Bewohnern in Sool miterlebt, aber niemand wollte etwas gesehen oder gehört haben. Ich bin mir dessen bewusst, dass das Folgende der Erinnerung eines damals Sieben- bis Elfjährigen entspringt. Es sind keine dokumentierten Daten, aber Bilder, die mir noch immer sehr nahe sind.