BIBLIOTHEKDER ACHTSAMKEIT
Achtsamkeitsmeditation und
Wege zur Einsicht
naturaviva
Impressum
4 3 2 1 | 2015 2014 2013 2012
© naturaviva Verlags GmbH, Weil der Stadt 2012 · www.naturavivaverlag.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung, der Übertragung durch Bild- und Tonträger, des Vortrags, der fotomechanischen Wiedergabe, der Speicherung und Verbreitung in Datensystemen und der Fotokopie. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-935407-90-4 · Erster Band der Reihe »Bibliothek der Achtsamkeit«
Schmuckgrafik: Ka Ho Leung/iStockphoto Bilder auf der Umschlagvorderseite und auf den Seiten: 6/Balazs Justin, 9/Andrew Barker, 12/Konstantin Sutyagin, 21/Elena Itsenko, 24/Your lucky photo, 26/pixcub, 29/saiko3p, 30/Videowokart, 33/brandonht, 36/Mazzzur, 42/tisskananat, 52/Photoseeker, 56/effe45, 60/Marek R. Swadzba, 62/Phrej, 66/Erik Lam, 74/Stephen Aaron Rees, 76/Africa Studio, 80/Imageman, 82/Kellis, 89/ILYA AKINSHIN, 94/Parinya Keawkum, 96/Baloncici, 102/Dubova, 104/EggHeadPhoto, 111/Zurijeta, 115/Byron W. Moore, 120/Yevgeniy Zateychuk, 129/Laborant, 131/Harris Shiffman, 136/pixy, 146/Dmitriy Shironosov, 154/planktonee, 159/Adisa, 161/Dudarev Mikhail, 167/Gunnar Pippel, 170/Valentyn Volkov, 173/WICHAN KONGCHAN, 177/Anna Ri, 182/Petr Malyshev, 187/Anneka, 188/Feng Yu, 193/nik7ch, 195/kompasstudio, 200/Africa Studio, 206/NIK, 226/Lukich – alle Shutterstock Images Bilder auf der Umschlagrückseite und auf den Seiten 1, 39, 45, 71, 126, 143, 213, 228 und 232: Frank B. Leder
Umschlagentwurf, Gestaltung, Bildbearbeitung: Julia Graff, Design & Produktion, Weil der Stadt
Hinweis
Kursiv gesetzte Begriffe sind im Glossar am Ende des Buches erläutert.
Schreibweisen aus dem Sanskrit oder Pali: Aus Gründen der leichteren Erfassbarkeit für die in diesen Begriffen bisher ungeübten Leser haben wir im laufenden Text auf die entsprechenden Akzente und Sonderzeichen verzichtet. Lediglich im Glossar tauchen diese bei Spezialausdrücken einmalig auf.
Die in diesem Buch beschriebenen Erlebnisse beruhen auf den Erfahrungen des Autors. Die Aussagen über Buddhismus und verschiedene Meditations- und körpertherapeutische Techniken geben die persönliche Meinung des Autors wieder und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Meinen Eltern für das
Geschenk des Lebens
Inhalt
Vorwort von Dr. Paul Köppler
1Vorgeschichte 1981–1998
Nach Westen, um den Osten zu finden
Erste Begegnung mit Ruth Denison im April 1981
Here and Now – die Zeit danach
Absturz
Den Weg selbst gehen
Wiedersehen mit Ruth in der Lüneburger Heide im Herbst 1981
Beruf und Berufung mit achtsamer Berührung
Die Vision
Warten auf den richtigen Zeitpunkt
Grünes Licht
2Verwirklichung: 40 Tage in der Wüste, 20. März bis 28. April 1998
1. Tag · Reiseglück
2. Tag · Der kahle Schädel
3. Tag · Selbst gewählte Zeiteinteilung
4. Tag · Auch tagsüber leuchten die Sterne
5. Tag · Erste, ungeduldige Begegnung mit der Lehrerin
6. Tag · Spaghetti und spirituelle Wurzeln
7. Tag · Nur Zuschauer sein, aber nicht im Film teilnehmen
8. Tag · Buba, mein Wanderkamerad
9. Tag · Zum Weglaufen, dieses innere Dickicht unangenehmer Gefühle
10. Tag · Einsame Mahlzeit
11. Tag · Gut geerdet
12. Tag · Bewusstseinserweiterung oder Psychose?
13. Tag · Bewusstheit für Körper und Geist
14. Tag · Limousine zu den Vier Edlen Wahrheiten
15. Tag · Die Geschichte von Boaz und Ruth
16. Tag · Kein Grund einzugreifen, wenn es gut läuft
17. Tag · Von Ostpreußen nach Hollywood
18. Tag · Kali wird in der Pink Cabin heimisch
19. Tag · Promis, Meditation und die wilden Sechziger
20. Tag · Zweimal Buddhas Geburtstag feiern
2. Tag · Zu viel des Guten kann sich wunderbar anfühlen – oder auch nicht
22. Tag · Muhammed Ali vs. Evander Holyfield: Unentschieden trotz K.o.
23. Tag · Wie ein Baum gepflanzt und ein Buch entworfen wird
24. Tag · Ruth Denison – Pionierin und Outlaw
25. Tag · Ein Kaktus- und Steingarten entsteht
26. Tag · Die zweite Anpassung der Lehre und ein Verlust
27. Tag · Rekonstruktion der Ereignisse
28. Tag · Kalis Geburtstag
29. Tag · Bewusstes Fahren und Dinner bei Melvyn’s, wo Freundschaft besiegelt wird
30. Tag · Echte Magie geschieht – Klarblick stellt sich ein
31. Tag · Mit Segen „Where Garbo slept“
32. Tag · Dialog auf des Messers Schneide mit Henry Denison
33. Tag · Plus acht Beine in der Pink Cabin
34. Tag · Frauentaxi und weitere Hundelektionen
35. Tag · Auf den Hund gekommen
36. Tag · Durchs Tal der Tränen zu einer eindeutigen Entscheidung
37. Tag · Das Herz öffnen und loslassen
38. Tag · Der Abschied rückt näher
39. Tag · Einsicht im Morgengrauen
40. Tag · Abschied nehmen
3Anhang
Glossar
Über dieses Buch
Über den Autor
Adressen
Weiterführende Literatur
Vorwort
Als mir FRANK LEDER das Manuskript zu diesem Buch schickte, mich um meine Meinung und um ein Vorwort bat, war ich sehr neugierig. Was ich dann in diesen Aufzeichnungen fand, hatte ich allerdings nicht erwartet. Wir sind beide langjährige Schüler und Freunde von RUTH DENISON, einer der bedeutendsten westlichen Lehrerinnen für die buddhistische Vipassana-Meditation mit westlicher Prägung. Franks Buch beruht auf detaillierten Aufzeichnungen, die er in Tagebuchform während eines 40-tägigen Aufenthalts bei Ruth in der Mohave-Wüste Kaliforniens machte. Ich selbst habe über mehr als zwanzig Jahre Retreats mit ihr organisiert und mitgemacht und war auch in ihrem »Dhamma Dena Desert« Vipassana-Zentrum. Ruth war und ist eine der wichtigsten Begleiterinnen auf meinem Weg.
In Franks Buch einzutauchen, bedeutete für mich, unglaublich Vieles wieder zu erleben, was ich mit Ruth erfahren hatte. Sein Tagebuch ist eine genaue und liebevolle Schilderung all der kleinen und großen Ereignisse in einem spirituellen Zentrum und der alltäglichen Begegnungen mit Ruth, seiner Lehrerin. Es wird deutlich, dass es weniger die großen Worte, Vorträge und Theorien sind, wodurch Ruths besondere Art der Vermittlung zum Ausdruck kommt, sondern wie Ruth im Umgang mit den scheinbar unbedeutenden, alltäglichen Dingen lehrt. Beim vergnüglichen Lesen kamen mir alle meine eigenen, oft widersprüchlichen und unvergesslichen Eindrücke wieder in Erinnerung.
Ich bin sicher, dass diese spirituelle Reise auch Menschen, die Ruth Denison nicht kennen, auf unvergleichliche Weise zeigt, wie eine zeitgenössische authentische Meisterin mitten im Alltag tiefste Einsichten in das Selbst und universelle Wahrheiten begreifbar macht. Wir erleben, wie Ruth mit unendlicher Güte das Ego ihrer Schüler bearbeitet, indem sie diese zu scheinbar banalen und manchmal seltsamen Aufgaben verdonnert, wie z.B. die zugelaufenen Tiere der Wüste zu versorgen, verstopfte Toiletten zu reinigen oder Sandgärten anzulegen. Man erlebt, wie sie sich in die persönlichsten Dinge einmischt und keine Regung von egoistischem Begehren oder Ablehnung »durchgehen« lässt. Besonders eindrucksvoll wird es dann am Ende der Aufzeichnungen, die zeigen, wie Ruth im passenden Moment ihre unvergleichlichen Fähigkeiten des »Sehens« einsetzt, um ihre Schüler zu den tiefsten Erfahrungen des Geistes zu führen.
Diese Aufzeichnungen sind auch bemerkenswert, weil sie nichts beschönigen und der Autor Mut beweist, indem er all die eigenen Schwächen und persönlichen Schwierigkeiten auf dem Weg aufzeigt. So ist dieses Buch eine spannende und berührende Reise geworden, die auf leichte und oft heitere Art direkt in das Herz der Praxis der Achtsamkeit führt. Mögen diese Aufzeichnungen viele Menschen auf dem Weg der Bewusstheit motivieren, indem sie erkennen, dass die menschlichen Unzulänglichkeiten der notwendige Boden sind, auf dem die Blumen der Freiheit wachsen.
DR. PAUL KÖPPLER
Dharma-Lehrer, Leiter des »Zentrums für Buddhismus und bewusstes Leben«, Maria Laach/Bonn
Ja! Das Abenteuer beginnt. Hinein ins Unbekannte, das sich nach mehr anfühlt. 1981 zog ich mit Dirk, meinem guten Freund aus Kindertagen, nach dem Abitur für drei Monate auf Abenteuerreise durch die USA. Wir waren gerade 19, in jeder Hinsicht unbesorgt und von uns selbst so überzeugt, wie man das einfach nur in diesem Alter sein darf. Wir wussten hauptsächlich, was wir nicht wollten und waren beruflich noch überhaupt nicht festgelegt. Erst mal weg und die Nase in den Wind halten, das war unsere Devise. Bereit dafür waren wir.
Wir flogen nach San Francisco und trampten von dort nach Oregon, wo wir bei einem gemeinsamen Freund umsonst wohnen konnten, um von dort aus unsere Streifzüge zu planen. Wir begegneten Aussteigern, die sich komfortabel in Wäldern niedergelassen hatten, staunten über die Vielfalt alternativer Lebensmodelle, die an der US-amerikanischen Westküste ihre Nische fanden und noch immer finden, lernten Hippies und Indianer kennen und machten Bekanntschaft mit vegetarischer Ernährung.
Es waren etwa zwei Wochen vergangen, da las ich am Schwarzen Brett eines Bioladens in Oregon über einen zehntägigen Vipassana-Retreat unter der Leitung einer gewissen RUTH DENISON, das in einigen Tagen beginnen sollte. Weder das eine noch die andere sagten mir etwas, trotzdem entschloss sich irgendein Teil in mir in diesem Augenblick spontan, daran teilzunehmen. Dirk hatte andere Pläne und trampte in der Zeit nach Kalifornien, wo wir uns zwei Wochen später in Santa Cruz wiedertreffen wollten.
Da ich damals grundsätzlich billigst reiste, also trampte, konnte ich meine genaue Ankunftszeit nie exakt vorausplanen, und so erreichte ich das »Breitenbush Hot Springs« Seminarzentrum in Oregon erst im Dunkeln gegen 22 Uhr des angegebenen Anreisetages. Dadurch hatte ich sowohl das Abendessen, die allgemeinen Informationen über das Seminarzentrum als auch den Einführungsabend mit RUTH DENISON versäumt.
Jemand von der Rezeption des Seminarhauses führte mich durch ein Wäldchen zu einem kleinen Holzhaus, in dem noch Licht brannte und teilte mir mit, dass ich darin zusammen mit einem weiteren Seminarteilnehmer wohne. Ich ging hinein und sagte: »Hi, ich bin Frank, und beim Trampen hatte ich heute nicht so viel Glück. Deshalb komme ich jetzt erst hier an. Wie war der Anfang, habe ich was verpasst und wer bist du?« Das rotbärtige Holzfällergesicht verriet mir nur seinen Namen: »Jeff«. Und das war auch das einzige und letzte Wort, das wir miteinander für die nächsten zehn Tage wechselten. Mir kam das an diesem Abend extrem unfreundlich vor. Ich dachte, dass von allen wohl ausgerechnet ich den seltsamsten Kauz als Zimmernachbarn erhalten hätte.
Für die Dauer eines formellen Vipassana-Retreats gilt das Edle Schweigen, von dem ich damals aber noch nie etwas gehört hatte. Es wird edel genannt, weil man freiwillig auf den Lustgewinn von Unterhaltungen verzichtet. Durch mein Zuspätkommen hatte ich die erklärende Einführung in das Schweigen durch RUTH DENISON nicht mitbekommen, die sich dafür immer viel Zeit nimmt und einleuchtende Argumente vorbringt, warum es im eigenen Interesse ist, dieses Schweigen anzunehmen. Ich lernte es deshalb auf die harte Tour.
Am ersten Abend eines Vipassana-Retreats (so wird allgemein auch ein zehntägiges Meditationsseminar bezeichnet) wird entsprechend der Tradition Zuflucht genommen. Das ist ein uraltes Ritual, wonach man sich dreifach innerlich ausrichtet, um damit dem eigenen, noch unwissenden und deshalb leidenden Geist eine Zuflucht zu bieten. Man rezitiert dazu folgende Sätze jeweils dreimal:
Ich nehme Zuflucht zum Buddha, dem erwachten Geist (der in mir ist).
Ich nehme Zuflucht zum Dharma, der Wahrheit und dem Weg zum erwachten Geist (die in mir sind).
Ich nehme Zuflucht zur Sangha, der Gemeinschaft der Brüder und Schwestern, die diesen Weg in gegenseitigem Respekt und Unterstützung miteinander gehen (jene, die konkret anwesend sind, als auch solche, denen man sich generell in diesem Sinne verbunden fühlt).
Buddha, Dharma und Sangha sind im Buddhismus die Drei Juwelen, zu denen man sich bekennt und hinwendet. Dorthin nimmt man seine Zuflucht und dort kann man sie auch finden. Es ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Jeder entscheidet für sich selbst, ob diese Zuflucht vielleicht nur für die Dauer eines Seminars oder darüber hinaus gelten darf und keiner ist jemandem Rechenschaft darüber schuldig.
Solche Rituale können eine tiefe Bedeutung enthalten und Rezitationen – also das Nachsprechen eines vorgegebenen Textes – können den Geist ausrichten. Aber ich kenne auch den Widerstand gegen das Gemurmel oder Singen solcher Textzeilen. Selbst wenn ich einen Text im Prinzip gut finde, kann ich eventuell seinen tieferen Sinn nicht nachempfinden. Deshalb fühlt sich das Nachsprechen für mich manchmal hohl an. Dennoch habe ich bemerkt, dass es manche gerade dadurch erst schaffen, in einen guten Zustand zu finden.
Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, ob ich Buddhist sei. Die einzige Kategorie, in die ich mich ohne Vorbehalte einordne, ist schlicht, Mensch zu sein. Alle weiteren Einteilungen sind für mich Schubladen, deren Beschriftungen buddhistisch, christlich, spirituell oder auch deutsch, englisch, US-amerikanisch oder weiß, schwarz, gelb usw. heißen mögen. Sie bedeuten für mich aber keine endgültige, mit dem Inneren gleichzusetzende Identifikation. Für Ruth ist diese Einstellung nie ein Problem gewesen. Sie macht keinen Unterschied in der Weise, wie sie Menschen in ihren Kursen behandelt; da ist es egal, ob jemand mit spiritueller Inbrunst übt oder vorsichtig, analytisch und praktisch die buddhistische Lehre für sich nutzt.
Zusätzlich zu der dreifachen Zuflucht legt man zu Beginn eines traditionellen Vipassana-Retreats auch eine Art Versprechen ab, sich an fünf Tugendregeln zu halten. Die erste Regel betrifft das bereits erwähnte Schweigen. Jenes soll gerade in den Pausen helfen, die durch die Meditation gewonnene Konzentration nicht in gewohnter, sozialer Interaktion wieder zu verlieren. Dass diese Empfehlung dem Kursziel dient, kann ich mittlerweile bestätigen. Jeff hatte dieses Versprechen wohl schon abgegeben und als tüchtiger Sangha-Freund hielt er sich vorbildlich daran. Im Sinne des Edlen Schweigens schützt man nicht nur den eigenen Geist vor der Zerstreuung, sondern auch alle Mitübenden, die man sonst durch ein Schwätzchen leicht aus ihrer Sammlung bringen würde.
Ich muss gestehen, dass es mir weder bei meinem ersten noch bei vielen weiteren Retreats gelang, das Edle Schweigen vollständig zu bewahren, obwohl es mit der Zeit und mit mehr Erfahrung der Arbeit an mir selbst immer besser gelang. Ich habe immer Lücken gefunden, in die hinein sich mein Schalk geschlichen hat, um Spaß herauszuschinden und Ablenkung zu finden oder mir durch Schilderung meiner Schwierigkeiten bei anderen Hilfe und Rat zu holen.
Bei diesem ersten Kurs – und auch noch bei weiteren Gelegenheiten in den darauffolgenden Jahren – war ich einfach noch zu jung und stand zu sehr unter Dampf, um diese sinnvolle Disziplin gut einhalten zu können. Ich habe zum Beispiel mit der Frisbeescheibe Spiele provoziert, weil ich meinen motorischen Trieb nicht anders kompensieren konnte. Das war auch gar nicht so schwer, denn was blieb den Leuten schon anderes übrig, als mitzuspielen, wenn auf einmal eine Scheibe auf ihren Kopf zuschwebte? Wenn so das Eis gebrochen war, kam es des Öfteren zu gemeinsamen Spaziergängen mit lockerer Plauderei. Ich habe das wohl gebraucht.
Bei einem Retreat mit RUTH DENISON in der Lüneburger Heide habe ich sogar einige Sangha-Freunde zu einer gemischten Dusche verführt, die lautstärkemäßig dermaßen ausartete, dass unsere Gaudi eigentlich keine Privatangelegenheit mehr war. Ich bin sicher, dass Ruth meine Ausbrüche oftmals gesehen, gehört oder indirekt mitbekommen hat, denn ich habe mich nicht besonders bemüht, sie zu kaschieren. Wahrscheinlich gehöre ich zu denen, die unbewusst ihre Lehrer herausfordern und austesten müssen, wie sie auf Missachtung der Vorschriften reagieren. Sie hat bei mir nie verurteilend eingegriffen, obwohl sie kein Problem damit hat, streng zu werden. Nach besagter Dusche kassierte ich allerdings einen ziemlich eindringlichen »Musste-das-wirklich-sein-Blick« von ihr, an den ich mich heute noch deutlich erinnere.
Während der Übungszeiten solcher Meditationsseminare stellen die Lehrer manchmal offene Fragen in die Gruppe hinein oder geben Gelegenheit zu Mitteilungen. Auf diese Weise können wichtige Themen fokussiert behandelt werden. Außerdem kann man sich jederzeit an die Lehrer oder deren Assistenten direkt wenden und sie um ein Einzelgespräch bitten, wenn man ein Problem hat und aus eigener Kraft damit nicht fertig wird.
Mit den anderen vier Regeln – außer dem Schweigen – hatte ich keine größeren Schwierigkeiten. Die zweite Regel besagt, man solle nicht töten, was darauf hinausläuft, dass das Essen bei solchen Anlässen immer vegetarisch zubereitet wird. Mit dem Schießeisen laufen wir heutzutage ja nicht mehr herum, aber auch lästige Fliegen und Moskitos sollte man entsprechend der Regel dann nicht mehr klatschen sondern freundlich beiseitewedeln.
Drittens soll man nichts stehlen, beziehungsweise nichts nehmen, was einem nicht eindeutig gegeben wird. Gemeiner Diebstahl ist unter Seminarteilnehmern nicht zu erwarten. Aber wenn man außerhalb der Mahlzeiten hungrig ist und an der Küche vorbeikommt, kann die Versuchung, sich selbst zu bedienen, leicht entstehen. Wäre es schlimm, sich dann zwischendurch eine Stulle zu schmieren? Nein, dafür entsteht aber dadurch eine Lernsituation, nämlich den Impuls »Ich brauche jetzt etwas!« als solchen zu beobachten und sich davon freizumachen, solchen Impulsen immer folgen zu müssen.
Viertens ist während Vipassana-Retreats, was das sexuelle Verhalten angeht, für alle Teilnehmer Enthaltsamkeit angesagt, wohlweislich aus ähnlichen Beweggründen, die schon das Schweigen nahelegen.
Fünftens lässt man sich darauf ein, für die Dauer des Seminars keine Drogen zu konsumieren, die sich auf das Bewusstsein und die Wahrnehmung auswirken. Dazu zählen selbstverständlich sämtliche Rauschgifte, Alkohol, aber auch koffeinhaltige Getränke. Teilnehmer, die aus gesundheitlichen Gründen Substanzen zu sich nehmen müssen, nehmen ihre Medikation entsprechend der ärztlichen Verordnung selbstverständlich weiter ein.
Es gibt ein empfehlenswertes Buch von dem in Vietnam geborenen und in Europa lebenden Lehrer THICH NHAT HANH über die fünf Tugendregeln. In »Die fünf Pfeiler der Weisheit« zeigt er auf, wie man in unserer modernen westlichen Welt aus diesen fünf fundamentalen Bausteinen buddhistischen Lebens- und Weltverständnisses Nutzen ziehen kann.
Zurück nach Oregon: Am nächsten Morgen wurde ich von einem Gong geweckt, den jemand draußen vor allen Schlafhäusern anschlug. Es war halb sechs und sowohl kalt als auch noch stockdunkel. Mir fiel es wirklich schwer, mich aufzuraffen. RUTH DENISON kam pünktlich, auf eine Gehhilfe gestützt, die sie bei jedem ihrer Schritte, die ihr sichtlich Schmerzen bereiteten, vor sich herschob, um 6 Uhr in den Meditationsraum. Noch keine drei Wochen war es her, dass sie sich einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Bis vor wenigen Tagen durfte sie das Bein noch nicht belasten. Ob sie überhaupt den Kurs würde leiten können, war, wie ich später erfuhr, bis kurz vor Beginn fraglich.
RUTH DENISON wurde am 29. September 1922 in Pommern/Ostpreußen geboren und war zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung 58 Jahre alt. Das Leben hatte in ihr Gesicht schon damals seine Spuren gezeichnet. Etwa einssechzig groß, trug sie ein rosa Kopftuch, unter dem einige braune Locken in die Stirn hervorlugten, eine förmliche Bluse und einen bodenlangen lila Rock. Sowohl Kopftuch wie auch Rock waren aus festem Stoff und faltenfrei. Der Rock war nach Art eines Hakama geschnitten, wie ihn die asiatischen Kampfkunstsportler tragen, und ist ihre typische Kleidung, wenn sie lehrt. An einer Kette baumelte ihre Brille. Mir fiel sofort ihre aufrechte Haltung auf; selbst mit Gehhilfe hatte sie immer einen geraden Rücken. Trotz ihres Handicaps strahlte die Art und Weise, wie sie stand, saß oder ging, immer eine konzentrierte Würde aus.
Obwohl sie nur eingeschränkt beweglich war, leitete sie die erste Stunde am Morgen, die mit Bewegungs- und Lockerungsübungen begann und in eine Meditation überging, während der gesamten zehn Tage selbst an. So gut sie es mit ihrem noch nicht vollständig verheilten Bruch vermochte, machte sie dabei selbst alle Streck-, Dehn- und Drehbewegungen mit, die sie uns etwa 30 Teilnehmern mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren abverlangte. Sie war alles andere als wehleidig, trainierte hart mit und machte von Tag zu Tag sichtbare Fortschritte. Gegen Ende des Retreats konnte sie das Gehgestell gegen einen Stock eintauschen.
Um die Mittagszeit des ersten Tages begegnete ich ihr im Freien. Ich stellte mich vor und erklärte die Umstände meiner verspäteten Ankunft. Sie sprach freundlich zu mir und erkundigte sich, ob ich mich schon eingelebt hatte. Bei diesem ersten persönlichen Kontakt verblüffte mich ein seltsames Phänomen. Es hatte etwas mit ihren Augen und ihrer Ausstrahlung zu tun. Ich hatte ein Gefühl, durch diese Augen hindurchzusehen, so als gäbe es darin keinen Widerstand. Es war, als ob mein energetisches Echolot, mit dem ich instinktiv jeden Menschen abtaste, um auf einer ganzheitlichen Ebene einen Eindruck von ihm zu erhalten, kein Echo bekam. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Diese Frau war für mich nicht zu orten: Wer oder was immer sie war, ich hatte dafür noch keine Wahrnehmungsfrequenzen entwickelt. Obwohl mich das verunsicherte, löste sie bei mir jedoch kein Unbehagen aus, sondern großes Interesse. Etwas in mir vertraute ihr sofort. Intuitiv spürte ich, dass mein Unvermögen, sie »lesen« zu können, nur bedeuten konnte, dass ich einem außergewöhnlichen Menschen begegnet war.
Mit dieser Einschätzung lag ich vollkommen richtig. Jahre später fand ich auch eine Erklärung für die fehlende Ausstrahlung. Es war nicht so sehr die Ausstrahlung, die RUTH DENISON gefehlt hätte, sondern die im Energiefeld manifestierten Egostrukturen, die bei ihr zumindest in diesem Moment nicht anwesend waren. Deshalb konnte mein Echolot, das ich damals ohne viel darüber nachzudenken aussandte und das gewohnt war, eben auf solche Egostrukturen zu reagieren, keinen Widerhall ausmachen. Wenn sich Menschen vorübergehend aus ihrer Identifikation mit dem Ego lösen und stattdessen in ihr unpersönliches Selbst gehen, strahlen sie diese Qualität auch aus. Diese besondere Schwingung wirkt auf mich so, dass ich augenblicklich entspanne und vertrauen kann. Ich bin davon überzeugt, dass es zu unserer Epoche gehören wird, dass viele Menschen diese Wesensqualität in sich entdecken und kultivieren werden können.
Ich hatte damals das Gefühl, dass genau jene Vorgänge, die ich in den Meditationsstunden am Tag an mir selbst beobachtete, durch Ruths allabendliche Dharma-Vorträge genau beschrieben und kategorisiert wurden. Diese Einblicke in die buddhistische Psychologie waren hochinteressant.
Es entstand für mich der Eindruck, der sich durch mein intensiviertes Studium in den kommenden Jahren bestätigen sollte, dass alle möglichen Geisteszustände, also die Gesamtheit der Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen, Energiephänomene und sinnliche Wahrnehmungsmechanismen der buddhistischen Lehre bekannt sind. Jeder einzelne Vorgang, sei er körperlicher oder geistiger Natur, wird dort bis ins kleinste Detail beschrieben und in ein Gesamtgefüge eingeordnet, das die Funktion des menschlichen Geistes und seine Beziehung zum Körper genauestens erklärt.
Einiges verstand ich schon mit 19 sofort. Manche spirituellen Themen, die Ruth anschnitt, waren mir damals aber einfach noch zu hoch. Andere Aussagen wiederum lösten Fragen oder Widerstand aus. Zum Beispiel fand ich es gar nicht erstrebenswert, nach der Erleuchtung von der Wiedergeburt befreit zu sein, wie es die Buddhisten anstreben. Darin sah ich eigentlich eher eine Bestrafung, schließlich gab es ja so viel zu erleben auf der Welt.
Immer bewusster zu werden und Meditation nicht als Übung für eine Stunde täglich zu sehen, sondern jeden Moment des Tages zur Meditation werden zu lassen, hat mir auch überhaupt nicht behagt. Ich hatte dagegen einzuwenden, dass man dann ja nie mehr Freizeit hätte in dem Sinne, dass Freizeit ein Loslassen von allen Bemühungen sei, einschließlich der Bemühung, sich seiner selbst bewusst sein zu wollen.
Diesen Einwand gab ich dann auch bei Gelegenheit in einer Fragestunde zum Besten. Daraufhin gab mir Ruth zur Antwort, dass ich die wirkliche Bedeutung von Freizeit noch nicht erkannt habe und meine Ansicht, Bewusstheit im Alltag sei anstrengend, auf einer falschen Einsicht beruhe. Das Gegenteil wäre richtig, außerdem würde Bewusstheit frei machen und hätte deshalb mehr mit Freizeit zu tun als ich mir jetzt vorstellen könne. Wie Recht sie hatte.
Es überhaupt zu schaffen, während des Retreats so viele Stunden ohne große Bewegung in stiller Sammlung gerade zu sitzen, war für mich erst einmal Arbeit genug. Mit den Tagen wurde ich darin besser und verbuchte die ersten Erfolgserlebnisse. Zum Beispiel gelang es mir, durch Fokussieren der Aufmerksamkeit auf einen Schmerzpunkt, sich diesen nach einer Weile auflösen und in Wärme verwandeln zu sehen.
Meistens dauerte das Sitzen 45 Minuten, danach gab es zur Lockerung Gymnastik und eine halbe Stunde Gehmeditation. Dabei gingen wir in extremer Langsamkeit ganz kleine Schritte und versuchten, die Atmung und die Wahrnehmung in den Füßen nicht außer Acht zu lassen. Für drei Meter braucht man etwa eine Minute! Das Gehen war eine notwendige Abwechslung für die Rückenmuskulatur und die Beingelenke, die zum Sitzen in zusammengefalteter Stellung gehalten werden. Durch die Langsamkeit konnte die meditative innere Haltung trotzdem beibehalten werden.
Es hatte auch etwas Lustiges, so durch den Raum zu schleichen, erst recht im Gänsemarsch – wie Ausgang im Gefängnishof, nur viel lahmer. Auch unter freiem Himmel ließ uns Ruth gehen; von außen betrachtet mutet das dann noch seltsamer an als im Meditationsraum. Mit mehr Übungspraxis konnte ich irgendwann auch in dieser Gehübung Freude finden. Es stimmt tatsächlich, dass die Konzentration dabei genauso tief gehen kann wie beim Meditieren im Sitzen.
Bei der Vipassana-Methode übt man, die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt auf ein Objekt gerichtet zu halten. Obwohl dies verschiedene Dinge sein können, so ist doch die Achtsamkeit auf den Atem eines der Hauptübungsobjekte. Man wählt sich eine Körperstelle, zum Beispiel die Bauchdecke oder den Eintritt der Nasenöffnung, an denen man körperlich das Auf und Ab bzw. das Ein- und Ausströmen der Atemzüge spürt.
Da jedwede Körperempfindung nur in der Gegenwart wahrgenommen werden kann, bringt man durch diese Betrachtung automatisch den Geist (Verstand) zu einem konzentrierten Gewahrsein des Augenblicks. Wenn Gedanken, Gefühle oder andere Körperempfindungen auftauchen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so kehrt man, sobald man sich dessen bewusst wird, zum Hauptobjekt der Achtsamkeit, zum Beispiel der Empfindung der Atembewegung im Bereich der Bauchdecke, zurück. Und dies geschieht, ohne urteilend oder wertend auf die Ablenkung zu reagieren.
Tatsächlich wird jeder, der sich diese einfache Übung vornimmt, alsbald feststellen können, wie schnell sich alle möglichen Gedanken und Phänomene immer wieder dazwischenschieben, ohne dass man sie willentlich einlädt. Wenn man lange genug sitzt, werden sich früher oder später alle Ebenen des Bewusstseins ganz von selbst offenbaren. Man lernt sich selbst mit all seinen angenehmen und unangenehmen Seiten kennen und sieht vor allem sehr klar, wie man auf die verschiedenen Aspekte reagiert und damit neue Kreisläufe in Gang gesetzt werden, die normalerweise unbewusst ausagiert werden.
Mit zunehmender Übung verstärkt sich die Fähigkeit, konzentriert zu bleiben, und man reagiert freundlicher oder gelassener auf Ablenkungen. Dadurch wird der Geist allmählich still. Es ist aber keine schläfrige Stille, im Gegenteil: Man ist wach und nimmt intensiver wahr. Diese besondere Geistesgegenwärtigkeit fühlt sich einfach nur gut an. Alles, was in diesen Momenten ins Licht der Aufmerksamkeit rückt, wird aus sich selbst heraus und ohne daran festzuhalten erkannt und verstanden.
Eine weitere, täglich wiederkehrende Übung, die ich damals in Oregon zum ersten Mal kennenlernte, war das Stehen. Es begann damit, zwei Minuten still auf einer Stelle zu stehen, und jeden Tag wurden es zwei Minuten mehr, sodass wir am Ende des Kurses 20 Minuten unbeweglich dastanden. Wie mich das anfangs genervt hat – einfach nur rumstehen. Was sollte das denn bringen, bitteschön? Zu meiner Überraschung entdeckte ich jedoch, dass je länger wir standen, ich desto weniger Anstrengung empfand. Im Gegenteil: Ich hatte nach den längsten Phasen am meisten Energie im Körper und diese warmen, pulsierenden Kraftwellen fand ich großartig.
Wie beim Sitzen, Gehen oder in der Bewegung der Gymnastik zeigte uns RUTH DENISON auch für das Stehen, wie man sich dabei mithilfe der Achtsamkeit zentriert, worauf man alles zu achten hat, damit die Aufmerksamkeit sich verstetigen und der Geist einspitzig werden kann. In den Pausen und abends vor dem Einschlafen sollten wir zudem noch die Achtsamkeit im Liegen üben. Auf diese Weise waren wir in eine der Anfangsstufen der Methode eingeführt worden: Achtsam sein im Sitzen, Gehen, Stehen und Liegen. Wie uns Ruth erklärte, wird das in der buddhistischen Terminologie als die Achtsamkeit auf die vier Körperhaltungen bezeichnet.
Eine von RUTH DENISONS besonderen Gaben ist es, die Anwendung der Meditationstechnik auf Alltagssituationen zu übertragen. Dazu gibt sie im Laufe ihrer Kurse hunderte von Beispielen, wie das geschehen kann. Damit versetzt sie die Teilnehmer in die Lage, ihre Praxis nicht auf eine halbe Stunde täglich zu beschränken, sondern in allen Lebenssituationen eine meditative, achtsame Haltung einnehmen zu können.
Nach dem Abendvortrag des sechsten Kurstags war ein nächtliches Bad in den natürlichen heißen Quellen angesetzt, die es an diesem wunderschönen Fleckchen Erde gibt. Dazu musste man aber vom Hauptgebäude kommend einen steilen, schmalen und unbefestigten Geröllpfad hinunterklettern. Am Fuß der Schlucht angelangt, musste man noch weitere 100 Meter über Wackersteine laufen. Dies war für Ruth mit dem verletzten Bein unmöglich. Deshalb hatten wir in der Mittagspause eine Art Bahre aus Brettern und Kanthölzern gezimmert. Es war stockdunkel in dieser Nacht. Auf dieser Trage schleppten wir Ruth zu viert vorsichtig die Böschung runter und später wieder hinauf. Vor und hinter uns liefen andere Teilnehmer mit Taschenlampen und leuchteten die unebenen Trittsteine aus, damit wir überhaupt sehen konnten, wo unsere Füße hintraten.
Hochkonzentriert balancierten wir unsere wertvolle Fracht. Ruth konnte es sich selbst in dieser Situation nicht verkneifen, ihre Unterweisung fortzusetzen, und gab von ihrer erhöhten Position aus pausenlos Kommandos: »Spürt das Gewicht und die Beschaffenheit der Holzbalken in euren Händen; jetzt nehmt das Gefühl in den Füßen beim Auftreten auf dem unebenen Untergrund wahr; beobachtet, wie sich der Atem dabei verhält, jetzt und jetzt und jetzt …«
Diese Mischung aus Krankentransport, nächtlicher Prozession und Ruths ständigen Anweisungen hatte etwas Surreales an sich und versetzte uns alle in eine ganz besondere Stimmung erhöhter Aufmerksamkeit. Wir waren verschwitzt, als wir endlich angekommen waren und lachten befreit aus vollem Hals. Das Bad in der heißen Quelle im funkelnden Licht vieler Kerzen fühlte sich wunderbar an. Für die Rücken von Meditierenden kann es gar nicht genug Entspannung geben.
Ich erinnere mich an noch ein bedeutsames Erlebnis, das ich in diesem ersten Meditationsseminar hatte. Beim Sitzen erschien urplötzlich vor meinem geistigen Auge mein eigenes Antlitz. Richtig erschreckt hat es mich. Irgendwie war es, als hätte ich mich zum ersten Mal gesehen. Bis heute habe ich keine richtige Erklärung gefunden, warum dieser Moment so intensiv war und mir nach so vielen Jahren noch immer im Gedächtnis ist. Schließlich sieht man sich selbst häufig genug im Spiegel und auf Fotos, um davon keinen Schreck bekommen zu müssen.
Zehn Tage vergingen im Wechsel von Meditationsübungen und Ruths inspirierenden Vorträgen. Als der Retreat zu Ende war, befand ich mich in einer euphorischen Stimmung. Damals konnte ich mangels Erfahrung und Vergleichbarem gar nicht einordnen, in welchen phantastischen Zustand ich gelangt war. Wie, wo und wann genau die Türen dazu aufgingen, wusste ich nicht. Es hatte eben irgendwie mit dem Retreat, den Meditationen und RUTH DENISON zu tun.
Ehrlich gesagt, war es mir sogar ziemlich egal, wie ich in dieses Lebensgefühl hineingekommen war, die Hauptsache war ja, es zu spüren. Ich war so gut drauf, dass ich dachte, die Erleuchtung ist mir jetzt auch egal, denn besser braucht es gar nicht mehr zu werden. Was ich übersah, war die Tatsache, dass ich ohne genau zu wissen, wie ich an einen gewissen Punkt gelangt bin, aus eigener Kraft den Weg dorthin leider nicht so leicht zurückfinden würde, sollte ich diesen Punkt einmal aus meinem Blickfeld verlieren.
Jedenfalls kam ich nach dem Vipassana-Retreat im Mai 1981 mit vier Stunden Schlaf aus und war von Obst und Gemüse, am besten in Saftform, schon satt. Jegliche Schwere und Trägheit waren aus meinem Körper, der ohnehin jugendlich und durchtrainiert war, verschwunden. Ich war vom ersten bis zum letzten Atemzug des Tages topfit. Ich hörte viel klarer und war in allen anderen Sinnen ebenfalls wacher, das bedeutete auch genussfähiger.
Ohne dass ich in irgendeiner Weise bewusst damit umgegangen wäre, war meine sexuelle Energie für etwa acht Wochen nach dem Retreat verschwunden. Ich sah Frauen, ohne dass die vertrauten Hintergedanken oder Wunschvorstellungen aufstiegen. Dies führte zu unerwartet innigen Begegnungen mit einigen Frauen, die normalerweise in erotischen Bahnen verlaufen wären. Wäre ich nicht so glücklich und energiegeladen gewesen, hätte ich mir eventuell darüber Sorgen gemacht, so aber fehlte mir wirklich nichts. Irgendwann tauchte die Lust in diesem Bereich von selbst wieder auf.
Ich erlebte einen Zustand, in dem sich die Wunscherfüllung mit dem Zeitpunkt der Wunschentstehung deckte. Das Trampen funktionierte nahtlos, ich musste plötzlich nie länger als ein paar Minuten auf das nächste Auto warten. Einmal reiste ich auf der Ladefläche eines Pick-ups. Die Sonne schien und der Fahrtwind kühlte gerade im richtigen Verhältnis dazu. Plötzlich verspürte ich Hunger und dachte mir: »Etwas zu essen wäre jetzt klasse!« Just in diesem Moment überholte uns ein Wagen mit jungen Leuten. Die winkten mir freundlich zu und eine Frau warf mir einen Apfel rüber.
Ich bemerkte, dass von mir eine Ausstrahlung ausging. Wenn ich einen Raum betrat, wurde ich nicht nur bemerkt, sondern wurde irgendwie der Mittelpunkt. Wenn ich mich in Lokalen in eine Ecke stellte und die Leute betrachtete, kamen bald der- oder diejenige auf mich zu, die mich am meisten interessierten. Mit meinem Freund Dirk habe ich mich tatsächlich am verabredeten Tag wiedergetroffen und wir verbrachten den Großteil der verbleibenden sechs Wochen unserer Abenteuerreise wieder gemeinsam.
Ich hatte im Verlauf unserer Reise noch eine Reihe kraftvoller Begegnungen mit Menschen, die mich wichtige Dinge lehrten. Ich traf sie immer zur richtigen Zeit und die Themen, die sie mir nahebrachten, hätten in einer anderen Reihenfolge nicht gepasst. Immer schneller ergaben sich solche Gespräche und immer klarer wurde die Lektion, die mir das Leben, so schien es mir, regelrecht einhämmerte. Alles kulminierte am vorletzten Tag zu einer Einsicht, die sich in drei Worte verdichtet hatte, die mich immer wieder daran erinnern, wo die Erkenntnisse darauf warten, verwirklicht zu werden: Hier und Jetzt.
Am letzten Tag unseres Aufenthalts, wie das Finale einer Sinfonie, führte mich der Zufall an einem Institut vorbei, in dem unter anderem Massage gelehrt wurde, was ich entsprechenden Infotafeln entnehmen konnte. Ich betrat das Haus und erkundigte mich, was es mit der Massage und dem Rest auf sich habe. Statt in große Erklärungen zu verfallen, verwies mich die Frau an der Rezeption an einen Studenten, der mir gerne sogleich eine Massage gab, denn auf diese Weise konnte ich doch viel besser erfahren, was es dort zu lernen gab. Die Massage tat mir gut.
Ich nahm mir noch ein paar Unterlagen der Schule mit und legte sie später zu Hause irgendwo ab. Zwei Jahre später, nach meinem Zivildienst, lugten diese Prospekte plötzlich aus einem Papierstapel wieder hervor und erregten meine Aufmerksamkeit von Neuem. Plötzlich wusste ich, das ist meine Schule. Tatsächlich habe ich einige Zeit später am »Heartwood College for the Natural Healing Arts« in Kalifornien den Grundstein für meinen beruflichen Werdegang gelegt, der auch zur Entwicklung der Methode der TouchLife Massage führen sollte.
Nach unserer Rückkehr nach Deutschland hielt die Euphorie noch etwas an. Aber etwa acht Wochen nach dem Retreat verblasste die Wirkung allmählich. Ich spürte, wie mir buchstäblich das Glück eines befreiten, heiteren und erhabenen Lebensgefühls, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte, zwischen den Fingern zerrann und ich es nicht festhalten konnte. Ich verlor mehr und mehr die hohe Schwingung, in der ich mich nach dem Retreat befunden hatte und die mich scheinbar mühelos bis jetzt begleitet hatte.
Die Meditationsübungen, die ich zu Hause weiterhin praktizierte, reichten alleine noch nicht aus, um den Zustand aufrechtzuerhalten. Alte Gewohnheiten und Tendenzen lebten in der bekannten Umgebung wieder auf und meine »alte Welt« holte mich ein. Meine Einsicht war noch nicht tief genug, um mich davor zu bewahren, meinen befreiten Geist wieder einfangen zu lassen.
Ich war verzweifelt und es gab einen Tag, an dem mich meine Mutter darauf ansprach. Ich musste heulen und versuchte, ihr meine Misere zu erklären, aber sie konnte nicht nachvollziehen, was mit mir los war. Wie auch, ich verstand es ja selbst kaum. Sie versuchte dennoch, mich zu trösten, und das war wirklich lieb von ihr. Aber der Trost konnte meinen Schmerz, aus dem paradiesischen Hochgefühl herausgefallen zu sein, nur in jenem Moment lindern.
Den Weg zurück konnte er mir auch nicht zeigen. Aber der Ausblick, den ich erfahren hatte, war stark und anhaltend genug gewesen, um mich innerlich tief zu motivieren, weiter an mir zu arbeiten. Denn ich hatte selbst erfahren, dass es einen Zustand gibt, für dessen Verwirklichung sich die Bemühung lohnt.
Seitdem gehe ich Schritt für Schritt auf dem Weg zurück oder nach vorne oder nach innen, je nachdem aus welcher Perspektive man das sehen möchte. Auf den Strecken, die ich bisher aus eigener Kraft geschafft habe, kenne ich mich dafür jetzt gut aus. Wenn ich da mal stolpere, stehe ich im nächsten Moment wieder auf und weiß, wo ich mich befinde.
Da mein erstes »Erwachen« unzweifelhaft in Beziehung zu RUTH DENISON stand, war mir jedenfalls klar, dass ich von ihr Unterstützung bekommen konnte. Ich hielt den Kontakt mit ihr aufrecht. Da sie bis Anfang 2000 einmal im Jahr nach Deutschland reiste, um hier zu lehren, konnte ich bei diesen Gelegenheiten sowohl meine Übungspraxis als auch meine Beziehung zu ihr vertiefen.
In der Rückschau wurde mir später bewusst, dass ich eine hohe Bereitschaft für die spirituelle Reise mitgebracht hatte, aber als ich den ersten Vipasssa-Retreat mit Ruth machte, stand ich noch ganz am Anfang der Entdeckungen. Mein Ego hatte noch keinerlei Widerstände und Abwehrstrategien entwickelt und deshalb konnte die Arbeit so tief gehen. Oder es war einfach Anfängerglück.
Als Ego bezeichne ich den Teil in mir, der gar kein Interesse an transzendenten Erfahrungen hat, weil es sich für das Ego so anfühlt, als müsse es dann sterben. Das Ego mag es nicht besonders, sich aufzulösen, und tut alles dafür, die Kontrolle nicht aufgeben zu müssen. Das ist die Struktur, die mich gegenüber der Offenheit und Freiheit, wie ich sie nach dem Retreat kennengelernt hatte, trennt und schützt, je nachdem von welchem Punkt aus man es betrachten mag.
Manchmal scheint es mir deshalb so, als ob jeder Zugang zu einer höheren Bewusstseinsstufe nur einmal richtig gut funktioniert. Wenn man am nächsten Tag wieder durch die gleiche Tür gehen möchte, hat das schlaue Ego schon das Schloss ausgewechselt. Dann muss man sich etwas Neues einfallen lassen, denn bekanntlich ist immer dort ein Weg, wo auch der Wille ist.
Ein Bereich, in dem es mir umgehend gelang, das Meditationsprinzip umzusetzen, war Sport und im Besonderen Volleyball. Ich liebte Volleyball und trainierte mehrmals die Woche. Als ich 1981 aus Amerika zurückkehrte, spielte ich Volleyball auf Leistungssportniveau in einer Hessenligamannschaft. Bei dieser Sportart dauern die Spielzüge selten länger als 40 Sekunden, danach stellen sich beide Mannschaften in ihrer Ausgangsposition neu auf und der Kampf um den nächsten Punkt beginnt. Um ein Spiel zu gewinnen, mussten wir manchmal über zwei Stunden lang kämpfen. Für mich ging es dabei darum, überhaupt nicht mehr an den letzten Punkt zu denken, sondern jeden Spielzug zu beginnen, als wäre es der erste des Matches, wo alles noch offen ist.
Vor dem Aufschlag, mit dem ein Spielzug beginnt, stehen alle Spieler reaktionsbereit in einer gespannten Haltung. Ich nutzte diese Sekunden, um mich mithilfe des Atems im Körper zu zentrieren und total wach zu sein, alle Gedanken waren ausgeschaltet und das einzige, worauf ich mich konzentrierte, war der weiße Ball. Auf diese Weise wurde ich regelrecht high und konnte Leistungen erzielen, die über mein Limit hinausgingen. Natürlich wollte ich mit aller Kraft das Spiel gewinnen, aber bereits fünf Minuten danach war es mir tatsächlich egal, ob wir oder die anderen gewonnen hatten, und ich vergaß es schnell. Das intensive Erleben im Moment, wenn sich Körper und Geist auf ein Ziel ausrichteten, das war meine Belohnung und ich konnte eine Reihe von Elementen der Vipassana-Schulung leistungsfördernd umsetzen.
Beim Lauftraining im Wald entdeckte ich, dass ich über Erschöpfungsphasen, wenn ich daran dachte, wie schön es wäre, jetzt mal stehenzubleiben oder einfach nur spazieren zu gehen, leicht hinwegkam, indem ich meine Aufmerksamkeit statt auf die Erschöpfung einfach auf die Fußsohlen lenkte. Die Erfahrungen mit der Gehmeditation waren dabei hilfreich. Die Leistungssteigerung funktionierte für mich genauso gut, wenn ich das rhythmische Ein- und Ausatmen zum Hauptobjekt der Aufmerksamkeit wählte. Nicht nur die Ausdauer verbesserte sich dadurch, sondern als Nebeneffekt konnte ich eine gleichmäßigere Atmung feststellen.
Eine Überraschung waren die Verbesserungen meiner T‘ai-Chi-Kenntnisse. Eigentlich hatte ich auf der USA-Reise wenig geübt und trotzdem konnte ich die T‘ai-Chi-Form viel besser als vorher. Wenn ich einzelne Bewegungsabläufe langsam mehrmals wiederholte und dabei die Achtsamkeitsmeditation auf die BewegungsempfindungenAchtsamkeit