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Impressum

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2014

Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© Veronica Rossi 2014

Die amerikanische Originalausgabe erschien bei Harper Collins Teen, an imprint of HarperCollins Publishers US, 10 East Street, NY 10022, New York, unter dem Titel INTO THE STILL BLUE

Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop

Covergestaltung von Carolin Liepins

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2014

ISBN 978-3-86274-734-4

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Für Michael

Aria | Kapitel Eins

Aria fuhr erschrocken hoch, das Echo von Schüssen noch in den Ohren.

Verwirrt schaute sie sich um, nahm die Wände der Höhle wahr, die beiden Pritschen, den Stapel ramponierter Vorratskisten und begriff endlich, dass sie in Perrys Zelt lag.

Sie spürte einen unablässigen, pulsierenden Schmerz im rechten Arm, und als sie ängstlich auf den weißen Verband schaute, der von ihrer Schulter bis hinunter zum Handgelenk reichte, krampfte sich ihr Magen zusammen.

Eine der Wachen in Reverie hatte sie angeschossen.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, schmeckte die bittere Medizin, die ihre Schmerzen lindern sollte. Versuch es einfach, forderte sie sich selbst auf. So schwer konnte es doch nicht sein.

Sie versuchte, die Faust zu ballen, und sofort schoss ein stechender Schmerz durch ihren Bizeps. Ihre Finger zuckten nur schwach – als könne ihr Gehirn nicht mehr mit ihrer Hand kommunizieren und als sei der Befehl irgendwo auf dem Weg zu ihrem Arm verloren gegangen.

Als sie sich aufrichtete und die Füße neben das Bett stellte, schwankte sie ein wenig und musste warten, bis das Schwindelgefühl vorüberging. Gleich nachdem sie mit Perry hier angekommen war, hatte sie sich in dieses Zelt gelegt und es seitdem nicht mehr verlassen. Doch jetzt hielt sie es nicht länger aus: Was sollte sie hier noch, wenn sich ihr Zustand nicht besserte?

Ihre Stiefel standen auf einer der Vorratskisten. Entschlossen, Perry zu finden, wollte sie sie anziehen – was mit einer Hand jedoch gar nicht so einfach war. »Blöde Dinger«, schimpfte sie leise. Ungeduldig zog sie fester an dem Schaft, und sofort brannte ihr Arm wie Feuer.

»Ach, gib nicht den armen Stiefeln die Schuld.«

Molly, die Heilerin des Stammes, hatte die Zeltplane geöffnet und trat ein, eine Lampe in der Hand. Die sanfte, grauhaarige Frau sah völlig anders aus als Arias Mutter, aber beide ähnelten sich in ihrem Auftreten: ruhig und zuverlässig.

Aria rammte ihre Füße in die Stiefel – es ging doch nichts über Zuschauer, um sich zu motivieren – und richtete sich auf.

Molly stellte die Lampe auf eine der Kisten und trat zu ihr. »Bist du sicher, dass du schon aufstehen und herumlaufen solltest?«

Aria strich sich die Haare hinters Ohr und versuchte, langsamer zu atmen; kalter Schweiß lief ihr über den Rücken. »Ich bin mir sicher, dass ich verrückt werde, wenn ich noch länger hierbleibe.«

Die Heilerin lächelte, und ihre vollen Wangen glänzten im Schein der Lampe. »Diesen Satz habe ich heute schon ein paarmal gehört.« Sie legte Aria eine raue Hand auf die Wange. »Das Fieber ist gesunken, aber du musst trotzdem noch deine Medizin nehmen.«

»Nein.« Aria schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut. Ich will nicht noch länger schlafen.«

Schlafen war nicht wirklich der richtige Ausdruck: Sie konnte sich nur vage daran erinnern, dass sie in den letzten Tagen ein paarmal aus einem schwarzen Abgrund aufgetaucht war, um Medikamente und ein paar Schlucke Brühe zu sich zu nehmen. Manchmal hatte Perry dabei zugesehen, ihre Hand gehalten und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Bei seinen Worten hatte sie das Leuchten der Glut wahrgenommen. Doch ansonsten war da nichts gewesen – außer Dunkelheit und Albträume.

Molly nahm ihre seltsam taube Hand und drückte sie. Zuerst spürte Aria nichts, doch als die ältere Frau langsam ihren Arm hinaufstrich, sog sie scharf die Luft ein, weil ihr fast übel wurde vor Schmerz.

»Deine Nerven sind beschädigt worden«, teilte Molly ihr mit. »Das ist dir wahrscheinlich selbst schon aufgefallen.«

»Aber das heilt doch wieder, oder? Irgendwann?«

»Mir liegt zu viel an dir, um dir falsche Hoffnungen zu machen, Aria. Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Marron und ich haben alles, was in unserer Macht stand, getan. Wenigstens konnten wir den Arm retten – eine Zeit lang sah es so aus, als müssten wir ihn abnehmen.«

Aria wandte sich ab in Richtung der Schatten, als ihr die Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. Fast hätte man ihr den Arm amputiert. Er wäre entfernt worden wie irgendein überflüssiger Teil, ein Anhängsel. Wie ein Hut oder ein Schal. Viel hatte nicht gefehlt, und sie hätte beim Aufwachen feststellen müssen, dass einer ihrer Körperteile fehlte.

»Ist eh nur der vergiftete Arm«, sagte sie und presste ihn fest an ihre Seite. »Und die hier hat ohnehin nichts getaugt.« Ihre Zeichnung – die halb fertige Tätowierung, die sie als Horcherin ausgewiesen hätte – war das Hässlichste, was sie je gesehen hatte. »Führst du mich herum, Molly?«

Aria wartete die Antwort nicht ab. Das Verlangen, Perry zu sehen – und nicht mehr an ihren Arm zu denken –, war überwältigend. Doch nachdem sie aus dem Zelt getreten war, blieb sie wie versteinert stehen.

Sie schaute gebannt nach oben: Die Höhle war so gewaltig, dass sie gleichzeitig ganz nah und endlos zu sein schien. Stalaktiten in allen Größen tauchten aus einer Dunkelheit auf, die mit nichts vergleichbar war, was sie in ihren Fieberträumen erlebt hatte. Dort hatte nur eine große Leere geherrscht, aber diese Finsternis hier besaß eine Fülle, einen Klang. Sie war satt und lebendig, dröhnte leise und beständig in ihren Ohren.

Aria atmete tief durch. Die kühle Luft roch brackig und rauchig – Gerüche, die so stark waren, dass sie sie förmlich schmecken konnte.

»Für die meisten von uns ist die Dunkelheit das Schlimmste«, sagte Molly schließlich und trat neben sie.

Um sie herum, in ordentlichen Reihen, standen weitere Zelte aufgebaut, die wie flatternde Gespenster aus der Düsternis aufragten. Weiter entfernt brannten Fackeln; von dort wurden Geräusche herangetragen – das Knirschen von Wagenrädern auf Steinen, das beharrliche Tropfen von Wasser, das flehentliche Meckern einer Ziege –, die allesamt in der Höhle widerhallten und ihre sensiblen Ohren quälten.

»Wenn man nicht weiter als vierzig Schritte sehen kann«, fuhr Molly fort, »hat man schnell das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Aber so weit ist es noch nicht gekommen, dem Himmel sei Dank.«

»Und der Äther?«, erkundigte sich Aria.

»Wird immer schlimmer. Jeden Tag Stürme, seit deiner Ankunft, einige direkt über uns.« Molly hakte sich an Arias gesundem Arm unter. »Wir können froh sein, dass wir diesen Ort gefunden haben, auch wenn es hier manchmal schwer zu ertragen ist.«

Vor Arias geistigem Auge erschien ein Bild von Reverie, das langsam zu Staub zerfiel. Ihre Heimat existierte nicht mehr, und auch die Tiden hatten ihr Lager aufgeben müssen.

Molly hatte recht: Das hier war besser als nichts.

»Ich nehme an, du möchtest Peregrine sehen«, sagte Molly und führte Aria an einer Reihe von Zelten vorbei.

Auf der Stelle, dachte Aria, sagte aber nur: »Ja.«

»Ich fürchte, da musst du noch ein Weilchen warten. Uns erreichte die Nachricht, mehrere Personen seien in das Stammesgebiet eingedrungen. Er und Gren sind losgezogen, um sie sich näher anzusehen. Ich hoffe, dass es Roar ist und dass er Cinder mitgebracht hat.«

Schon allein Roars Name ließ Aria schlucken. Sie machte sich große Sorgen um ihn. Zwar waren nur ein paar Tage vergangen, die sie ohne ihn verbracht hatte, doch es kam ihr trotzdem wie eine halbe Ewigkeit vor.

Molly führte sie zu einem offenen Bereich, der so breit war wie die Lichtung im Herzen des Tiden-Lagers. In der Mitte befand sich ein großes hölzernes Podest, umgeben von Tischen und Stühlen – überall saßen Menschen, die sich um die wenigen Lampen geschart hatten. In ihrer braunen und grauen Kleidung schienen sie mit der Düsterkeit zu verschmelzen, aber ihre Gespräche wehten zu ihr herüber, und ihre Stimmen waren von Angst erfüllt.

»Wir dürfen die Höhle nur verlassen, wenn es draußen sicher ist«, erklärte Molly, als sie Arias Gesichtsausdruck sah. »Heute brennen ganz in der Nähe Feuer, und direkt südlich tobt ein Sturm, also sitzen wir hier fest.«

»Es ist nicht sicher, sich draußen aufzuhalten? Du hast doch gesagt, Perry sei draußen unterwegs.«

Molly blinzelte. »Ja, aber er darf seine eigenen Regeln brechen.«

Aria schüttelte den Kopf. Als Kriegsherr der Tiden musste er Risiken eingehen – das traf es wohl eher.

Inzwischen hatten die Menschen in der Nähe des Podests sie bemerkt. Die von Sonne und Salz gegerbten Tiden trugen ihren Namen zu Recht. Aria entdeckte Reef in Gesellschaft seiner stärksten Krieger, die von allen Die Sechs genannt wurden. Und sie erkannte die drei Brüder: Hyde, Hayden und Straggler, den Jüngsten unter ihnen. Es überraschte sie nicht, dass Hyde – ein Seher wie seine Brüder – sie zuerst erblickte. Er hob die Hand zu einem zögerlichen Gruß.

Aria winkte zaghaft zurück. Sie kannte Hyde kaum, oder überhaupt Angehörige von Perrys Stamm, denn sie hatte damals nur ein paar Tage im Lager der Tiden verbracht. Als sie jetzt vor diesen fast fremden Menschen stand, spürte sie eine starke Sehnsucht nach ihren Leuten. Doch sie konnte niemanden entdecken: Kein einziger Angehöriger der Gruppe, die sie und Perry aus Reverie gerettet hatten, war hier.

»Wo sind die Siedler?«, erkundigte sie sich.

»In einem anderen Teil der Höhle«, teilte Molly ihr mit.

»Warum?«

Aber Molly hatte ihre Aufmerksamkeit schon Reef zugewandt, der jetzt zu ihnen herüberkam. Im schummrigen Licht der Höhle wirkten seine Züge noch härter, und die gewaltige Narbe, die sich von seiner Nase bis zum Ohr zog, ließ ihn unheimlicher aussehen als je zuvor.

»Endlich bist du wach«, sagte er in einem Ton, als habe Aria faul im Bett gelegen. Sie erinnerte sich, dass Perry große Stücke auf diesen Mann hielt und ihm vertraute. Aber Reef hatte nie auch nur den Versuch unternommen, sich mit ihr anzufreunden.

Sie schaute ihm fest in die Augen. »Meine Verletzungen wurden mir langweilig.«

»Du wirst gebraucht«, ließ er sie wissen und ignorierte ihren Sarkasmus.

Molly drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Nicht so hastig, Reef. Sie ist gerade erst aufgewacht und muss erst einmal zu Kräften kommen. Mute ihr das nicht zu früh zu.«

Reef baute sich breitschultrig vor ihr auf und runzelte die dichten Augenbrauen. »Wann soll ich es ihr denn sagen, Molly? Jeder Tag bringt neue Stürme. Mit jeder Stunde schrumpfen unsere Vorräte. Jede Minute droht wieder jemand in diesem Felsen verrückt zu werden. Wenn es einen besseren Zeitpunkt gibt, ihr die Wahrheit zu sagen, würde ich gerne wissen, wann das ist.« Er beugte sich vor, und einige seiner dicken Zöpfe fielen ihm über die Schulter. »Kriegsrecht, Molly. Wir tun, was nötig ist, wenn es nötig ist. Und im Augenblick bedeutet das, dass sie wissen muss, was hier passiert.«

Reefs Worte ließen auch die letzten Spuren von Benommenheit aus Arias Kopf verschwinden. Sie versetzten sie wieder in jenen Zustand, in dem sie sich vor einer Woche befunden hatte: wachsam, angespannt, ein wenig atemlos und von einem Gefühl der Verzweiflung befallen, das sich in ihr ausbreitete wie Magenschmerzen.

»Sag mir, was geschehen ist«, forderte sie ihn auf.

Reef richtete seinen eindringlichen Blick auf Aria. »Ich zeige es dir besser«, entgegnete er und ging mit großen Schritten voran.

Sie folgte ihm vom Versammlungsplatz tiefer in die Höhle hinein, wo es mit jedem Schritt dunkler und stiller wurde, und ihre Furcht wuchs. Molly stieß ein verärgertes Schnauben aus, kam aber mit.

Gemeinsam schlängelten sie sich durch die schmelzenden Gebilde – ein Wald aus Steinen, die von der Decke tropften, vom Boden aufragten und nach und nach zusammenwuchsen – und erreichten schließlich einen natürlichen Korridor. Hier und da öffnete sich der Tunnel zu anderen Gängen, aus denen ihnen kühle, feuchte Luft ins Gesicht wehte.

»Dorthinunter geht es zum Lager für Medikamente und Vorräte«, erklärte Molly und deutete nach links. »Alles außer Nahrung und Tieren. Die lagern und halten wir in den Höhlen am südlichen Ende.« Sie klang ein wenig zu fröhlich, als wolle sie Reefs ruppiges Benehmen wiedergutmachen. Da Molly die Lampe beim Gehen leicht schwenkte, hüpften ihre Schatten in dem engen Gang auf und ab. Aria fühlte sich schwindelig, als sei sie seekrank. Oder höhlenkrank.

Wohin brachten die beiden sie?

Eine solche Dunkelheit war ihr völlig unbekannt. In der Außenwelt hatte es immer ein Licht gegeben – Äther, Sonnenschein oder Mondlicht. Und in der Biosphäre, innerhalb der schützenden Mauern von Reverie, war alles grell erleuchtet gewesen. Immer. Doch dieses erstickende Nichts hatte sie noch nie erlebt: eine pechschwarze Finsternis, die mit jedem Atemzug ihre Lungen füllte. Aria trank die Dunkelheit, watete durch sie hindurch.

»Hinter diesem Vorhang befindet sich der Strategieraum«, fuhr Molly fort. »Es ist eine kleinere Höhle, in die wir einen der Tische aus dem Kochhaus gestellt haben. Perry trifft sich dort mit Leuten, um wichtige Angelegenheiten zu besprechen. Der arme Junge kommt kaum je ins Freie.«

Reef, der schweigend vor ihnen herging, schüttelte den Kopf.

»Ich mache mir Sorgen um ihn, Reef«, erklärte Molly empört. »Irgendjemand muss es ja tun.«

»Und du glaubst, ich tue das nicht?«

Auch Aria machte sich Sorgen – mehr als die beiden –, aber sie blieb stumm und ließ sie reden.

»Wenn das so ist, verbirgst du es aber gut«, erwiderte Molly. »Ich sehe nur, dass du ihm ständig Vorträge hältst über das, was er falsch macht.«

Reef wandte den Kopf und warf ihr einen Blick zu. »Soll ich ihm etwa auf die Schulter klopfen und ihm erzählen, er sei wunderbar? Meinst du, das würde uns etwas nützen?«

»Du könntest es wenigstens gelegentlich mal versuchen.«

Aria ließ die beiden streiten: Die Haare an ihren Armen stellten sich auf, als ihre Ohren neue Geräusche wahrnahmen. Stöhnen. Wimmern. Leidvolle Geräusche, die durch den Tunnel zu ihr drangen. Ein Chor der Not.

Sie löste sich von Molly und Reef, presste den verletzten Arm an ihre Seite und hastete davon. Hinter einer Biegung im Gang gelangte sie in eine große schummrige Felskammer, an deren Wänden Fackeln brannten.

Auf ausgebreiteten Decken lagen Dutzende von Menschen auf dem Boden, viele von ihnen nicht bei Bewusstsein. Ihre Gesichter schauten totenbleich aus den grauen Overalls heraus – die gleiche Kleidung, die auch Aria ihr ganzes Leben lang getragen hatte, bis sie aus Reverie verbannt worden war.

»Kurz nach eurer Ankunft wurden sie alle krank«, sagte Molly, die sie eingeholt hatte. »Dich hat man in Perrys Zelt gebracht, und sie kamen hierher. So ist es seitdem geblieben. Perry meinte, das Gleiche sei mit dir passiert, als du damals aus Reverie gekommen bist. Für euer Immunsystem ist die Umstellung ein Schock. An Bord des Hovercrafts, mit dem ihr gekommen seid, gab es Impfstoff für dreißig Leute – aber hier liegen zweiundvierzig. Wir haben Perrys Anordnung befolgt und jedem die gleiche Dosis verabreicht. Er sagte, du hättest es so gewollt.«

Aria war zu keiner Antwort imstande. Später, als sie wieder klar denken konnte, sollte sie sich an jedes von Mollys Worten erinnern. Und ihr sollte auch wieder vor Augen stehen, wie Reef mit verschränkten Armen gewartet und sie angeschaut hatte, als sei sie für die Lösung dieses Problems verantwortlich. Doch jetzt, während sie tiefer in die Höhle hineintrat, schlug ihr das Herz bis zum Hals.

Die meisten Menschen lagen so reglos auf dem Boden, als wären sie tot. Andere schüttelten sich in Fieberkrämpfen, hatten fahle, fast grüne Haut. Sie wusste nicht, was schlimmer war.

Ihre Augen wanderten über die Gesichter, suchten nach ihren Freunden, nach Caleb und Rune und …

»Aria … hier drüben.«

Sie folgte der Stimme. Heftige Schuldgefühle überkamen sie, als sie Soren entdeckte; an ihn hatte sie gar nicht gedacht. Vorsichtig ging Aria an wimmernden Bündeln vorbei und kniete sich dann neben ihn.

Soren war immer so kräftig gewesen, aber jetzt wirkten die Muskeln an seinen Schultern und seinem Nacken wie eingefallen – und das, obwohl er in eine Decke gehüllt war. Sie bemerkte seine hohlen Wangen und die tief liegenden Augen, die sie unter schweren Lidern anschauten.

»Nett von dir, dass du uns besuchen kommst«, sagte er, eindeutig bei klarerem Verstand als die anderen. »Ich bin ein bisschen neidisch auf deine Privatunterkunft. Lohnt sich wohl, die richtigen Leute zu kennen.«

Aria wusste nicht, was sie sagen sollte. Dieses Ausmaß von Leid war zu viel für sie, schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte unbedingt helfen, irgendwie dafür sorgen, dass es aufhörte.

Soren blinzelte erschöpft. »Ich verstehe jetzt, warum du die Außenwelt liebst«, fügte er hinzu. »Es ist echt mega hier.«

Peregrine | Kapitel Zwei

»Glaubst du, das sind Roar und Twig?«, fragte Gren und lenkte sein Pferd neben das von Perry.

Perry atmete tief ein, suchte nach Spuren der Reiter, die zuvor gesehen worden waren. Doch er roch nichts außer Rauch.

Erst zehn Minuten zuvor hatte er die Höhle verlassen, begierig nach frischer Luft. Nach Licht, einem Horizont und Bewegung. Stattdessen war ihm ein dichter grauer, alles erstickender Dunst von den morgendlichen Feuern entgegengeschlagen, und der beißende Äther prickelte wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut.

»Würde mich überraschen, wenn es jemand anders wäre«, entgegnete er. »Außer Roar und mir kennt kaum jemand diesen Pfad.«

Von Kindheit an hatte er mit Roar gemeinsam in diesen Wäldern gejagt; nicht weit von hier hatten sie ihren ersten Bock erlegt. Perry kannte jede Biegung dieses Pfades, der durch ein Land führte, das einst seinem Vater gehört hatte, dann seinem Bruder und jetzt – seit er vor einem halben Jahr Kriegsherr geworden war – ihm.

Aber die Zeiten hatten sich geändert. Schon seit einigen Monaten lösten die Ätherstürme Feuer aus, die sich über die Berge fraßen und breite verkohlte Schneisen hinterließen. Die Temperaturen waren viel zu niedrig für den Spätfrühling, und auch der Wald roch anders. Die Gerüche des Lebens – Erde, Gras und Wild – schienen von dem beißenden Rauch überdeckt zu sein.

Gren zog sich die braune Mütze tiefer ins Gesicht. »Wie stehen die Chancen, dass Cinder bei ihnen ist?«, wollte er wissen. Cinder war entführt worden, als Gren Wache geschoben hatte, und das konnte er sich nicht verzeihen.

»Gut«, meinte Perry. »Wenn es einer schafft, dann Roar.«

Er dachte an Cinder und daran, wie schwach und zerbrechlich der Junge gewesen war, als man ihn entführt hatte. Perry wagte sich kaum vorzustellen, was ihm in den Händen von Sable und Hess geschehen konnte. Der Stamm der Hörner und die Siedler hatten sich zusammengeschlossen und Cinder entführt, weil er in der Lage war, den Äther zu kontrollieren. Offenbar war er der Schlüssel zur Blauen Stille, aber Perry wollte ihn einfach nur wieder zurückholen.

»Perry.« Gren zügelte sein Pferd und legte den Kopf zur Seite, um die Geräusche mit seinen scharfen Ohren besser auffangen zu können. »Zwei Pferde. Sie galoppieren direkt auf uns zu.«

Perry sondierte den Pfad vor ihnen – er konnte noch niemanden sehen, aber sie mussten es sein. Er pfiff, um Roar mitzuteilen, dass sie ihn fast erreicht hatten. Sekunden vergingen, in denen er auf Roars Antwort wartete.

Sie kam nicht.

Perry fluchte. Roar würde ihn gehört und ebenfalls gepfiffen haben.

Rasch nahm er seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne, den Blick unverwandt auf die Wegbiegung gerichtet. Auch Gren nahm seinen Bogen in die Hand, und beide schwiegen, auf alles gefasst.

»Jetzt«, murmelte Gren.

Perry hörte die Pferde heranpreschen. Er spannte die Sehne und zielte auf den Weg, als Roar um eine Gruppe von Birken galoppiert kam.

Perry ließ den Bogen sinken und versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.

Roar preschte heran, und die Hufe seines schwarzen Pferdes wirbelten Erdklumpen auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte konzentriert, fast schon kalt – und dieser Ausdruck änderte sich auch nicht, als er Perry entdeckte.

Twig, der genau wie Gren zu den Sechs gehörte, folgte Roar um die Biegung. Doch auch er war allein, und damit verflog Perrys Hoffnung auf Cinders Rückkehr.

Bis zum letzten Moment ritt Roar im vollen Galopp, dann brachte er sein Pferd abrupt zum Stehen.

Perry schaute ihn lange an, ohne ein Wort herauszubringen. Er hatte nicht erwartet, dass er beim Anblick von Roar an Liv denken würde – obwohl er es hätte tun sollen: Schließlich hatten er und sie zusammengehört. Der Verlust traf Perry wie ein Schlag in die Magengrube, genauso heftig wie vor wenigen Tagen, als er erstmals davon erfahren hatte.

»Schön, dich gesund wiederzusehen, Roar«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang angestrengt, aber wenigstens brachte er die Worte heraus.

Roars Pferd stampfte aufgeregt und warf den Kopf hin und her, aber Roar hielt die Augen fest auf Perry gerichtet.

Perry kannte diesen feindseligen Blick. Er hatte nur bis jetzt nie ihm gegolten.

»Wo bist du gewesen?«, fragte Roar.

An dieser Frage stimmte nichts: weder der vorwurfsvolle Ton noch die Andeutung, dass Perry irgendwie versagt hatte.

Wo er gewesen war? Er hatte sich um vierhundert Leute gesorgt, die langsam in einer Höhle verkümmerten.

Perry ignorierte die Frage und stellte selbst eine: »Habt ihr Hess und Sable gefunden? War Cinder bei ihnen?«

»Ich habe sie gefunden«, antwortete Roar kühl. »Und ja, sie haben Cinder. Was wirst du deswegen unternehmen?«

Dann gab er seinem Pferd die Sporen und ritt davon.

 

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, kehrten sie zur Höhle zurück. Die Anspannung lastete auf ihnen, war so dicht wie der Dunst, der über dem Wald hing. Sogar Gren und Twig – eigentlich beste Freunde – redeten kaum miteinander und verkniffen sich angesichts der Stimmung ihre üblichen Scherze.

Das fast eine Stunde andauernde Schweigen gab Perry reichlich Gelegenheit, sich sein letztes Treffen mit Roar ins Gedächtnis zu rufen: vor einer Woche, im Auge des schlimmsten Äthersturms, in den er je geraten war. Roar und Aria waren gerade nach rund einem Monat in das Gebiet der Tiden zurückgekehrt. Als er die beiden dann zusammen sah – nach Wochen, in denen er Aria schmerzlich vermisst hatte –, hatte Perry die Nerven verloren. Er war auf Roar losgegangen und hatte ihm das Schlimmste unterstellt – einem Freund, der niemals an ihm gezweifelt hatte.

Mit Sicherheit trug dies zu Roars gereizter Stimmung bei, aber der wahre Grund war ein anderer.

Liv.

Perry versteifte sich bei der Erinnerung an seine Schwester, und sein Pferd scheute. »Brrr. Ganz ruhig, Mädchen«, sagte er und zügelte die Stute. Er schüttelte den Kopf, verärgert über sich selbst, weil er seine Gedanken nicht unter Kontrolle hatte.

Er durfte jetzt nicht an Liv denken. Die Trauer würde ihn schwächen, und das konnte er sich nicht leisten, denn das Leben Hunderter Menschen lag in seiner Hand. Roars Gegenwart würde es ihm nicht eben leichter machen, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren, aber er würde es schaffen. Ihm blieb gar nichts anderes übrig.

Während sie den gewundenen Pfad zu der geschützten Bucht hinabritten, schaute er zu Roar hinüber und sagte sich, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Roar war in jeder Hinsicht sein Bruder, auch wenn keine Blutsverwandtschaft bestand. Sie würden einen Weg finden, einen Streit zu vermeiden, und das hinter sich lassen, was mit Liv passiert war.

Unten am schmalen Strand stieg Perry vom Pferd und blieb zurück, während die anderen in der dunklen Spalte verschwanden, die ins Innere des Berges führte. Es war für ihn jedes Mal eine Qual, die Höhle betreten zu müssen, und er wollte diesen Moment noch etwas hinauszögern. Einmal im Höhleninneren, musste er sich voll und ganz darauf konzentrieren, die Panik zu unterdrücken, die seine Lungen zusammenpresste und ihm den Atem raubte.

»Du leidest an Klaustrophobie«, hatte Marron ihm gestern mitgeteilt. »Das ist die irrationale Angst, in engen Räumen gefangen zu sein.«

Aber Perry war nun einmal der Kriegsherr der Tiden: Ihm blieb keine Zeit für Ängste, ob irrational oder nicht.

Er holte tief Luft und genoss die frische Luft hier draußen noch einen Augenblick länger. Am Nachmittag hatte eine Meeresbrise den rauchigen Dunst vertrieben, und zum ersten Mal an diesem Tag konnte er den Äther sehen.

Die blauen Ströme wogten über den Himmel, ein Sturm aus leuchtenden, wirbelnden Wellen. Sie waren heftiger denn je, wirkten gewaltiger als gestern, aber noch etwas anderes fiel ihm auf: Dort, wo der Äther am stärksten wütete, waren rote Verfärbungen zu erkennen – Flecken, deren Farbton an das Rot des Sonnenaufgangs auf einem Wellenkamm erinnerte.

»Siehst du das?«, fragte er Hyde, der auf ihn zugelaufen kam.

Hyde, einer der besten Seher der Tiden, folgte Perrys Blickrichtung, die Adleraugen zusammengekniffen. »Ja. Was hat das wohl zu bedeuten, Perry?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber bestimmt nichts Gutes.«

»Ich wünschte, ich könnte die Blaue Stille sehen.« Hydes Blick wanderte über den scheinbar endlosen Ozean zum Horizont. »Das alles hier ließe sich so viel leichter ertragen, wenn ich wüsste, dass sie da ist und auf uns wartet.«

Perry hasste den Geruch der Niederlage, den Hydes Gemüt ausströmte – ein fader, schaler Geruch wie von Staub. »Du wirst sie bald sehen«, versicherte er ihm. »Du wirst der Zweite sein, der sie sieht.«

Hyde schluckte den Köder. Er grinste und sagte: »Meine Augen sind schärfer als deine.«

»Ich meinte Brooke, nicht mich.«

Hyde knuffte ihn in die Schulter. »Das stimmt nicht. Ich kann doppelt so weit sehen wie sie.«

»Verglichen mit ihr bist du ein Blinder.«

Auf dem Weg in die Höhle setzten sie ihr Wortgefecht fort, und wie Perry gehofft hatte, besserte sich Hydes Stimmung. Er musste dafür sorgen, dass die Moral nicht weiter sank, denn sonst würden sie das Ganze nicht überstehen.

»Kannst du bitte Marron suchen und ihm sagen, er soll in den Strategieraum kommen?«, trug er Hyde auf, als sie eintraten. »Und Reef und Molly brauche ich auch.« Er deutete mit dem Kinn zu Roar, der ein paar Schritte entfernt stand und quer durch die Höhle schaute, die Arme vor der Brust verschränkt. »Bringt ihm Wasser und etwas zu essen und bittet ihn, sich zu uns zu gesellen.«

Höchste Zeit für eine Versammlung: Roar hatte Informationen über Cinder, Sable und Hess. Um zur Blauen Stille zu gelangen, brauchte Perry die Hovercrafts der Siedler. Zwar hatten Aria und er einen davon aus Reverie mitgebracht, aber damit würden sie nicht genügend Leute transportieren können – und außerdem fehlte ihnen ein genauer Kurs, denn sonst waren die Tiden da draußen rettungslos verloren.

Cinder. Hovercrafts. Ein genauer Kurs.

Sable und Hess besaßen diese drei Dinge. Aber nicht mehr lange.

Noch immer von ihm abgewandt, sagte Roar: »Perry scheint vergessen zu haben, dass ich jedes seiner Worte verstehen kann, Hyde.« Dann drehte er sich zu Perry um und fixierte ihn wieder mit diesem düsteren, starren Blick. »Ob ich will oder nicht.«

Wut ergriff Besitz von Perry. Hyde und Gren, die ganz in seiner Nähe standen, versteiften sich ruckartig. Ihre Stimmung nahm ein glühendes Rot an, aber Twig, der tagelang mit Roar zusammen gewesen war, handelte als Erster.

Er ließ die Leine seines Pferdes los, eilte zu Roar und packte ihn an seinem schwarzen Mantel. »Komm schon«, sagte er und verpasste Roar einen Schubs, der fast schon an einen Stoß erinnerte. »Ich zeige dir den Weg. Man kann sich hier leicht verlaufen, wenn man sich nicht auskennt.«

Als sie fort waren, schüttelte Gren den Kopf. »Was war das denn?«

Perry schossen mehrere Antworten auf einmal durch den Kopf.

Roar ohne Liv.

Roar ohne einen Grund, weiterzuleben.

Roar in der Hölle.

»Nichts«, sagte er schließlich, zu aufgewühlt für eine Erklärung. »Er wird sich schon wieder beruhigen.«

Er ging in Richtung des Strategieraums, während Gren sich um die Pferde kümmerte. Mit jedem Schritt tiefer in die Höhle hinein wuchs seine Beklemmung und drückte auf seine Lungen, aber er kämpfte dagegen an. Wenigstens machte ihm die Dunkelheit nichts aus, im Gegensatz zu den meisten anderen: Aus unerfindlichen Gründen funktionierten seine Seher-Augen in diesem Dämmerlicht sogar noch besser.

Auf halbem Weg zum Strategieraum kam Willows Hund Flea angerannt, sprang an ihm hoch und bellte, als hätte er Perry seit Wochen nicht mehr gesehen. Talon und Willow folgten kurz danach.

»Hast du Roar gefunden?«, fragte Talon. »War er es?«

Perry packte Talon, hielt ihn an den Füßen mit dem Kopf nach unten und wurde mit einem fröhlichen, ausgelassenen Quieken belohnt. »Darauf kannst du wetten, Quieks.« Roar war zu ihnen zurückgekehrt – zumindest dem Anschein nach.

»Und Cinder auch?«, wollte Willow wissen, die Augen groß vor Hoffnung. Cinder war ihr ans Herz gewachsen; sie wollte ihn ebenso sehr zurückhaben wie Perry.

»Nein. Bis jetzt nur Roar und Twig, aber wir werden ihn finden, Willow. Ich verspreche es dir.«

Trotz dieser Versicherung ließ Willow einen beeindruckenden Schwall von Flüchen los. Talon kicherte, und Perry lachte ebenfalls, aber sie tat ihm leid. Er spürte, wie sehr sie litt.

Perry setzte Talon ab. »Kannst du mir einen Gefallen tun, Quieks? Siehst du bitte nach, wie es Aria geht?« Seit sie in der Höhle eingetroffen waren, stand sie unter Schmerzmitteln, da die Wunde an ihrem Arm einfach nicht heilen wollte. Wann immer er konnte, ging er zu ihr, verbrachte jede Nacht mit ihr in seinen Armen, aber er vermisste sie trotzdem. Er konnte es kaum erwarten, dass sie wieder aufwachte.

»Klar!«, piepste Talon. »Komm mit, Willow.«

Perry sah ihnen nach, als sie losrannten und Flea hinter ihnen hersprang. Er hatte erwartet, dass die Höhle seinem Neffen Angst machen würde, aber Talon hatte sich schnell daran gewöhnt – genauso wie alle anderen Kinder. Die Dunkelheit inspirierte sie zu endlosen Versteckspielen, und sie erkundeten stundenlang die vielen Gänge und Kammern. Mehr als einmal hatte er die begeisterten Rufe von Kindern gehört, die das Echo entdeckten – wobei man manche Wörter am besten überhörte.

Er wünschte, die Erwachsenen wären ebenso unbekümmert.

 

Perry betrat den Strategieraum und nickte Marron wortlos zu. Die Decke dieser Höhle war so niedrig und unregelmäßig, dass er sich ducken musste, während er um den langen Tisch herumging. Er bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, und sagte sich immer wieder, dass die Wände nicht auf ihn einstürzten, sondern dass es ihm nur so vorkam.

Roar war schon vor ihm eingetroffen. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch, eine Flasche Luster in der Hand, und schaute nicht auf, als Perry eintrat. Das verhieß nichts Gutes.

Bear und Reef nickten Perry zu; sie sprachen gerade über das rote Flackern, das sie seit ein paar Tagen in den Ätherstürmen beobachtet hatten. Bears Gehstock lag auf dem Tisch und überspannte den Abstand zwischen den drei Männern. Immer, wenn er diesen Stock sah, musste Perry daran denken, wie er Bear aus den Trümmern seines Hauses gezogen hatte.

»Irgendwelche Ideen, warum sich die Farbe verändert?«, fragte Perry und nahm seinen angestammten Platz ein, Marron rechts und Reef links neben sich. Es war ein merkwürdiges Gefühl, Roar gegenüberzusitzen, als seien sie Feinde.

In der Mitte des Tisches brannten Kerzen, die Flammen aufrecht und ruhig, denn hier unten gab es nicht den geringsten Luftzug, der sie zum Flackern bringen konnte. Marron hatte Teppiche aufhängen lassen, um die Illusion eines richtigen Raums mit geraden Wänden zu erzeugen. Perry fragte sich, ob das den anderen irgendwie half.

»Ja«, antwortete Marron und drehte den goldenen Ring an seinem Finger. »Dasselbe Phänomen ist während der Einheit aufgetreten. Es leitete den Beginn unablässiger Stürme ein, die dann dreißig Jahre andauerten. Der Äther wird sich weiter verändern, bis er schließlich vollkommen rot ist. Und wenn das einmal eingetreten ist, kann niemand mehr nach draußen.« Er schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, dann werden wir hier gefangen sein.«

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, wollte Perry wissen.

»Die Berichte aus dieser Zeit sind unterschiedlich; es lässt sich nicht genau sagen. Wenn wir Glück haben, ein paar Wochen.«

»Und wenn wir keins haben?«

»Ein paar Tage.«

»Himmel«, sagte Bear erschüttert. Er stützte sich mit seinen massiven Armen auf den Tisch, stieß hörbar die Luft aus und brachte die Kerzenflammen vor sich zum Flackern. »Ein paar Tage

Perry versuchte, diese Information zu verarbeiten. Er hatte die Tiden in diese Höhle geführt, damit sie ihnen vorübergehend Schutz bot. Hatte ihnen versprochen, es sei nicht für immer – denn das konnte es auch gar nicht sein. Die Höhle war schließlich keine Biosphäre wie Reverie, die sich selbst versorgte. Er musste den Stamm von hier fortbringen.

Perry schaute zu Reef, dessen Rat er jetzt ausnahmsweise einmal gerne gehört hätte.

Doch dann betrat Aria die Kammer.

Perry sprang so schnell auf die Füße, dass sein Stuhl nach hinten kippte. Blitzschnell überwand er die zehn Schritte bis zu ihr, stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke, rammte den Tisch mit seinem Bein und bewegte sich so unkoordiniert wie nie.

Er zog sie zu sich heran und hielt sie ganz fest, achtete aber darauf, ihren verletzten Arm nicht zu berühren.

Sie duftete einfach unglaublich. Nach Veilchen und weiten, sonnenbeschienenen Feldern. Ihr Duft ließ sein Herz schneller schlagen; er stand für Freiheit, für all das, was diese Höhle nicht war.

»Du bist wach«, sagte er und hätte fast über sich selbst gelacht. Ihm hätte wirklich etwas Besseres einfallen müssen – schließlich hatte er tagelang darauf gewartet, mit ihr sprechen zu können.

»Talon sagte mir, dass du hier sein würdest«, erklärte sie und lächelte ihn an.

Vorsichtig fuhr er mit der Hand über den Verband an ihrem Arm. »Wie fühlst du dich?«

Sie zuckte die Achseln. »Schon besser.«

Er wünschte, es würde stimmen, aber die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre blasse Gesichtsfarbe sagten etwas anderes. Trotzdem war sie noch immer das Schönste, was er je gesehen hatte. Absolut.

In der Kammer war es still geworden. Perry kümmerte es nicht, dass die anderen sie sahen: Aria und er waren den ganzen Winter – den Aria bei Marron verbracht hatte – voneinander getrennt gewesen, und danach hatte sie sich mit Roar nach Rim aufgemacht, und sie waren einen Monat lang fort gewesen. Ihre gemeinsame Woche bei den Tiden hatte aus gestohlenen Augenblicken bestanden, und Perry hatte seine Lektion gelernt und würde nicht eine Sekunde mehr ohne sie verschwenden.

Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie. Aria machte ein kurzes, erstauntes Geräusch, doch dann spürte er, wie sie sich entspannte. Sie schlang die Arme um seinen Hals, und was als flüchtige Berührung ihrer Lippen begonnen hatte, wurde inniger. Er drückte sie fest an sich und vergaß alles und alle außer ihr, bis er Reefs schroffe Stimme neben sich hörte.

»Manchmal vergesse ich, dass er erst neunzehn ist.«

»Oh ja. Das passiert schnell.« Diese sanfte Bemerkung konnte nur von Marron stammen.

»Aber nicht jetzt.«

»Nein … ganz gewiss nicht.«

Aria | Kapitel Drei

Ein wenig benommen blinzelte Aria zu ihm hinauf.

Ihre Beziehung war ganz eindeutig öffentlich geworden, und sie war nicht vorbereitet auf den Stolz, der sie wie eine Welle durchströmte. Er gehörte zu ihr, er war einfach unglaublich, und sie mussten sich nicht mehr verstecken, etwas erklären oder noch länger voneinander getrennt leben.

»Wir sollten besser mit der Besprechung beginnen«, sagte er schließlich und lächelte sie an.

Sie murmelte zustimmend, löste sich mühsam von ihm und versuchte, nicht so verblüfft auszusehen, wie sie sich fühlte. Dann entdeckte sie Roar auf der anderen Seite des Tisches, und die Erleichterung, die sie bei seinem Anblick empfand, holte sie zurück in die Gegenwart.

»Roar!« Aria eilte zu ihm und umarmte ihn, so gut sie konnte.

»Immer langsam«, sagte er und schaute besorgt auf ihren Arm. »Was ist passiert?«

»Oh, das? Ich habe mich anschießen lassen.«

»Warum das denn?«

»Mir war einfach nach ein wenig Mitgefühl.«

So scherzhaft und unbeschwert waren sie schon immer miteinander umgegangen, aber als Aria ihn beim Sprechen anschaute, versetzte der Anblick ihr einen Stich ins Herz.

Roar klang zwar wie immer, aber aus seinen Augen war sämtlicher Humor gewichen. Sie wirkten schwer vor Trauer – eine Trauer, die alles zu durchdringen schien: sein Lächeln, die hängenden Schultern, selbst seine schiefe Haltung – als sei sein ganzes Leben aus dem Gleichgewicht geraten. Er wirkte auf Aria noch genauso wie vor einer Woche, als sie zusammen in einem Boot den Snake River hinuntergefahren waren: untröstlich vor Schmerz.

Dann richtete sie den Blick auf Marron, der mit einem erwartungsvollen Lächeln auf sie zukam, die blauen Augen lebhaft funkelnd, die Wangen rot und rund – das genaue Gegenteil von Roars harten Gesichtszügen.

»Es tut so gut, dich zu sehen«, sagte Marron und zog sie an sich. »Wir alle haben uns Sorgen gemacht.«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Er fühlte sich ganz weich an, und er roch so gut, nach Rosenwasser und Holzfeuer. Sie hielt ihn noch einen Augenblick umarmt, erinnerte sich an die Wintermonate, die sie nach dem Tod ihrer Mutter in seinem Haus verbracht hatte. Ohne seine Hilfe wäre sie verloren gewesen.

»Stecken wir nicht mitten in einer Krise, Aria?« Soren betrat mit großen Schritten den Raum, den Rücken gerade und das Kinn nach oben gereckt. »Ich könnte schwören, dass du das erst vor fünf Minuten behauptet hast.«

Der gleiche Ausdruck – arrogant, überheblich und entrüstet – hatte vor sechs Monaten auch in ihrem Gesicht gestanden, als sie Perry zum ersten Mal begegnet war.

»Ich werde ihn rausschaffen«, sagte Reef und erhob sich von seinem Stuhl.

»Nein«, widersprach Aria. Soren war der Sohn von Hess. Ob er es verdient hatte oder nicht: Die Siedler würden in ihm einen Anführer sehen, mit ihr an seiner Seite. »Er gehört zu mir. Ich habe ihn gebeten, dabei zu sein.«

»Dann bleibt er«, verkündete Perry ruhig. »Fangen wir an.«

Das überraschte sie. Sie war besorgt gewesen wegen Perrys Reaktion auf Sorens Anwesenheit – die beiden hatten einander vom ersten Augenblick an nicht ausstehen können.

Als sie sich an den Tisch setzten, entging Aria der finstere Blick nicht, den Reef ihr zuwarf. Er erwartete, dass Soren die Versammlung stören würde. Aber dazu würde Aria es nicht kommen lassen.

Sie nahm neben Roar Platz, was sich einerseits richtig anfühlte, andererseits auch nicht, aber Perry war bereits von Reef und Marron flankiert. Roar ließ sich auf seinen Stuhl sacken und nahm einen kräftigen Schluck aus einer Luster-Flasche. Er wirkte wütend und entschlossen; am liebsten hätte sie ihm die Flasche aus der Hand gerissen, aber ihm war schon genug weggenommen worden.

»Wie ihr wisst, sind Hess und Sable eindeutig im Vorteil«, begann Perry. »Auch die Zeit arbeitet gegen uns. Wir müssen so schnell wie möglich etwas gegen die beiden unternehmen. Morgen früh werde ich mit einer Gruppe zu ihrem Lager aufbrechen, um Cinder zu befreien, die Hovercrafts an uns zu bringen und den genauen Kurs zur Blauen Stille herauszufinden. Um die Mission zu planen, brauche ich Informationen. Ihr müsst mir sagen, was ihr gesehen habt«, sagte er zu Roar, »und was ihr wisst«, jetzt an Soren gewandt.

Während er sprach, funkelte die Kriegsherrenkette um seinen Hals, und Kerzenlicht schimmerte in seinem zusammengebundenen Haar, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten. Ein dunkles Hemd spannte sich über seinen Schultern und Armen, aber Aria erinnerte sich gut an die Tätowierungen, die sich darunter verbargen.

Von dem ungeschliffenen Jäger mit dem grimmigen Blick, den sie vor einem halben Jahr kennengelernt hatte, war fast nichts mehr zu erkennen. Perry wirkte jetzt selbstbewusster, souveräner. Noch immer furchterregend, aber kontrolliert. Aus ihm war all das geworden, was sie in ihm gesehen hatte.

Seine grünen Augen wanderten zu ihr, hielten ihrem Blick für einen kurzen Moment stand, als könne er ihre Gedanken lesen, bevor er sich an Roar wandte.

»Sag mir, wann du bereit bist, Roar.«

Roar antwortete, ohne sich aufzusetzen, und sprach auch nicht in seine Richtung. »Hess und Sable haben sich zusammengeschlossen. Sie sind auf dem Plateau zwischen Lone Pine und dem Snake River, draußen im offenen Gelände. Es ist ein großes Lager, schon eher eine kleine Stadt.«

»Warum dort?«, wollte Perry wissen. »Warum Kräfte im Landesinneren bündeln, wenn die Blaue Stille jenseits des Ozeans liegt? Worauf warten sie?«

»Wenn ich das wüsste, hätte ich es längst gesagt«, entgegnete Roar.

Arias Kopf zuckte unwillkürlich in seine Richtung. Nach außen hin wirkte er fast gelangweilt, aber in seinen Augen lag etwas Raubtierhaftes, das kurz zuvor noch nicht dort gewesen war. Er hielt die Flasche mit Luster fest umklammert, die geschmeidigen Muskeln an seinem Unterarm angespannt.

Sie schaute sich am Tisch um und nahm weitere Zeichen der gereizten Stimmung wahr. Reef saß nach vorn gebeugt und schaute Roar durchdringend an. Marrons Augen huschten nervös zum Eingang, wo Gren und Twig standen, fast so wie Wachen. Selbst Soren hatte etwas bemerkt und schaute von Perry zu Roar, als versuche er herauszufinden, was außer ihm alle wussten.

»Gibt es noch etwas, das du weißt und uns mitteilen möchtest?«, fragte Perry, scheinbar völlig ungerührt.

»Ich habe die Flotte gesehen«, antwortete Roar. »Es waren ein Dutzend wie das Hovercraft draußen an der Klippe und noch ein paar kleinere. Sie stehen auf dem Plateau vor diesem gegliederten Ding, das wie eine Schlange zusammengerollt ist. Es ist gewaltig … Jedes Segment gleicht eher einem Haus als einem Luftkissenfahrzeug.«

Soren schnaubte verächtlich. »Dieses gegliederte, zusammengerollte Ding heißt Komodo X12

Roar richtete seine dunklen Augen auf ihn. »Das ist sehr hilfreich, Siedler. Ich denke, jetzt wissen wir alle Bescheid.«

Aria schaute von Soren zu Roar, und Furcht strömte wie Eis durch ihre Adern.

»Wollt ihr wissen, was der Komodo ist?«, fragte Soren. »Ich werde es euch sagen. Aber noch besser wäre es, wenn ihr diese Teppiche abnehmen würdet, damit ich ein paar Strichmännchen an die Höhlenwände malen kann. Dann könnten wir eine Séance abhalten oder ein Opfer darbringen oder so was.« Soren sah zu Perry. »Vielleicht kannst du ein paar Trommeln und eine halb nackte Frau besorgen?«

Aria hatte einige Erfahrung im Umgang mit Soren und war auf sein Verhalten vorbereitet. Sie wandte sich von Perry zu Marron. »Würden Zeichnungen helfen?«, fragte sie und begegnete Sorens Sarkasmus mit Direktheit.

Marron beugte sich vor. »Oh ja. Sie würden sogar sehr helfen. Alle Informationen bezüglich Geschwindigkeit, Reichweite, Fassungsvermögen, Bewaffnung, Vorräte an Bord … wirklich, Soren, alles ist nützlich. Auf diese Weise könnten wir herausfinden, welches Fahrzeug wir brauchen. Für Zeichnungen und alles andere, woran du dich erinnern kannst, wären wir sehr dankbar.«

»Bring Papier, ein Lineal und Stifte«, bat Perry Gren.

Soren schaute mit offenem Mund von Marron zu Perry und dann zu Aria. »Ich werde überhaupt nichts zeichnen. Das war ein Witz

»Du hältst unsere Situation also für einen Witz?«, fragte ihn Aria.

»Was? Nein. Aber ich helfe diesen Wil… diesen Leuten nicht.«

»Sie kümmern sich seit Tagen um dich. Ohne diese Leute würdest du gar nicht mehr leben.«

Soren schaute sich um, als wollte er darauf etwas erwidern, blieb dann aber stumm.

»Du bist der Einzige, der sich mit den Hovercrafts auskennt«, fuhr Aria fort. »Du bist der Experte. Außerdem solltest du uns alles sagen, was du über die Pläne weißt, die dein Vater und Sable haben. Jeder von uns muss so viel wie möglich wissen.«

Soren schaute sie mürrisch an. »Du willst mich auf den Arm nehmen.«

»Haben wir nicht gerade festgestellt, dass die Situation nicht zum Lachen ist?«

»Warum sollte ich ihnen vertrauen?«, fragte Soren, als wären keine Außenseiter anwesend.

»Vielleicht, weil du keine andere Wahl hast?«

Sorens wütender Blick wanderte zu Perry, der Aria mit zusammengepressten Lippen anschaute, als müsse er ein Lächeln unterdrücken.

»Gut«, entgegnete Soren schließlich. »Ich werde euch sagen, was ich weiß. Ich habe eine Unterhaltung zwischen meinem Vater und Sable mitgehört, bevor Reverie … untergegangen ist.«

Reverie war nicht einfach nur untergegangen – es war verlassen worden. Hess, Sorens Vater, hatte Tausende von Menschen sterben lassen. Aria konnte sich schon denken, warum Soren diese Tatsache lieber nicht beim Namen nannte.

»Sable und ein paar seiner engsten Vertrauten haben die Koordinaten der Blauen Stille auswendig gelernt«, fuhr er fort. »Aber es genügt nicht, bloß zu wissen, wo sie ist. Irgendwo auf dem Meer muss es eine Ätherbarriere geben, und zur Blauen Stille gelangt man nur, wenn man sie durchbricht. Sable hat allerdings behauptet, er habe eine Möglichkeit gefunden, diese Barriere zu öffnen.«

In der Kammer wurde es still. Alle wussten, dass mit dieser Möglichkeit Cinder gemeint war.

Perry rieb sich das Kinn, und in seinem Gesicht waren die ersten Spuren von Zorn zu erkennen. Auf seinem Handrücken sah Aria die Narben der Wunden, die Cinder ihm beigebracht hatte; sie waren blass und knotig.

»Bist du sicher, dass Cinder bei ihnen ist?«, hakte er nach und wandte sich an Roar. »Hast du ihn gesehen?«

»Ja, ich bin sicher.«

Ein paar Sekunden vergingen.

»Sonst hast du nichts mehr zu sagen, Roar?«

»Du willst mehr hören?« Roar setzte sich auf. »Also gut: Cinder war in Begleitung dieser Kirra – das Mädchen, das laut Twig hier im Dorf gewesen ist. Ich habe gesehen, wie sie ihn in diesen Komodo gebracht hat. Und weißt du, wer noch im Lager ist? Sable. Der Mann, der deine Schwester ermordet hat. Die Hovercrafts, die wir brauchen, sind ebenfalls dort, denn ich gehe mal davon aus, dass das Fahrzeug draußen am Strand uns nicht alle zur Blauen Stille bringen kann. Für mich sieht es so aus, als hätten Hess und Sable alles und wir nichts. Also, Perry: Jetzt kennst du die Situation. Was schlägst du vor? Sollen wir in diesem elenden Loch bleiben und noch ein bisschen plaudern?«

Reef schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das reicht!«, bellte er und stand von seinem Stuhl auf. »So kannst du nicht mit ihm reden. Das erlaube ich nicht.«

»Das ist die Trauer«, erklärte Marron sanft.

»Es ist mir egal, was es ist. Es entschuldigt nicht sein Verhalten.«

»Wo wir gerade von Entschuldigungen sprechen«, warf Roar ein, »du suchst doch sowieso schon lange nach einem Grund, auf mich loszugehen, Reef.« Er stand auf und breitete die Hände aus. »Sieht so aus, als hättest du einen gefunden.«

»Genau das meine ich«, mischte Soren sich ein und schüttelte den Kopf. »Ihr seid Tiere. Ich komme mir vor wie ein Zoowärter.«

»Halt den Mund, Soren.« Empört stand Aria auf und packte Roars Arm. »Bitte, Roar. Setz dich wieder hin.«

Er riss sich von ihr los, und Aria zuckte zusammen und sog zischend die Luft ein. Sie hatte mit ihrem gesunden Arm nach Roar gegriffen, aber seine abrupte Bewegung hatte sie aufschrecken lassen und einen stechenden Schmerz in ihrem verletzten Oberarm verursacht.

Perry sprang von seinem Stuhl auf. »Roar!«

Schlagartig herrschte Stille im Raum.

Arias Arm zitterte. Sie hielt ihn gegen ihren Bauch gepresst und zwang sich, ruhig und entspannt zu atmen und die Schmerzwellen, die sie durchfuhren, zu verbergen.

Roar starrte sie betreten an. »Das hatte ich ganz vergessen«, sagte er leise.

»Ich auch. Es geht mir gut, alles in Ordnung.«

Er hatte ihr nicht wehtun wollen, niemals. Aber noch immer regte sich niemand oder sagte etwas.

»Es geht mir gut«, wiederholte sie mit Nachdruck.

Langsam richtete sich die Aufmerksamkeit im Raum auf Perry, der Roar wütend anfunkelte.

Peregrine | Kapitel Vier

Die Wut machte Perry stark und hellwach – wesentlich entschlossener, als er sich beim Betreten der Höhle gefühlt hatte.

Er holte ein paarmal tief Luft und versuchte sich zu entspannen, um nicht zum Angriff überzugehen.

»Bleibt«, sagte er und schaute zuerst Roar, dann Aria an. »Alle anderen können gehen.«

Rasch leerte sich die Kammer. Reef unterband Sorens Einwände mit ein paar heftigen Stößen Richtung Ausgang, durch den Bear schließlich als Letzter verschwand. Perry wartete, bis das Geräusch seines Gehstocks verhallt war, bevor er sprach. »Hast du Schmerzen?«

Aria schüttelte den Kopf.

»Nein?« Perry wusste, dass sie log, um Roar zu schützen, denn die Antwort war deutlich an ihrer verkrampften Haltung abzulesen.

Sie schaute fort, richtete den Blick auf den Tisch. »Es war nicht seine Schuld.«

Roar blickte finster. »Ist das dein Ernst, Perry? Glaubst du wirklich, ich würde ihr wehtun? Mit Absicht

»Du legst es darauf an, zumindest ein paar Leuten wehzutun, da bin ich mir sicher. Ich versuche nur herauszufinden, wie groß dieser Kreis ist.«