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Inhalt

Vorbemerkung

TEIL I – Irgendwohin

Märchenzeit · Träume · Wald-Garten · Lauft euch warm! · Schundliteratur · Es leuchten die Sterne · Gesegnete Leiber · Das »Schifflein Christi« · Todesnachrichten · Der alte Heimann · Ein Soldat der Waffen-SS · Brennende Kirchen. Brennende Städte. Brennende Menschen · Kriegsdienst der deutschen Jugend · Schule: Vom Geschichtsunterricht zur erlebten Geschichte · Abschied · Gewissheit · Flüchtling · Sprottau · Flucht · Lager · Delitzsch · Weiße Fahnen an Hitlers Geburtstag · Bedingungslose Kapitulation · Sieben Wochen und vier Tage · Die Russen kommen · Versuch einer Erklärung · An der sowjetisch-britischen Zonengrenze · In einem amerikanischen Truppentransportzug

TEIL II – Verloren im Verlorenen

Rückreise · Schmerz · Passagiere · Abstand finden · Grünberg · Breslau · Glogau · Schlesien

TEIL III – Das Unverlierbare

Noch einmal Kurs Osten · Görlitz · Am Schlesiersee · Sigrun Freifrau von Schlichting · Im Kloster Leubus · Hirschberg · Die Tränen der Vertriebenen · »Wilder Westen« · Schließ Frieden mit all denen, denen du entkommen bist · »Ja się boje« (»Ich habe Angst«) · »Ja się nie boje« (»Ich habe keine Angst«) · »Reiß uns den Hass aus dem Herzen« · »Vergesst uns nicht!« · Erntedankfest

Teil IV – Die Botschaft der Dichter

Joseph Freiherr von Eichendorff (1788–1857)

Gustav Freytag (1816–1895)

Carl Hauptmann (1858–1921)

Gerhart Hauptmann (1862–1946)

Horst Bienek (1930–1990)

Heinz Piontek (1925–2003)

Ein letzter Blick

Bibliografie

Vorbemerkung

Der plötzliche Bruch in einem Leben ist nicht überwunden, wenn man ihn überlebt hat.

Rückschau-Besitz. Eines Tages hörte ich dieses Wort. Es weckte in mir den Wunsch, den Versuch zu wagen, Verlorenes wiederzufinden. Es aus der Vergangenheit in das Jetzt zurückzuholen.

Ich bin nicht mehr der Mensch, der ich damals war. Auch die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, hatte ich anders gesehen als von der jetzigen Gegenwart aus. Aber ich habe Tagebuch geschrieben, in dem viel wieder auftauchte von dem, was ich damals erlebt hatte, was mir zugestoßen war, was ich gedacht, gefühlt habe und wie ich damit umgegangen war. Ich habe auch Briefe gerettet, Fotos, Notizen – und es gab die alten Zeitungen. Sie enthielten die Stimmung der Zeit, die Propaganda, zumindest einen Teil des wirklichen Geschehens, und auch sie brachten Erinnerungen zurück. Erinnerungen nicht so sehr an das, was damals geschah, sondern daran, wie ich es aufnahm. Kinder und Jugendliche haben einen anderen Blick auf die Welt als Erwachsene, oft auch als ihre Eltern. Das Grauen in seiner ganzen Schrecklichkeit ist für sie nicht vorstellbar, auch das Gute in seiner ganzen Schönheit. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen und Bilder davon, und solange ihre Welt in Ordnung ist, ist alles andere ziemlich weit weg. Und sie haben eine erstaunliche Fähigkeit, Dinge als gegeben hinzunehmen, die Erwachsene zur Verzweiflung bringen.

Es war Krieg, aber noch war der Krieg weit weg. Die Schlachten fanden in anderen Ländern statt. Die Städte hießen Warschau, Rotterdam, Dünkirchen, Narvik, Belgrad, Saloniki, Kiew, Sewastopol; die Flüsse, die unsere Truppen überquerten, Weichsel, Marne, Drina, Bug, Don. Fremde Namen. Dieses Fremde machte es spannend und geheimnisvoll. Damit war Schluss, als die Kriegsschauplätze nicht länger irgendwo in Europa lagen, sondern deutsche Namen trugen: Königsberg, Danzig, Breslau, Aachen, Saarbrücken, Köln, Hannover; und als die Engländer und Amerikaner nicht über den Ärmelkanal nach Großbritannien flüchteten, sondern den Rhein überquerten, die Russen sich nicht an die Wolga zurückzogen, sondern an die Oder vorstießen. Unser kindliches Vertrauen, es wird schon alles gut werden, verwandelte sich in Angst und schließlich in völlige Hilflosigkeit. Plötzlich war alles möglich, woran wir nie gedacht hatten: dass wir alles verlieren könnten, nicht nur den Krieg, auch unser gesamtes Hab und Gut, vielleicht sogar unser Leben.

Flüchten. Was geht in Menschen vor, die alles, was ihre Vorfahren und ihre Eltern erarbeitet haben, von einem Tag zum anderen im Stich lassen müssen, um der Kriegsfurie zu entgehen? Wenn sie nicht der Panik erliegen, denken sie an das Lebensnotwendige und daran, dass sie in der Fremde beweisen müssen, die zu sein, die sie angeben zu sein. Flucht ist auch eine Möglichkeit, Identitäten zu wechseln. Doch daran dachten die Flüchtenden nicht. Sie hatten nichts zu verbergen, sie wollten nicht verschwinden, sie wollten heimkehren, »nachdem alles vorbei ist«. So nahmen sie Geburtsurkunde, Pass, Zeugnisse, Trauschein, Urkunden und Sparbücher mit und dann noch das, was sie tragen konnten.

Nie werde ich die letzten Minuten in unserer Wohnung vergessen. Alles war wie immer. Jeder Gegenstand an seinem Platz. Das Geschirr im Geschirrschrank, Mäntel und Hüte auf den Kleiderbügeln im Korridor, die Betten gemacht, die Bücher wohlgeordnet in den Regalen, die Blumen in den Vasen hatten frisches Wasser, die Gemälde hingen an den Wänden und saubere Handtücher im Badezimmer. Die Wohnung war schön warm geheizt. Draußen auf der Straße waren achtzehn Grad minus und leichter Schneefall. Es war zehn Uhr vormittags, und zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht, wo ich abends schlafen würde.

Alles, was bisher sicher und gewiss gewesen war, hatte sich als nicht haltbar erwiesen. Das war meine erste Fluchtlektion: Es gibt keine Sicherheit, es gibt keine Gewissheit. Pläne? Du kannst Pläne machen, aber ob es so kommt, wie du geplant hast, ist völlig ungewiss. So seltsam es klingen mag, ich empfand das nicht nur als bedrohlich, dieses »Alles ist möglich« versprach auch ein Stück Freiheit.

Die zweite Fluchtlektion hieß: Das, was du tragen kannst, ist nicht viel, und selbst dieses Wenige kann dir weggenommen werden. Oder du lässt es fallen, wenn du es nicht länger mitschleppen kannst. Die Straßen der Flucht waren übersät mit fallen gelassenen Gegenständen. Gegenständen, die gestern noch als notwendig, als unverzichtbar gegolten hatten und nun dem Überleben geopfert wurden. Nur eins, das ahnte ich schon damals, kann ich überall mit hinnehmen und zugleich ist es das leichteste Gepäck, das es gibt: Wissen, Erlerntes, Erfahrungen.

Alles, was vorher so viel wert gewesen war, was man unbedingt haben musste, um dazuzugehören, oder auch, weil es das Leben angenehm machte, war im Nichts verschwunden. Ich könnte auch sagen, es war zu Hause geblieben, aber das Zuhause gab es auch nicht mehr. Meine sorglose Kindheit, meine Jugend, ein Elternhaus voller Geborgenheit, meine Heimat – ich hatte nie viel darüber nachgedacht, doch plötzlich fühlte ich: Das alles war mir geschenkt worden, bis ich in einem Augenblick alles verlor.

Es dauerte fast sechzig Jahre, bis ich den Mut hatte, noch einmal den Weg zurückzugehen. Ich verlor mich beim Zurückgehen weder in Resignation noch in Rachegefühlen, in Gleichgültigkeit oder Nostalgie. Ich ging zurück, um zu begreifen, ging zurück, um nach vorn zu kommen, um geheilt zu werden von einer Wunde, die nicht immer schmerzte, die sich aber nie schloss. Eine Winzigkeit genügte, um den Schmerz zu spüren. Ein Satz in den Nachrichten, ein Bild im Fernsehen, die Wetterkarte, die nie anzeigte, ob östlich der Oder-Neiße-Linie die Sonne schien oder ob es regnete, ein Fußballspiel FC Bayern München gegen Schalke 04, das gab es oft, aber nie FC Breslau gegen SV Königsberg.

Ich wollte wissen, was beim Wiedersehen mit dem Verlorenen mit mir geschehen würde. Wie das ist, wenn ich als Ausländer in meiner Heimat wahrgenommen werde, aber diese Heimat für mich nie Ausland sein wird. Und wie es ist, wenn zwischen dem Damals und dem Heute fast ein ganzes Leben liegt. Ein Leben, in dem ich in vielen Ländern der Welt gelebt habe, aber nie mehr, nicht einen einzigen Tag, in Schlesien. Ich wollte wissen, was noch lebendig in mir ist von meiner Jugend, von Krieg und Flucht, von den Erfahrungen mit Russen und Amerikanern und wie ich Bayern, meine neue Heimat, von meiner alten aus sehen würde.

Bei den Reisen in das Land meiner Geburt wurde vieles klarer, was in Gedanken und Erinnerungen verträumt, eingegrenzt, unscharf gewesen war. Es wurde auch klar, welche Bedeutung dieses Land im Osten – Schlesien – für mein Leben hat. Der Verlust wurde zum Ansporn, ich könnte auch sagen, zur Quelle für dieses Buch. Mit Verlusten fertigzuwerden – es ist banal, aber ich sage es dennoch – gehört zu jedem menschlichen Leben. Jeder muss das auf seine eigene Weise lösen. Aber das Ziel ist doch wohl, eine das Leben niederdrückende Last wenn schon nicht abzuwerfen, so doch erträglich zu machen und zu begreifen, wer man ist und welche Wege zum Weiterleben gangbar sind.

Nichts entschuldigt Handlungen, die zur Massenflucht und zu Vertreibungen von Menschen führen. Es sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und es darf nicht sein, aus was für Gründen auch immer, sie zeitweilig zu akzeptieren. Die Folgen sind immer neues Flüchtlingselend und unzählige um ihr Leben betrogene Menschen.

Ein Weg zur Milderung des Unrechts wären internationale Gesetze, die allen Flüchtlingen und Vertriebenen das Recht zubilligen, in ihre Heimat zurückzukehren. Damit erhielten sie einen Rechtsanspruch. Das ergäbe eine wirkliche Friedensordnung.

Ich schreibe einen Lebensbericht. Es ist kein politisches Buch, doch nichts in unserer Welt bleibt unberührt von der Politik. Annehmen, was einem zustößt, heißt nicht, es akzeptieren, es heißt, lernen, damit umzugehen.

Drei Jahre habe ich an diesem Buch geschrieben. Drei Jahre, in denen ich mich dem stellte, was Jahrzehnte in mir nicht zur Ruhe kam, und während des Schreibens spürte ich, man muss ehrlich sein, darf keine Geschichten erfinden, nicht Partei ergreifen, darf nicht, was einem schaden könnte, aussparen oder schminken, was geschminkt besser, unter Umständen auch grässlicher, aussieht. Die Wahrheit führt zur Freiheit. Als ich das erkannt hatte, begriff ich die Menschen, die dafür ins Gefängnis gehen.

Dieser Lebensbericht ist in vier Teile gegliedert. In Teil I erzähle ich von meiner Jugend in Schlesien, von meinen Begegnungen mit Büchern und Filmen, mit Worten und Bildern. Damals wurden Keime gesät, die erst nach Jahrzehnten Früchte hervorbrachten. Ich gehörte zu den Jugendlichen, die nicht alles, aber doch das meiste glaubten, was ihnen die Erwachsenen erzählten. Ich war überzeugt davon, sie meinten es gut mit mir. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das, was sie sagten, zwar ihre Überzeugung war, aber dass ihre Überzeugungen nicht stimmten. Den eigenen Weg finden, das lernte ich ziemlich schnell, nicht stehen bleiben, weitergehen. Wer stehen blieb, war verloren, das gehörte auch zu meinen Fluchterfahrungen. Gegenwartsbewältigung. Nicht zu denen gehören, die die Menschheit retten wollen, aber ihren Nächsten, der neben ihnen zusammenbricht, übersehen. Mir haben nie die Massen geholfen, es waren immer Einzelne.

Ich erzähle von Flucht und Flüchtlingslager, vom Tag der Kapitulation und von den ersten Begegnungen mit den Soldaten der Sieger. Es waren persönliche Erlebnisse, die mich prägten. Der eine, der gekommen war, um Deutschland vom Faschismus zu befreien, nahm mir meine Armbanduhr weg. Der andere fragte mich aus seinem Jeep heraus nach dem Weg nach Leipzig. Ich erklärte ihm den Weg und fügte in meinem holprigen Schulenglisch hinzu, er solle sich doch das Völkerschlacht-Denkmal ansehen, das sei zum Gedenken daran errichtet, dass Deutsche und Russen damals gemeinsam Europa von der napoleonischen Fremdherrschaft befreiten. Wahrscheinlich hatte ich das Gefühl, ich müsste irgendetwas vorweisen, wo wir die Befreier waren. Der amerikanische Offizier hörte mir verdutzt zu, schüttelte den Kopf und sagte: »I’m not a tourist.« Dann schenkte er mir eine Tafel Cadbury-Schokolade. Die erste Schokolade nach vielen Jahren. So etwas bleibt in Erinnerung. Einzelerlebnisse. Man soll sie nicht verallgemeinern. Aber ich hatte damals immer Hunger. Die Uhr hätte ich in letzter Not gegen ein Brot umgetauscht. Der eine nahm mir von dem wenigen, was ich noch hatte, etwas weg, der andere schenkte mir etwas.

Ich erzähle, wie ich den Weg aus der sowjetischen Besatzungszone nach Westen, nach Süddeutschland fand.

Teil II enthält den Bericht über das erste Wiedersehen mit Schlesien nach achtundfünfzig Jahren im Jahre 2003, meinen Schmerz, das Ende aller Illusionen, meine Verlorenheit in dem Verlorenen.

Ich wollte nicht, dass das der Schlusspunkt war, und fuhr daher im gleichen und im darauffolgenden Jahr nochmals nach Schlesien. Ich wollte mir eine zweite Chance geben. Ich wollte etwas finden, was einen Weg in die Zukunft weist, und nicht nur die mit Leid und Kummer beladenen Erinnerungen. Ich fand das bei den Gesprächen mit den Menschen, mit den in Schlesien nach 1945 gebliebenen Deutschen und den wenigen, denen es gelang, nach der Wiedervereinigung Deutschlands hier wieder Fuß zu fassen, und in zahlreichen Begegnungen mit polnischen Schlesiern. Polnische Schlesier. Das muss man erst einmal verarbeiten. Schlesier sind für mich immer Deutsche. Kaum jemand in Niederschlesien hatte Polnisch gesprochen, obgleich die Grenze zu Polen nicht allzu weit entfernt war. Jetzt ist in dieser Provinz Polnisch die Nationalsprache, alle Städte und Straßen haben polnische Namen. Nur die Natur, die Oder, das Riesengebirge, sie ist noch so wie damals. Kann sich ein Bayer vorstellen, dass in Bayern neunzig Prozent der Bevölkerung Tschechen sind, tschechische Bayern, und er, wenn er mit den Menschen sprechen will, einen Dolmetscher braucht? Ich war doch zu Hause. Wieso brauche ich einen Dolmetscher? Eine Wiedersehens-Erfahrung, eine Erfahrung, die Millionen Flüchtlinge in aller Welt machen werden, wenn sie zurückkehren in das verlorene »Land ihrer Väter« und ihnen unbegreiflich erscheint, was doch mit Händen zu greifen ist.

Das Verständnis vieler Polen für meine Gedanken und Gefühle hat mir geholfen. Politische Argumentation hätte alle Quellen eines Neubeginns verstopft. Das alles schildere ich in Teil III. Zu diesem Thema gehört auch Teil IV, »Die Botschaft der Dichter«. Ihre Werke sind untrennbar verbunden mit diesem Land, seinen Menschen, seiner deutschen Geschichte, seiner Kultur, so wie die Bücher von William Faulkner mit dem Süden der USA, die von Anton Tschechow mit der russischen Provinz und die Romane von Tomasi di Lampedusa mit Sizilien. In »Die Botschaft der Dichter« steht unendlich vieles, was man von Schlesien wissen muss, um zu begreifen, was mit uns geschah. Und sie sind unverloren, in jedem Buchgeschäft in Deutsch erhältlich.

Wir werden die Welt nie begreifen, aber wir müssen versuchen, uns darin zu finden, uns nicht darin zu verlieren.

Werner Gille

München, im Sommer 2015