Jean Paul sich als Reisenden vorzustellen und gar als Reiseschriftsteller fällt schwer. Die von ihm erkundete Welt ist – selbst für Verhältnisse des 18. Jahrhunderts – klein: Im Norden kam er nicht über Berlin hinaus, im Süden nicht über München; im Westen erreichte er in Mainz gerade die Rheinlande, im Osten die sächsische Hauptstadt Dresden. Das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland verließ er nur einmal knapp, als er 1797 Emilie von Berlepsch im böhmischen Franzensbad besuchte. Die äußere Welt interessierte ihn nur wenig und eine Reise konnte schnell verdorben sein, wenn die Unterkunft oder die Verpflegung nicht waren wie zu Hause. In Nürnberg 1823 – es sollte eine seiner letzten Reisen sein – notierte er: »Wie immer hab ich eine besondere Wollust, am fremden Orte – zu Hause zu bleiben und so recht die fremde Stadt im eignen Zimmer zu genießen und in Häuslichkeit.«1 Das Bedürfnis auch unterwegs zuhause zu sein, äußerte sich schon 1803, als er eine mit dem Herzog von Meiningen unternommene Reise nach zehn Tagen abbrach und nach Hause zurückkehrte; an seinen Bayreuther Freund Emanuel, der Jean Paul in Meiningen regelmäßig mit Bayreuther Bier versorgte, schrieb er, er sei nicht nach Rudolstadt mitgefahren »aus Furcht der Schlos-Feste und aus Sehnsucht nach Frau und Bayreuther Bier, dessen Mangel mich schon in Weimar krank gemacht – sondern 8 Tage früher hieher gekommen war. [...] In Weimar besonders in der Kälte fühlt’ ich was ich Ihrem Bier verdankte. Dieser harte Winter hätte aus den Narben, die mir sein harter 99 ger, 80 ger Bruder gegeben, die tiefsten Wunden gemacht [...], wäre nicht Ihr Bier gewesen, meine Lethe, mein Paktolusflus (wie wohl er mir Gold mehr weg- als zuführt), mein Nil, meine vorlezte Ölung, mein Weihwasser u. dergl.«2 Gastgeber und Gastgeberinnen, die Jean Paul kannten, legten großen Wert darauf, ihm in der Fremde sein Zuhause zu bereiten; die Tochter des Theologen Sophie Paulus in Heidelberg, die mit Jean Paul ein schwärmerisches Verhältnis verband, schrieb ihm Ende 1817 in Erwartung seines zweiten Besuchs im Frühsommer: »Ich wünsche dass Sie dann so gerne in unser Hauss und in mein Stübchen einziehen möchten, als Vater und Mutter und soll ich auch noch dazu sezen, ich, Sie darin aufnehmen würden. Es soll gewiss alles nach Ihrem Sinn eingerichtet, Sie sollen durch nichts gestört werden. [...] Dass Sie gerne des Abends gebrannte Mehlsuppe essen weiss ich schon, was ich noch nicht weiss werde ich vorher erfahren. Für weissen französischen Wein sorgt die Mutter; für Ihre Nachmittags Lectüre der Vater.«3 Eine Häuslichkeit anzubieten, die diesen Gast vergessen macht, dass er sich auf Reisen befindet, war sichtlich auch das Bestreben anderer Bekannter und Freunde in Heidelberg, Stuttgart oder Dresden. In Dresden war es einige Jahre später Luise Förster, die ihm mitteilen musste, dass bei dem erhofften neuen Besuch sein Quartier von 1822 vor dem ›Weißen Tore‹ bei einem gewissen Aderhold nicht mehr zu haben sein werde, dass er aber in einer der besten Herbergen der Stadt nicht nur billiger, sondern genauso häuslich mit Blick auf die Elbe wohnen und – besonders wichtig – einen Garten nutzen könne.4
Jean Paul sollte freilich Dresden nicht mehr betreten. Aber seine beiden Besuche dort, die durch Briefe und wie im zweiten Fall auch durch ein Tagebuch dokumentiert sind, bieten interessante Einblicke in seine Reisegewohnheiten. Erstmals war er 1798 in Dresden; von diesem Besuch schrieb er an Christian Otto: »Von Dresden wil ich noch nichts ausheben als den Abgussaal, der sich gestern wie eine neue Welt in mich drängte und die alte halb erdrükte. [...] Du findest da den Unterschied zwischen der Schönheit eines Menschen und der Schönheit eines Gottes; jene bewegt, obwohl sanft, noch der Wunsch und die Scheu; aber diese ruhet fest und einfach wie der blaue Aether vor der Welt und der Zeit und die Ruhe der Volendung, nicht der Ermüdung blikt im Auge und öfnet die Lippen. [...] So oft ich künftig über grosse oder schöne Gegenstände schreibe, werden diese Götter vor mich treten und mir die Geseze der Schönheit geben. Leider hat so gar der gemilderte Faun Aehnlichkeit mit der Wirklichkeit, gegen die einen die affektlosen schönen Formen einnehmen. Jetzt kenn ich die Griechen und vergesse sie wieder. Über die neuen Weltkugeln und Weltsonnen in der Bildergallerie solst du noch astronomische Ephemeriden haben.«5 Jean Paul hatte die Mengs’sche Abgusssammlung sowie die Gemäldegalerie besucht (erstere seit 1794 im Erdgeschoss des Galeriegebäudes, des ehemaligen Stallbaus, untergebracht); die Abgüsse nach berühmten antiken Statuen sind ihm Anlass für ein Bekenntnis zu einem Klassizismus Winckelmann’scher Prägung, zur Evokation einer Schönheit aus ›edler Einfalt und stiller Größe‹, die nun freilich für sein eigenes Schreiben nicht maßgeblich sein sollte; so ist denn die Versicherung, diese Idee von Schönheit sei für ihn maßgeblich, auch mit dem Wörtchen ›künftig‹ zum Vorsatz eingeschränkt und zuletzt durch den Satz von Kenntnis und Vergessen der Griechen konterkariert. Zur Bildergalerie, an deren Berühmtheit in der Zeit nicht der mindeste Zweifel bestehen konnte, aber findet er keine Worte, die angekündigten Emphemeriden (!) hat er Otto, soweit wir wissen, nie zukommen lassen. Fehlten ihm Sprache und Kenntnisse, um die Eindrücke hier in Schrift zu bringen? Sollte umgekehrt seine Begeisterung für die Abgüsse sich etwa gar nicht der Anschauung, sondern der Lektüre Winckelmanns (die in den Exzerpten mehrfach bezeugt ist) verdanken? Den Faun jedenfalls hatte bereits Winckelmann als unterste Stufe der Schönheit und der menschlichen Wirklichkeit am nächsten stehend begriffen.6
Dass Jean Paul auf seinen verschiedenen Reisen für ›Sehenswürdigkeiten‹, für Bildergalerien zumal, nur wenig Interesse aufbrachte, selbst wenn sie so berühmt waren wie die Dresdens, ist auch andernorts zu beobachten. Im September 1801 unternahmen er und seine Frau eine Reise nach Kassel, um dort wegen Carolines angeschlagener Gesundheit einen Arzt zu konsultieren. Dabei absolvierte das Ehepaar ein kleines touristisches Programm, das den Park von Schloss Wilhelmshöhe und das einstmals recht bekannte Marmorbad (das Wilhelm Heinse bei seinem Besuch in Kassel wegen seiner sinnentleerten Pracht abstieß)7 ebenso einschloss wie die berühmte Gemäldegalerie. Von den Einzelheiten dieses Programms wissen wir einzig aus einem Brief, den Caroline Richter eine Woche später schon wieder aus Meiningen an ihren Vater schrieb, durchaus detailliert bis zu einzelnen Gemälden das Gesehene würdigend. Umso schärfer heben sich Jean Pauls Briefe davon ab, die sich der Weitergabe jeglicher Anschauung verweigern und reale Orte allenfalls als Metaphern für Seelenzustände während und nach der Reise gelten lassen. An Emanuel schreibt er am 1. Oktober 1801: »Wir waren in Cassel und beinah so seelig als in unserer Stube. Meine C[aroline] hat wieder den Panzer der festesten Gesundheit am Leib, den der Teufel gerade in Bayreuth durchlöchert hatte. — Die Freuden liegen wie Gärten um uns und wir sind die seeligen ersten Eltern in diesem Eden.«8 Und an Christian Otto einige Tage darauf, jeden Bericht ausdrücklich verweigernd: »Über den durchaus reinen und grossen Sonnenglanz der Wilhelmshöhe spreche der Teufel, der mehr Zeit hat, zu malen als Leute, die er holt.«9
Die napoleonischen Kriege erlaubten Jean Paul über Jahre nicht, längere Reisen zu unternehmen; 1810, 1811 und 1812 war er in der fränkischen Umgebung seines Wohnsitzes Bayreuth unterwegs: Bamberg, wo er E.T.A. Hoffmann begegnete, Erlangen und Nürnberg, wo er das einzige Mal seinen langjährigen Briefpartner Friedrich Heinrich Jacobi in persona traf. Erst 1816, nach dem Friedensschluss, nahm Jean Paul seine Reisen wieder auf. Die Gewohnheiten änderten sich dabei gegenüber früher kaum – es änderte sich jedoch die Art sie zu erzählen. Das betrifft einmal die Briefe. Von den verschiedenen Reisezielen schickte Jean Paul lange Erzählbriefe nach Hause, beginnend oft schon am Tage nach der Abreise. Adressaten waren seine Frau Caroline sowie seine beiden Bayreuther Freunde, der jüdische Kaufmann Emanuel Osmund und der privatisierende Jurist Christian Otto. Emanuel und Otto erhielten oft einen gemeinsamen Brief, wobei Jean Paul durchaus erwartete, dass die Briefe zwischen der Familie und den Freunden hin- und hergereicht werden. War einmal etwas nicht für andere Ohren als für die Carolines bestimmt (beispielsweise weil es den häufigen Streit zwischen ihnen betraf), so schrieb Jean Paul das auf ein gesondertes Blatt mit dem Vermerk »Für dich allein.«10 Die Briefe gingen oft über mehrere Tage, sie waren in Carolines Fall Teil eines Dialogs (auch zur Organisation der Reise), und sie hatten neben eigenem (etwa gesundheitlichen) Befinden vor allem die Begebenheiten und die Begegnungen unterwegs, die Menschen selber, zum Gegenstand. Jean Paul blieb seinem früheren Reisen treu; er besichtigte wenig, verbrachte viel Zeit lesend, schreibend und in Gesellschaften, nicht selten mehrmals am Tag und zu verschiedenen Mahlzeiten. Aus seinen Briefen sowie aus Band 7 und aus Band 8 (für 2014 geplant) der Briefe an ihn lassen sich diese späten Reisen (und ihre Nachwirkungen) recht genau verfolgen.
Vor allem aber geben die späten Reisetagebücher, die sich in seinem Nachlass erhalten haben, für einige Wochen und Monate der Jahre 1817 bis 1820, sowie 1822 und 1823 einen Jean Paul von ›Tag zu Tag‹. Interessant sind insbesondere die Blätter aus Stuttgart, München und Dresden, weil sie eine literatur- und kulturgeschichtliche Momentaufnahme aus dem ersten Friedensdezennium seit 1789 geben; nebeneinander stehen hier erstrangige Figuren aus der Literatur- und Kunstwelt neben heute vergessenen Gelehrten. Aus diesen Tagebüchern und Briefen nach 1816 wird aber noch etwas anderes deutlich, nämlich wie sehr Jean Paul ein Star geworden (oder wieder geworden) war: Ein moderner Starkult um einen Künstler ist zu Anfang des 19. Jahrhundert in Deutschland vielleicht nie intensiver zelebriert worden wie um diesen Dichter. Kreischende Mädchen mögen ihm erspart geblieben sein, aber die vielen Besucherinnen, die ihn um eine Locke anflehten, können nicht viel weniger hysterisch gewesen sein (die Locken musste dann übrigens meist sein Pudel opfern).
Schließlich zeigen diese späten Briefe und die Tagebücher der Reisen einen anderen Autor Jean Paul als den, der er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes um 1800 gewesen war; damals war die Wirklichkeit eine zu erschreibende gewesen und alles, was nicht Schrift war, unwirklich – so hatten es seine Leserinnen gesehen, die sich den Klotilden und Rosinetten seiner Bücher anzuverwandeln bemühten, so hatte es aber auch Jean Paul gesehen, dem noch jede Satire sich im Furor ihrer rhetorischen Bildketten und Flügelschläge auflöste. In den späteren Jahren aber, ausgelöst vermutlich ebenso durch die übermächtigen historischen Kriegskatastrophen wie durch die tägliche Realität des Familienlebens, denen er in der Rollwenzelei nur stundenweise entkommen konnte, gewann er offenkundig einen neuen Blick auf das Leben, der nicht nur rhetorisch bestimmt war. Das wird im komischen Roman »Der Komet« fassbar, schon in der etwas antiquierten Gattungsbezeichnung, die im 18. Jahrhundert einen realistischen Anteil im Buch ankündigte und auch von Jean Paul für einen Desillusionierungsroman in der Tradition des »Don Quijote« aufgenommen wurde. Vielleicht ist »Der Komet« auch als Selbstsatire gegenüber dem allzu ichhaltigen, allzu sehr in seine ätherischen Sprachschlösser verliebten jüngeren Autor zu lesen (der ja als Kandidat Richter Teil der kleinen Reisegruppe ist). Die Reisetagebücher jedenfalls und die Reiseerzählbriefe sind ein wesentlicher Teil jenes welthaltigeren Spätstils, der in »Der Komet« gipfelt; ohne sie bleibt das Bild des alten Dichters lückenhaft.
Im Jahre 1816 reiste Jean Paul nach Regensburg; der Besuch galt seinem alten Gönner Carl Theodor von Dalberg. Der ältere Bruder des als Intendant am Mannheimer Nationaltheater berühmt gewordenen Wolfgang Heribert von Dalberg und des Musiktheoretikers und Komponisten Johann Friedrich Hugo von Dalberg hatte noch im Ancien Régime eine bemerkenswerte geistliche und weltliche Karriere begonnen; seit 1765 in kurmainzisischen Diensten, war er 1771 mit der Neuordnung der Universität Erfurt beauftragt worden (wohin er Wieland berufen ließ) und stieg 1787 zum Koadjutor des Mainzer Fürstbischofs Friedrich Carl Joseph Freiherr von Erthal auf. Als er 1802 dessen Nachfolger wurde, waren die Strukturen des alten Reichs unter dem Druck Napoleons schon weitgehend zusammengebrochen und das alte Kurmainz in Auflösung begriffen. Die Stadt Mainz selber fiel an Frankreich, die herausgehobene Stellung des Mainzer Bischofs im deutschen Klerus und das Amt des Reichserzkanzlers gingen an Regensburg. Als Napoleon 1806 den Rheinbund ins Leben rief, machte er Dalberg als Fürstprimas zu dessen nominellem Vorsitzenden; damit wurde Dalberg einer der wichtigsten Verbündeten des französischen Kaisers in Deutschland. Einige Jahre später nahm ihm Napoleon sein weltliches Fürstentum Regensburg weg (das an Bayern fiel) und entschädigte ihn mit dem neuen Großherzogtum Frankfurt. Als Großherzog von Frankfurt trug Dalberg 1809 Jean Paul (und dem damals hochgeschätzten Dramatiker Zacharias Werner) die Mitgliedschaft im Frankfurter Museum an, eine Ehre, die mit wenigen Verpflichtungen (vor allem dem gelegentlichen Abfassen von Aufsätzen) und einer Pension von 1.000 Gulden verbunden war. Als Dalberg 1813 die weltliche Macht verlor und sein Großherzogtum aufgelöst wurde, drohte Jean Paul in den Strudel mitgerissen zu werden und sein Auskommen zu verlieren (die Pension wurde schließlich vom bayerischen König Maximilian übernommen). Dalberg beschränkte sich auf sein kirchliches Amt in Regensburg, aber auch innerhalb der Kirche hatte er gegen den Ruf zu kämpfen, er sei ein Verräter an der römischen Kirche gewesen, der die Gründung einer deutschen Nationalkirche angestrebt habe.
Jean Pauls Reise galt also einem Verlierer, dem er einst viel verdankt hatte, ohne ihn je gesehen zu haben, und er galt einem schwer angeschlagenen alten Mann, an dessen geistiger Gegenwart, die Jean Paul gegenüber Caroline beschwört, angesichts seiner Briefe zuweilen Zweifel aufkommen. Die drei Sommerwochen (14. August – 6. September) waren weitgehend von Gesprächen über Philosophie, Physik und Mathematik (!) bestimmt, aber nicht ausschließlich. Besuche bei Ludwig von Oertel, dem Bruder seines früh verstorbenen Jugendfreundes Friedrich Benedikt, der Fürstin von Thurn und Taxis, einer Schwester der Königin Luise und einer der Widmungsträgerinnen des »Titan«, begleiteten sein Programm.
Ein Tagebuch von dieser Reise begann Jean Paul kurz vor oder bei der Abreise anzulegen; das Titelblatt des heute gehefteten Konvoluts vermerkt: »Regensburg / August vom 15ten bis / 1816«, das Abreisedatum bleibt offen, die folgenden Notizen sind unspezifisch mit Ausnahme einiger Seiten zum Geburtstag Dalbergs.11 Während er das geplante Tagebuch nicht führte, geben die Briefe nach Bayreuth ausführlich Bericht von dieser ersten Friedensreise.
Jean Pauls Reise nach Heidelberg im Sommer 1817 (2. Juli – 26. August) ist vielleicht die wichtigste Unternehmung dieser Art in den letzten Jahren. Angelockt wurde Jean Paul durch einige am Neckar wohnende neue Bekannte. Heinrich Voß, der Sohn des Dichters und Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß, war zunächst als Gymnasiallehrer in Weimar angestellt gewesen und hatte mit Schiller an dessen Bühneneinrichtung des »Othello« gearbeitet. Nach einer schweren Erkrankung zog er zu den Eltern nach Heidelberg, wo er eine Professur für Philologie ausfüllte; außerdem arbeitete er zusammen mit dem Vater und einem Bruder an einer vollständigen Übersetzung von Shakespeares Dramen. Für Jean Paul war der junge Voß bis zu dessen frühem Tod 1822 als Korrespondent wie als Leser (er korrigierte die Manuskripte, die an den Heidelberger Drucker Engelmann gingen, und las die Fahnen) ein wichtiges Gegenüber. Henriette von Ende hatte die Familie Richter in Bayreuth 1814 besucht, als sie ihrem Sohn, der die Universität bezog, nach Heidelberg folgte. Seither versuchte sie Jean Paul an den Neckar zu locken und als es ihr 1817 gelang, waren sie und Voß diejenigen, die ihn am intensivsten betreuten, ihm die Unterkunft zunächst im ›Goldenen Hecht‹, dann beim Theologen Friedrich Heinrich Christian Schwarz verschafften. Schließlich die Familie des Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus; dessen Frau Karoline hatte Jean Paul bereits einige Jahre zuvor angeschrieben, wohl auf Betreiben ihrer Tochter Sophie.12 Die wechselseitige Affinität des bald vierundfünfzigjährigen Dichters und der sechsundzwanzigjährigen jungen Frau ist noch aus der insgesamt spärlichen Korrespondenz mit Händen zu greifen; und Jean Pauls späte Liebe hätte beinahe seine Ehe mit Caroline Richter zerstört.
Der Aufenthalt in Heidelberg geriet zu einem gesellschaftlichen Großereignis mit Zügen eines Spektakels. Die Professoren der Universität, an ihrer Spitze Hegel, verliehen ihm die Ehrendoktorwürde, die Studenten brachten ihm, dem »Lieblingsdichter der Deutschen! Dem Kämpfer für Freiheit und Recht!«, ein Vivat dar, wovon ein gewisser Woldemar von Dittmar in Cottas »Morgenblatt für gebildete Stände« am 21. Juli einen Bericht gab13, der bis ins Baltikum ein Echo gefunden haben soll. Von einer Fahrt auf dem Neckar mit anschließendem Fest berichtete Jean Paul nach Bayreuth,14 von den Singakademien beim Hofrat Anton Friedrich Justus Thibaut (wo alte italienische Kirchenmusik neu erarbeitet und aufgeführt wurde) und von Ausflügen nach Mainz und Mannheim (wo eine Aufführung von Gaspares Spontinis Oper »La Vestale« eigens für ihn arrangiert wurde). Von alledem gibt das Tagebuch der Reise nur einen schwachen Eindruck; dieses umfasste ursprünglich sechs geheftete Doppelblätter (heute aufgelöst); ein Titelblatt mit der Aufschrift »Heidelberg/2ten Juli bis / 1817« deutet darauf hin, dass Jean Paul das kleine Heft zu Beginn der Reise anlegte; dazu passen die auf der Rückseite notierten Reiseutensilien. Nach Antritt der Reise aber verließ Jean Paul die Lust, Reisenotizen zu machen: Die folgenden durchnummerierten Einträge sind Gedankensplitter, wie sie den ganzen Nachlass Jean Pauls durchziehen. Nur die Nummer 7 bezieht sich auf den Ort, wo sie niedergeschrieben wurde: Würzburg. Als hätte Jean Paul seine Eindrücke nicht mehr zu ordnen vermocht, notiert er freilich ab dem 20. Juli die Tagesprogramme, und zwar auf Blatt 10v, drei Seiten leer lassend, also wohl nicht zu den übrigen Notizen gehörig gedacht. Eine Überschrift vermerkt den Zweck dieser Notate, nämlich sie für einen zweiten Brief an Caroline Richter zu verwenden. Dieser zweite Brief (vom 23.–30. Juli 1817) sah dann freilich anders aus, als das Notierte erwarten lassen könnte.15 Nach dem 1. August schreibt Jean Paul auf die leer gelassenen Blättern vor den Briefnotizen für Caroline Tageseinträge von den Ausflügen nach Mainz und Mannheim bis kurz vor der Rückreise aus Heidelberg nach Bayreuth.16 Tagebuchartige Notate waren von Anfang an geplant, zustande kamen sie dann aber erst als Vorbereitung der langen Briefe nach Bayreuth, als Erinnerungsstützen gewissermaßen.
Trotz der Krise in seiner Ehe, die seine Reise nach Heidelberg im Vorjahr ausgelöst hatte, reiste Jean Paul vom 26. Mai bis zum 4. Juli 1818 erneut in den Südwesten Deutschlands. Von dieser Reise sind nur rudimentäre Aufzeichnungen überliefert, die wie schon die des Vorjahrs im Wesentlichen als Gedächtnisstützen für die Korrespondenz dienten. Einige große, erzählende Briefe an Caroline, Emanuel und Otto hingegen berichten auf ihrer Grundlage aus Frankfurt von dem regen gesellschaftlichen Leben, das er am Sitz der Bundesversammlung, des wichtigsten Organ des Deutschen Bundes, wo entsprechend viele Diplomaten lebten, führte, aber auch von der Bootsfahrt und dem Feuerwerk, das für Jean Paul auf dem Main veranstaltet wurde. Aus Heidelberg klingen die Briefe freilich deutlich gedämpfter: Sophie Paulus wurde inzwischen von August Wilhelm Schlegel umworben, mit dem sie sich Ende August 1818 vermählte (die bald aufkommenden Spekulationen über die unglückliche Ehe fanden auch Eingang in Briefe an Jean Paul).
Kurz nach der Rückkehr begann Jean Paul die Niederschrift der »Selberlebensbeschreibung«; im Zusammenhang damit war bei ihm schon länger immer wieder ein besonderes Interesse an familiären und autobiographischen Realien aufgeblitzt, etwa wenn er im Oktober 1818 in Joditz Halt machte, um beim dortigen Pfarrer Auskunft über seinen Vater einzuziehen.17 Auch wenn er die Niederschrift schon im Januar 1819 abbrach, ist die begonnene Autobiographie ebenso wie die Arbeit an Neufassungen älterer Werke und die Planungen für die ›opera omnia‹ ein Symptom dafür, dass Jean Paul sich inzwischen selber Geschichte geworden war. Das Interesse an seinem gegenwärtigen Dasein als Teil einer künftigen Lebensgeschichte Jean Pauls (die zu schreiben er anderen überließ) mag ihm den Vorsatz eingegeben haben, die Ausbrüche aus dem Bayreuther Alltag künftig immer mit Notaten zu begleiten. Es ist jedenfalls auffällig, dass er künftig vor allen Reisen Tagebücher anlegte, wenn auch zuletzt wieder nicht mehr wirklich ausführte.
Vom 4. Juni bis zum 12. Juli 1819 reiste Jean Paul nach Stuttgart. Stuttgart war Wohnsitz seines wichtigsten Verlegers Johann Friedrich Cotta. Dieser war bereits 1797 an Jean Paul herangetreten, doch erschien erst fünf Jahre später im »Taschenbuch für Damen« auf das Jahr 1803 Jean Pauls erster Beitrag für ihn. Mit der Gründung des »Morgenblattes für gebildete Stände« 1807 begann eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, bei der Jean Paul allein für das »Morgenblatt« über vierzig Beiträge lieferte und umgekehrt Cotta von den »Flegeljahren« an die Mehrzahl der neuen Werke Jean Pauls verlegte. Die Reise nach Stuttgart fand allerdings statt, als die Geschäftsbeziehungen sich lockerten, von Seiten Cottas sicherlich, weil keine großen Gewinne mehr zu erwarten waren – und weil sich ein neuer Verleger, der die Rechte an vielen alten Büchern besaß, ins Geschäft mit Jean Paul gedrängt hatte: Georg Reimer in Berlin. Trotzdem blieb die Beziehung zu Cotta bis zu Jean Pauls Tod bestehen, und noch immer schrieb er regelmäßig für die Periodika des Stuttgarter Verlagshauses. In Stuttgart verkehrte er so natürlicherweise im Kreise von Cotta und dessen erster Frau; wichtiger aber noch war vielleicht der damals nicht unbekannte Epigrammatiker Friedrich Haug: Haug, ein Jugendfreund Schillers, war seit 1807 Redakteur des »Morgenblatts« (ein persönlicher Kontakt mit seinem Autor stellte sich allerdings erst 1814 ein) und in der Stuttgarter Gesellschaft so gut vernetzt, dass er Jean Paul vielen seiner Bekannten vermitteln konnte. Dazu gehörte der einflussreiche Lyriker Friedrich von Matthisson, dessen elegischer Ton seit der ersten Ausgabe seiner Gedichte 1787 zahlreiche Nachahmer gefunden hatte. Matthisson lebte als Theaterintendant und Hofbibliothekar in Stuttgart und stand in freundschaftlicher Beziehung zur Herzogin Friederike Franziska Wilhelmine von Württemberg (deren Mann ein Bruder des württembergischen Königs Friedrichs I. war), in deren Haus Jean Paul bald verkehrte. Zu den Freunden Haugs gehörte auch der klassizistische Bildhauer Johann Heinrich Dannecker; in dessen Haus am Schlossplatz, einem gesellschaftlicher Mittelpunkt (›Danneckerei‹), ein Besuch Jean Pauls verbürgt ist. Schließlich Therese Huber: Die Tochter des berühmten klassischen Philologen Christian Gottlob Heyne, Witwe Georg Forsters und Ludwig Ferdinand Hubers, war eine angesehene Belletristin; als Nachfolgerin Haugs war sie von 1816 an Redakteurin des »Morgenblatts«. Jean Paul traf sie nicht nur bei Cotta, sondern sie empfing ihn auch bei sich. Das änderte allerdings nichts daran, dass sie ihm wenig gewogen war; dies jedenfalls lässt ein Brief an Henriette von Redern schließen, wo sie wenig freundlich nicht nur von seinen Trinkgewohnheiten, sondern zudem von einer verunglückten Begegnung mit Caroline von Humboldt bei Cotta berichtet.18
Auch aus Stuttgart haben sich einige längere Briefe nach Hause erhalten. Das Tagebuch aber ist hier mehr als nur Gedächtnisstütze, gewinnt offenkundig ein Eigenleben, bei dem immer wieder die Lust an gewissermaßen satirisch beobachteten und so auswertbaren Situationen durchbricht. Daneben gibt dieses Tagebuch wie die folgenden den Blick frei auf einen Moment intellektuellen und gesellschaftlichen Lebens, hier in Stuttgart, danach in Löbichau, München und Dresden.
Die Herzogin Dorothea von Kurland gehörte zu jenen emanzipierten Frauen der napoleonischen und nachnapoleonischen Aera, die kraft ihres Vermögens und ihrer Stellung nicht nur gesellschaftlich, sondern auch erotisch ein freies Leben führten. Die 1761 geborene Tochter des Reichsgrafen von Medem heiratete 1779 den wesentlich älteren Peter Graf Biron, Herzog von Kurland. Als 1795 sein Herzogtum durch Russland geschluckt wurde, erhielt er eine riesige Abfindung, die ihn zu einem der reichsten Männer Europas machte. Das Paar zog sich auf seine Besitztümer in Schlesien (insbesondere Sagan zurück) und erwarb dazu in Berlin das Schloss Friedrichsfelde sowie das Kurländische Palais Unter den Linden (auf dessen Gelände steht heute die russische Botschaft). Hier betrieb die Herzogin einen wichtigen Salon der Hauptstadt; die Sommermonate verbrachte sie oft auf dem Rittergut Löbichau nahe Altenburg, wohin sie Schriftsteller und Gelehrte einlud, mit denen sie und diese untereinander einen lebendigen Austausch führten. Während sie ihren winterlichen Lebensmittelpunkt nach 1808, als sie die Geliebte Talleyrands wurde, nach Paris verlegte, wurden die Löbichauer Sommer weiter begangen, zunehmend unter Beteiligung ihrer Töchter Dorothea (die einen Neffen Talleyrands heiratete und ihre Mutter als Geliebte des Onkels ablöste), Wilhelmine von Sagan und Pauline von Hohenzollern. Regelmäßige Gäste waren auch ihre Halbschwester Elisa von der Recke und deren Lebensgefährte, der Dichter Christoph August Tiedge, sowie Henriette von Ende, die den Sommer 1819 ebenfalls dort verbrachte. Die Herzogin versuchte Jean Paul schon 1818 für einen Besuch zu gewinnen, als sie auf der Reise von Paris nach Thüringen in Bayreuth Halt machte, während dieser sich Frankfurt und Heidelberg befand. Im Mai 1819 traf sie ihn in Bayreuth an; ihre Einladung wiederholte ihre Gesellschafterin, die Gräfin Chassepot, im Juni und drängender im August, so dass Jean Paul schließlich einlenkte.19 Er war unzweifelhaft die Hauptfigur dieses Löbichauer Sommers, dessen Gesellschaft ein Aquarell von Ernst Welker dokumentiert. Die Szene darauf – die »Krönung Frauenlobs 2ten« – erzählt Jean Paul in einem kleinen Beitrag für Cottas »Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1821«; dieses »Briefblättchen an die Leserinn des Damen-Taschenbuchs bey gegenwärtiger Uebergabe meiner abgerissenen Gedanken vor dem Frühstück und dem Nachtstück in Löbichau« gibt einen weitschweifenden Eindruck der Löbichauer Gesellschaft und ihres Lebens auf dem Rittergut.20 Grundlage dafür war neben den Briefen das an Ort und Stelle geführte umfangreiche Tagebuch.
Vom 27. Mai bis zum 12. Juli 1820 reiste Jean Paul nach München; Anlass zu dieser Reise bot sein Sohn Max, der dort seit Oktober 1819 das Lyzeum besuchte, eine zwischen Gymnasium und Universität stehende Einrichtung (die in Bayern ursprünglich der Ausbildung von Priestern gedient hatte). Von dieser Reise existiert ebenfalls ein umfangreiches Tagebuch, das an vielen Stellen über die bloße Aufzählung von Begegnungen hinausgeht. Landschaftsskizzen auf der Hinfahrt, Gesellschaftsskizzen in München, Fetzen von Gesprächen, Beobachtungen zur Bürgerlichkeit der königlichen Familie, aber auch die körperlichen Schmerzen nach einem Unfall in Nymphenburg trägt Jean Paul auf diesen Blättern ein; manches davon verwertet er in den Briefen nach Bayreuth. Im wesentlichen verkehrt er unter Gelehrten und höheren Beamten: Den Altertumsforscher Adolf Schlichtegroll und dessen Frau Auguste kannte Jean Paul seit 1797, als Schlichtegroll noch Gymnasiallehrer in Gotha war; seit 1807 wirkte er als Akademiesekretär in München. Karl Christian Ritter von Mann, Edler von Tiechler, war Präsident des Appellationsgerichts für den Isarkreis, Kunstsammler und Vorstandsmitglied des Polytechnischen Vereins. Zu den weiteren Bekannten gehörten der berühmte Anatom Samuel Thomas Soemmerring, der einflussreiche Kabinettsprediger am Hof Ludwig Friedrich Schmidt, der Philologie Friedrich Thiersch (bei dem Max studierte) und der Oberfinanzrat Julius Konrad von Yelin. Außer Schmidt waren sie alle Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (und so wurde Jean Paul denn auch als auswärtiges Mitglied in die philologisch-philosophische Klasse berufen) – und sie waren alle keine Münchner. Auguste Schlichtegroll berichtete nach seiner Abreise, er habe trotz der Bemühungen ihres Mannes wenig Münchner kennengelernt und diese daher für Barbaren gehalten; außerdem: »Aus diesen schreienden Beispielen können Sie absehen, wie wenig beweglich er ist, und daraus kann man sich auch erklären, daß er sich im allgemeinen nicht sehr in München gefallen hat.«21 Höhepunkte gab es bei dem Besuch trotzdem: Am 9. Juni erhielt Jean Paul eine Audienz bei König Max und Königin Caroline, am 11. Juni ein weiteres Mal bei der Königin, die 1816 bei dem Schadowschüler Johann Conrad Wilhelm Hildebrand eine Büste in Auftrag gegeben hatte. Groß war die Enttäuschung allerdings, als er in der Königin keineswegs eine passionierte Leserin seiner Bücher fand; vielmehr kannte sie ihn aus der überaus erfolgreichen, aber von ihm innig gehassten Blütenlese »Jean Pauls Geist oder Chrestomathie der vorzüglichsten, kräftigsten und gelungensten Stellen aus seinen sämtlichen Schriften«, herausgegeben vom Staatswissenschaftler Karl Heinrich Ludwig Pölitz!
Nach dem Tod seines Sohnes Maximilian im September 1821 verkapselte sich Jean Paul in seinem Schmerz. Seine Frau Caroline war es, die ihn dazu anregte, als Kur gegen die Melancholie im Frühsommer 1822 nach Dresden zu reisen (das er 1798 schon einmal besucht hatte). Hier lebte ihre Schwester Minna Spazier, die 1817 den Dresdner Königlichen Hoforgelbauer Johann Andreas Uthe geheiratet hatte. Minna besorgte für ihren Schwager eine Unterkunft vor dem ›Weißen Tor‹, nahe dem Japanischen Palais und ihrer eigenen Wohnung in der neustädtischen König-Straße. Sein Hauswirt, der Registrator Aderhold, verfügte hier vor allem über einen ansehnlichen Garten, der Jean Paul wichtig war und den er gern nutzte. Zahlreiche Verehrerinnen und Verehrer ließen die Stimmung der Heidelberger Tage lebendig werden; allerdings zeigt ein zweiter Blick auf das Tagebuch wie auf die Briefe, dass sein Besuch hier keinesfalls den selben gesellschaftlichen Aufruhr verursachte wie in der kleinen Universitätsstadt am Neckar. Zwar erschien nach seiner Abreise in der Dresdner »Abend-Zeitung« ein gereimter »Nachruf an Jean Paul Friedrich Richter« und dieser bedankte sich bei seinen Gastgebern mit einem kleinen Prosatext ebenfalls in der »Abend-Zeitung«.22 Aber diese Gastgeber gehörten zu Dresdens kultureller Prominenz, nicht unbedingt zur gesellschaftlichen, und der Hof scheint von der Anwesenheit des berühmten Dichters keine Notiz genommen zu haben: Jean Paul verkehrte im Wesentlichen unter den Mitgliedern des sogenannten Dresdner Liederkreises.23 Und wieder traf er die Freundin Henriette von Ende, die durch die meisten seiner Reisen irrlichtert.