cover

Im Gedenken an

Janosch und Wolfgang

R.I.P.

 

 

Brillantherz

 

 

Lee Ann Schoenfeldt

 

 

 

 

„Nichts ist schöner, als das Leben in einfachen Annahmen zu entdecken.“

Unbekannt I

 

Die nachfolgende Geschichte dient einzig und allein der Unterhaltung.

 

Lee Ann Schoenfeldt; Brillantherz; Roman

Copyright: © 2013, alle Rechte vorbehalten;

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt; Vervielfältigung und kommerzielle Nutzung nur mit Genehmigung der Autorin, auch auszugsweise

E-Mail: mail@leeschoenfeldt.de

www.leeschoenfeldt.de; www.leeschoenfeldt.com

ISBN: 978-3-00-042487-8

 

 

Cover: chris menke, München,

www.chris-menke.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print, Web, Software

 

„Bed Of Roses“

Musik & Text: Jon Bon Jovi

Universal PolyGram Int. Publishing, Inc., Bon Jovi Publishing / Universal Music Publishing GmbH

 

 

Alle Namen, Personen, Handlungen, Orte, Nummern und Autokennzeichen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder deren Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Buch

Der Schock sitzt tief. Gerade noch die große Liebe vor Augen, stürzt Charlotte Jung, sinnlich-erotische Fernsehmoderatorin mit männermordenden Rundungen, seelisch in den Abgrund. Claas Möller, ihr mächtiger Liebhaber, lässt sie gnadenlos fallen.

Und dann das! Ausgerechnet Frederick von Arnstein, Frauenheld und Tierklinikbesitzer, befördert ihren Hund ins Jenseits und verfällt im gleichen Atemzug ihren Reizen. Im Liebestaumel forciert er ihren Einzug in seine Villa. Ist er der starke Mann, den sie seit dem Tod ihres Vaters sucht?

In Ängste und Vorurteile verstrickt führt Charlotte ihr neues Leben auf eigene Art: mit Oberflächlichkeit und ungezügelter Liebeslust.

Doch dann gerät ihr Leben endgültig aus den Fugen. Das Brillantherz, das Frederick ihr zum 33. Geburtstag schenkt, löst nie gekannte Gefühle aus. Gefühle, die nicht mehr zu kontrollieren sind. Charlotte gerät in einen bizarren Strudel aus Sexfantasien, neuen Lebenserfahrungen und dem Entdecken der wahren Liebe.

Die Autorin

Lee Ann Schoenfeldt wurde 1970 geboren und wuchs in einem beschaulichen Städtchen auf – fernab vom Rummel der Großstadt. In die zog es sie erst später. Heute lebt sie in der Nähe von Frankfurt und hat ihren Traummann gefunden. Nach einigen Hürden und Hindernissen, wie immer im Leben, sonst wäre es auch nur halb so spannend. Ob er Vorlage für Frederick war, wer weiß.

Prolog

Claas Möller sah ungefähr so aus wie Daniel Craig. Allerdings war er größer. Um die einsneunzig, schätzte Charlotte. Er sah unverschämt gut aus. Und er war ein Sadist.

Irgendwann hatte sie ihn auch schon mit dem legendären Terminator verglichen, jenem emotionslosen Golem aus Stahl, der mit Maschinengewehren wild um sich schießend alles beseitigte, was sich ihm in den Weg stellte.

Sich mit Claas Möller einzulassen, war ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Man wusste nie, was geschah. Plötzlich kletterte man die Karriereleiter hoch oder stürzte gnadenlos ab. Einmal in Ungnade gefallen, konnte es geschehen, dass man in seinem Briefkasten Rechnungen von Firmen fand, die man nie beauftragt hatte oder Mahnbescheide mit Summen, deren Begleichung den finanziellen Ruin bedeutet hätte. Oder man wunderte sich, warum wochenlang die Telefonleitung tot blieb und die Hotline partout nicht helfen konnte ...

Stand man hingegen in seiner Gunst, erfolgte möglicherweise der Anruf einer noblen Privatbank, die dezent anfragte, wie man denn die hunderttausend Euro anlegen beziehungsweise wann man wegen eines Schließfaches zur Unterschrift kommen wolle, das Claas Möller randvoll mit Goldbarren bestückt hatte.

Es machte ihm Spaß, Menschen mit Ungewissheiten und Abhängigkeiten zu quälen, ihnen Ärgernisse zu bereiten und dann wieder Großzügigkeiten folgen zu lassen, denen man kaum widerstehen konnte. Zeigte man sich fügsam, wurde man von ihm belohnt. Beruflich und finanziell. Mit Dingen, die normalerweise unerreichbar blieben. Auf diese Art erzog Claas Möller die Menschen in seinem Umfeld zu hilflos ausgelieferten Befehlsempfängern.

 

Er hatte sie oft geküsst. Jedes Mal war sie danach ein willfähriger Spielball in seinen Händen. Ein klapperndes Gestell, das beim kleinsten Windstoß in sich zusammen fiel. Innerlich durcheinander geschüttelt, wie ein großer Koffer voller Legosteine.

Seine Küsse riefen unglaubliche Gefühlsregungen hervor. Sie speisten sich aus dem Glauben, man ganz alleine hätte einen bedrohlichen Eisberg zum Schmelzen gebracht.

Es war schwierig, Claas Möller zu entkommen, wenn er seine Verführungskünste aufbot. Selbst die Tatsache, dass er einen vorher klein machte, damit man gefügig wurde, verpuffte im Nirgendwo, sobald er einem vorführte, was man mit ihm zusammen alles haben und erleben konnte. Dabei wechselte er je nach Bedarf sein Gesicht und seine Stimmung – wie ein Chamäleon seine Farbe.

Er spielte gerne mit seinen Opfern, manipulierte sie. Wie ein Hypnotiseur versetzte er einen mit einer einzigen Handbewegung in Trance. Anschließend wartete man geduldig, was er einforderte. Erfüllte es artig. Teils aus Furcht vor dem mächtigen Bann, in den er einen zog, teils heillos gefangen in der Hoffnung, ihm doch noch nahe zu kommen.

 

Ihr Magen zog sich zusammen. Jetzt war es wieder soweit. Claas Möller deutete mit einer Handbewegung in seine Limousine. Mit einem Satz saß sie auf dem beigen Polster.

Sofort küsste er sie. Und sie? Legte den Zungenkuss ihres Lebens hin.

Mit Nachdruck fasste er unter ihren Rock und steckte an ihrem Höschen vorbei drei Finger in sie hinein. Tief drinnen vollzogen sie rhythmisch ihr Werk. Er wusste, wie man Frauen anfasste, womit sie willig wurden. Sturzbäche liefen in ihr hinab. „Wohin entführst du mich heute?“, stöhnte sie mit einem koketten Lächeln im Gesicht, das gleich darauf einem lustvollen Schrei wich.

Seine stahlblauen Augen fixierten sie mit einem durchdringenden Blick. Er bohrte sich in ihre Seele hinein: Bereitwillig öffnete sie alle Türen.
„Wart‘s ab, Püppchen“, sein Mund fuhr an ihrem Hals entlang.

Mit einem Ruck riss Charlotte ihre Bluse auf. Sie konnte ihre Begierde kaum bremsen. Als die Häkchen ihres BHs aufflogen, hatte sich Claas Möller ihrer Lust schon längst bedient. Es dauerte nur noch einen Bruchteil von Sekunden, bis ein heftiges Zucken ihren Unterleib erschütterte. Ermattet lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter.

 

Wenig später tauchte das Hotel auf. Ein Fünf-Sterne-Haus, Charlotte schielte aus den Augenwinkeln auf den Schriftzug. Es war bekannt dafür, dass allerlei mächtige Männer dort abstiegen. Heute musste Claas nicht viel Zeit haben, wenn er sein Ziel so direkt vor den Toren Frankfurts wählte.

Wie die Hexe bei Hänsel und Gretel bewegte er seinen Zeigefinger vor ihrer Nase vor und zurück. Sie wusste, was das hieß: Höschen her, bevor es ins Knusperhäuschen ging. Sie streifte es sich herunter.

Dann stiegen sie aus. Während er an der Hotelrezeption eincheckte, presste sie panisch ihre Vaginalmuskeln zusammen, aus Angst, jemand könnte vorne auf ihrem Rock einen Fleck entdecken.

 

Alles hatte auf diesem Finanzkongress angefangen, den sie moderierte. Er kam in einer der Pausen auf sie zu und lud sie zu einem Glas Wein ein. Gab ihr nebenbei Tipps, wie sie die Meute Anzugträger besser beeindrucken konnte. Sie war auf die Bühne gegangen und hatte tosenden Applaus geerntet.

Als sie die Treppen des Podiums hinabstieg, lehnte er lässig an einer der Säulen und deutete mit einem Fingerzeig nach draußen.

In seiner Limousine war sie sofort schwach geworden. Noch während er sie küsste und ihr die Sinne schwanden, versprach er ihr, dass sie ab sofort unter seinem persönlichen Schutz stünde; ihr nichts und niemand mehr etwas anhaben könne.

 

Dieses Gefühl hatte sie nie vergessen. Es war ein Gefühl der absoluten Sicherheit, das einen völlig entspannt die Welt genießen ließ, ohne auch nur einmal an das Morgen zu denken. Ein Gefühl, das Kindheitserinnerungen weckte. Es stillte ihre Sehnsucht nach einem starken Mann.

Mein Gott!, liebte sie ihn. So sehr, dass ihr manchmal ihr eigener Name nicht einfiel, sobald sich seine Aura neben ihr ausbreitete. Heute würde sie ihn endlich fragen. Es war an der Zeit, ihre ernsthaften Absichten kundzutun. Ihre Angst war mit dem Orgasmus verflogen.

 

In der Suite warf er sie aufs Bett und streifte ihr High-Heels über, Sonderanfertigungen aus edelstem Leder mit Beschlägen aus Sterlingsilber und langen Absätzen aus purem Gold. Dann befriedigte er sie so gründlich mit seiner Zunge, dass sie den gesamten Hotelflur zusammenschrie.

Vollkommen nassgeschwitzt trank Charlotte fast eine Flasche Cuvée Belle Epoque alleine aus. Ihr Durst war riesengroß. Ihr Verlangen nach ihm noch immer nicht gestillt, obwohl ihr Körper begierig aufsog, was er nach langen Stoßfolgen seines in Höchstform erigierten Gliedes mit Nachdruck in sie hineingab. Sie hatte sich nie getraut zu fragen, ob er eigentlich Viagra nahm.

Er sah zufrieden aus. Minutenlang betrachtete er ihre Vagina und sein Werk. Der Moment war gekommen. Ihr Innerstes schüttete wohlige Gefühle aus.

„Ich liebe dich“, schaute sie ihn erwartungsfroh an, „ich wollte es dir schon längst sagen.“ Sie warf ihm einen Handkuss zu. „Du wartest sicherlich auf ein Zeichen von mir.“

Er rührte sich nicht. Sein Blick erstarrte.

„Hey, jemand zuhause?“, neckte sie ihn, „ich sagte gerade: Ich liebe dich. Und zwar mit allem, was dazu gehört.“ Aufreizend reckte sie sich zu ihm hin.

„Du liebst mich? Habe ich das richtig verstanden?“ In seinen Augen stach etwas Dunkles hervor. Sein Körper spannte sich an.

Sie übersah es. Ihre Vorfreude über ihren gleich folgenden Vorschlag war einfach zu groß.

„Ich dachte mir, wir könnten heiraten“, flötete sie liebreizend, „dann wären wir für immer zusammen. Ich würde selbstverständlich deinen Namen annehmen.“
Sie lächelte ihn an. „Damit ich offiziell zu dir gehöre. Was meinst du? Wär‘ das was?“

Es wurde gefährlich still. „Ach so, deine Frau“, ortete sie die Lage, „du müsstest dich natürlich scheiden lassen. Ist doch heute keine große Sache mehr. Lieben tust du sie doch sowieso nicht, sonst würdest du ja nicht mit mir zusammen sein.“

Claas Möller erhob sich. „Lieber Gott“, sagte er, „sag mir, dass das nicht wahr ist. Sag mir, dass diese Frau nicht so naiv ist, wie sie gerade vor mir sitzt.“

Sie erschrak.

„Liebe? Bist du bescheuert?“, schrie er plötzlich los, „ich pfeif dir gleich deine Liebe durchs Gehirn. Durch dick und dünn, bis sie dir wieder zu den Ohren rauskommt.“

„Aber ...“, stotterte sie.

„Nichts aber“, tobte er, „ich kann niemanden brauchen, der mir mit Liebesgefühlen kommt. Und schon gar nicht blonde Dummchen, die durch die Gegend träumen.“

Das saß. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mit einer Bewegung fegte er die leere Flasche weg. Sie weinte. „Alles, was du für mich warst und bist, ist Stressabbau, Ablenkung ..., brauchst du noch ein weiteres Wort?“

Sie schüttelte den Kopf. „Gut“, lenkte er sarkastisch ein, „du spielst schon in der höheren Liga. Bist eine kleine Königin. Deine Titten sind imposant, zum Lutschen fantastisch. Genau wie deine auslaufende Feuchtigkeitszone da unten.“

Er kam zu ihr und versenkte mit einem Ruck einen Finger in ihr. „Unstillbares Lustluder.“ Er lachte höhnisch auf. „Nicht mehr und nicht weniger.“

 

Das konnte nicht sein. Das war überhaupt nicht möglich. Sie hatte einfach zu viel getrunken. Eine Flasche in der kurzen Zeit – kein Wunder, sie halluzinierte.

„Du hast mir versprochen, dass ich unter deinem Schutz stehe. Dass du immer für mich da bist“, erklärte sie erregt, „das sind doch Gefühle, die sich da äußern!“ Ihr Blick heftete sich an ihn.

Claas Möller schüttelte den Kopf. „Du bist verstrahlt“, antwortete er, „oder gnadenlos verhagelt. Irgendwie so etwas. Nur, weil du heute so gut deine Beine auseinander gebracht hast, klär ich dich auf: Ich wollte dich fürs Bett. Du hast mich angemacht. Und jetzt geh mir aus den Augen. Die Rechnungen sind bezahlt.“

Er schwang sich in seinen Designeranzug. „Und noch etwas“, seine Stimme nahm einen noch rüderen Ton an, „lern endlich mal, einen Silber- von einem Blechlöffel zu unterscheiden!“

Ohne sich umzudrehen verließ er die Suite und knallte die Tür ins Schloss.

Charlottes Welt brach zusammen. Ihr wurde übel. Bis in die Abendstunden übergab sie sich auf der Hoteltoilette.

1

Rund anderthalb Jahre später ...

 

„Wilhelm! Schatz! Oh je! Was ist mit dir?“

Charlotte Jung war völlig überfordert. Um sechs Uhr morgens hatte sie das erste Mal bemerkt, dass mit Wilhelm etwas nicht stimmte. Er kam normalerweise jeden Morgen zu ihr ins Schlafzimmer, um sie zu wecken und stupste entweder einen Arm oder ein Bein oder ihr Gesicht mit seiner feuchten Nase an. Da er sich dabei immer freute und mit seinem Schwanz wedelte, deutete sie ihm meist durch ein leichtes Klopfen auf die Bettkante an, dass er zu ihr ins Bett springen durfte. Es war so schön, noch eine Weile mit ihm zu kuscheln, bevor sie aufstand.

Heute war alles anders. Wilhelm war nicht gekommen. Charlotte hatte sich leicht schlaftrunken aufgemacht, um in der Küche nachzuschauen, was mit ihm los war.

Er lag in seinem Körbchen, sein Schwanz wedelte schwach. Er bemerkte sie zwar, doch seine Augen blickten ins Leere. Vor seinem Körbchen lag eine Pfütze Erbrochenes.

„Wilhelm, komm, versuch aufzustehen, bitte!“, flehte Charlotte ihn an. Ein leichter Anflug von Panik ergriff sie. Sie bemühte sich, Wilhelm unter dem Bauch zu fassen, damit er sich aufrichten konnte, doch Wilhelm sackte in sich zusammen. Charlottes Blick fiel auf das Erbrochene. Es roch fürchterlich. Blut hatte sich beigemischt.

Wasser, er braucht Wasser, dachte sie und hastete zur Küchenspüle, um den Wassernapf aufzufüllen.

„So, trink etwas, dann geht es dir gleich besser!“ Eine leise Hoffnung keimte in ihr auf, dass Wilhelm bei der Hitze, die seit Tagen über der Stadt lag, einfach nur zu wenig getrunken hatte.

„Ich muss einfach besser aufpassen“, tadelte sie sich laut.

Wilhelm winselte beim Anblick des Wassernapfes, den sie ihm direkt unter die Nase stellte. Er zitterte am ganzen Körper.

In Situationen, die gefährlich erschienen, stellte sich bei Charlotte ein innerer Unruhezustand ein, den sie nicht mehr in den Griff bekam. Ein Kloß setzte sich in ihren Hals. Die Küchenuhr zeigte Viertel vor sieben. Es war Sonntagmorgen. Niemand war da, sie war alleine. Wen sollte sie in dieser Herrgottsfrühe anrufen, um Hilfe zu holen?

Wilhelm erbrach sich erneut. Er bäumte sich auf und gab jaulende Töne von sich. Im selben Moment ergoss sich ein Berg Durchfall auf die Decke in seinem Körbchen. Seine Zunge hing schlapp aus der Schnauze.
„Du bleibst bei mir, ich schwöre dir, alles wird gut!“ Charlotte nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn so stürmisch, dass er fiepte. Sie eilte in den Flur, um die Nummer des Tierarztes herauszusuchen. Aufgeregt wählte sie die Nummer.
Eine langatmige Ansage über Sprechzeiten an Werktagen rauschte durch ihr Ohr.
„... in Notfällen außerhalb unserer Sprechstunde, an Wochenenden und Feiertagen wenden Sie sich bitte an die Tierklink Dr. von Arnstein, Rubensweg 78, Bad Homburg.“ Aha! Die Telefonnummer der Tierklinik, die die freundliche Stimme nachfolgend auf das Band diktierte, nahm Charlotte gerade noch wahr, um sie eilig auf dem Zettelblock neben dem Telefon zu notieren.

Tierklinik, das fehlte gerade noch! Charlotte beschlich der Gedanke an Operationssäle, hastende Ärzte in grünen Kitteln, gestresste Arzthelferinnen, sterilen Geruch, und ... Wilhelm, der in dem ganzen unpersönlichen Gewusel mit ihr zusammen unterging.

„Da musst du durch!“, befahl sie sich, eilte zum Computer in ihrem kleinen Arbeitszimmer und googelte die Webseite der Tierklinik. Schnell baute sich die Startseite mit dem obligatorische Text über die Philosophie und Kompetenz des Hauses sowie eine Begrüßung des Klinikbesitzers Frederick von Arnstein mit Foto auf.

Das ist doch nicht etwa ...?, schoss es ihr durch den Kopf, als sie das Foto näher betrachtete. Sie starrte auf die auffällige Narbe, die sich auf der rechten Gesichtshälfte von der Stirn hinunter bis zum Kinn zog.

Während sie hektisch die Rubrik „Anfahrt“ anklickte und den Inhalt ausdruckte, wirbelten bereits die Gerüchte und Erzählungen in ihrem Kopf herum, die sie über Frederick von Arnstein gehört hatte. Sie zitterte. „Der Ladykiller mit der Narbe“ war der gängigste Ausspruch über ihn, „Schürzenjäger“ und „Filou“ eher harmlos. Ein fieser Spruch war auch: „Don Juan mit dem Hufschlag im Gesicht“, weil er auf seine Verletzung anspielte. Am gehässigsten war jedoch: Klinikhengst. Unter dem Strich stand: Er legte offenbar jede attraktive Frau flach, die seine Klinik betrat.

Wilhelm keuchte schwerfällig.

Charlotte rannte in die Küche zurück, wo Wilhelm sich im Körbchen wand. Offensichtlich hatte er starke Schmerzen im Bauch. „Jetzt aber schnell!“, schimpfte sie, „ab in die Tierklinik!“ Zum Hufschlag-Hengst, mischte sie die Wörter, oder wem auch immer, es war in diesem Moment egal.

Schnell duschte sie und entschied sich wegen der zu erwartenden Tageshitze und der nicht einzuschätzenden Aufenthaltsdauer in der Klinik für einen kurzen Rock und eine leichte Bluse.

Charlotte lief die Treppen des dritten Stockwerkes des Apartmenthauses hinab und fuhr ihr Auto vom Parkplatz an der Straße direkt vor die Haustür. Zum Erstaunen des Nachbarn vom Haus gegenüber riss sie die Hintertür ihres schwarzen Cabrios ruckartig auf. „Notfall!“, rief sie ihm über die Straße zu, rannte die Stufen wieder hoch und hievte den jaulenden und winselnden Wilhelm samt Körbchen die Treppen hinunter auf den Rücksitz ihres Autos. Schweiß rann an ihrem Hals herunter in ihr Dekolleté.

„Mist!“, murmelte sie, aber für Schönheitsfragen oder die Maske, so wie sie es gewohnt war, blieb einfach keine Zeit.
„Oh, das stinkt aber gewaltig!“, entfuhr es ihr, als sie den Gurt über ihren Oberkörper zog. Genervt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte nicht einmal die Decke im Körbchen gewechselt! Der Motor heulte unsanft auf. Wo war das? Rubensweg 78?

„Die Beschreibung ist ja völlig unbrauchbar, wie soll ich das jemals finden?“ Panikgefühle breiteten sich in ihr aus, ihr Magen krampfte sich zusammen. Lediglich ein Pfeil zierte ein Ziel in einem recht undeutlichen Kartenausschnitt, im Hintergrund war noch die Autobahnabfahrt erkennbar. Sie zerknüllte den Ausdruck und warf ihn auf den Beifahrersitz. Tränen liefen über ihre Wangen. Heute ging aber auch alles schief!

Zu Charlottes Schwächen zählte, sich mit dem Auto zu verfahren. Ihr letzter Freund hatte ihr deswegen Orientierungsprobleme vorgeworfen. Natürlich hatte sie nie zugegeben, dass sie ständig rechts und links verwechselte und obendrein noch nachtblind war. Sobald sie einmal falsch abbog, fand sie sich nicht mehr zurecht.

Doch jetzt musste sie sich zusammenreißen! Wilhelm kauerte in seinem beschmutzten Körbchen auf dem Rücksitz und wimmerte jämmerlich. Offenbar ging es ihm von Minute zu Minute schlechter.

„Erst einmal auf die Autobahn, alles andere wird schon irgendwie gut gehen!“, ermutigte sie sich.

 

Nach zwanzig Minuten raste Charlotte die Autobahnabfahrt Bad Homburg Stadtmitte herunter. Wenn sie sich nicht irrte, so hatte sie beim Blick auf die dürftige Karte gesehen, dass die Tierklinik am äußersten Rande des Stadtzentrums lag. Demzufolge musste sie sich rechts halten.
Ob Wilhelm bei Bewusstsein war, konnte sie durch den Rückspiegel nicht erkennen, er gab kaum noch einen Laut von sich.

An der roten Ampel am Ende der Abfahrt drehte sie sich zu ihm um. Seine Augen waren verdreht, er atmete schwer. Die schnelle Fahrt hatte ihm noch einmal zugesetzt. „Komm, Junge, du schaffst das! Gleich sind wir da“, schluchzte sie.

Der Mann im Auto neben ihr schaute erstaunt. Er hatte das Fenster heruntergelassen. „Du bist doch das Liebste, was ich habe! Was soll ich denn bloß ohne dich tun?“ Ihre Stimme versagte. Der Mann winkte ihr zu.

Während das Leid, das über ihr schwebte, sich wie Blei auf sie herabsenkte, kam ihr plötzlich das Wort „Tankstelle“ in den Kopf. Der Tankstellentipp von ihrem Paps! Mein Gott, aus wie vielen aussichtslosen Situationen hatte er sie schon gerettet! Wehmütig dachte sie an seinen Krebstod vor fünfzehn Jahren.

„Kann es sein, dass Ihr Hund im Auto gerade den Hitzetod stirbt? Der sieht nicht gerade fröhlich aus!“ Lässig lehnte sich der junge Mann an der Kasse mit einem breiten Grinsen zu ihr vor und zwirbelte provozierend an seinem langen Zopf, „wie kann ich Ihnen behilflich sein? Mit Wasser vielleicht?“ Er lachte auf.

„Wenn ich einen Kommentar von einem langhaarigen Schniedelwutz brauche, sage ich das vorher, klaro?“, keifte Charlotte ihn an, „wie komme ich zur Tierklinik Dr. von Arnstein?“

„Warum so aggressiv, hübsche Frau? Mmmmhh“, genüsslich zog er seine schmalen Lippen nach vorne. Sein Blick glitt an ihr hinab. Während er ihren Ausschnitt musterte und dabei anerkennend durch die Zähne pfiff, zeigte er mit einer Hand in Richtung der äußeren Zapfsäule, nahe der Einfahrt zur Tankstelle. „Nächste Straße rechts, dann zweimal links, an der Ampel geradeaus, dann die übernächste Einbahnstraße links bis sie eine Kurve macht, und dann könnte es sein, dass es die vierte Straße rechts ist.“ Lachend hielt er sich die Hand vor den Bauch. „Oder war es vor der Einbahnstraße doch schon rechts?“

Charlotte schwankte.

„Kommen Sie, fahren Sie mir nach! Ihr Hund sieht hinfällig aus“, ein gut gekleideter, älterer Mann mit schlohweißem, vollen Haar und einer Nickelbrille zupfte sie am Ärmel und deutete hinaus.

 

Eine gefühlte Ewigkeit und mindestens sechs Abbiegungen später fuhr Charlotte endlich auf die Tierklinik zu. Ohne den freundlichen älteren Herren, der sie bis zum Klinikparkplatz brachte und aus dem Autofenster gestikulierend auf den riesigen Gebäudetrakt zeigte, wäre sie wahrscheinlich vorher am Steuer zusammengebrochen. Nie im Leben hätte sie den Weg alleine gefunden, dazu war die Anfahrt von der Tankstelle viel zu verzwickt. Unter Einbeziehung ihres Rechts-Links-Problems ... sie verwarf den Gedanken sofort.

Überschwänglich winkte sie ihrem Retter in der Not zu und deutete mit den Lippen ein Dankeschön an, worauf dieser lächelnd mit zwei wohlwollenden Hupsignalen davon fuhr.

Das Klinikgebäude lag direkt an einem kleinen Wald. Es unterteilte sich in ein zweistöckiges Hauptgebäude und einen angrenzenden, lang gezogenen Trakt mit eigener Einfahrt und Rolltor. Alles machte auf den ersten Blick einen sympathischen Eindruck. Schilder mit dem Symbol eines Pferdes wiesen auf den Sondertrakt hin. „Ach schau“, entfuhr es ihr, das war also der Teil, in den die Reiter mit ihren kränkelnden Dressur- und Rennpferden gelotst wurden. Die Klinik war für ihre Spezialisierung auf diesen Bereich bekannt.

An der rechten Vorderfront des Hauptgebäudes, gleich neben dem Eingang, befanden sich mehrere große Fenster, die bis zum Boden reichten. Metalljalousien waren heruntergelassen. Es war nicht auszuhalten gewesen in den letzten Tagen. „Gott sei Dank!“, flüsterte sie, so würde sie mit Wilhelm vor der Hitze, die sich erneut abzuzeichnen begann, während der Behandlung verschont bleiben.

Charlotte parkte ihr Cabrio in der Nähe des Einganges. Auf dem weitläufigen Vorplatz waren bereits einige Autos abgestellt. Sie war also nicht die Erste, die an diesem Morgen den Notdienst der Klinik aufsuchte.
Ein Blick auf Wilhelm, und sie spürte, dass sie sich sputen musste. Er wirkte regelrecht abgetreten. Sie riss den Kofferraum auf, schnappte sich eine der zahllosen, durcheinander liegenden Plastiktüten und legte sie über den Arm. Dann hob sie ihren geliebten Cockerspaniel von der Rückbank in ihre Arme und lief schnellen Schrittes zur Eingangstür.

 

An der Rezeption wehte ihr ein kühler Luftzug entgegen, verursacht von zwei offenen Fenstern. Ein Tischventilator surrte, zwei Telefone klingelten. Die beiden Stühle hinter dem Tresen waren unbesetzt. „Ausgerechnet!“, murmelte sie.

Charlotte versuchte sich zu orientieren. Der Eingangsbereich der Klinik war relativ lang gezogen. In der Mitte baute sich ein größerer Tresen auf. Hinter diesem gingen zu beiden Seiten eines Flures zahlreiche Räume ab. Ganz hinten am Ende erkannte sie das WC-Zeichen, sie war erleichtert. In den unmöglichsten Situationen musste sie zur Toilette, vor allem, wenn sie gestresst war. Jetzt bloß nicht daran denken, ermahnte sie sich.

Zur linken Hand vor dem Tresen lag der Wartebereich, aus dem es ohrenbetäubend piepste, jaulte und miaute. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, wie voll er war.

„Ja bitte?“, eine jüngere Frau mit blonden, langen Haaren, die sie locker zu einem Dutt gebunden hatte, kam aus einem der hinteren Räume. Sie wischte sich die Hände an der Hose ab und sah Charlotte an.

„Schnell, mein Hund stirbt! Er muss sofort behandelt werden!“, versuchte diese, den Lärm zu übertönen.

Die Blonde beugte sich zu Wilhelm.

Charlottes Stimme wurde lauter. „Bitte, schnell, ich weiß nicht, was er hat.“ Übernervös schaukelte sie Wilhelm in den Armen hin und her.

„Tut mir leid, so schnell geht das nicht! Sie sehen ja, was hier los ist! Zuerst müssen Sie ein Formular ausfüllen.“ Sie griff in eine Schublade und zog eine stabile Unterlage im DIN-A-4-Format heraus, an die sie oben ein zweiseitiges Formular klemmte. Charlotte bebte. „Sorry, Anweisung vom Chef!“, kommentierte sie knapp und reichte Charlotte die Unterlage. „Setzen Sie sich solange in den Wartebereich! Sie werden aufgerufen.“

Charlotte bekam die Unterlage nicht zu fassen, Wilhelm drehte sich. Seine Augen waren leicht geöffnet, sein Körper zog sich mit letzter Kraft um einige Zentimeter hoch. Er gab ein armseliges Würgen von sich. Im gleichen Moment spie er Charlotte eine braungrüne, schleimige Lache auf den Unterarm. Die Flüssigkeit rann über ihre Haut und tropfte auf den Fußboden. Der Geruch biss in ihrer Nase, Charlotte wurde übel.

„Meine Katze liegt auch im Sterben, gell, Mauzi, hast nicht mehr lang, wenn du nicht sofort drankommst“, äffte eine dicke Frau mit wulstigen Oberarmen Charlotte nach.

Aus der hintersten Ecke der Wartezone mischte sich ein älterer Mann mit öligen Haaren samt Kaninchen und einem kleinen Jungen auf dem Schoß ein: „Wenn es nicht der Reihe nach geht, werde ich mich beschweren. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder meint, er müsste hier die erste Geige spielen? Ich warte schon seit einer Stunde!“ Dabei zog er das Wort „warte“ derart lang durch seine Zähne, dass so gut wie jeder den spöttischen Unterton in seiner Stimme heraushören konnte.

Erregtes Gemurmel breitete sich aus. Einige Leute schüttelten erbost den Kopf. Andere deuteten wütend in Richtung Tresen.

„Sie sehen ja“, die Angestellte zuckte mit den Schultern, „ich will keinen Ärger haben, jetzt setzen Sie sich, bitte!“

„Ich setze mich überhaupt nicht!“, schrie Charlotte in einer ihr selber fremden, schrillen Tonlage, „wenn mein Hund nicht sofort behandelt wird, sind Sie und diese Tierklinik ein Fall fürs Fernsehen. Und zwar direkt nach den Sieben-Uhr-Nachrichten!“

Wut kochte in ihr hoch. Ein unbändiger Zorn befiel sie. Ihr ganzer Körper zitterte. Wilhelm war im Begriff, von ihrem Arm zu rutschen, sie konnte ihn fast nicht mehr halten. Der Boden unter ihren Füßen schien einzubrechen. Blut schoss in ihren Kopf, kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Ihr wurde schwarz vor Augen.

„Was ist denn hier los?“ Nur entfernt nahm Charlotte eine männliche Stimme wahr und sah schemenhaft eine große, dunkelhaarige Person auf sich zukommen.

Sie hörte eine Frauenstimme antworten: „Ich kann doch nicht einfach jeden vorziehen, nur weil er hier wie Rumpelstilzchen herumtobt.“

Danach sackte Charlotte zusammen. Wilhelm glitt aus ihren Armen und schlug auf dem Boden auf.

Benommen spürte sie, wie starke Arme sich unter ihre Beine und ihren Oberkörper schoben, sie hochhoben und davontrugen.

 

Nur langsam kam Charlotte wieder zu sich. Als sie ihre Augen einen kleinen Spalt öffnen konnte, schaute sie sich um. Sie lag auf einer Liege in einem kleineren Zimmer, dessen Wände mintgrün gestrichen waren. An der Seite gegenüber befanden sich ein kleiner Behandlungstisch mit weißem Stoffbezug und ein Rollschrank mit drei Schubladen. Auf dem Rollschrank stapelten sich allerlei Dinge. Ärztliches Material, schlussfolgerte sie. Darüber hing ein eingerahmtes Foto zweier miteinander spielender Labradorwelpen.

Charlotte lag auf der Seite, ihr unteres Knie war angewinkelt. Die typische Stellung, in die ohnmächtige Menschen gebracht werden, damit sie nicht an möglichem Erbrochenen erstickten. Dunkel erinnerte sie sich an den Erste-Hilfe-Kurs, der Voraussetzung für den Führerschein gewesen war: Zig Mal hatte sie diese Position mit den anderen Teilnehmern an einer aufgeblasenen Puppe geübt. Nun war sie selbst der Notfall.
Ihr Kopf brummte, ein Schmerz pochte unaufhörlich in ihrem Schädel. Wilhelm! Die Gedanken in ihrem Kopf wirbelten durcheinander. Wo war er, was war mit ihm geschehen?

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie wollte aufstehen, doch ihr fehlte jegliche Kraft. Offenbar war ihr Kreislauf gehörig zusammengesackt. Zu der Benommenheit, die sie immer noch verspürte, gesellte sich ein Gefühl der Übelkeit hinzu. Auch das noch!
Nichts war schlimmer als Übelkeit. Es ließ einen keinen klaren Gedanken fassen, dieses lästige, penetrante Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Dagegen halfen die universell einsetzbaren Minzbonbons, die sie immer bei sich hatte. Einmal gelutscht, war das Gefühl halbwegs übertüncht. Meist hatte sie eine ganze Tüte in ihrer Handtasche. Allerdings war die zerrissen und die Bonbons flogen in allen Ecken umher. Aber sie wusste ja nicht einmal, wo ihre Handtasche war, wenn sie denn überhaupt eine mitgenommen hatte. Sie wünschte ihren hilflosen Zustand weg.

Die Tür ging auf. Eine kleine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und einem grünen Kittel betrat den Raum. Sie hatte ein freundliches Gesicht und lachte Charlotte aufmunternd an, während sie sich im gleichen Moment zu ihr auf die Liege setzte. „Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt“, tätschelte sie Charlottes Hand. „Herr Dr. von Arnstein kommt gleich zu Ihnen. Aber erst muss ich Ihren Namen und Ihre Adresse aufnehmen, wir wissen noch gar nicht, wer uns überhaupt Sorgen bereitet hat.“ Sie nickte Charlotte zu und holte einen Stift sowie Papier aus ihrer Kitteltasche.

„Charlotte Jung, Arnheimer Str. 5, Frankfurt.“ Die Übelkeit wurde stärker.

„Ah, kenne ich. Sachsenhausen, stimmt’s? Schöne Wohngegend! Da gibt es eine Menge toller Penthousewohnungen, meine Freundin wohnt da auch gleich um die Ecke. Und dann der entzückende Park in der Nähe.“

Charlotte verdrehte die Augen. „Mir ist so übel, bitte! Was ist mit meinem Hund?“

Die Frau ignorierte ihre Frage. „Er kommt gleich, noch einen kleinen Moment“, antwortete sie stattdessen, „heute ist der Teufel los! So einen hektischen Sonntag hatten wir schon lange nicht mehr! Halten Sie noch ein bisschen durch, wird schon!“ Mit einem Satz sprang sie auf und entschwand durch die Tür.

Ungezogenes Verhalten!, erboste sich Charlotte innerlich. Doch um sich aufzuregen, fehlte ihr die Kraft. Sie verschob die Meckerei auf später. Wilhelm schwirrte durch ihren Kopf. Wie es ihm wohl ging? Wahrscheinlich wachte er gerade, genau wie sie, in irgendeinem Zimmer auf. Im schlimmsten Fall mit genähtem Bauch.

Sie rollte sich auf den Rücken, um ihren Magen zu entspannen. Ein mulmiges Gefühl kroch in ihr hoch, in ihrem Hals formte sich ein dicker Kloß. Sie schloss die Augen, um sich zu beruhigen.

„Guten Tag, Frau Jung“, holte sie eine männliche Stimme aus ihren Gedanken zurück.

Sie hatte niemanden zur Tür hereinkommen gehört. Charlotte blinzelte und erkannte einen großen, sportlichen Mann mit dunklen, leicht nach hinten gewellten Haaren. Er stand direkt vor ihr. Lachfalten umspielten seinen Mund. Seine blaugrauen Augen schauten sie eindringlich an, als wartete er auf eine Regung von ihr.

Charlotte war viel zu überrascht, um etwas zu sagen. Sie fixierte die Narbe, die sich längs seiner rechten Gesichtshälfte zog.

„Ich bin Frederick von Arnstein, der Leiter der Klinik“, stellte er sich vor, den Blick noch immer auf sie gerichtet, „wie geht es Ihnen jetzt?“

„Schlecht, mir ist übel, ich habe Kreislaufprobleme, wo ist mein Hund?“ Sie schnappte nach Luft. „Ihre Mitarbeiterin hat es nicht für nötig gehalten, mich aufzuklären. Ziemlich unfreundlich“, schimpfte sie.

Ohne zu antworten, ging Frederick von Arnstein zu einem Wandschränkchen über einem kleinen Waschbecken, das sich versteckt in einer Nische links neben der Tür befand, und holte zwei Tabletten und ein Glas heraus.

„Sie waren kurzzeitig bewusstlos“, sagte er mit sanfter Stimme, „das wird Sie stabilisieren und Ihre Übelkeit lindern. Warten Sie, ich helfe Ihnen!“ Er kam zurück und setzte sich zu Charlotte auf die Liege. Behutsam griff er mit seinen Händen unter ihren Kopf und ihren Oberkörper. Dann zog er sie vorsichtig zu sich hoch und richtete sie auf. Seine Augen beobachteten sie neugierig.

Charlotte spürte seine muskulösen Arme. Es mussten die gleichen starken Arme sein, die sie an der Rezeption hochgehoben hatten, kam es ihr in den Sinn. Seine Berührungen taten ihr gut. Warum, wusste sie nicht. Sie fühlten sich warm und beschützend an.

Als sie die Tabletten genommen hatte, räusperte er sich. „Frau Jung“, seine Stimme ließ erkennen, dass es ihm nicht leicht fiel, fortzufahren: „Ich konnte für Ihren Hund nichts mehr tun, ich musste ihn einschläfern. Alles andere wäre nicht mehr zu verantworten gewesen. Den Symptomen nach zu urteilen hat er eine besonders aggressive Art von Rattengift gefressen. Innerlich verblutete er bereits, als Sie ihn zu uns brachten. Wir werden morgen sofort die Behörden informieren.“

Die Worte trafen sie wie Geschosse. Sie bohrten sich in ihren Kopf und drehten sich mehrmals in ihrem Gehirn herum, bevor sie über ihren Kehlkopf hinunter zu ihrem Herzen wanderten, explodierten und kurzfristig alles Leben in ihr auslöschten. Ein unglaublicher Schmerz nahm Besitz von ihr. Charlotte kippte zur Seite. Weinkrämpfe schüttelten sie, Tränen rannen über ihre Wangen. Ihr Brustkorb bebte sekundenlang. Eine so tiefe Erschütterung bahnte sich ihren Weg durch ihr Innerstes, dass sie daran dachte, lieber zu sterben, als die Worte nochmals in sich nachhallen zu lassen. Ein unaufhörliches Schluchzen brach aus ihr heraus.

„Frau Jung, bitte, so beruhigen Sie sich doch!“ Sichtlich verdutzt über die heftige Reaktion klopfte Frederick von Arnstein ihr eilig die Wangen. Mit einem festen Griff drehte er sie auf den Rücken, damit sie richtig atmen konnte.
Sein Blick fiel auf ihr Dekolleté, über das vom Nacken her kleine Schweißperlen rannen, während sich ihr Brustkorb unaufhörlich auf- und absenkte.

Frederick von Arnstein konnte seinen Blick von dem, was sich ihm darbot, kaum abwenden. Die Knopfleiste ihrer sommerlich dünnen Bluse endete am Dekolleté in einer schmalen, rundumlaufenden Rüschenborte, die im Zuge ihrer Bewegungen den Busenansatz mal mehr, mal weniger freigab. Das verspielte Blumenmuster des Stoffes harmonierte trefflich mit ihrer gebräunten Haut.
Der Busen, der sich abzeichnete, war äußerst wohlgeformt. Fest und groß wurde er von einem weißen Spitzen-BH gehalten, den er unter der Bluse erkennen konnte.
Charlottes Brustwarzen bildeten sich kurz danach unter dem BH und der Bluse ab. Ein leichter Schüttelfrost befiel sie. Schnell streichelte er über ihre Wangen, um ihr Sicherheit zu signalisieren.

Was für eine attraktive Frau, fuhr es ihm durch den Kopf, obwohl sie kurz vor einem Kollaps steht!
Wenn er ehrlich war, hatte ihn schon ein leichtes Entzücken erfasst, als er sie vor der Rezeption auf der Erde liegen sah. Trotz des Gezeters der Leute im Wartebereich, einer sich allzu plump rechtfertigenden Angestellten, dem Hund, der auf dem Boden lag und dem das Blut aus dem Mund quoll, hatte er eine besondere Form von Liebreiz festgestellt. Als er sie aufhob, schmiegte sie sich unbewusst an ihn; während er sie in das kleine Behandlungszimmer trug, lehnte sie ihren Kopf gefällig an seine Schulter. Er hatte sie auf die Liege gelegt und kurz betrachtet – ein eiliger OP-Fall ließ ihm keine weitere Zeit.

Mit zwei Sätzen war Frederick von Arnstein bei dem Rollschrank, zog ein Stofftuch heraus, faltete es zu einem langen Strang, beträufelte es mit einer ätherischen Essenz und hielt es anschließend unter den kalten Wasserhahn.

Charlotte stöhnte.

Vorsichtig legte er ihr das Tuch auf die Stirn, von Schläfe zu Schläfe, und schob dabei ihre verschwitzten Haarsträhnen zur Seite. Er betrachtete sie still: Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht, das Anmut und Eleganz ausstrahlte. Sie mochte vielleicht Anfang dreißig sein. Trotz ihrer Schönheit machte sie einen ungekünstelten Eindruck. Eine Art warme Schönheit, ermittelte er.

Charlotte beruhigte sich, nach und nach wurde ihre Atmung flacher und tiefer, ihr Brustkorb hob sich nur noch leicht an, die innere Verkrampfung löste sich – Frederick von Arnstein verspürte darüber eine gewisse Erleichterung. Die allmähliche Entspannung ihres Körpers faszinierte und berührte ihn zugleich. Er neigte den Kopf zur Seite und lächelte zufrieden.

Charlotte schlug die Augen auf. „Sie haben meinen Hund umgebracht, ohne mich zu fragen“, brachte sie leicht lädiert über die Lippen, „das werde ich Ihnen nie verzeihen können, nie!“ Dann schob sie hinterher: „Das war das Allerschlimmste, was man mir antun konnte!“

Er hob verdutzt die Augenbrauen.

So gut sie es schaffte, hob Charlotte ihren Oberkörper. „Ich habe Wilhelm aus dem Tierheim geholt, als er drei Jahre alt war. Er war mein bester Freund. Und dann kommt so jemand wie Sie und erledigt ihn eiskalt.“ Zorn funkelte in ihren Augen.

„Aber …“

„Was bilden Sie sich eigentlich ein? Ich bin hierhergekommen, damit Sie ihm helfen, nicht, damit ich ihn tot mit nach Hause nehme!“ Sie richtete sich endgültig auf. „Das hat ein Nachspiel! Als hätte ich es nicht gleich geahnt, Tierklinik!“ Ihr Ton bekam eine seltsame Mischung aus Spott und blanker Verärgerung. „Wo ist er überhaupt?“

Frederick von Arnstein war getroffen. „Ihr Hund ...“, er kam nicht weit.

„Nicht Hund, Wilhelm!“, korrigierte sie ihn entrüstet. Kampfesbereit musterte sie ihn mit ihren blaugrünen Augen.

„Ja, Wilhelm, äh, Frau Jung, bitte, er wäre innerhalb einer Viertelstunde elendig zugrunde gegangen. Ich habe ihn doch nur von weiteren Qualen erlöst! Was hätte ich denn tun sollen?“

„Ist mir egal, dafür sind Sie Tierarzt! Sie haben mein Leben ruiniert.“

Charlotte erhob sich. Ihre Bewegungen wackelten, doch ihre Empörung richtete sie weiter auf. „Mit solchen Menschen wie Ihnen will ich nichts zu tun haben. Kommen Sie mir ja nicht mehr unter die Augen!“ Sie schielte auf seine Narbe. Es kam ihr so vor, als flackerte sie auf seiner Haut.

Hilflos beobachtete er sie.

„Ziehen hier die Show ab und können doch nichts ausrichten!“ Sie richtete ihren Rock und ihre Bluse, bückte sich, streifte ihre Sandaletten über, die sie neben der Liege erblickte, warf ihm einen verachtenden Blick zu und schob sich Richtung Tür.

Das gibt es doch gar nicht, dachte er. Er hatte sie das erste Mal in voller Größe gesehen: Schlanke Beine, ein wohlgeformter Po, der seine Rundungen unter dem engen Rock preisgab, insgesamt eine stattliche, weibliche Statur mit ein wenig Form im Bauchbereich. Von ihrem formvollendeten Busen ganz abgesehen.

Frederick von Arnstein schüttelte den Kopf. Sie war einfach gegangen.

 

Regen trommelte gegen die Windschutzscheibe seines Jaguars, als er gegen zwanzig Uhr nach Hause fuhr. Die Schwüle des Tages entlud sich gegen Abend in einem kräftigen Gewitter.

Nach dem Vorfall mit Frau Jung hatte er sich eine Auszeit in der Klinik genommen und war spazieren gegangen. Danach operierte er unaufhörlich. Wie viele Tiere an einem einzigen Sonntag vor Autos liefen oder von anderen gebissen wurden, sinnierte er, als der Jaguar träge in die Sackgasse einbog und sich das Tor zur Villa öffnete. Seine Hände waren müde, seine Konzentration hatte merklich nachgelassen.

 

Im Wohnzimmer waberte die Hitze des Tages. Er schob die Terrassentür auf und schenkte sich einen Cognac ein, der auf einem Glastischchen neben dem Fernseher parat stand: Sein Lohn für einen anstrengenden Arbeitstag.

Während er den ersten Zug trank, drängte sich das Bild dieser Frau Jung und ihrem Cockerspaniel vor seine Augen.

Der Vorfall hatte ihn mehr aufgewühlt, als er noch am Mittag glaubte. Was hätte er denn anderes tun sollen, als den Hund einzuschläfern? Zuschauen, wie das Tier unter größten Qualen verendet? Er kannte diese Art von Rattengift, sie war besonders tückisch. Zwei Tage lang zeigten die Hunde oder Katzen keinerlei Anzeichen einer Vergiftung. Dann, am dritten Tag, wenn sie anfingen, sich zu erbrechen, war es schon zu spät. Das Gift zerfraß die Magenwände, die inneren Blutungen setzten ein, und selbst ein Tierarzt konnte nur erlösen. Der Vorwurf von ihr war äußerst unfair gewesen.

„Eiskalt erledigt“, allein diese Worte! Und das bei seinem Ethos!

Es hatte ihn verletzt, das war die Wahrheit. Ihre Worte nagten den ganzen Tag an ihm, bis er sie einfach verdrängte. Er nahm einen weiteren Schluck.

Was war das nur für ein Wesen, das vor seiner Rezeption in Ohnmacht fiel, sich, während er sie trug, schutzbedürftig an ihn schmiegte, seine Aufmerksamkeit durch eine hilflose, sinnliche Weiblichkeit in den Bann zog, und ihn anschließend als eiskalten Hundemörder anprangerte?

Beim letzten Zug aus dem Glas mochte er kaum mehr daran denken, wie die Schweißperlen ihr Dekolleté hinuntergelaufen waren, wie sich ihr Brustkorb wölbte! Zeitweise war damit zu rechnen gewesen, dass sie in die Luft fliegen würde. Puff! Peng!

Was für eine Frau! Sie kämpfte wahrscheinlich leidenschaftlich um das, was sie liebte! Nur so war ihr Angriff auf ihn zu erklären.