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Rainer Böttcher

Nebel über dem Deich

Schicksal oder Chance?

Leben mit einem Handikap

2. Auflage

Haag + Herchen

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

ISBN 978-3-89846-639-4 2. Auflage (Druckausgabe)

ISBN 978-3-89846-691-2 (ePUB)

© 2001 by HAAG + HERCHEN Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Gewidmet

dem wichtigsten

und wertvollsten

Menschen

in meinem Leben –

meiner Frau.

 

Prolog

Weißgraue Schwaden ziehen vom Meer herauf und schwappen wie eine große Welle gegen die Außendeiche von Nordstrand. Wo kurz zuvor noch Südfall zu sehen war, ballt sich plötzlich dichter Nebel.

Die vereinzelten Schreie der Möwen mischen sich mit dem Wellenschlag der noch auflaufenden Flut und dem leisen Brummen meines Elektrorollstuhls. Monika, müde von der langen Tour, hält statt meiner Hand den Griff meines Rollis gepackt und läßt sich etwas von mir ziehen. Wir genießen die Einsamkeit und die Stimmung, die von der Landschaft an diesem eisigen Novembertag ausgeht.

»Warte mal einen Augenblick.« Sie holt die Thermoskanne und ein paar Streifen Schokolade aus meinem Rucksack. Schon während sie den Tee eingießt, ist die Vorfreude auf den zu erwartenden Genuß auf ihrem Gesicht abzulesen.

»Ach - geht es uns gut!« Dieser Satz und ihr zufriedenes Lächeln dabei lassen Ereignisse in mir wach werden, deren Anfänge nun schon über vierundzwanzig Jahre zurückliegen.

Angstzeit

Diagnose: Tetraplegie ab C6, Motorik komplett ab C6, sensibel inkomplett ab C5 infolge HWK 5/6 - Luxationsfraktur.

Nur sechzehn Worte bzw. Abkürzungen und dennoch mehr, als ein Mensch in den ersten Wochen und Monaten nach einem Unfall, so wie ich ihn erlebt habe, verkraften kann.

 

Gelähmt - unfähig, Hände, Arme und Beine zu bewegen, liege ich auf der Intensivstation des Westend-Krankenhauses. Apparate neben mir, Schläuche in mir. Über den Tag, kommen und gehen Schwestern, Pfleger, Ärzte und einmal am Vormittag: die Putzfrau.

Wenn sie hereinkommt, füllt sich der Raum mit Sicherheit. Sie weiß, was sie will und sie weiß, was sie tut.

Zwei Eigenschaften, die ich bei den sonst noch herumlaufenden Grün- und Weißkitteln manchmal vermisse.

Immer zwischen neun und zehn Uhr bringt sie diese willkommene Abwechslung in den ansonsten trostlosen Ablauf meines Krankenhausaufenthalts. Allein das Klappern ihrer Sandalen bedeutet schon Vorfreude.

»Na, wie geht's - heiß heute, nich' wahr?«

Es ist immer der gleiche Satz, mit dem sie mich begrüßt und es sind immer die gleichen sanften dunklen Augen, die mich traurig anschauen und die etwas unsicher wirken bei der Begegnung mit diesem hilflosen Körper. Lange kann sie noch nicht hier arbeiten. Es fehlt ihr die stumpfe Gleichgültigkeit, der Schutzpanzer, den viele, die in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen tätig sind, sich wohl zugelegt haben, um nicht an einer Überdosis Mitleid zu zerbrechen. Einigen Wenigen gelingt es trotzdem, menschliche Wärme und Mitgefühl zu zeigen. Der Rest von ihnen verbreitet nur Angst, weil die Kälte, die sie umgibt, meine Furcht noch schlimmer macht.

Bei ihr ist dieser feine Unterschied menschlichen Verhaltens noch nicht zu erkennen. Ihr stellt sich auch nicht die Frage nach Beruf oder Berufung.

»Wird schon wieder - soll'n mal seh'n.«

Sie wischt über den Fußboden und erzählt aus ihrem Alltag. Belanglosigkeiten nur, aber sie lassen die Zeit vergehen und lenken ab von der Frage: »Warum liege ich hier?«

Ich kann nicht begreifen, was geschehen ist, und so sind es immer die gleichen Bilder, die mich beschäftigen.

 

 

 

Schon am Vormittag war das Thermometer auf über 30° im Schatten geklettert. Für uns gerade die richtigen Temperaturen - schließlich war das Konditionstraining wegen der Hitze ausgefallen und wir durften statt dessen ins Freibad gehen. Dort am Strand war es für uns natürlich angenehmer als während des sonst üblichen Sportunterrichts. Statt über die Aschenbahn zu hetzen, lagen wir faul in der Sonne und gingen nur ab und zu ins Wasser, um uns zu erfrischen.

»Kommt noch einer mit? - Ich geh wieder schwimmen.«

Der Einladung folgend liefen wir hinunter zum Ufer, direkt auf den Badesteg zu. Ein kleines Mädchen sprang mir entgegen - ich versuchte zwar noch ihr auszuweichen, kam aber ins Straucheln und fiel in den See.

 

Was mit mir geschehen war und warum ich mich plötzlich nicht mehr bewegen konnte, wußte ich nicht. Ich lag einfach in dem grünlich-trüben, vom Sonnenlicht durchwirkten Wasser und wartete. Eigenartigerweise war da nichts, was ich fühlte - kein Schmerz, keine Angst - nur mein Staunen.

»Wie lange ich wohl noch die Luft anhalten kann? - Die anderen müssen doch bald merken, daß mit mir irgend etwas nicht stimmt.« So unter Wasser kam es mir wie eine Ewigkeit vor, bis endlich Hände nach mir griffen, mich herumdrehten und zurück an den Strand brachten.

»Was ist los, was hast du?«

Viele Stimmen - viele Fragen - keine Antworten - zumindest keine, die mir meinen Zustand erklärten.

»Ich kann mich nicht mehr bewegen.«

Der ruhige Klang meiner Stimme bei diesem Satz verwirrte mich beinahe noch mehr als die ganze Situation an sich.

Statt Panik zu verspüren, erlebte ich mich selbst wie einen unbeteiligten Beobachter, dem einzig und allein eine immer stärker werdende Übelkeit zu schaffen machte.

»Mir wird schlecht - ich glaube ich muß brechen.«

Eine junge Frau beugte sich zu mir herab, kniete neben meinem Kopf, versuchte mir zu helfen - aber wie? Auf ihre Fragen wußte ich auch keine Antworten.

Dazu die vielen Menschen, die wie eine dicke Traube um mich herumstanden. Eine Mischung aus Sensationslust und Bluthunger - und obwohl kein Grund dafür vorlag, hatte ich plötzlich ein Gefühl von Scham.

Es war, als ob sie mich auszogen, in mich eindrangen - jede Bewegung, jeder Laut, jede Veränderung meines Zustandes, ob zum Guten oder Schlechten, wurde dankbar und begierig von ihnen aufgenommen. Ich war der Hauptdarsteller in dieser 'Show Brutal' und hatte für Unterhaltung zu sorgen. Wie heißt es so schön: 'Live is Live.'

»Ist da was los?« - »Was hat der denn?« - »Ist er tot?«

Ihre Stimmen wurden immer lauter. Dazu setzte ein Gedränge ein, daß abzusehen war, wann der erste über mich stolpern würde. Ich konnte ihre Fratzen nicht mehr ertragen.

»Schickt die Leute weg.«

Aber die Leute gingen nicht - ich ging. Manchmal ist so eine Ohnmacht eine feine Sache.

 

 

 

Ich wachte auf. - Ein Tuch lag über meinem Gesicht und hinderte mich daran, diejenigen zu sehen, deren Stimmen ich hörte.

»Schau mal, der hat 'ne Erektion.«

»Erektion? - Quatsch!«

Ich weiß bis heute nicht, warum ich damals nichts gesagt habe, warum ich nicht zu erkennen gab, daß ich wieder bei Besinnung war. Vielleicht war ich zu schwach, vielleicht war mir die ganze Situation aber auch nur peinlich.

Doch der Satz: »Schau mal, der hat 'ne Erektion«, ließ mich nicht mehr los. Wenn das stimmte, warum spürte ich dann nichts? Warum fühlte ich ihre Hände an meinem Kopf, warum nicht auch an anderen Körperteilen? Vom Hals an abwärts schien alles tot zu sein.

»Gib mir mal den Bohrer rüber. - Hast du denn keinen anderen, der ist doch stumpf.«

»Doch - aber nur 'ne Nummer größer.«

Ich konnte und wollte nicht glauben, daß ich das wirklich erlebte. - Ein Alptraum vielleicht?

Das Ansetzen dieses Werkzeugs, der Druck an meiner Schläfe und das laute Knirschen in meinem Kopf, während der Bohrer sich durch den Knochen fraß, sagten mir mehr als deutlich, daß das kein Traum war. Ich spürte jede Umdrehung dieses Stück Stahls, doch ich spürte keinen Schmerz.

»Na, es geht doch, was willst du denn.«

Dieser Satz ist das letzte, woran ich mich erinnern kann - danach muß ich wohl wieder ohnmächtig geworden sein. Vielleicht hatte der Anästhesist aber auch nur endlich bemerkt, daß ich wacher war, als ich hätte sein dürfen.

 

 

Als ich danach wieder zu mir kam, stand ich mit meinem Bett in einem Fahrstuhl. Abgeplatzte Farbe und ein paar Schmierereien an den Wänden waren das einzige, was ich erkennen konnte. Als sich die Tür nach einiger Zeit mit leisem Klingeln öffnete, wußte ich, daß wir in den Kellergewölben waren. Kein Tageslicht und eine merklich kühlere Luft, die uns entgegenströmte. Sie schoben mich aus dem Fahrstuhl heraus und durch eine Vielzahl von endlos langen Gängen, die so kalt und grau waren, daß die Angst, die in mir tobte, immer schlimmer wurde. Über mir, immer in exakt dem gleichen Abstand, das trübe Licht der alten Deckenbeleuchtung. Ich fragte mich, wo sie mich wohl hinbringen würden.

»Lieber Gott, muß ich jetzt sterben?«

Ganz plötzlich beugte sich ein vertrautes Gesicht über mich.

»Mama, was ist bloß passiert?«

Sie sah sehr ernst aus, aber sie weinte nicht.

»Keine Angst, es wird schon alles gut werden.«

Der Klang ihrer Stimme hatte etwas Tröstliches. Ich wollte sie noch so viel fragen, doch sie schoben mich weiter.

 

 

 

Nach diesen Ereignissen liege ich nun, wie schon am Anfang erwähnt, auf der Intensivstation des Westend-Krankenhauses und warte. - Eigentlich warten wir alle. - Ich, daß ich das Ganze begreife und es mir endlich besser geht, die Schwestern und Pfleger auf ihren Schichtwechsel und Feierabend und die Ärzte anscheinend darauf, daß ich sterbe. Vom Standpunkt eines jeden Einzelnen durchaus verständliche Wünsche, denn das Pflegepersonal ist extrem überlastet, und so ein armer Arzt hat es natürlich auch nicht gerne, wenn ihm sein Patient, oder sollte ich lieber sagen 'der Querschnitt' von Zimmer 3, so mir nichts dir nichts stirbt, während er im Schweiße seines Angesichts versucht, dessen Leben zu retten.

Um der Wahrheit willen: Sie haben Angst mich zu operieren. Herz und Kreislauf sind so instabil, daß sie nicht wissen, ob ich die nächsten Stunden, geschweige denn Tage, überlebe. Hinzu kommt, daß der Bereich um die Fraktur noch zu geschwollen ist und die Lungen so voll Schleim sind, daß ich zu ersticken drohe. Man versucht zwar, das Sekret abzusaugen, doch wenn es nicht besser wird, wollen sie einen Kehlkopfschnitt bei mir machen. Ich könnte dann leichter atmen, würde aber nicht mehr sprechen können.

Und so liege ich inmitten meiner Apparate, den Extensionsbügel in zwei Bohrlöchern in meinen Schläfen verankert und über eine Umlenkrolle so mit Gewichten belastet, daß meine Halswirbelsäule gedehnt wird und ich es bewegungsunfähig genieße, daß ich mich beim Kotzen nicht durch den Mund übergeben muß, sondern mich sauber und hygienisch über die Magensonde entleeren kann. Da jedoch auch diese Freude nur von kurzer Dauer ist, beschränken sich meine Hoffnungen auf weitere Ablenkung und vor allem auf das Erscheinen meiner Mutter. Stundenlang sitzt sie an meinem Bett, erzählt, hält meine Hand oder liest mir aus irgendwelchen Büchern vor.

Irgendwann am Nachmittag erscheint sie immer. Mit grünem Kittel und Mundschutz. Doch es ist noch früh. Der kleine Wecker auf meinem Nachttisch sagt mir, daß es noch nicht einmal acht Uhr ist. Ich habe eine beschissene Nacht hinter mir, ersaufe an meinem eigenen Schleim und habe immer noch um die 40° Fieber. Waschen, Decubitusprophylaxe (vorbeugende Behandlung gegen das Wundliegen) und Katheterisieren habe ich schon hinter mir. Jetzt kann ich nur noch warten und den leisen Stimmen vom Flur her lauschen.

 

Wenn nur diese schreckliche Wärme nicht wäre. Jahrelang haben wir über die verregneten und zu kalten Sommer geklagt und jetzt - in mir die Hitze des Fiebers und von draußen die unerträglichen Temperaturen dieses Jahrhundertsommers.

Es ist, als hätte sich heute alles gegen mich verschworen. Schon das dritte Mal, daß ich durch das Klappern von ein paar Sandalen aus meiner Langeweile und aus meiner Angst herausgerissen werde, doch jedesmal ist es nur eine der Schwestern, die, ihre Überbelastung und die Hitze im Gesicht, vorbeikommt, um nach mir und den Apparaten zu schauen.

 

Laute Stimmen aus der offenen Tür meines Zimmers reißen mich aus dem Schlaf. Der Oberarzt, begleitet von zwei Schwestern, teilt mir mit, daß sie sich nun doch entschlossen haben, mich zu operieren. Sie wollen die Fraktur mit einer Klammer stabilisieren und mit Knochenzement fixieren. Während der Arzt noch versucht, mir die Einzelheiten des Eingriffs zu erklären, machen die Schwestern sich an meinen Beinen zu schaffen. Auf meine Frage, was sie denn da tun, erklären sie mir, daß sie mit Wadenwickeln versuchen wollen, mein Fieber zu senken. Sie tauchen dazu ein paar Handtücher in eine Schüssel mit Eiswasser, legen diese dann um meine Unterschenkel und gießen zum Schluß Alkohol darüber, um die kühlende Wirkung noch zu verstärken. -Aber auch diesen Kälteschock spüre ich nicht. Vom Hals bis hinunter zu den Füßen habe ich überhaupt kein Gefühl. Weder Druck noch Schmerz, keine Wärme, keine Kälte, nichts ist da, was mir sagt, daß unterhalb meines Kopfes noch etwas anderes existiert. Die Schwestern und der Arzt gehen und lassen mich mit meinen Ängsten allein. Wie oft schon habe ich nach einem Termin für die Operation gefragt und mir dann vorgestellt, daß ich danach wieder laufen kann.

Und jetzt? - Jetzt, wo endlich etwas passieren soll, habe ich selber Angst vor dem Eingriff. - Was ist bloß los mit mir? Alles, was ich den Ärzten immer vorgeworfen habe, spukt nun in meinem eigenen Kopf herum.

 

»Na, wie geht's - ist wieder heiß, nich' wahr?«

Abgelenkt durch meine Grübeleien habe ich nicht bemerkt, daß die Putzfrau das Zimmer betreten hat.

Heute bin ich es, der was erzählen kann. Während sie über den Fußboden wischt, berichte ich ihr von der bevorstehenden Operation. Von meiner Angst sage ich ihr nichts. Wie so oft in den letzten Tagen spiele ich wieder den Mutigen.

»Ohjottohjott.« Auf ihren Wischer gestützt, schaut sie mich mit traurigen Augen an. »Wird schon alles gut geh'n.«

Sie verläßt das Zimmer und winkt mir noch einmal zu. Fast so, als wollte sie Abschied nehmen.

Wieder mit meinen Gedanken allein, merke ich, wie beschissen es mir geht.

Der Kloß in meinem Hals wird immer dicker. Mir ist schlecht, und ich bekomme keine Luft. Jeder Atemzug bedeutet Kampf und wird von einem schaurigen Röcheln begleitet. Ich kann bald nicht mehr.

Eine Schwester kommt ins Zimmer, um mir mitzuteilen, daß meine Mutter heute nicht kommen kann. Den Grund sagt sie nicht. Sie haben mich endlich operiert und ich liege wieder in dem alten, mir bekannten Zimmer.

Leider haben sich meine Hoffnungen, daß es mir nach dem Eingriff besser gehen wird, bisher nicht erfüllt. Das Fieber ist gleich hoch und die Verschleimung eher noch schlimmer als vor der Operation.

Als vor ein paar Tagen der Chefarzt zu seiner ersten Visite nach der OP zu mir ins Zimmer kam, um mich mit der Nachricht zu überraschen, daß das Rückenmark nicht verletzt sei, habe ich noch vor Glück geweint. Jetzt, eine Woche später, sieht die Sache schon wieder ganz anders aus.

Glück, Freude und Zuversicht haben Platz gemacht für Angst, Verzweiflung und Resignation. Das Atmen fällt mir immer schwerer und das Blubbern und Pfeifen, das man hört, wenn ich versuche, die Luft in meine verklebten Lungen zu saugen, sagt mir ziemlich deutlich, wie es um mich steht. Meine Furcht vor dem Alleinsein wird immer größer.

 

 

 

Absaugen oder unterstützende Vibrationen - wenn es nach mir ginge, würde den ganzen Tag über ein Pfleger oder eine Schwester neben meinem Bett stehen und mir, während ich ausatme, durch kurzes, schnell aufeinander folgendes Drücken auf meinen Brustkorb den Schleim aus den Lungen pressen.

Da ihre Zeit für jeden einzelnen Patienten jedoch knapp bemessen ist, beschränkt sich ihre Hilfe meist auf das von mir so verhaßte Absaugen. Eine Methode, die zwar recht effektiv und länger anhaltend, für mich jedoch so unangenehm ist, daß ich nur im äußersten Notfall zustimme. Jürgen, einer der Pfleger, ist in den letzten fünfzehn Minuten nun schon dreimal bei mir gewesen.

»Es hilft nichts - wollen wir nicht doch noch einmal absaugen? Schau, dann kriegen wir den Schleim von weiter unten raus, und du hast endlich etwas Ruhe.«

Reden kann ich nicht mehr, also blinzle ich mit den Augen, was soviel wie: »Na, wenn's denn sein muß!« bedeuten soll.

Jürgen nimmt den Schlauch und führt diesen durch die Nase und den Rachenraum bis zu meinen Bronchien ein.

Ich spüre noch den Würgereflex und fühle, wie sich etwas in mir aufbäumt . . .

 

Was in der Zwischenzeit passiert ist, weiß ich nicht. Jürgen steht immer noch an meinem Bett, aber mit ihm sind es plötzlich noch ein paar Ärzte und Schwestern mehr. Alle schauen mich so eigenartig an und hantieren an Geräten, die vorher noch nicht an meinem Bett waren. Ein Gefühl von Todesangst befällt mich. Mit meinen Augen klammere ich mich an Jürgen fest.

»Schick sie alle weg, ich hab Angst.«

Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, verlassen alle bis auf Jürgen das Zimmer.

»Das machen wir aber nicht wieder.«

Ich weiß zwar nicht genau, was ich damit sagen will, doch Jürgens Antwort und seine Versuche mich zu beruhigen zeigen, daß sie alle wohl in ziemlicher Sorge um mich waren.

»Nein, nein - sei ganz ruhig, jetzt wird alles gut.«

Er hält meine Hand und bleibt noch eine ganze Weile neben mir stehen.

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wußte - ich hatte gerade einen Herzstillstand gehabt, - war also für kurze Zeit klinisch tot. Wie schlimm es damals um mich stand und was alles geschehen war, hat man mir erst sehr viel später erzählt.

 

 

 

In den darauffolgenden Wochen gab es im Westend-Krankenhaus nur noch ein Ereignis, von dem ich hier berichten möchte. Dieses Erlebnis aber war genau der Hoffnungsschub, den ich damals brauchte, um nicht den Mut zu verlieren.

Meine Genesung machte langsam Fortschritte. Fieber hatte ich keines mehr, die Bronchien und Lungen waren wieder frei und die Ärzte überlegten, wann sie mich zur weiteren Rehabilitation ins Oskar-Helene-Heim überweisen sollten.

Einer von ihnen, ausgerüstet mit Fragebogen, Kugelschreiber und anderen Utensilien, deren Sinn und Zweck ich noch nicht kannte, erschien eines Tages an meinem Bett.

»Na, wie geht's uns denn heute?«

»Uns ist gut! - Wie es mir geht, weiß ich, aber Ihnen - keine Ahnung.«

Ich grinse ihn an und er grinst zurück.

»Ganz schön munter, der Herr, wird wohl Zeit, daß Sie hier raus kommen!«

»Darauf kannst du einen lassen«, denke ich im stillen. Ich habe zwar schlechte Laune, muß mir jedoch eingestehen, daß ich über die Abwechslung recht froh bin.

»Ja, Herr Böttcher, wir denken, daß wir Sie Ende nächster Woche zur Reha ins Oskar-Helene-Heim entlassen können. Was wir hier tun konnten, haben wir getan und für den Rest sind jetzt die anderen Kollegen und Therapeuten zuständig. Was ich heute noch von ihnen brauche, sind die Daten und Fakten für meinen Zwischenbericht.«

Er beginnt, seine Listen zu beschriften.

»So, ich nehme jetzt diese spitze Nadel und Sie sagen mir, von wo ab Sie die Berührung nicht mehr als schmerzhaft empfinden.« Er fängt im Gesichts- und Halsbereich an und pikst sich bis zum Brustkorb hinunter. Unterhalb des Schultergürtels ist es dann jedesmal mit meinem Schmerzempfinden vorbei.

»Jetzt spüre ich nichts mehr.«

Diesen Satz sage ich immer dann, wenn er mit einem seiner mitgebrachten Gegenstände einen neuen Versuch startet.

Keinen Schmerz, keine Wärme und Kälte, auch nicht, ob ein Gegenstand rund oder spitz ist, immer dann, wenn er in den Brustbereich kommt, kann ich nur noch verneinen.

Er nimmt das dünne Laken fort, mit dem man mich zugedeckt hat.

»So etwas spüre ich aber!«

Durch die Untersuchung sensibilisiert, wird mir schlagartig bewußt, daß ich schon seit längerer Zeit wieder ein ganz normales Berührungsempfinden habe. Dieser Teil meiner Behinderung hatte sich anscheinend so langsam zurückgebildet, daß ich die Veränderungen überhaupt nicht registriert hatte.

»Aber ich denke, Sie spüren unterhalb des Schultergürtels nichts mehr?« Der Arzt sieht, genau wie ich, etwas irritiert aus.

»Stimmt, aber Sie haben mich immer nur nach Wärme, Kälte oder Schmerz gefragt, und die kann ich nur an den Schultern, am Hals, im Gesicht, also im ganzen Kopfbereich unterscheiden. Einfache Berührung aber - die spüre ich, glaube ich, überall.« Der Arzt läßt seine Hand über meinen Körper gleiten. Schulter -Brust - Bauch - das Bein hinunter - beim Fuß hält er inne. »Und wo bin ich jetzt?«

Ich habe immer noch den Extensionsbügel in den Schläfen und kann mich nicht bewegen. Auch den Arzt, der an meinem Fußende steht, kann ich nicht sehen.

»Sie haben ihre Hand an meinem rechten Fuß.«

»Ich werde verrückt! Und welcher Zeh?«

»Der neben dem kleinen.«

Der Doktor verläßt das Zimmer, um kurze Zeit später mit dem Chefarzt zurückzukehren.

»Was höre ich da, wir machen Fortschritte?«

Vorhin hat mich diese dämliche Formulierung noch gestört, jetzt, euphorisch vor Glück, kann ich darüber nur lachen.