Beide schlossen sich in die Arme und genossen den Blick auf den funkelnden See. Nach einer langen verkuschelten Stunde verließen sie die Lichtung, um in ihre Nachtquartiere zurückzukehren. Innig küssend verabschiedete sich das Paar an der Taverne und ging getrennter Wege. Sekki lief ins stockfinstere Lager, wobei ihn als Shadow die Dunkelheit nichts ausmachte. Er genoss sie sogar. – Doch als er den Eingang durchschritt, bewegte sich ein Schemen gemächlich auf ihn zu. Reflexartig nahm Sekki die für Schadows typische Kampfhaltung ein, er streckte ein Bein nach hinten aus und hob die Hände vor seinen Körper. Doch dann entspannte er sich wieder, nach dem ersten Schreck war er sich ziemlich sicher, dass ein Schemen, der sich so langsam bewegt, wohl kaum kämpferische Absichten hegt.

„Sekki?“, rief die Gestalt, die sich vorsichtig auf Sekki zu bewegte.

„Lombus? Du bist noch wach?“, sagte er zu ihm.

„Dasselbe könnte ich dich fragen, wenn ich die Antwort nicht bereits kennen würde. Du hast dich wieder mit dieser Kellnerin getroffen, nicht wahr?“

Sekki sackte in sich zusammen, schüttelte den Kopf und sprach: „Jetzt geht das wieder los. Warum kannst du mir das nicht alleine überlassen? Das hat mit dir nichts zu tun.“

„Ich … nun ja …“, unerwartet stockte Lombus. Scheinbar hatte Sekki irgendeine Schwachstelle getroffen. „Es ist meine Verantwortung, genau. Du bist mein Schüler, ich trage die Verantwortung für dich und deine Taten. Und ich kann nicht zusehen, wie du dein Herz brichst und ihres dazu“, er klang nun zornig.

„Dann schließe deine Augen. Jeder trägt selbst die Verantwortung für seine Taten.“ Das klang zwar etwas frech, war aber nicht ernstlich böse gemeint.

Sekki schob sich an Lombus vorbei. Der drehte sich um und packte ihn an der Schulter.

„Ist es dir mit diesem Mädchen wirklich so ernst?“, fragte Lombus in einem Ton, der eher von einem besorgten Opi erwartet würde.

„Natürlich, was ist denn das für eine Frage?“

„Nun, dann … wie soll ich sagen … wünsche ich dir alles Gute und … du kannst immer zu mir kommen, wenn du Hilfe brauchst, ja?“

Sekki wirkte verwirrt.

„Keine Standpauke? Was ist mit ‚Du wirst ihr sowieso das Herz brechen. Menschen und Feen, dass klappt nie.’?“

„Das mag stimmen … und du bist ein Mensch. Aber ich vertraue dir. Wenn du sagst, dass du es ernst mit ihr meinst, dann hast du meinen Segen. Das wollte ich damit sagen.“

Sekkis Augen wurden rund und Freude wich dem Ärger. Sekki fiel Lombus um den Hals und sprach: „Danke. Danke für dein Vertrauen.“

„Schon gut, schon gut“, er drängte Sekki unsanft beiseite. „Wenn das jemand gesehen hat, werde ich alles abstreiten, nur damit du es weißt. Junge, du kannst mich doch nicht einfach umarmen, weißt du, wie das aussieht50?“

„Nein. Aber es ist mir auch völlig egal“, meinte er heiter, ja belustigt, ehe er sich umwandte und zum heimischen Pilzkopf spazierte.

Als Sekki das Zelt betrat, hörte er eine körperfunktionelle Kettensäge schreien. Das Schnarchen des Erzkanzlers ließ auf einen schweren Schlaf schließen. Sekki legte sich hin und träumte von einem schönen Abend mit Ala. Nun, er träumte nicht tatsächlich, vielmehr schwelgte er in der Erinnerung und genoss sie in vollen Zügen, bis die Müdigkeit siegte und er in einen tiefen Schlaf fiel.

*

Eine klare, ereignislose Nacht verstrich, der ein strahlender sonniger Morgen folgte. Ein Tagesanbruch, wie geschaffen, dem Summen der Fliegen zu lauschen, dem Flug der Vögel zu folgen. Jedoch nicht im Brachland, hier geschah weder das Eine noch das Andere. Selbst der wärmste Morgen kann ein trostloses Land nicht plötzlich in farbiger Pracht und noch weniger in prallem Leben erstrahlen lassen. Die Einöde präsentierte sich in ihrer gewohnten Schlichtheit, die der Sensei bevorzugte, da sie strategisch nützlich war. Er hatte seine Truppen in der Eingangshalle von Eras Tu versammeln lassen, um Instruktionen und Strategien für eine Schlacht zu bekannt zu geben, deren Ende er nicht vorhersehen konnte. Niemals hätte er es vor den Anderen zugegeben, aber strategisch betrachtet, befanden sie sich klar im Nachteil. Sicher, sie waren in der Verteidigung und trafen ausgeruht auf einen erschöpften Gegner, der einen langen Weg hatte auf sich nehmen müssen. Doch dieser Vorteil schrumpfte, führte der Sensei sich vor Augen, dass er unvorbereitet auf einen vorbereiteten Gegner treffen würde.

Kennst du dich und deinen Gegner, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Kennst du nur dich oder deinen Gegner, wird jeder deiner Siege eine Niederlage mit sich führen. Kennst du weder dich noch deinen Gegner, wirst du stets unterliegen.51 – ‚Ich kenne zwar mich, doch nicht meinen Gegner’, dachte der Sensei, ‚das wird … interessant.’ – Er hob seine Hände und sorgte damit für Ruhe.

„Liebe Shadows. Wir haben es geschafft, die Universität einzunehmen, doch die Illusionisten wollen sie zurück. Ich spüre es deutlich. Ihr Drang nach Rache ist groß, und offenbar finden sie die Vorstellung amüsant, hier anzustürmen, um von uns geplättet zu werden. Ehrlich gesagt, ich kann es ihnen nicht verdenken. Wenn ich mir vorstelle, wie diese Pseudomagier vorstoßen, um von Rock platt wie Flundern gemacht zu werden, so erscheint mir dies doch als recht amüsant. Allerdings vermute ich, dass es aus ihrer Perspektive anders wirken würde … na ja, offenbar alles Masochisten.“

Er machte eine Pause, doch das erwartete Gelächter blieb aus. ‚Was für ein ungebildeter Haufen’, dachte er, ‚kennen nicht Mal das Wort Masochisten.’

„Wie dem auch sei, wir werden sie, wie bereits angekündigt, hier erwarten und ihnen einen heißen Empfang offerieren. Sobald ihr die Glocke schlagen hört, werdet ihr euch auf eure Posten begeben, dann folgt der Angriff. Die Bogenschützen postieren sich in den Türmen, die Nahkämpfer im Tor.“

„Und was machen wir richtigen Shadows?“, fragte einer.

„Im Hof habe ich ein Loch entdeckt, welches mitten auf das Kampffeld führt52. In diesem werdet ihr euch postieren und sobald ihr die Glocke ein zweites Mal hört, stürmt ihr daraus hervor. Alles klar?“

„Ja!“, schrie die Masse.

„Dann bereitet euch vor. Schärft eure Klingen. Prüft eure Ausrüstung. Bildet kleine Gruppen. Macht was ihr wollt, aber tut etwas Nützliches. Ihr dürft gehen.“

Die Armee nickte und verteilte sich. Der Mann in der Kutte lehnte regungslos am Eingangstor und hielt die Arme verschränkt. Der Sensei wartete eine Weile, dann schritt er zu ihm hinab und sprach: „Schlaft Ihr oder so?“

„Ich gehe nur in mich.“

„Das stelle ich mir sehr unangenehm vor.“

„Kein Wunder, bei Eurem Inneren.“

„Habt Ihr schon einmal gesehen, wie das Innere zum Äußeren wird und umgekehrt?“

„Auf diesen Anblick würde ich gerne verzichten.“

„Dann wäre es gut, wenn Ihr Euch einen anderen Ton angewöhnt.“

Der Mann stieß sich langsam von der Wand ab und hob den Kopf, doch sein Gesicht blieb in der Dunkelheit der Kutte verborgen.

„Droht Ihr mir?“, fragte er ernst, auf eine Weise, die seine Kampfbereitschaft anzeigte.

Da der Sensei auf ihn angewiesen war, sprach er schnell: „Nein, es sollte nur ein autodidaktischer Hinweis sein, mehr nicht.“

„Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es wäre schön, wenn Ihr dies in Zukunft unterlasst. Es stimmt mich ärgerlich, wisst Ihr?“

Eine unangenehme Stille herrschte zwischen beiden, nach einer Weile ergriff der Sensei wieder das Wort: „Rock muss die Front bilden. Meine Leute sind für den Kampf auf offenem Feld nicht geeignet. Bekommt Ihr das hin?“

„Das steht außer Frage. Wie sollten sie ihn bezwingen?“

„Eben, das möchte ich auch wissen. Es bereitet mir Sorge. Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Deswegen haben sie eine Siegeschance. Sie können planen.“

„Ich wüsste nicht, wo sie eine Chance haben.“

„Unwissenheit ist ein guter Schild, aber ein stumpfes Schwert.“

Der Sensei drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Der Mann in der Kutte lehnte sich wieder an die Wand und dachte über die letzten Worte nach. ‚Was auch immer passiert’, dachte er, ‚für mich ist es doch nur eine Entscheidung zwischen Schlecht und Schlimmer.’

*

Sekki wurde von einem lauten, dröhnenden aber fröhlichen: „Moorgen!“ geweckt.

Er öffnete die Augen und erblickte Merrenor, der bester Laune schien.

„Na, junger Mann, gut geschlafen? Hatte fast schon gedacht, du wärest mit dem Feenstaub in Berührung gekommen.“

„Feenstaub?“, fragte Sekki verschlafen.

„Na dieser gelbglitzernde Puder, mit dem sie euch in der ersten Nacht beschossen haben. Er sorgt für einen tiefen und vor allem erholsamen Schlaf. Beachtlich, was die Natur so alles erschafft.“

Sekki richtete sich auf und rieb sich die Augen.

„Wie spät ist es?“

„Es ist schon gegen Mittag. Oria gab eben Bescheid, wir sollten alle zur Versammlung kommen, eine Strategie ausarbeiten. Genau genommen ist sie das ja schon, dieser Lysandor erscheint mir überaus eifrig. Begleitest du uns? Was für eine Frage, natürlich kommst du mit. Auf, mein Junge!“

Er verließ die Unterkunft. Sekki zupfte seine Kleidung zurecht, überprüfte seine Dolche und folgte Merrenor aus dem Lager. Fast zweihundert Krieger und Bogenschützen der Feen hatten sich versammelt und unterhielten sich leise miteinander. Etwas abseits saß eine Gruppe von zwanzig Späherschützen im Lotussitz53 und schienen zu meditieren. Sekki und Merrenor gingen an ihnen vorbei und zur Lichtung. Die Konstellation war die gleiche wie beim letzten Mal. Auf den liegenden Bäumen saßen vier Gruppen, jede für sich. Die Bestienmeister, die Dyalenen, die Illusionisten und nicht zuletzt die Herrschaft. Lysandor stand diesmal auf dem Felsen in der Mitte. Was die militärischen Aktionen anging, schien er das Sagen zu haben. Sekki und Merrenor setzten sich zu Lombus, der auf dem Baumstamm neben sich Lord Tralla hockte, woraus Sekki schloss, dass der sie unterstützen werde. Lysandor nickte zufrieden und fing seine Rede an.

„In der Eile der Zeit entschied ich mich für folgenden Plan bezüglich der morgigen Schlacht. Unser größtes Problem wird Rock sein, dem unsere Infanterie nicht gewachsen ist. Wie die Illusionisten berichteten, verfügen die Gegner über eine unzureichende Fußtruppe, sodass zu erwarten ist, dass sie uns Rock direkt entgegenschicken werden. Da sie nicht wissen, dass wir den Phönixstab besitzen, ist anzunehmen, dass sie keinen anderen Plan haben. Lord Trallala, der als Einziger über den Phönix Kontrolle hat, wird sich Rock annehmen. Sein Sieg sollte unproblematisch sein, da Rock ein Erdwesen ist und nicht fliegen kann. Auch vor Distanzattacken brauchen wir uns nicht zu fürchten, das Brachland ist frei von Strukturen und Objekten, sodass Rock nichts finden wird, was er nach dem Phönix werfen kann. Wenn Rock niedergestreckt ist, wird unsere Infanterie angreifen, da wir Eras Tu nicht noch mehr beschädigen wollen. Die Bestienmeister werden die Truppen, so gut es geht, mit ihren beschworenen Kreaturen unterstützen. Sollte es Verletzte geben, so ziehen sich die bitte in die hinteren Reihen zurück, wo die Dyalenen für Heilung sorgen werden. Ihre Aufgabe ist es auch, den Späherschützen mit ihrer Magie einen Vorteil zu verschaffen.

Die Illusionisten postieren sich vor den Bogenschützen und unterstützen die Infanterie mit ihren Illusionen oder sonstiger Magie. Wenn es keine Fragen oder Einwände gibt, wird die Operation morgen Mittag so stattfinden. Wir werden uns früh hier versammeln, um gemeinsam in die Schlacht zu ziehen. Sind alle damit einverstanden?“

Er mache eine höfliche Pause, obwohl er ahnen musste, dass es keine Einwände geben würde. Er hatte die ganze Nacht getüftelt, verschiedene Strategien durchdacht und verworfen und war sich seiner Sache sicher, was man ihm auch ansehen konnte.

„Da offenbar alle einverstanden sind, habe ich nichts weiter anzumerken. Erholt euch bis morgen und spart eure Kräfte. Wir werden sie brauchen. Danke für eure Zeit.“

Er verneigte sich kurz und die Versammlung löste sich schwatzend auf. Merrenor lehnte sich vor und blickte den Lord an.

„Schön, Euch mal nicht als Gegner zu betrachten.“

Der Lord schien ein wenig bedrückt und sprach kleinlaut: „Erzkanzler … die Vorfälle … ich bereue meine Taten. Viele fanden den Tod und weitere Tote wird es geben.“

„Es ist nicht direkt Eure Schuld. Der Sensei benutzte Euch wie eine Marionette.“

„Das wird er büßen.“

„Spart Euren Zorn für morgen auf.“ Der Erzkanzler stand lächelnd auf.

„Wieso traut Ihr mir? Immerhin habt Ihr meinetwegen Eras Tu verloren.“

Der Erzkanzler drehte ihm seinen Kopf entgegen: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Vielleicht wird dieses Bündnis nicht lange halten, vielleicht werdet Ihr Eure Ziele bald ändern. Doch dies alles kann erst nach der Schlacht geschehen. Ihr braucht uns und wir Euch. Verratet Ihr uns, besiegelt Ihr Euren eigenen Untergang. Ihr seht, Euch kann nichts daran liegen, uns zu verraten, also liegt uns nichts daran, Euch zu misstrauen.“

Trallala wirkte erstaunt. Mit einer solchen Antwort hatte er nicht gerechnet. Der Erzkanzler hatte indes seinen Kopf gewendete und war, wie die meisten der Zuhörer, von dannen geschritten.

Lombus stand auf und lief einige Schritte, die Hände auf dem Rücken gefaltet.

„Was wirst du tun, Sekki?“, fragte er, ohne sich umzublicken.

Sekki stand auf und folgte ihm. „Wie meinst du das?“

„Wie wirst du den heutigen Tag verbringen? Gefällt dir diese Frage besser?“, er lächelte.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich sollte bestimmt nervös sein, wegen morgen und so … aber momentan fühle ich mich … gelassen.“

„Das ist in der Tat erstaunlich. Fruchten deine Erfahrungen immer so schnell?“

„Wie bitte?“

„Nun ja, wenn du viele Krisen erlebt hast, entwickelst du eine gewisse Resistenz. Ebenso wie ein Krieger. Wenn er seine erste Schlacht führt, ist er nervös und begeht deshalb viele Fehler. Doch mit jeder Schlacht sinkt seine Unruhe und der Kampf wird zur Normalität, in der er klar denken kann. Du hast erst einen Kampf erlebt, spürst aber keine Erregung. Verstehst du?“

„Ich denke schon. Aber ich finde es auch seltsam.“

„Vielleicht hast du ein emotionales Helferlein … mit Namen Liebe“, Lombus grinste, „brauchst es nicht zu kommentieren, ich weiß es ja“, fügte er hinzu.

„Ich liebe sie. Aber ich habe Angst, dass ich den morgigen Tag nicht überlebe. Dann muss sie ohne mich auskommen. Sie sagt – so wie du auch – dass die Herzen der Feen schnell brechen und bei meinem Tod …“

„Nun …“ Lombus kratzte sich am Bart, „ich denke, die Lösung ist ziemlich einfach.“

Sekki blickte ihn erstaunt an.

„Du solltest einfach vermeiden, getötet zu werden.“

„Ein toller Rat“, stellte Sekki ernüchternd fest.

„Das wird schon“, grinste Lombus zurück.

*

Der Tag der großen Schlacht war gekommen. Ein fröhlicher, sonniger Morgen versprach, die Ereignisse des Tages in hellem Licht erstrahlen zu lassen und säte zugleich Optimismus in den Gemütern. Die Truppen der Feen, Dyalenen, Bestienmeister und Illusionisten hatten sich auf der Versammlungslichtung getroffen und brachen nun unter der Führung von Lysandor und Oria zum Brachland auf. Jede der Parteien bildete eine Gruppe, an deren Spitze ihr Anführer lief. Die Dyalenen folgten Lilie, die Bestienmeister Bärenklau, die Infanterie wurde von Lysandor geführt. An der Spitze der Illusionisten marschierte Merrenor, begleitetet von Lombus und Sekki, die mittlerweile sein Gefolge bildeten. Die Feen kannten den Weg, der etwa vier Stunden dauern würde. Genug Zeit also, um ausgiebig zu plauschen.

Da die Illusionisten Meister der Plauderei waren – auch wenn sie gern in aneinander gereihten Monologen sprachen –, herrschte ein munteres Gemurmel, welches die Gruppe beruhigte. Auch Lombus schien der Sinn nach einem Plausch zu stehen und er sprach zu Sekki: „Beeindruckend? Diese Vielfalt an Talenten, von Bestienmeister über Dyalenen und, und, und.“

„Ja, nur Eines verstehe ich nicht“, Sekki nickte zur Infanterie. Genau genommen war es eine Kavallerie, denn die letzten zwei Reihen der feeischen Schwertkämpfer ritten auf Wölfen. Das waren keine normalen Wölfe, sie waren viel größer und hatten spitze Hörner und einen gezackten Schwanz, der ganz offensichtlich nicht der Zierde diente. „Woher haben sie solche seltsamen Wesen? Haben die Bestienmeister sie beschworen?“

„Ja. Gut erkannt“, sprach Lombus gelassen.

„Aber wieso haben sie sie schon jetzt beschworen? Das ist doch Vergeudung von Magie! Warum haben sie damit nicht gewartet, bis wir im Brachland sind. So verschwenden sie das Mana.“

„Moooment“, trumpfte Lombus auf und deutete mit der flachen Hand vor die Brust, eine untrügliche Geste für die Bedeutung seiner folgenden Worte.

„Diese Wesen sind keine Illusionen und die Magier keine Illusionisten. Die Bestienmeister und Dyalenen gehören der magischen Gruppe der Druiden an. Sie gehen mit Mana ganz anders um, musst du wissen.“

„Ach? Und auf welche Weise? Sammeln sie nicht wie wir ihre geistigen Kräfte, um das Mana zu formen?“

„Nein. Das ist nur eine von vielen Möglichkeiten und wahrscheinlich die geistig anstrengendste. Die Druiden meditieren und ziehen das Mana aus ihrer Umwelt. Aus der Luft, den Pflanzen, den Tieren und so weiter.“

„Wie geht das?“

„Das kann ich dir nicht genau erklären. Es … es ist wohl viel Intuition dabei. Wenn ich es richtig verstanden habe, erzeugt ihre Meditation ein magisches Vakuum. Beenden sie die geistige Übung dann, muss die Natur wieder ein Gleichgewicht herstellen. Um die Leere zu füllen, saugt sie von überallher das Mana. Dieses steht den Druiden dann zur Verfügung.“

„Das ist interessant. Aber was hat es mit diesen Wesen auf sich? Du sagtest, sie sind keine Illusionen. Aber lebendig können sie doch auch nicht sein, oder? Kann Mana Leben erschaffen?“

„Ah, eine der schweren Fragen. Mal überlegen …“, während Lombus nachdachte, ergriff Merrenor nun das Wort.

„Du bist sehr wissbegierig, Junge. Das macht einen Magier aus. Das Bestreben, permanent Wissen zu erlangen. Dir fehlt nur noch die Weisheit, auch das Nicht-Wissen zu erdulden.“

„Bedeutet das, Ihr wollt mir keine Antwort geben?“

„Das sagte ich nicht. Die Antwort bekommst du, aber mit zunehmendem Wissen wirst du erkennen, dass viele Dinge unverständlich bleiben müssen. Es gibt Dinge, die nicht für menschliche Gehirne greifbar sind. Die Priester betrachten dies als eine Entität, der sie den Namen Gott gaben.

Aber zu deiner Frage. Diese Wesen leben auf biologische Weise. Ihr Körper funktioniert autonom, doch fehlt ihnen eine Seele und also ein eigener Wille, abgesehen von Instinkten, die ein Körper nun mal mit sich bringt. Sie brauchen Nahrung, Wasser, Luft und so weiter. Anders als unsere Illusionen – die wir durch Gedanken konstant anpassen und am Leben erhalten müssen – sind ihre Wesen angreifbar. Du weißt ja, wenn eine Illusion Schaden nimmt, spiegelt sich dies als geistige Erschöpfung des jeweiligen Illusionisten wider. Bei diesen Wesen ist das nicht so. Sie erleiden Wunden und verenden, wie ein normales, sterbliches Wesen. Nur, dass sie keinen Kadaver hinterlassen, denn sie bestehen ja aus Mana, das biologische und anatomische Eigenschaften kopiert hat. Deshalb müssen Druiden auch nicht so viel Mana aufwenden, um ihre Kreaturen zu kontrollieren. Und deswegen können sie auch über sehr viel mehr Kreaturen herrschen.“

„Wow! Aber … dann ist ja ihre Magie viel stärker als unsere.“

„Das ist Ansichtssache. Wenn die Umgebung kein Mana mehr bietet, sind sie machtlos. Zudem entziehen sie ja der Umgebung das Mana und können damit versehentlich Tristes und Trostlosigkeit erzeugen.“

„So wie im Feenwald! Deswegen gibt es da kaum Leben und kein Licht.“

„Du lernst schnell. Sie entziehen dem Wald das Mana und lassen ihm gerade so viel, dass seine Pflanzen leben können. Jede Magie hat ihren Preis. Wir setzen unser Leben aufs Spiel und die Druiden gefährden die Umwelt damit. Deswegen sollte man nie mehr Magie einsetzen, als nötig.“

„Verstehe.“ Sekki nickte.

„Jaja, mit der Magie ist es nicht so einfach. Alles kommt und geht … Doch nur die Magier wissen, wie schnell es kommt und geht. Schöpfung und Vernichtung, beides mit bloßer Magie leicht zu bewerkstelligen. Weißt du, mein Junge, wenn du eines Tages so alt bist wie ich, wirst du das verstehen.“

„Was werde ich dann verstehen?“, fragte Sekki verwirrt.

„Einiges. Doch dafür ist noch Zeit. Jetzt sollten wir uns um die Schlacht kümmern“, beendete Merrenor das Gespräch. Sekkis Blick wurde sehnsüchtig, er dachte an Ala.

„Wieso dieser betrübte Blick? Wir werden den Kampf heil überstehen, da bin ich ganz zuversichtlich. Dann kannst du auch zu dieser hübschen Fee zurückkehren und mit ihr dein Glück finden.“

Sekki schaute überrascht zu Merrenor auf. Auch in Lombus Augen war Verwunderung zu sehen.

„Ihr … Ihr wisst davon?“, fragte Sekki verblüfft.

„Aber natürlich. Ich bin vielleicht alt, aber nicht blind oder taub. Selbst wenn ich deine verträumten Blicke übersehen hätte, die dir im Gesicht stehen, seit wir ihr begegnet sind, selbst dann hätte ich immer noch deine kleinen … Kondiskusse54 mit Lombus bemerkt.“

„Aber … warum habt Ihr denn nichts gesagt?“

„Was hätte es geändert? Du warst felsenfest überzeugt und auch Lombus’ Wille, der gewiss guten Absichten entsprang, war ein unüberwindbarer Wall. Was auch immer ich gesagt hätte, es hätte die Situation nicht geändert. Zudem war es nicht mein Konflikt. – Immerhin ist ja alles gut ausgegangen. Ihr habt nachgegeben, richtig, Lombus?“

Er sah zu Lombus, der neutral nickte.

„Ihr habt die Geschichten gehört, die berichten, dass Beziehungen zwischen Menschen und Feen nie funktionierten. Ihr wolltet Sekki vor diesem Schicksal bewahren, doch habt Ihr erkannt, dass die Tatsache, dass Etwas, was schon einmal misslungen ist, nicht automatisch wieder misslingen muss. Richtig?“

„Ja, Erzkanzler. Zudem musste ich eingestehen, dass ich Sekki tatsächlich so einschätze, dass er ihr Herz nicht brechen wird.“

Der Erzkanzler nickte und geraume Zeit herrschte angenehme Ruhe, dann sprach Sekki mit freundlicher Miene in den Raum, als würde er niemanden direkt ansprechen wollen: „Hach, es ist schön, so tolle Freunde zu haben.“

Lombus und Merrenor blickten zu Sekki und grinsten nun ebenfalls.

*

Wie geplant, erreichten die alliierten Kräfte der Feen und Illusionisten gegen Mittag das trostlose Brachland. In seiner Mitte glänzte in der Sonne eine zerfallende Zitadelle der Blaumagie, genannt Eras Tu, als wollte sie den Illusionisten zurufen: „Ich bin hier. Befreit mich von den Shadows.“

Vor dem einst so prunkvollen Gebäude stand wie eine lebende Mauer, Rock, bereit, jedem Gegner mit all seiner Macht gegenüberzutreten und den neuen Hort der Shadows zu verteidigen. Die Armee stellte sich einen halben Kilometer von ihm entfernt auf. Um Rock zu erreichen, würde ein Krieger etwa zwanzig Minuten brauchen, was einen Sturmangriff wirkungslos machte und von vornherein ausschloss. Doch näher konnten sie nicht heran, denn die gleiche Strecke würde Rock in fünf Minuten bewältigen. Wenn er auch träge war, mit jedem seiner riesigen Schritte überwand er doch eine große Strecke. Die Armee positionierte sich, vor dem Heer standen Lysandor und Oria. Es war immer wichtig, dass die Anführer vor der Armee Aufstellung nahmen und furchtlos wirkten, damit ihre Truppe nicht mutlos würde. Die ersten drei Reihen besetzten die Krieger der Feen, dann folgten die Späherschützen, hinter denen Illusionisten und Druiden standen. Die vorletzte Reihe bestand aus Bogenschützen und die Nachhut bildeten die Dyalenen. Hinter den Truppen standen im Abseits zwei Personen. Lord Trallala, der den Stab des Phönix trug und neben ihm Merrenor. Obwohl er auf gewisse Weise auch ein Anführer war und also vor der Armee hätte Stellung beziehen müssen, machte er in diesem Fall eine Ausnahme. Oria und Lysandor ersetzten ihn, und so konnte er etwas machen, was er Vertrauensprotektion55 nannte.

Die Sonne schien licht am wolkenlosen Himmel, brannte ungehindert und erbarmungslos ihre trockenen Strahlen auf das Brachland und ließ es zu Staub trocknen. Eine schwache Brise trug heißen Staub vom Feenwald herüber und heizte die Atmosphäre zusätzlich auf. Niemand konnte sich erklären, woher diese fast elektrische Spannung kam, doch jeder spürte sie, als wäre sie eine ganz natürliche meteorologische Erscheinung. Die Hitze mochte für die ungeschützte Armee der alliierten Feen und Illusionisten von Nachteil sein, aber bei genauerem Hinsehen stellte sie sich als vorteilhaft heraus. So war ihnen einerseits der Rückenwind hilfreich, weil er dem Gegner die Staubkörner wie kleine Nadeln entgegenschleuderte und außerdem wurde die Kraft ihrer mächtigen Feuerkreatur durch Hitze unterstützt.

Auf der gegnerischen Seite wartete der Mann in der Kutte darauf, Rock in den Kampf zu schicken. Er hatte seine Position auf dem höchsten Platz im mittleren Turm bezogen, da er von hieraus den besten Überblick hatte. Auf dem balkonähnlichen Vorbau stand hinter ihm der Sensei, auf dessen Stirn dicke Schweißtropfen perlten.

„Worauf warten sie wohl?“, fragte er. Die Frage richtete sich eigentlich an ihn selbst, doch gab der Mann in der Kutte eine Antwort.

„Auf den richtigen Moment.“

„Wann soll der gekommen sein? Wenn wir alle an Altersschwäche gestorben sind?“ Er lächelte über seinen kleinen Scherz.

„Soll ich Rock schicken?“, fragte der Mann kühl.

„Nein, lass sie kommen.“

„Wie lange das wohl dauern wird?“

Es ging ganz plötzlich. Genau genommen dauerte es keine zwei Minuten bis die Schweißperlen des Senseis wie dicke Tränen sein Gesicht überschwemmten. Seine Augen wurden groß und rund vor Entsetzen. Der Mann in der Kutte wich mit einem Ruck zurück und prallte gegen den Sensei, der beinahe umfiel. – Hinter der alliierten Armee erhob sich eine gewaltige Staubwolke, in deren Zentrum eine Windhose Tonnen von Staub in ihren Sog aufnahm. Sie wurde größer und größer und stieg bis in den Himmel empor. Dort komprimierte sich die Wolke zu einer riesigen Kugel und verzehrte sich pulsierend in einer Supernova. Der glühende Ball schien aus reinem Magma56 zu bestehen und glühte im blendenden Gelbrot. An seiner Oberfläche explodierten hier und da kleinere Vulkane und ließen unzählige Flammen züngeln. Nun wuchs der Feuerball, wurde immer gewaltiger und erreichte schließlich einen Durchmesser von zwanzig Metern. Die Explosionsherde erstarben und gleichzeitig verlangsamte sich seine Rotation, bis er reglos am Himmel stand und um so intensiver glühte.

Plötzlich knirschte es und das Feuergebilde durchzog ein tiefer Riss, der sich nach oben teilte, ähnlich einem auf dem Kopf stehenden Ypsilon. Er überspannte den Feuerball und trennte ihn in drei Teile. Sie klappten an den Seiten auseinander und bildeten Flügel, die glühende Magma spien und hellauf loderten. Sie glichen Adlerschwingen, deren flüssige Feueroberfläche nicht starr wie Vogelfedern, sondern viskos war, wie ein Feuerfluss, der in eine Form gegossen wird. Die Flügel erreichten in Sekundenschnelle die beeindruckende Spannweite von vierzig Metern. Der letzte Teil der Kugel sprang auf und entfaltete einen prächtigen Schwanz, ebenso buschig wie der eines Fuchses, wie der vieler Füchse, die in einem Bündel zusammengeschnürt wurden und sich fächern. Diese wogende Welle leuchtete hellgelb und wechselte zunehmend ins Blutrot, je mehr sie sich ihrer Schwanzspitze näherte.

Unter dem Schwanz verbarg sich ein majestätisches Haupt mit einem langen starken Hals, der sich ähnlich einem Schwanenhals, nach oben reckte und geschwungen am Kopf endete. Der spitze, lange Schnabel ragte daraus hervor, über ihm geschlitzte, länglich nach hinten gezogene Augen, die erhaben und mystisch in den Himmel strahlten. Der imposante Kamm übertraf alles. Er lief in lodernden, runden Zacken von den Augen über den Hinterkopf und endete in einem feurigen Schwall, der sich über den ganzen Rücken ergoss.

„Was ist das? Wo haben sie dieses Wesen her?“, sprach der Sensei und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Doch aus seiner Stimme schrie die blanke Angst.

„Der Phönix! Es gibt ihn also tatsächlich!“, antwortete der Mann.

„Ihr wisst davon?“

„Ja … doch hielt ich ihn für eine Legende. Der Phönix ist eine Art Patron meiner Familie. Niemand weiß mehr, woher wir ihn hatten, doch spielte das keine Rolle, da der Stab, der den Phönix kontrolliert, als verschollen galt.“

„Tja, jede Legende hat einen wahren Kern. Seid Ihr angesichts dieses Monsters in Bezug auf unsere Schlacht immer noch zuversichtlich?“

„Wenn dieses Wesen nicht fliegen würde, hätte ich ein besseres Gefühl. Aber so ist Rock fast nutzlos.“

„… haltet mit Rock so lange es geht stand.“

„Was habt Ihr vor?“

Der Sensei grinste.

„Ich verleihe Eurer Marionette Flügel.“

*

Der Phönix glitt majestätisch über den Himmel auf Eras Tu. Davor verharrte Rock, der dem Phönix ungerührt entgegensah. Der Lord ließ den Vogel im gebührenden Abstand zu Rock halten, damit dieser ihn nicht attackieren konnte. Phönix beugte seinen Kopf in den Nacken und sammelte Kraft. Dann streckte er den Hals aus, ließ seinen Kopf vorschnellen und öffnete seinen gewaltigen Schnabel. Er stieß heiße Flammen aus und schleuderte sie in Wellen auf Rock. Die glühenden Fontänen rasten wie ein Wasserstrahl auf den Boden und formten einen Halbkreis, in dessen Zentrum sich Rock befand. Der hob seine Arme, um das Gesicht zu bedecken und die Flammen schossen auf seinen Kopf und versengten ihm die Arme. Das Feuer loderte so heiß, dass es noch geraume Zeit auf der Erde weiterbrannte.

Als die Flammen allmählich erstarben, offenbarte sich Rocks verkohlte Haut. Die Strahlen hatten seine dicken Schuppen durchdrungen und verbrannten sie nach und nach. Der Lord grinste, noch ein paar dieser Wellen und die Schuppenhaut würde verschmolzen und das verwundbare Fleisch geröstet sein. An seinen Beinen war dies bereits geschehen, denn die tiefen Schnittwunden vom Kampf mit Leviathan waren noch nicht wieder verheilt gewesen. Sie erwiesen sich als Schwachstellen und das verkohlte Fleisch war noch aus großer Ferne zu erkennen, denn dunkler Rauch stieg von ihnen auf, der zudem fürchterlich stank. Phönix holte erneut zum Angriff aus und goss eine sengende Feuerflut auf Rock. Dicker schwarzer Ruß lag auf Rocks Hautresten und ließ ihn wie einen großen finsteren Schatten erscheinen. Er schrie heulend auf, als sich die sengenden Flammen abermals in seine Beine gruben. Seine Wunden platzten auf und die Haut löste sich ab. Phönix legte seinen Kopf in den Nacken, stieß vor – und spürte plötzlich die geballte Kraft einer riesigen Faust, die ihn jäh mit einem Kinnhaken unter dem Kopfes traf. Phönix verlor die Balance und schlug ungebremst nach hinten auf dem steinharten Boden auf.

Rock schwebte, umhüllt von einer blauen Aura, über ihm in der Luft.

„Wie kann das sein!?“, schrie der Lord entsetzt.

„Sie müssen einen mächtigen Illusionisten auf ihrer Seite haben. Niemand anders wäre dazu fähig. Wahrscheinlich derselbe, der auch meinen Meereszauber rückgängig gemacht hat! Los, Trallala, gib Alles!“, schrie der Erzkanzler.

„Jetzt machen wir ihn fertig“, sprach der Sensei zum Mann in der Kutte. „Zerquetsche Phönix! Los, Billiballi, gib’s ihm!“

Rock beugte sich, winkelte den Arm an und streckte den Ellenbogen vor. Aus der Luft heraus schoss er mit dem Ellenbogen auf den liegenden Phönix zu, der sich spontan in die Lüfte erhob, sodass Rock auf den Boden traf und einen tiefen Krater riss. Die Erde erbebte. Phönix nutzte die Gelegenheit, drehte sich und traf mit seinem feurigen Schweif, der wie eine Peitsche hervorschnellte, Rocks Kopf. Der wurde vom Schlag umgeworfen und landete unsanft auf dem Rücken. Über sein Gesicht zog sich eine fußbreite Narbe, in welche sich nun die Flammen fraßen und Rock das rechte Auge nahmen. Phönix stieg wieder empor, wich damit einem etwaigen Sprungangriff aus und lehnte sich zurück, um Kraft zu sammeln. Als sein Kopf vorschnellte, ergoss sich eine Feuerwoge über Rock, der er jedoch gerade noch entkam, weil er sich zur Seite rollte und sich in die Lüfte erhob.

Mit einem Hagel von Faustschlägen bombardierte er Phönix, der aber mit einer geschickten Rückwärtsrolle der Attacke auswich. Der Feuervogel peitschte mit dem Schwanz auf den Rumpf des Gegners und hinterließ auf seiner Brust eine klaffende Wunde. Rock winselte vor Schmerz, wand sich und drehte sich um die eigene Achse. Dabei streckte er einen Arme aus und traf Phönix mithilfe der Fliehkraft so wuchtig, dass dieser abermals zu Boden schmetterte.

Rock setzte seinen Angriff fort, ballte die Faust und raste auf Phönix Kopf zu. Dieser, noch paralysiert vom Schlag zuvor, konnte sich kaum bewegen. Er stieg lediglich in die Lüfte und fuhr den Kopf aus. Rock griff seinen Rumpf und rammte ihn mit aller Kraft in den Boden. Wäre der Vogel aus Knochen gewesen, ihr Splittern hätte einer platzenden Steinsäule geglichen. Doch jetzt musste Rock einen kritischen Treffer einstecken. Sein Angriff war zwar heftig gewesen, doch vernachlässigte er die Verteidigung, sodass sich Phönix spitzer Flammenschnabel tief durch seinen Leib bohrte und ihn auf dem Rücken wieder verließ. In dieser Position verharrten die Kämpfer erschöpft am Boden. Sowohl Billiballi als auch Trallala versuchten, ihr Wesen aus dieser tödlichen Stellung zu befreien, doch ihnen fehlte die Kraft dazu.

Auf beiden Seiten stockte der Atem, als die Wesen, vor Schmerz zuckend, übereinander fielen, langsamer wurden und dann völlig die Kraft verloren. Phönix’ Flügel, die bis hierher wild umherschlugen, um sich von Rocks Masse zu befreien, klatschten kraftlos auf den Boden und wirbelten Staubwolken auf. Rocks Arme verloren das energische Zucken und plumpsten geräuschvoll auf die trockene Erde hinab. Kurz darauf wurden die Wesen transparent, Gnishis stiegen aus ihnen hinauf, wogten in der Luft und verliehen dem Schlachtfeld eine paradoxe Schönheit. Es wurden immer mehr, bis die Leiber sich schließlich vollkommen aufgelöst hatten und den Himmel mit Gnishis füllten, die wie Sterne funkelten. Zugleich zerbröckelte das Amulett in der Hand des Mannes in der Kutte und der Stab des Phönix verkohlte zu Asche.

„Na toll!“ Der Sensei schlug mit seiner flachen Hand mahnend auf den Hinterkopf des Mannes in der Kutte. „Jetzt ist unser Vorteil im Eimer, kannst du nicht besser aufpassen? Tölpel!“

„Hört auf damit! Der Phönix ist doch auch dahingeschieden … Es läuft alles auf einen gleichwertigen Kampf heraus.“

„Genau, das ist ja das Problem! Wir haben unseren Vorteil verloren. Ich habe nie einen gleichen Kampf gewollt.“

„Es wäre zu fair, nicht wahr?“, sprach Billiballi mit höhnischem Unterton. Seine Gedanken schweiften weiter. ‚Ich bin ihm nicht mehr nützlich’, dachte er. ‚Ich muss versuchen, ihm den Seelenstein abzunehmen, sonst wird er mich töten.’

„Wen interessiert das? Es geht nur um Sieg oder Niederlage, niemanden interessieren die Mittel. Das Leben ist nicht fair, warum sollte es ein Kampf sein.“

Der Sensei schien wütend, er streckte seine Arme mit geballten Fäusten nach unten.

„Es ist so …“, entgegnete Billiballi, der mit dem Rücken zum Sensei stand und diesen nur durch ein leichtes Schielen über die Schulter erkennen konnte. Ohne den Satz zu beenden, drehte er sich plötzlich um und streckte seine untote Hand zum Brustkorb des Senseis aus, der den Seelenschein mittlerweile wie ein Amulett um den Hals trug. Bevor er ihn jedoch berühren konnte, vollführte der Sensei gelassen mit dem Arm einen Halbkreis vor seinem Körper, griff das Handgelenk von Billiballi, hielt es fest und zog dessen Arm zu sich heran. Dann trat er blitzschnell einen Schritts vor und presste die andere Hand auf den durchgedrückten Ellenbogen des alten Lords. Er drückte ihn zu Boden, wo er ihn so mit Leichtigkeit festhielt. Dann stellte er seinen Fuß auf den Rücken des Mannes, griff unter seine Kampftoga und holte dort den Seelenstein hervor, um ihn hämisch vor das Gesicht des Lord zu halten.

„Ihr unterschätzt mich. Das hattet Ihr gesucht, nicht wahr?“

Der Mann gab keine Antwort. Er brachte nur ein ächzendes Stöhnen hervor.

„Haltet Ihr mich tatsächlich für so grausam, dass ich Euch einfach so töten würde, nur weil Ihr Rock nicht mehr befehlen könnt?“

„Ja! Denn Ihr seid ein mieser Schuft!“, schrie der untote Lord schmerzerfüllt.

„Dann habt Ihr eine gute Menschenkenntnis“, sagte der Sensei hasserfüllt.

Er hob die Hand und schmetterte den Seelenstein vor den Augen des Mannes zu Boden. Er zersprang in Hunderte glänzende Teile, der Lord verlor alle Kräfte und sackte zu Boden. Der Sensei löste seinen Griff und stand auf.

„Ihr hattet nie ein Leben. Weder als untoter Diener, noch als lebender Herrscher.“

Er schritt über ihn hinweg und lief zur Brüstung des Balkons, um sich ein strategisches Bild zu machen. Die alliierte Armee rückte im gemächlichen, energiesparenden Marsch voran und würde in ein paar Minuten hier sein.

„Mal sehen … viele Nahkämpfer … ein paar Bogenschützen … was ist denn das da hinten? Ach, das sind die Illusionisten! Doch was sind die anderen in diesen dunkelbraunen und grünen Gewändern. Sind das etwa …“

„Ja. Druiden. Genau genommen feeische Bestienmeister und Dyalenen“, tönte eine leise, gelassene Stimme von hinten.

Der Sensei erschauderte und wandte sich langsam um. Vor ihm stand der eben noch tote, jetzt transparente Lord Billiballi. Genau genommen war es sein Geist, denn der Körper ruhte zu seinen Füßen.

„A-a-aber … w-w-ie ist das m-mö-glich? Du … du bist doch tot“, stotterte der Sensei vor Angst.

„Das war ich auch zuvor, das hast du selbst gesagt, oder?“

Der Sensei fuhr mit geballter Faust auf das Gesicht des Senseis und – schlug durch ihn hindurch, ohne ihn zu berühren.

„Schade, dazu braucht man wohl einen Körper.“

„Wie kann das sein!?“

„Ich drücke es mal so aus: Ich bin tot. Toter als tot, um genau zu sein. Denn ich bin untot tot und dürfte hier nicht verweilen. Der Hüter des Todes war sehr verwundert, dass er mich schon wieder sah, normalerweise sieht er Jeden nur einmal. Ich habe ihm die Situation erklärt und er hat mir eine kleine Bitte gewährt.“

„Dass du als Geist wandeln darfst?“

„Irrtum. Ich bat darum, dich töten zu dürfen … Leider konnte er mir das nicht bewilligen. Aber meine zweite Bitte akzeptierte er.“

„Welche da wäre?“ Der Sensei fand langsam wieder Mut und wirkte sehr konzentriert.

„Dass ich zusehen darf, wie du getötet wirst. Allerdings habe ich ihm dafür versprochen, ihm einen kleinen Wunsch zu erfüllen.“

„Sag schon, worauf du hinauswillst. Ich habe nicht ewig Zeit.“

„Gut, dass du das sagst, denn genau darum geht es. Ich soll dir von ihm ausrichten, dass er sich freut, nochmals deine Bekanntschaft zu machen. Ihr seid wohl alte Bekannte?“

„Das geht dich nichts an. Verschwinde.“

„Selbstverständlich. Ich möchte noch mit einigen Leuten reden und … mich entschuldigen. Darum versucht bitte, nicht so schnell zu sterben.“

Mit diesen Worten trat der Geist des Lords – oder was auch immer es war – durch den Sensei hindurch und sprang vom Balkon. Er schwebte sanft wie eine Feder zu Boden und wurde wieder unsichtbar.

*

Die Armee der Alliierten war in ihrer taktischen Formation weiter vormarschiert bis sie nur noch hundert Meter von der Universität trennten. Lysandor ritt voran und spähte Eras Tu nach den Belagerern ab.

„Auf den Türmen stehen die Bogenschützen. Der Torbogen57 wird natürlich schwer bewacht.“ Er drehte sich um: „Wenn ich das Kommando gebe, stürmen die Wolfsreiter vor! Bestienmeister und Dyalenen, ihr sprecht eure Magie auf die Späherschützen. Bogenschützen und Infanterie halten sich bereit. Die Illusionisten unterstützen so gut es geht und nach eigenem Ermessen.“

Oria neigte sich zu Lysandor und flüsterte: „Liebster, ich werde dich wohl nicht davon abhalten können, selbst mitzustürmen, oder?“

Er sah Oria an und erwiderte leise: „Als Heerführer ist es meine Pflicht.“

„Und deine Freude?“

„Ja.“

„Wenn ich dich nicht abhalten kann, dann möchte ich dir wenigstens mit meiner Magie helfen. Aber übertreibe es nicht wieder, ja?“

„Ich werde auf mich Acht geben, versprochen.“

„Denke an deine Worte: Wer verletzt ist, zieht sich zur Heilung zu den Dyalenen zurück.“

Er nickte. Sie schloss die Augen, kreuzte ihre Hände auf der Brust und sammelte Mana. Die Dyalenen und Bestienmeister taten es ihr nach, um das Mana aus der Umgebung anzuzapfen.

Lysandor zog sein Schwert und hob es in die Luft: „Wolfsreiter! Sturmangriff!“

Die Reiter zogen kurz an den Ohren ihrer Reittiere, worauf die Wölfe ihren Kopf nach hinten rissen und die Vorderpfoten samt Rumpf in die Luft hoben, sodass sich ihr Gewicht auf das Hinterteil verlagerte. Dann stießen sie sich zu einem weiten Sprung ab und landeten weit und weich auf ihren Vorderbeinen. Die Kavallerie ging in den Sturm.

Unter den riesigen Pfoten der Raubtiere wirbelte der Staub auf und trieb auf Eras Tu zu, an der Kavallerie vorbei auf den Torbogen. Die Verteidiger im Torbogen hatten ihre Lanzen vorgestreckt, um den ersten Sturm abzuwehren. Sie wurden von einer Wolke scharfer Staubkörner attackiert, die ihnen die Tränen in die Augen trieb und sie für kurze Zeit erblinden ließ. Die Schwaden legten sich auf ihre Lungen und erschwerten das Atmen. Sie rangen weinend und hustend nach Luft und vernachlässigten ihre Verteidigung. Nun ist es selbst für einen Laien einfach, eine stürmende Kavallerie zu Fall zu bringen, wenn er nur seine Lanze ausstreckt, aber unter diesen Bedingungen hätte auch der erfahrenste Krieger seine Probleme gehabt. So kam, was kommen musste. Die Belagerer sahen die anstürmenden Wölfe nicht, sie wischten sich heulend die Augen und keuchten schwer, was ihnen Kraft und Konzentration raubte, sodass sie ihre Lanzen hilf- und ziellos in die Staubwolke hielten.

Die erste Reihe gewann daraus allerdings einen emotionalen Vorteil: Die Männer spürten nur einen kurzen Schmerz, als vier Zentner Wolf mit ausgefahrenen Klauen auf sie zusprang und sich tief in ihr Fleisch bohrte. Sie sackten in Sekundenschnelle leblos zu Boden.

Die dahinterstehenden Lanzenkämpfer stachen auf die Wölfe ein und verwundeten auch einige von ihnen. Viele der herumwedelnden Lanzen wurden jedoch von den riesigen Pranken abgewehrt. Wer klug war, ließ den Spieß fahren und zog sein kurzes Schwert. Die Mutigeren hielten jedoch fest und wurden samt Waffe weggeschleudert. Sie prallten entweder so heftig an eine Wand, dass sie für immer liegenblieben oder sie landeten etwas sanfter in den eigenen Reihen, schadeten so aber ihren Kollegen. Die Wolfsreiter hatten den Torbogen bald freigekämpft, sodass etwa ein halbes Dutzend von ihnen nun in der von feindlichen Soldaten überfüllten Eingangshalle stand.

Die Bogenschützen auf den Türmen feuerten auf die Verbliebenen vor dem Tor, während ihre Kollegen, die sich auf den Treppen positioniert hatten, auf die im Inneren befindlichen alliierten Angreifern schossen. Die Pfeile bohrten sich tief in das Fleisch der Tiere und Reiter, deren Lederrüstungen sie kaum schützte. Die Illusionisten setzten den Telekinesezauber ein, um die anfliegenden Pfeile aufzuhalten und zurückzuschleudern, doch flogen die Geschosse so zahlreich, dass sie nicht einmal die Hälfte aufhalten konnten. Die zurückgeworfenen Pfeile trafen allerdings einige wenige Bogenschützen, die von den Türmen stürzten, aber zumeist gleich wieder ersetzt wurden. Die Wolfsreiter vor der Universität mussten starke Verluste hinnehmen. Viele Wölfe fielen mit Pfeilen gespickt zu Boden und verschwanden in Gnishiwolken. Die verletzten Reiter krochen zu den Dyalenen, um Heilung zu erfahren, doch nur jeder zweite konnte den feindlichen Geschossen entkommen.

Die Wolfsreiter im Inneren schlugen sich besser und kämpften sich eine Schneise in die gegnerische Meute. Ihre Verluste waren noch gering, doch würden sie nicht mehr lange standhalten können. Sie brauchten dringend Verstärkung und sollten diese auch erhalten.

Lysandor gab Dyalenen und Bestienmeistern den Befehl, nun ihre Magie einzusetzen. Sie beendeten ihre Meditationen und belegten die Späherschützen allesamt mit vernichtenden Verzauberungen, von denen sie drei als besonders effektiv favorisierten. Die Erste legte auf die Haut der Schützen eine graue klumpige Schicht, die aussah wie getrockneter Schlamm, jedoch zu Granit erstarrte. Eine weitere Verzauberung ließ ihre Klingen in gelbem Licht erglühen. Neben den üblichen schweren Bögen, führten die Späherschützen in dieser Schlacht zusätzlich zwei lange, leicht gekrümmte Klingen mit sich, eine Mischung aus Säbel und Schwert. Durch das Glühen schienen sie so scharf, als könnten sie Steine wie Butter schneiden, und wahrscheinlich taten sie das auch. Schließlich wirkten sie noch einen optischen Zauber, der nicht sonderlich imposant und nur für das geübte Auge erkennbar war: Den Feerichen schwoll die Beinmuskulatur an.

Auch Oria hatte ihre Meditation beendet und Lysandor verzaubert, allerdings webte sie eine weitaus mächtigere Verzauberung auf ihn. Um Lysandor schlangen sich Efeuranken mit dicken dunklen Blättern und umgaben ihn wie ein enganliegendes Kostüm. Bis auf die Augen wurde sein ganzer Körper von Ranken umschlungen, sodass er wie eine Variante des personifizierten Waldes wirkte. Oria schwitzte vor Anstrengung, der Zauber musste sie viel Mana gekostet haben.

„Danke, Liebste“, sprach Lysandor leise zu ihr.

Sie versuchte die Strapaze hinter einem verschmitzten Lächeln zu verbergen.

„Gern geschehen, mein Liebster, lass den anderen auch noch etwas übrig“, sie zwinkerte ihm zu.

Lysandor hob den Arm.

„Attacke! Späherschützen und Krieger, auf in den Sturm! Bogenschützen, versucht die Türme zu erobern!“

Mit diesen Worten stürmte Lysandor vor, gefolgt von den Späherschützen und Kriegern. Die Bogenschützen breiteten ihre Flügel aus und flogen zu den Türmen empor. Die gegnerischen Schützen versuchten die agilen Feen zu treffen, doch nur wenige Pfeile fanden ihr Ziel, sodass die Feen schon bald die Türme einnahmen.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, schrie der Sensei auf seinem Balkon, dem sich eilig ein paar Feen nährten.

„Muss man denn alles selber machen!?“

Er hob seine Hände und konzentrierte sich, dann schnippte er mit den Fingern und eine heftige Böe blies auf Eras Tu zu. Mit rasanter Geschwindigkeit erfasste sie die Feen und schleuderte sie gegen die Mauer, sodass die meisten verwundet oder gar tot zu Boden fielen.

„Na geht doch …“, sagte er selbstgefällig.

Merrenor und der Lord hatten inzwischen zu den anderen Illusionisten aufgeschlossen.

„Ihr beherrscht doch alle den Illu-Zauber? Also los, alle Mann konzentrieren sich auf das Erschaffen eines Wasserelements! Allerdings auf ein ungewöhnliches“, sprach der Erzkanzler. Die Illusionisten blickten ihn verwirrt an.

„Wir werden uns alle auf dasselbe Element konzentrieren, vielleicht können wir ein besonders großes, starkes Wesen formen. Der Versuch ist es wert.“

Sie nickten und konzentrierten sich. Sekki beherrschte zwar auch den Illu-Zauber, doch er zog es vor, die Schlacht zu beobachten. Seine magischen Kräfte waren zu gering, als dass sie einen nennenswerten Erfolg erzielt hätten.

Währenddessen hatten Lysandor und die Infanterie die Eingangshalle betreten, wo noch einige Wolfsreiter tapfer, doch schwer verwundet kämpften.

„Zieht euch zurück! Wie übernehmen“, schrie die Rankengestalt.