Impressum
Copyright Gesamtausgabe
© 2012 LUZIFER-Verlag Steffen Janssen, Bochum
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Copyright Cover © 2012 Timo Kümmel
Korrektorat: Doris Gaupig
ISBN EPUB: 978-3-943408-93-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
›Die Drei‹ und die einsame Seele
Secretary Salamander, Lüstling, Sympathisant des blutjungen Fleisches und verlogener Verleumder, liegt mit geschlossenem Brustraum und fast schon obszön makellosem Hals vor uns. Er hat nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einem in wüster Raserei angefallenen Kadaver. Die Leiche ist perfekt, sogar für meine Verhältnisse. Gedankenverloren inspiziere ich den Körper, indem ich um ihn herumlaufe, ihn leicht anhebe, die geklebten Hautränder streichle.
Heute Morgen hat jemand – etwas – an meiner Tür geschabt. Da ich der Vorsicht halber die Tür so verkeilt hatte, dass niemand ohne rohe Gewalt anzuwenden eindringen konnte, habe ich ruhig abgewartet und meinen Schuh als Waffe griffbereit neben mich gelegt. Bald wurde das Kratzen am Schlüsselloch zu einem sanften Rütteln am Türgriff. Dann Stille. Ich gestehe, ich bin kaum merklich zusammengezuckt, als ein dumpfer Schlag gegen das Holz erfolgte. Die wütende Bekundung eines Erfolglosen. Seine Enttäuschung diente meiner Belustigung und die letzte Stunde habe ich lächelnd an meine Liebste gedacht. Mein Gesicht schmerzt, es ist einfach zu ungewohnt.
Beinahe zärtlich fährt meine Hand über die kalte, knisternde Haut. Sie zieht sich, nach der Zeit, die sie in der Kühlung gelagert worden ist, wie dünnes Wachs über das Skelett, den Schädel. Die Augenlider sind leicht nach innen gesunken, die Lippen nicht mehr als ein trockener, dünner Strich. Das noch volle Haar fühlt sich drahtig an, starr wie trockene Gräser.
Als ich den Blick hebe, sehe ich einen Wahnsinnigen mit kaltem Blick, auf dessen Lippen noch letzte Reste des glücklichen Lächelns stehen, der in diesem Moment jedoch eher irre wirkt. Schräg hinter mir steht James, leicht vornübergebeugt. Seine Augen sind blutunterlaufen, das Haar strähnig. Schweiß rinnt über sein Gesicht. Er ballt die langen Finger zu Fäusten und spreizt sie gleich darauf wieder, bis die Fingerknöchel laut knacken. Halb wende ich mich zu ihm um. »Was ist?«
Zögernd senkt er den Blick, fängt an, das Besteck in die Schränkchen zu ordnen. »Wir konnten ihn nicht fixieren. Wir haben nichts falsch gemacht.«
Ich mustere den Toten genau. »Aha. Verstehe. ›Das haben wir immer so gemacht‹«, äffe ich ihn nach.
Stumm schüttelt er den Kopf. Eine Weile beobachte ich ihn noch bei seinen Aufräumarbeiten, dann mache ich mich auf den Weg nach oben.
»Test bestanden, würde ich sagen«, meint James, in der Tür zum Wohnzimmer lehnend, in dem ich mit einem originalen Single Malt das Aroma der guten alten Heimat genieße. Wäre ich mitfühlend genug, hätte ich Mitleid mit dem hageren Mann, der dort kraftlos lehnt und seine letzten Stunden zählen kann. Es liegt mir auf der Seele zu fragen, ob er sein Schicksal bereits kennt. Und wieso bringt er mir mit einem Mal eine solche offensichtliche Feindseligkeit entgegen? Ich lade ihn mit einer knappen Geste ein, sich zu mir zu setzen. Er fixiert mich noch eine Weile aus dem Schatten seines Haares, dann kommt er auf mich zu, schleichend wie eine Raubkatze.
Es ist dämmerig in dem großen Raum. Von James´ Gesicht sehe ich lediglich zwei nadelfeine leuchtende Punkte anstelle seiner Augen. Da ich mit dem Licht sitze, werden ihm meine Züge dafür umso offener dargeboten. Nur gut, dass ich ein angeborenes Pokerface habe. Ich erhebe mich, um ihm auch etwas zu holen.
»Was trinkst du?«
»Zyankali.«
Er nimmt das Glas, das ich ihm reiche, riecht kurz daran.
»Kein Gift«, ulke ich.
Er nickt knapp.
Eine Weile schweigen wir. Obwohl ich sehr geduldig bin, gebe ich jedoch irgendwann nach. »Der Zeitpunkt ist gekommen, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Was sagst du?«
Das Flackern der kleinen Punkte anstelle seiner Augen verunsichert mich, aber ich nehme mir vor durchzuhalten – und zu gewinnen.
»Dann fang mal an, McLiod.«
»Ich dachte eher an dich, Beastly.«
Die goldene Flüssigkeit schwankt in seinem Glas knapp unter dem Rand. Das breite Lächeln kann ich eher erahnen, als dass ich es sehe.
»Was haben sie dir angeboten, wenn du meinen Auftrag fertig machst? Und sag jetzt nicht, du weißt nichts davon, dass sie die Leiche vom alten Salamander manipuliert haben mit ihrem bescheuerten Hexenzeug.«
Er geht gleich zum Angriff über. Gut, die Gesprächsrichtung hat sich anders entwickelt, als erwartet. Ich muss mich schnell entscheiden, wie ich ihn zum Narren halte. Da mir aber nichts einfällt, entscheide ich mich für die Wahrheit.
»Ich weiß nichts von einer Manipulation. Zu welchem Zweck überhaupt?«
James neigt sich mir so blitzschnell entgegen, dass ich mich unwillkürlich in die Polster drücke. »Um mich loszuwerden, weil ich ihnen mit jedem Auftrag etwas nehme, was sie für sich beanspruchen wollen!«, zischt er boshaft. »McLiod, ich habe ein Problem mit Leuten, die mich verarschen wollen. Also, red´ Klartext.«
Na denn.
»Ich habe nicht einmal einen Auftrag bekommen. Noch niemals. Du warst der Erste, der zu mir gekommen ist mit dieser … Geschichte. Und jetzt erklär mir endlich, was hier los ist.« Meine Geduld ist zu Ende und sein Tonfall ist über die Maßen missbilligend. Deshalb hasse ich die Menschen so; sie halten sich für die Krönung der Schöpfung mit ihrem Intellekt und ihrer Feinmotorik, dabei sind sie nichts weiter als bekleidete Tiere. Sehen Sie sich nur die Schlussverkäufe in den Einkaufshallen an, oder die … ach, vergessen Sie´s.
»Gut.« Er lehnt sich endlich zurück. Das Licht streift jetzt einen Teil seines Gesichts, was dem Ganzen wenigstens einen Hauch von Status Quo verleiht. »Ich arbeite also im Auftrag der Drei. Du kennst ihre Aufgabe.« Zögerlich nicke ich und auch er wippt bestätigt mit dem Kinn. »Ich bin das Tor, wie gesagt, und sie legen äußersten Wert auf Diskretion. Äußersten! Miller war ein mustergültiger Komplize ihrer Zechereien. Keine Verzögerungen, immer saubere Arbeit, mal ein paar lustige eigenständige Einfälle hier und da … wie auch immer. Sie hatten einen Glückstreffer mit ihm gelandet, bis er senil geworden ist und es nicht mehr geschafft hat, alles zu ihrer Zufriedenheit und in der Zeit eines Unter-Hundertjährigen Greisen zu regeln. Also hat er mich eingeweiht, auf ihren Wunsch hin. Und nach mir dich, Alter. Aber ein unnützer Bestatter ist ein toter Bestatter. Welche Ironie! Also haben sie ein paar Taschendiebe mit Vorliebe für Axtspielchen auf ihn gehetzt, damit er nichts mehr ausplaudert. Miller hatte ja vieles, aber Altersschwachsinn gehörte nicht dazu. Trotzdem musste er weg. Kleine Geschmacksprobe ihrer … Großzügigkeit. Ein gemütlicher Tod nach der neuesten Sendung von ›The Goon Show‹ wäre da zu menschlich gewesen. Angeblich hat er im Jenseits einen kleinen Vorteil erhalten bei der Wahl seiner ewigen Verdammnis.«
»Woher kennst du die Umstände um Millers Tod?«, will ich wissen. Dies erscheint mir als die Stunde, um beinahe nüchtern alles von ihm zu erfahren.
»Der Bote hat mir einen Brief gebracht. Man könnte meinen, die großen Macker könnten mit Emails umgehen«, lacht er.
»Wie ist Salamander gestorben? Wer ist sein Mörder?«, will ich schon wieder wissen.
»Ich jedenfalls nicht.«
Skeptisch versuche ich in seinem Gesicht zu lesen, jedoch arbeitet das Zwielicht gegen mich.
»Ich habe schon ein paar Jahre für sie gearbeitet, während Miller dich noch ausgebildet hat. Einen Nachfolger für den Nachfolger. Zur Sicherheit, du verstehst?«
Zynisch zwinkert er mir zu. Ich komme mir vor wie ein dummes, kleines Mädchen, dem man den Nachtisch verweigert, rein aus dem Grund, weil man es kann.
»Verstehe. Falls der Nachfolger sich etwas nimmt, was ihm nicht zusteht.«
Der Malt kreist ruhig im Glas. Das stetige Trommeln seiner Finger auf der Armlehne entgeht mir trotzdem nicht.
»Wenn sie spielen wollen, will ich das auch. Sie haben mich aus meiner Heimat fortgeschickt, einfach, weil sie Lust auf Veränderung hatten! Gut, sie schicken Geld, von dem wir hier gut leben können, von dem aber niemand weiß, woher es kommt!«
»Und das interessiert dich sicherlich brennend.«
»Scheiße, nein! Warum zur Hölle sollte es mich interessieren? Und das Beste, mein Freund«, er beugt sich mir erneut entgegen, »der Nachtisch an der ganzen Sache ist sie. Sie macht, dass man gefügig bleibt, dass man nicht ausbricht.«
Zweifellos spiegelt sich das Entsetzen auf meinem Gesicht, das mich gerade durchflutet. Der erste Gedanke ist, wieder einmal habe ich mich in einer Frau getäuscht. Erneut benutzt mich eine Frau, um mich nachher fallen zu lassen, nur dass sie dieses Mal wunderschön und ein gebrochenes Rückgrat wert ist.
James grient mich an. »Ist mir scheißegal, ob ihr da was laufen habt. Kannst sie haben, ich bin dir auf ewig dankbar, wenn du die Bürde von mir nimmst.«
Hektisch nimmt er einen kräftigen Schluck, wobei ihm eine dünne Spur glitzernd über Kinn und Hals läuft.
»Wieso?«
Er legt den Kopf in den Nacken, lässt das leere Glas mit dumpfen Poltern auf den Teppich fallen.
»Weil sie eine Fessel ist. Eine sehr schöne, aber welche Chancen hätte sie ansonsten auch schon? Sie passt auf, dass der Bestatter auch seine Arbeit macht, und gibt brav weiter, wenn der sich nicht an die Spielregeln hält. Sieh sie als überirdische Petze.«
Die Luft knistert vor Spannung zwischen uns. Ich entferne mich in weiser Voraussicht ein wenig von ihm. Seit meiner Ankunft aus Schottland scheint es nur allzu leicht, eine – nennen wir es ›emotionale‹ – Grenze zu überschreiten.
Jetzt will ich alles wissen.
»Was ist das zwischen euch? Habt ihr eine Liaison?«
Unangenehm breitet sich der Verdacht in mir aus, dass Rachelle ihn mit mir betrogen hat. Was kenne ich schon von ihr, außer den Dingen, die ich anbete.
Rau lacht James auf.
»Du willst eine Liebesgeschichte hören? Dann mach dich auf ein ganz besonders abgefahrenes Schauermärchen gefasst. Vor einigen Jahren feierte ich in Edinburgh im ›Hinkenden Kobold‹ meine Aufnahme in den medizinisch-diagnostischen Zweig in London für mein Pathologiestudium. Miller´s Bestattungsunternehmen hat mir versprochen, mich nach der Ausbildung gehen zu lassen, damit ich meinen Doktor machen kann. Als Schwerpunkt wählte ich Virchow´s Zellularpathologie. Geile Sache. Plötzlich kommt eine etwas morbide Schönheit auf mich zu, die ich den ganzen Abend schon nicht aus den Augen lassen konnte. Ich unterhalte mich den ganzen Abend mit ihr. Irgendwann fragt sie mich, ob ich Lust auf was Verrücktes habe. Klar hatte ich Lust, und so fahre ich mit ihr auf Tantallon Castle, wo wir eine Ewigkeit auf den Felsen sitzen und uns unterhalten. Sie sagt, ihr Name ist Rachelle und sie kommt aus Deutschland für ihre Lehre hierher, zufälligerweise ebenfalls als Bestatter. Es war einfach zu surreal. Schlussendlich hatte sie nicht einmal gelogen, sie ist wirklich ausgebildeter Leichenbestatter. Schnell stelle ich fest, dass sie nicht nur wunderschön ist, sondern auch echt, keine Schauspielerin, liebevoll und klug. Ich fuhr damals total auf ihren Grufti-Look ab.«
Es erstaunt mich etwas, wie leidenschaftlich er von ihr erzählt. Dennoch höre ich eine verletzte Seele heraus, die aus den Tiefen empor schreit.
»Verliebt war ich nicht unbedingt, da müsste ich mir etwas vormachen. Es war eher so was wie Geilheit, eine erotische Anziehung. Später sind wir bei mir gelandet, haben herumgemacht und so was. Sie wollte gleich mit mir schlafen, also hab ich nicht nein gesagt. Sie war wild und machte mich wahnsinnig mit Dingen, die keine Frau so schnell mit dir anstellt. Dann plötzlich beißt mich die kleine Hexe in die Brust und das Blut läuft nur so aus mir heraus! Ich bin total ausgerastet und sie – sitzt da auf mir und grinst mit blutverschmiertem Mund. »Liebst du mich?«, fragt sie mich. Was hätte ich antworten sollen? Also sage ich ihr die Wahrheit und sie sieht mich einfach nur an. Sagt kein Wort mehr. Dann fängt sie an zu weinen. Entschuldigt sich, dass sie mir wehgetan hat. Sie steht auf, zieht sich an und geht. Seitdem sah ich sie immer wieder auf der Straße, im Café oder auch in der Berufsschule, wo sie mir vorher nie aufgefallen war. Sie nähert sich mir immer öfter und ich sage ihr klipp und klar, dass ich sie nicht will. Jedes Mal rennt sie weinend davon.«
Da kommt man sich doch wie ein Kretin vor, denke ich.
»Da kommt man sich doch wie das größte Arschloch vor. Jedenfalls ist sie mir seitdem nicht mehr von der Seite gewichen. Und als mich Miller fortschickte, ist sie mitgekommen. Die beiden haben sich wohl schon ’ne ganze Weile gekannt. Also teilen wir seit einigen Jahren das Haus, die Arbeitsstelle und auch sonst alles – außer dem Bett. Sie hat sich eine kleine Gemeinschaftswohnung in der Stadt genommen. Davon hast du sicher schon was mitbekommen.« Er erhebt sich ächzend, streckt den Rücken durch. Instinktiv stehe auch ich auf. Er legt die Hand in meinen Nacken, es fühlt sich sehr falsch an, so mit dem Rücken zu ihm zu stehen.
»Ich will dir was zeigen.«
James geht an mir vorbei in einen kleinen Raum, dessen alles beherrschendes Regal bis unter die Decke voll mit Büchern ist. James greift zielsicher nach einem Buch und mehreren in Papier eingeschlagene Alben. Er dreht ein paar alte Lampen auf, die an den Wänden angebracht sind, bis ihr gelbliches Licht unserer Haut eine ungesunde dumpfe Farbe verleiht. Er stützt sich mit den Händen auf dem kleinen Stapel ab. »Was hat sie dir erzählt?«
»Über was?«
Skeptisch erforscht er meine Augen, ob ich lüge. Ich halte seinem Blick stand. Schließlich habe ich kaum etwas zu verbergen und das Wenige in mir, das ihn eine feuchten Hundefurz angeht, kann ich gut in der Tiefe meiner kargen Seele vergraben.
»Über mich, zum Beispiel. Oder über sich selbst, zur Abwechslung.«
Ich zucke die Schultern. »Nein.«
Er wartet ab.
»Ach ja. Sie erwähnte deine Leidenschaft für etwas explizitere Fotografien. Und damit meint sie sicher keine lustigen Straßenschilder.«
Seine Augen werden zu schmalen Schlitzen. »Weißt du, die Toten sind bei mir gut aufgehoben. Ich bin der Einzige, der sie so vorbereiten kann, dass sie auch jenseits der Grenzen noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Ich bin ein Held. Ich helfe ihnen. Mache sie im Grunde ja nur zu dem, was ihnen schon zu Lebzeiten am Wichtigsten war. Es ist, als wenn ich nach dem Reinigen, Frisieren, Drapieren und Kleiden die fast leeren Hüllen der toten Körper auffülle. Ihre inneren Taschen mache ich voll. Sehr voll. Bis über die Nähte mit dem, was ihnen stets am wichtigsten gewesen war: sich selbst.«
Einen Moment stehen wir uns gegenüber. Jeder mustert den anderen. Reflexartig rechne ich meine Chancen aus, wie schnell ich diesem Übergeschnappten eines überziehen kann. Sonderbarerweise fürchte ich mich jedoch nicht vor ihm. Ich deute stumm auf die Alben unter seiner Hand. Wortlos klappt er eines auf. Ich beuge mich darüber und sehe einem Pärchen in die fahlen Gesichter, das auf einer mit Blüten geschmückten Schaukel sitzt. Der Mann, mittleren Alters, ist groß und kräftig, wahrscheinlich noch relativ frisch. Er trägt einen Frack und sitzt mit übergeschlagenen Beinen und einem lässig auf der Lehne ausgestreckten Arm da. Die Augen wurden bereits zugeklebt, das Kinn hängt unter den fixierten Lippen ein wenig herunter. Neben ihm lehnt lasziv eine magere Frau in rotem Bustierkleid und großem Wagenradhut. Eine Stola windet sich um ihre Schultern. Zwei Strähnen fallen auf den Seiten in ihr dezent geschminktes Gesicht. Es erscheint seltsam, dass ihre Augen locker geschlossen zu sein scheinen und die Lippen leicht geöffnet sind. Auf seinem Schoß hat die Frau ihre Beine ausgestreckt; lange, schmale Beine, ein wenig zu dünn. Und behaart. Ich stolpere würgend zurück. Eine heiße Welle des Entsetzens spült durch meine Eingeweide. Ich taumle, halte mich an der Tischkante fest. Aus halb geschlossenen Augen werfe ich noch einen Blick auf das Foto. Kein Zweifel, die Frau ist James. Zittrig blättere ich durch die dicken Seiten. Dort lehnt ein älterer Herr an einer Wand, gestützt durch eine Eisenplatte. An seinen Schläfen prangen zwei gewundene Hörner, wie von Widdern. Sie müssen direkt in den Schädelknochen gebohrt worden sein. Der Mann trägt einen Nadelstreifenanzug mit Einstecktuch und Gamaschen. Lediglich um seinen Hals liegt ein dickes Seil, das sich ein Mann mit zurückgegeeltem Haar um die Handgelenke gebunden hat. Auch in ihm erkenne ich James, strahlend und stolz. Es rauscht in meinen Ohren, dennoch … getrieben von dem perversen Drang, noch mehr von diesen Abscheulichkeiten zu sehen, klappe ich die nächste Seite auf. Eine mir bekannte Frau im Endstadium der Verwesung lehnt in einer Chaiselongue. Die Haut ist bereits grau, hängt schlaff um ihren ausgemergelten Körper. Das einstmals blondierte Haar liegt zwar in sanften Wellen um ihr Gesicht, jedoch sieht man deutlich, dass es trocken wie Stroh sein muss. Die Schminke macht aus ihr beinahe die Farce einer Puppe. Ich erkenne eine ehemalige Konzernleiterin in ihr, mit Hang zu ganz besonderen Finanzierungsmöglichkeiten. Das ganze Bild ist im Stil der Zwanziger Jahre gehalten. Dementsprechend trägt sie ein Hängekleidchen mit dünnen Trägern und Pumps. Zu ihren Füßen kniet ein junger Mann, James, der eine Hand unter ihrem Rocksaum versteckt hält. Angewidert schlage ich das Album zu. Ich kann James nirgends entdecken, spüre jedoch seine Anwesenheit. In einem Schatten entdecke ich ihn schließlich, wie er sich in die Zimmerecke drückt und mich ängstlich beobachtet.
»Je einen Teil der Seele pro Foto«, sagt er. »Das ist mein ganz persönliches Nirwana. Mein Lohn, den ich mir selbst nehme, um ihnen zu schaden. Warum? Weil es in meiner Macht liegt. Und so zeige ich ihnen ihre Grenzen auf, damit sie nicht mit mir ihr Unterdrückerspielchen spielen wie mit dem alten Miller.«
Wie Unrecht er hat! So hat er sein eigenes Ende verschuldet. Wie dumm, zu glauben, dass die Drei es weder bemerken, noch sich dafür rächen würden.
»Wer hat die Fotos gemacht?« Reflexartig denke ich an Rachelle.
»Ich.«
Glücklicherweise reißt er sie nicht mit in sein Verderben. Und ich nehme an, sie hätte sich ohnehin geweigert, ihm zu assistieren.
»Du hast es versaut, Beastly.«
Er lächelt schwach. »Denkst du, ich will diese Momente mit jemandem teilen?«
Steifbeinig halte ich auf ihn zu und – gehe in die Knie. Dort, zwischen seinen Beinen, erbreche ich mich mehrmals. Es scheint, als würde ich alle Angst und Zweifel mit einem Mal aus meinem Körper entlassen. Als ich mich wieder aufrichte, hält er das Buch schützend vor sich. »Das ist ein guter Teppich.«
Forsch entreiße ich ihm den Wälzer. »Was ist das? Noch mehr irrwitzige Hobbys? Zimmererarbeiten aus Knochen?«
»Interessant, aber nein.«
»Warum tust du das?«
Für einen Moment zögert er. »Findest du nicht auch einige Dinge, bizarre Dinge, so … interessant … so faszinierend, dass du sie dir immer ansehen möchtest, egal für wie widerlich oder krank sie die Anderen halten?«
»Die Anderen …«
Keinerlei Verständnis habe in für ihn und seine gesellschaftlich untaugliche Vorliebe.
»Sag, Harris, ist es nicht genauso widerwärtig, wenn sich nach einem tödlichen Unfall die Menschentrauben an den Opfern weiden? Oder, dass tausende von Voyeuren zu den ›Körperwelten‹ pilgern, weil sie dort aufgeschnittene und gehäutete Körper völlig legal und ohne missbilligende Blicke anstarren können. Dann nennt man es eben Kunst zum Zweck der anatomaren Bildung.«
Eine seltene Wut steigt in mir auf. Nur mit größter Mühe halte ich sie zurück, um James nicht zu Brei zu schlagen. »Es reicht jetzt!«, kann ich gerade noch keuchen. Dann mache ich mich davon, das Buch fest an meinen Oberkörper gepresst, wie einen wenig schützenden Schild. In meinem Rücken löst sich mein Kollege, der eine Schmach für unseren ohnehin missverstandenen Beruf ist, von der Wand. Einen Augenblick zögere ich, da ich mit einem Angriff rechne. Doch er bündelt nur seine verteufelten Fotoalben.
»Lies das«, sagt er, und meint das Buch in meinen Armen. »Wenn du mich schon für krank hältst, solltest du erst mal ihr Geheimnis sehen.« Er lacht röchelnd und ich bin mir jetzt sicher, dass er den Verstand schon vor langer Zeit verloren haben muss. Aber wer kann es ihm verübeln? In einer Welt ohne Regeln wie dieser, wo seltsame Todeswächter über alles bestimmen, was von uns bleibt. Wo halbmenschliche Todesboten ihre zweifelsfreien Vorlieben zur Maskerade nutzen und die Frauen dem männerfressenden Sukkubus gleichen.
Nachdem ich den übergeschnappten Leichenfetischisten in seinem Kämmerchen sich selbst überlassen habe, sitze ich in meinem vorrübergehenden Zimmer und wage mich nicht an das angebliche Geheimnis, das Rachelle umgeben soll. Unentschlossen starre ich auf das alte Sagenbuch zwischen meinen Beinen. Meine Finger streichen in immer gleichen Bewegungen über die stark abgeschabte Leinenbindung. Einen Moment lang will ich es fortwerfen und einen Dreck darauf geben, was mit dieser wundervollen Frau vielleicht nicht stimmen mag. Nur einen Moment, denn in der Regel ist immer etwas faul an den Frauen, zu denen ich mich hingezogen fühle. Also hebe ich mit einem flauen Gefühl in der Magengrube den Buchdeckel.
Wie wahnsinnig hämmere ich mit der Faust an Rachelles Tür. Ich höre laute Musik drinnen und hämmere noch lauter, um den Bass zu übertönen. Beinahe hätte ich einem Goth mit in die Stirn gekämmtem Haar sein Bataillon an Lippenpiercings aus dem Gesicht geboxt, der genervt die Tür aufreißt. Ich verlange nach Rachelle und er wagt gar nicht zu fragen, wer ich bin. Da ich zu höflich bin, einfach in die Wohnung zu stürmen, warte ich ungeduldig draußen, halte jedoch zur Sicherheit einen Fuß in die Tür. Rachelle schwebt in wogendem Rock und Korsage auf mich zu, sodass ich beinahe meine Wut auf sie und ihre Falschheit vergesse. Das vertraute Gefühl der plötzlichen Ablehnung mir gegenüber schwebt zwischen uns und bohrt sich in meinen Magen. Dennoch ist es mir unmöglich meine Gefühle zu ihr zu vergraben. Scheinbar ist die masochistische Seite an mir erneut zum Vorschein gekommen. Ich reiße mich zusammen und verlange ein Gespräch unter vier Augen. Sie bemüht sich nicht einmal, verwirrt drein zu schauen, zerrt mich gleich in das kleine Schlafzimmer nach oben. Die Bude stinkt nach Weed und ich atme durch den Mund, um nicht schwach zu werden. An Rachelle selbst bemerke ich jedoch keinen Grasgeruch. Der Gothic-Junge beobachtet mich aus halbgeschlossenen Augen. Ich sehe mich kurz um, außer ihm kann ich niemand anderen ausmachen.
»Wer ist das?«, verlange ich zu wissen. Doch Rachelle eilt einfach weiter. Sie schließt die Tür sorgfältig ab und mustert mich mit jenem kühlen Blick, den ich bei Frauen allzu gut kenne.
»Was weißt du und woher?«, will sie eiskalt wissen. Zur Antwort halte ich ihr das Buch vor die Nase, die Seite aufgeschlagen, auf der das nette Bild einer furienartigen Blutfee mit glühenden roten, unwirklich vergrößerten Augen und einem aufgerissenen, schmalen Raubtiergebiss prangt. Ein Wraith, ein Geistwesen, welches nach Blut lechzt, wie ein Verdurstender nach einem Liter heißer Milch in einer endlosen Wüste. Diese hier schwebt kreischend über einer kargen irischen Landschaft, die Finger zu Krallen gekrümmt, den Körper umweht von spärlichen Streifen aschegrauer Kleidung und wild wehendem schneeweißem Haar. Über dem Kunstwerk steht groß
Die Liannan Shith (f) / Leannan Sidhe (m)
Ich sehe sie so fragend an, wie ich nur kann, und deute auf den bequem aussehenden victorianischen Sessel der da in einer Ecke vor sich hin staubt. Sie bleibt stocksteif stehen. Und was dann folgt, ist eine allzu unglaubliche Geschichte aus dem Munde einer überaus entrückten Frau.
Rachelle’s Geburt als Blutfee
Ich renne um mein Leben. Äste zerreißen mir die dünne Haut an den Armen, dort wo man stahlblaue Adern blitzen sieht. Sie schlitzen mir die Wangen auf, zausen mir das spinnenfeine Haar, als ich mehr durch das Dickicht fliege, das einst meine Zuflucht war; meine Schwester, mein Geheimnis mit all ihren Geheimnissen.
Deshalb flüchtete ich mich in ihre undurchdringliche Blätterflut, in der Hoffnung, dass sie mich verbirgt, dass sie mich aufnimmt in sich, damit mir niemand etwas tun kann – nie mehr. Dennoch ist sie diesmal nicht auf meiner Seite, so scheint es. Sie verrät mich mit jedem Knacken unter meinen baren Sohlen und mit jedem Rascheln ihrer Blätter, wenn mein Haar sich in ihren Ästen verfängt oder mein schweres Kleid oder mein Blick, der stets nach hinten schweift, obwohl er nicht sollte. Die schwindelerregend hohen Schuhe mit den unpraktischen Schleifen habe ich am Rande des Waldes von mir geworfen. Ebenso wie den Überrock dieses vermaledeiten Brokatkleides. Unzählige Häkchen, Schleifchen und Knöpfchen musste ich losbinden, loshaken (äußerst mühevoll bei einer hautähnlichen Anpassung von Kleidern wie dem meinen) und notfalls abreißen, was mir ehrlich leid tat und mich wertvolle Sekunden meines Vorsprungs kostete. Wie dumm, dass ich mich trotzdem immer wieder umsehen muss. Nicht häufig, aber trotzdem immer wieder. Als ob ich sie sehen könnte in den dunklen Schemen des Waldes, der sie mehr schützt als mich. Als ob sie ihr Gebrülle allein nicht schon verraten würde. Ich bleibe an einer Dorne hängen oder etwas, das sich so anfühlt, als es mir in die feine Haut am Hals fährt und mich zwar nicht besonders heftig, aber lang genug mit seinem Widerhaken stoppen kann. Ich bin außer Atem. Ich lasse mich von meiner Freundin Wald aufhalten, sinke langsam auf die Knie. Einen Augenblick lang, welchen ich nicht habe, verschnaufe ich und reibe mir das Gesicht. Verrückterweise richte ich mein Haar, das sich während der Hetzjagd gelöst hat. Nun hängt es mir in langen, glatten Strähnen in die schmerzenden Augen. Schneeweiß, mit silbrigem Glanz darin. Einen Moment erscheint es mir wie das Schönste auf dieser elenden Welt, bis mir wieder klar wird, dass es ja Schuld trägt an meiner Misere. Dass es mit seiner Schönheit und Reinheit meinen Frieden zerstörte. Und den meines Volkes, welches so lange angesehen und gefürchtet gleichermaßen gewesen ist. Zu lange, wie es nun scheint. Der menschliche Geist hingegen baut ab, verroht, kehrt zurück zu den Ursprüngen, wenn man ihn nur lange genug sich selbst überlässt.
Man sollte meinen, meine Landsleute würden Elfen und Feenwesen in ihrer Welt willkommen heißen oder wenigstens ohne Aufhebens zu machen dulden. Das habe ich gelernt nach jener Begegnung. Doch nun jagen sie, was sie einst verehrten und was sie nun mit einem mal nicht mehr verstehen können. Wie das? Wenn ich das wüsste, würde ich hier nicht um mein Leben rennen müssen. Ich wäre zu Hause, bei meinesgleichen, meiner sturen Familie. Aber sicher. Und behütet. Seit Jahrhunderten schon entstehen wir auf immer dieselbe Art.
Eine junge Mutter schüttet ihr Herz voller Liebe über ihrem stinkenden, kotzenden und scheinbar bis in alle Ewigkeit plärrendem Balg aus, bevor sie den Raum zum ersten Mal verlässt und es allein in seine Träume entschwindet. Und fort für immer. Noch während das Nachtlicht Hexen auf ihren Besen über die bunten Wände flattern lässt, Meerjungfrauen mit ihren unheimlichen, überlangen Fischschwänzen sich um die Zimmerecken schlängeln und sich der Rattenfänger aus der norddeutschen Sage zu einem ebenso grotesken Zerrbild fließt wie die ihm folgenden monströsen Ratten mit den langen Zähnen. Noch währenddessen kommen sie und holen sich das Kind. Heben es aus seinem warmen Bettchen und wiegen es in Zauber und Vergessen, das über die nächsten Nächte zunehmen wird. Stattdessen legen sie eines ihrer eigenen Sprösslinge in die Wiege, ein feingliedriges Ding mit viel zu ausgeprägtem Gesichtchen. Es wird über die Nacht die unfertigen Züge des speckigen Menschen annehmen, sodass sogar der Mutter selbst der Austausch niemals auffallen wird. Sie wird sich freuen über ein Kindchen, das über Nacht so brav und still geworden zu sein scheint – und so sittsam sich entwickeln wird. Unnatürlich? Nein, ein Segen. Das Menschenbalg hingegen wächst bei uns auf, entwickelt sich zu einer Lhiannon Sidhe oder Liannan Sidhe, die sehr bald an Blut gewöhnt wird und ein Leben ohne dieses Elixier niemals misst. Erkennt und erlernt die Vorzüge, die ein rücksichtsloses Dasein und eine maßlose Unantastbarkeit mit sich bringen werden. Ein Traum, nicht? Du sagst, nur, wenn man völlig egoistisch leben kann? Nun, eine andere Option stand von Beginn an niemals zu Debatte. Lernt die Hyäne das stinkende Aas zu hassen, in welchem sie genüsslich ihr gieriges, ewig grinsendes Maul verbirgt?
Einen tragischen Nebeneffekt hingegen erleidet das Feenkind, welches in einer Welt aufwächst, die schlicht nicht die seine ist und es auch nie werden wird. Es wird dieses Leben nicht verstehen, sich schutzlos fühlen und stets überfordert. Ewige Angstzustände zwischen Versagen und Ungenügen sind nur ein Teil seines – nun – nennen wir es Lebens, der Einfachheit zuliebe. Dennoch ist es in seinem Herzen immer ein Sidhe. Und wenn es doch einmal jemanden trifft, der es versteht und genau nachempfindet, was es durchmachen muss, wird es ihn Seelenpartner nennen. Und sich vielleicht so lange aufstacheln, bis es zum mehr oder weniger romantischen, aber stets gemeinsamen Selbstmord kommt. Die meisten jedoch landen in einer Anstalt, in der man ihnen Dinge von märchenhaften Modekrankheiten wie Burnout auftischt oder sie in solide Kuscheljäckchen steckt, die sie sich dauerhaft selbst umarmen lassen.
Nun, wie auch immer …
Ich möchte mir diese verräterischen Strähnen einzeln ausreißen, damit sie mich endlich einmal nicht mit ihrem schneeweißen Glanz verraten, damit sie mir endlich ein normales Leben ermöglichen. Leben in Zurückgezogenheit. So wie ich es möchte. Ein solches Leben wollte ich nie, niemals. Doch nun, in Anbetracht der Umstände, hätte ich nicht allzu viel dagegen, anonym und geschützt inmitten meiner Familie zu leben. Ich versuche die wirren Strähnen ein wenig zu ordnen und zusammen zu binden, sie unter der Kapuze des schweren Kleides wieder verschwinden zu lassen. Mit etwas Mühe gelingt es mir auch und ich stopfe sie mit zitternden Fingern unter den klammen Stoff. Plötzlich horche ich auf. Es ist völlig still. Ihre herben Schritte sind verklungen. Vielleicht haben sie kapituliert. Vielleicht warten sie auf ein verräterisches Geräusch meinerseits.
Trotz des Krampfes in meiner Brust und meinem rasselnden Atem, den ich panisch zu unterdrücken versuche, konzentriere ich mich und horche. Auf den Regen, der inzwischen einsetzt, als ob ich nicht schon fertig genug wäre. Auf den Wind zwischen den Ästen. Können Sie mich riechen, frage ich mich plötzlich. Ich hebe den Kopf, schließe die Augen, um sensibler zu sein, und biete mein Gesicht dem Himmel über mir dar. Ich höre nichts mehr. Vielleicht haben sie aufgegeben … aber ein ›vielleicht‹ ist nie besonders viel wert und Spekulationen ohnehin ein Resultat von Naivität.
Da ich zwar vieles aber sicherlich nicht Letzteres bin, gebe ich mir noch einen Moment Zeit, bis ich mir sicher bin, dass ich allein hier sitze, inmitten von Moos und nassem Laub. In der Ferne höre ich schwach die Geräusche der mechanischen Welt. Ein zaghaftes Hupen, das Surren der Hochspannungsleitungen wenige Meilen von hier am Waldrand. Ein bellender Hund, auf dessen Gekläffe ein Fuchs keifend antwortet. Der rote Jäger sitzt neben mir, so nah, dass ich ihn berühren kann. Ich strecke zaghaft die Finger in seine Richtung aus. Es ist nicht nötig ihn anzusehen. Ich spüre seine Präsenz und er meine. Er weiß, dass ich nicht zu seinen Feinden gehöre.
Dies ist nicht der victorianische Nord-Osten Schottlands. Es ist eine überaus moderne Zeit, in der ich nun lebe. Motorisierung und Digitalisierung haben Maschinerien ersetzt, von denen ich stets angetan war. Meine Lieblingsmaschine war der Dampfkessel der klugen Herren, die ihn schlicht überall einbauten. In Schiffe und Lokomotiven, und den Mr. Maryhope, unser Valet, in den Topf der Küchenhilfe Tuppence montierte. Somit wusste die Gute, wann genau die Erdäpfel viel zu weich für den Herrn waren. Ich lächle in dieser unpassenden Situation in mich hinein. Schnell muss ich mich zur Ordnung rufen, mein Leben steht immerhin auf dem Spiel. Das vergesse ich zuweilen, da ich wieder einmal gejagt werde. Seltsam, dass es mir heute, mehr als zwei Jahrhunderte später, erneut passiert. Anfangs dachte ich, die Zeit hätte sich geändert, die Menschen wären weniger abergläubisch und schreckhaft und vor allem weniger neugierig, was sich in anderer Leute Häuser abspielt. Oder wie sie aussehen. Schreckhaft wie eh und je. Doch ich muss feststellen, dass das Gegenteil der Fall geworden ist. Wann hat die Menschheit Anonymität und Recht auf Individualität abgeschafft?
Es bleibt still. Ich bin allein mit dem Fuchs und einigen Tierchen, die sich nicht an mich heran wagen. Anders als zu der Zeit, in der ich Jahrhunderte zuvor in ebendiese Lage geriet. Als ich mit gebrochenem Knöchel und blutend in den Büschen lag, knabberte mich dieser stinkende Dachs an. Ekelerregend. Damals fand Lady Merrily heraus, dass ich durchaus keine silbrige Perücke tragen würde und der Schleier aus schwarzer Spitze, den ich stets vor meinen Augen zu tragen pflegte, nie auch nur ansatzweise ein Modetrend aus London gewesen sei – sie habe extra an Ort und Stelle nachgefragt. Als sie dies diskret wie stets während eines Balls, beziehungsweise meines Tanzes mit Sir Fahy (öffentlich überaus charmant, kühl, und arrogant jedoch sehr leidenschaftlich wenn man unter sich ist) vor versammelter Gesellschaft darlegte, verlangte Sir Fahy schmunzelnd von mir, den Schleier abzulegen. Nun, ich weigerte mich natürlich. Selbstredend. Da riss mir die dumme Pute Merrily das edle Garn vom Gesicht und ich konnte die Augen nicht mehr rechtzeitig niederschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte meine rote Iris unter meinen Wimpern hervor, ehe ich sie rasch hinter fest geschlossenen Lidern verbarg. Sir Fahy bedeckte geschockt seinen wundervollen Mund mit einer Hand. Sogleich kopierte ihn die speichelleckerische Gesellschaft, allen voran und in unpassender Lautstärke, Merrily. Ihn habe ich nur noch einmal gesehen, und zwar an vorderster Front seiner Hetzkameraden, als er mich mit Fackeln und gezückten Degen durch den Wald jagte. Auch damals verlor ich ein Paar überaus entzückender und abgesehen davon sündhaft teurer Schuhe. Lady Merrily hingegen sah ich noch mehrmals. Einige Male, in denen ich sie schreckensbleich und wenig später um einige Liter ihres neidischen Blutes erleichtert in ihren weichen Kissen zurück und der restlichen Nacht überließ. Und an ihrem Todestag. Reiner Zufall, dass ich sie dort zum letzten Mal besuchte. Sie hatte ohnehin Nerven wie Zuckerwatte. Angeblich starb sie sechsundzwanzigjährig an einem Herzleiden. Nun, so ersparte sie sich wenigstens die Pein als ewige Jungfer da zu stehen. Scheinbar ist Lady Merrily von ebenso schwachem Gemüt gewesen wie ihr Nervenkostüm fadenscheinig. Ich brauchte nicht mehr als vier Nächte, um sie langsam und viel zu schonend von ihrem überflüssigen Leben zu befreien.
Noch immer ist es still, ab und an knackt ein Ast, jedoch nicht unter der Last schwerer Stiefel. Die drei Bauarbeiter mit dem grünen Hulk und dem maskierten Kettensägenmann im Schlepptau sind Berserkern gleich hinter mir durch das Gehölz gepflügt, starke Männer mit breitem Kreuz und Oberarmen, die dem dicken Baumstamm neben mir alle Ehre gemacht hätten. Dennoch sind sie verschwunden wie dünner Nebel in der Morgendämmerung. Ich wage ein langes Ausatmen.
Zum allgemeinen Verständnis und da wir etwas Zeit zu haben scheinen: Ich bin nicht Opfer eines neuen Lebens und ich hole mir nicht alle Jahre einen neuen Körper. Ich schlafe nicht in Särgen und ich gehe äußerst gern in die Sonne, wenn es auch keinerlei Einfluss auf meine puderzuckerweiße Haut hat.
Ich bin keines dieser weitverbreiteten modernen Vampirmannequins. Abgesehen davon werde ich wirklich ungehalten, sollte man Parallelen aus dieser sinnfreien Art erotischen Darstellungsdranges zu meiner Familie ziehen. Ich bin keine Reinkarnation und kein Wesen aus einer euch fremden Welt. Meine Familie war zuerst da, wann auch immer der Mensch behauptet, die Welt bevölkert zu haben. Und wir haben nicht damit angefangen, aus Kieseln Küchengeräte zu formen. Wir sind die Vorfahren, die Mütter von allem. Mit Ausnahme von Prinz Bloodfiest. Er ist in der Tat ein Mann. Einer genügt auch vollkommen. Auf ihn zu achten, ist schon zeitraubend genug.
Langsam entspanne ich meine verhärteten Muskeln. Immerhin bin ich heil aus dieser Nacht herausgekommen. Dennoch werde ich nächstes Jahr eine Perücke tragen und keine besonders billige. Ich bewundere jene, die gleich aus ihren ersten Fehlern lernen, sodass sie sie nicht wiederholen. Ich stelle fest, dass ich zu ihnen wohl nicht gehöre. Wenigsten konnte ich diesmal meinen Mantel vor den Ästen retten. Allzu viele Kleidungsstücke aus meiner Zeit habe ich leider nicht mehr. Langsam erhebe ich mich und beglückwünsche mich, dass ich keine Nierenentzündung bekommen kann. Hinter mir verhallen die letzten Rufe kindlicher Stimmen, die für Jack O´Lantern ein Lichtlein angezündet haben und von den Erwachsenen dafür als Dank eine Kleinigkeit, meist chemieverseuchten Zuckermist, bekommen. Oft erzählen die Älteren von den wundervollen magischen Feuerfeiern an Beltane … nun, die Nacht erreicht langsam den Punkt an dem sie noch ein kleines bisschen dunkler wird, bevor sie die Welt einem neuen Morgen preisgibt. Die Sterne geben sich dann mehr Mühe und es wird kaum merklich kälter.
Ich sehe an meinen Armen hinab. Die Haut ist übersät von purpurnen Ornamenten, die die spitzen Äste auf ihnen hinterlassen haben. Doch sie haben sich bereits geschlossen. Sie heilen nun. Es wird einige Tage dauern, bis ich sie wieder unbedeckt zeigen kann. Und ein Quarkwickel schadet auch nie. Ich höre tiefere Stimmen zwischen den hellen Glocken der Kinder zu mir herüberschallen. Einem Moment denke ich erschrocken, es sind die Männer mit ihren kunststoffbewährten Waffen. Ich muss leise lachen. Fünf imposante Männer fürchten sich so sehr vor einer adeligen Erdolchten, über und über mit Kunstblut beschmiert, die ihre roten Augen belustigt durch die Menge blitzen lies in einer Nacht wie dieser, dass sie sie Hals über Kopf in den alten Wald jagen. Vorsichtig stehe ich auf, um nicht noch mehr Schaden an meinem Kleid und Umhang anzurichten. Zaghaft klopfe ich mich ab. Leichter Schmerz zieht durch meine Haut an Armen, Hals und Gesicht. Besonders schmerzhaft sind die kleinen Schnitte an den Fingern. Ich zucke unter dem Brennen auf meiner Haut zusammen. Das ist der Nachteil an Schottland: Die Menschen hier in einem gewissen Alter sind noch zu viel mit Märchen von den todbringenden Feenwesen erschreckt worden. Ihnen kann man gleißende Augen nicht mehr als Kontaktlinsen vorgaukeln wie ihren abgebrühten Sprösslingen mit Vorliebe für Splattereffekte. Vielleicht sollten sich die Alten wieder mehr von ihrer traditionellen Unterhaltung entfernen, mein Leben zumindest wäre dann ein weitaus leichteres. Nicht, dass ich etwas gegen die guten alten Heimatschwänke habe. Die blutigen Schnitte sollten mich erinnern, dass ich vorsichtiger sein muss. Dass ich meine hellgrauen Kontaktlinsen für 25 Pfund im Quartal immer außerhalb meiner Wohnung tragen sollte. Und mein Haar wieder öfter blauschwarz färben sollte, auch wenn die Farbe wenige Haarwäschen später von ihnen abläuft wie Öl von Milch. Es ist Zeit weiter zu ziehen. Fort von Schottland und seinem Kleinbürgertum. Kurz gehe ich in mich. Doch wohin soll ich gehen? Mir erscheint Middlesbrough im nordenglischen Northumberland eine gute Alternative. Tief eintauchen in die giftigen Gefilde der Cleveland Hills erscheint mir eine gute Wahl zu sein. Diese fragwürdigen Kräuter habe ich schon immer geliebt. Vielleicht warten dort ein paar alte Bekannte auf mich. Es pocht schmerzhaft unter meiner Haut. Und mein Haar ist eine Katastrophe. Dennoch lächle ich. Das alles ist mir egal, denn wenige Tage später wird es wieder makellos sein. Und ich bin erneut davon gekommen. Nur meine Seele … sie wird noch ein klein wenig länger bluten, fürchte ich.