2013
zu Klampen Verlag
Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de
Reihenentwurf: Martin Z. Schröder, Berlin
Satz: textformart, Göttingen
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 9783866742024
Bibliographische Information der
Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten
sind im Internet abrufbar:
http://dnb.d-nb.de
Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Egon Flaig,
Jahrgang 1949, lebt in Berlin
und lehrt in Rostock, wo er die Professur für Alte Geschichte innehat. Nach Abschluß des Studiums der Geschichte, Romanistik und Philosophie promovierte er 1984 in Berlin. 1990 erfolgte die Habilitation in Freiburg. Er lehrte in Freiburg und Göttingen und arbeitete am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Gastprofessuren führten ihn ans Collège de France, an die Sorbonne, Paris I und die Universität Konstanz. 2003 bis 2004 war er Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und 2009 bis 2010 Stipendiat des Historischen Kollegs in München. 1996 wurde ihm der Hans-Reimer-Preis der Aby-Warburg Stiftung verliehen. Zuletzt sind von ihm erschienen »Weltgeschichte der Sklaverei« (2009) und »Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik« (2013).
EGON FLAIG
Gegen den Strom
Für eine säkulare Republik Europa
zu KlampenEssay 2013
UNDE ORGIO – INDE SALUS
Sta Maria della Salute, Venedig
Cover
Titel
Vorwort
Plädoyer für die Auflösung der Europäischen Union
Überforderter Staat und zweifelhafte Kohäsion
Das Burckhardt-Paradox: die Demokratie unterm Double-Bind
Aufstände in den banlieues und Zwickmühlen der Wohlfahrtsideologie
Kulturelle Faktoren umdefinieren zu sozialen
Der Wahn der Machbarkeit und die Diktatur des Guten
Cohn-Bendits Minarette: Nicht das Volk soll herrschen, sondern das Gute!
Der gefährlichste Rechtsextremismus der Gegenwart
Djihad. Gottgewollter Krieg zur Unterjochung der Ungläubigen
Islamische Apartheid. Warum »Toleranz« ein untauglicher Begriff ist
Djihad und Kreuzzüge. Der wesentliche Unterschied
Permanente Aktualität des Djihad – Erinnerungen an Israel
Der Gottesstaat – Feind der Republik
Die Scharia – gegen die Menschenrechte, gegen die Demokratie
Versagen ohne Verhängnis – zum Abbau der politischen Kultur
Wohlfahrtsideologie statt politischen Zusammenhaltes
Verfassungspatriotismus als Gemeinschaftsersatz
Das Böckenförde-Paradox. Die politische Freiheit diskreditieren
Statt einer Leitkultur: politische Korrektheit und öffentliche Meinung
Die Umgründung Europas auf die Religion
Keine kulturelle Orientierung ohne historische Erinnerung
Staatliche Neutralität gegenüber Religionen?
Antirepublikanische Gedächtnispolitik
Zerbröselnde Souveränität und Libanisierung der Bundesrepublik
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung
Warum Europa?
Europäische Identität. Eintreten in die gemeinsame Geschichte
Unsere Griechen – fremd trotz Demokratie
Zwölf Landmarken in der antiken Kultur
Unser Gründungsakt und die Autonomisierung des Politischen
Anthroponomie gegen Theonomie
Epilog
Universalismus – menschliche Gründung ohne göttliche Garantie
Literaturhinweise
Fußnoten
Impressum
Wer gegen den Strom schwimmt, verlangsamt. Ihm bleibt Zeit, Ufer und Landschaft zu betrachten. Wer gegen den Strom schwimmt, will Höhe gewinnen. Bei starker Strömung geht es mit ihm langsamer abwärts. Wer gegen den Strom schwimmt, richtet das Gesicht zur Quelle. |
Das höchste politische Ziel eines gebildeten Europäers ist ein vereinigtes Europa, eine demokratische europäische föderative Republik. Doch es führt kein Weg von der Brüsseler Europäischen Union zu einem demokratischen Europa. Ohne Bürger keine Republik; ohne Volk keine Demokratie. Das sicherste Mittel zur Zerstörung einer Republik ist es, die Bürger ihres zivischen Bewußtseins zu berauben. Über die vereinigte europäische Republik nachzusinnen heißt darum zuvorderst zu ergründen, was Europäer zu Bürgern macht und was sie daran hindert, solche zu werden.
Die Vision eines geeinten Europa war kein Alptraum. Seitdem Victor Hugo die »Vereinigten Staaten von Europa« als historisches Ziel der europäischen Nationen anvisierte, ist die berechtigte Hoffnung auf eine politische Föderation gewachsen. Demokratisch kann eine solche Bundesrepublik nur werden, wenn die unterschiedlichen Souveräne, die Völker der Mitgliedstaaten, sich zu einem einzigen Souverän zusammenschließen. Nur wenn ein europäisches Staatsvolk entsteht, kann eine europäische Demokratie ins Leben treten. Das ist möglich, und es ist sehnlichst zu wünschen. Doch dorthin gibt es nur einen einzigen Weg: jenen, den die zwölf Gründungsstaaten der USA gegangen sind, 1776–1787.
Der Plan der europäischen Einigung seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war ein Meisterwerk technokratischer Bankrotteure. Die politische Klasse und die sich blähende Brüsseler Bürokratie versuchten, die Völker der Europäischen Gemeinschaft allmählich zu Europäern werden zu lassen: Geräuschlos sollten die Völker einander nähergebracht werden, so lange, bis sie gar nicht mehr anders konnten, als Europäer zu sein. In einem Prozeß vollendeter Bewußtlosigkeit sollte ihr politischer Wille sich verpuppen und eines Morgens sich transmutiert wiederfinden als ein europäisch ausgerichteter Wille. Das war einer der heimtückischsten Anschläge auf die Volkssouveränität, der sich je unter parlamentarischen Bannern ereignete. Vorenthalten wurde den Nationen der europäischen Gemeinschaft ihr freier und bewußter Willensakt; versperrt wurde ihnen der Gang zu den fundierenden Volksentscheiden. Nur mittels solcher Abstimmungen vermögen die Nationen, über die zwei maßgeblichen Fragen ihren Willen zu bekunden: erstens darüber, ob sie ihre Souveränität preisgeben und in gemeinsames europäisches Staatsvolk eintreten wollen, zweitens über eine neue, demokratische und bundesstaatliche Verfassung. Die politische Klasse und die eurokratischen Apparatschiks haben die unverhohlene Absicht verfolgt, das künftige europäische Staatsvolk um seinen selbsttätigen Gründungsakt zu betrügen. Mehr oder weniger unbeabsichtigt verewigen sie ein antidemokratisches Regime, getragen von einer Nomenklatura, die sich desto weiter korrumpiert, je länger sie herrscht und je weniger sie demokratische Kontrollen fürchten muß. Daß sie sich inzwischen Besoldungen genehmigt, vor denen demokratisch legitimierte Staatsoberhäupter zurückscheuen, ist bloß die unappetitliche Spitze eines bedrohlicheren Eisbergs.
Diese Hintergehung rechtfertigte sich mit der Annahme, die Völker würden in der Nachfolge der EWG und nach der Logik der EWG automatisch zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenwachsen. Der ökonomische Nutzen des wechselseitigen Austausches besorge das Zusammenrücken der Nationen, führe zu Verflechtungen, die schließlich nicht mehr zu lösen seien und die Nationen zu einer Gemengelage verwandeln, die gar nicht umhinkönne, als träge Masse in eine paneuropäische Richtung zu rollen. Damit diese Entwicklung auch vonstatten gehe, haben die eurokratischen Funktionäre weidlich die »finanzielle Spritze« gebraucht. Diese Politik hat die Bürger der Mitgliedstaaten als reine homines oeconomici betrachtet und sie auch so behandelt. Der homo oeconomicus handelt auf Grund seiner Interessen, insbesondere seiner primitivsten, nämlich der materiellen. Die gesamte Politik seit über einem halben Jahrhundert ist von dieser Politik der Bestechung gekennzeichnet: die materiellen Interessen fördern, damit die einzelnen Nationen die Optionen der herrschenden Klassen wo nicht befürworten, so doch mittragen. Es ist mithin gelungen, Teile derjenigen Nationen, die eher Nehmer als Geber sind, regelrecht zu korrumpieren. Daß diese Korruption eines Tages als Bumerang zurückkehren mußte, wurde nicht bedacht.
Es war eine aberwitzige Fehleinschätzung, Völker durch Wirtschaftspolitik von oben verklammern zu wollen, als hätten diese Völker keinen eigenen politischen Willen. Als der Vertrag von Maastricht die Währungsunion einleitete, wurden die Warner zu Nationalisten abgestempelt. Eine bürokratische Konterrevolution begann, die nun schleichend die demokratischen Verfassungen sämtlicher Mitgliedstaaten aushöhlt. Die letzten Hemmungen, sich über den Volkswillen hinwegzusetzen, vergingen, als der Euro durchgepeitscht wurde. Wer verlangte, daß dies zum Thema einer öffentlichen Diskussion und zum Gegenstand einer politischen Entscheidung des Souveräns selbst zu machen sei, wurde diffamiert. Eine selbstherrliche Politikerkaste unter Führung der europäischen Regierungschefs hat sich ermächtigt, jedwede Mahnung, daß die Staatsvölker zu befragen seien, wenn es um die politische Zukunft dieser Staatsvölker geht, als »Populismus« zu verfemen. Wem die Volkssouveränität etwas bedeutet, den sollte die Beschimpfung als »Populist« mit Stolz erfüllen.
Die EU ist immer eine Distributionsanstalt gewesen; sie ist mit der Einführung des Euro zu einer gigantischen Verteilungsmaschine geworden, die auf Knopfdruck riesige Transfers vollzieht. Das geht so lange gut, wie Überschüsse zu verteilen sind. Sind keine Überschüsse mehr vorhanden, werden sie durch Schulden einfach erzeugt. Aber was, wenn die Schulden die Staaten übermannen? Dann ist es vorbei mit der Ausschüttung von Gewinnen, dann heißt es, Lasten umzulegen. Und das kann nicht gelingen, weil die EU keine politische Gemeinschaft ist.
Innerhalb eines Volkes von Bürgern, das sich versteht als der Souverän eines Gemeinwesens, besteht stets die Bereitschaft, nicht bloß die Erträge auszuschütten, sondern auch die Lasten zu übernehmen. Denn eine Gemeinschaft hält zusammen »in guten wie in schlechten Zeiten«. Gesellschaften, so lernen wir von Lévi-Strauss, beruhen auf dem Tausch (der Worte, der Symbole, der Gaben, der Güter, der Personen). Gemeinschaften beruhen auf dem Einstehen für die anderen, also auf der Bereitschaft zum Opfer. Daher kommt in der Krise die Wahrheit über das »soziale Band« zum Vorschein. Nun zeigt sich, was eine Gemeinschaft taugt und was eine Verfassung wert ist. Die Krise um die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates ist somit ein wertvoller Markstein. Sie bringt zutage, wovor die politische Klasse beharrlich die Augen verschlossen hat: Die ökonomischen Verflechtungen machen uns Europäer nicht notwendigerweise zu politischen Freunden. Der lodernde Haß auf namentlich benannte deutsche Politiker und deren Stigmatisierung als NS-»Homologe«, die Wut auf das größte Geberland der Eurozone überhaupt, offenbaren, was die eurokratische Politik wegleugnen wollte: Die europäische Union für Transfer und Schulden macht die Völker zu Feinden. Sie hat vorhandene nationale Antipathien nicht beseitigt, sondern erzeugt sie auf eine neue Weise.
Menschen, die als homines oeconomici behandelt wurden, benehmen sich keinesfalls als Bürger Europas, sondern als Zuschußberechtigte und als Konkurrenten um zu verteilende Vorteile. Geht man die vielsprachige Presse durch, stellt man fest, daß alle sich als Verlierer fühlen. Das war vorherzusehen, und das hatten viele vorausgesagt. Wer damals taub war, reibt sich nun die Augen. Aber wie sollte es anders sein? Wenn sich alle als Verlierer und als Betrogene begreifen, wächst die Wut auf die anderen.
Als solche wütende Verlierer werden die Europäer sich niemals zu einem Volk von europäischen Bürgern vereinigen. Und ohne ein solches kann es keine europäische Demokratie geben. Schlimmer noch: Die Regierungen werden, um eine Währung zu retten, die nicht zu retten ist, weil kein einheitlicher politischer Wille hinter ihr steht, von einer Notstandsmaßnahme zur anderen getrieben. Die Verfassungsbrüche vor allem in Deutschland häufen sich. Und der Gedanke, das deutsche Parlament in dringlichen Eurofragen zu ersetzen durch ein nicht von den Wählern legitimiertes Komitee, hat allen vor Augen geführt, wohin nicht nur Brüssels Eurokratie driftet, sondern wohin um der Rettung dieser Eurokratie willen die nationalen Regierungen schlittern. Nicht nur erschleicht sich die eurokratische Nomenklatura immer umfangreichere Kompetenzen, sie erhält vielmehr solche obendrein von bereitwilligen Regierungen auf dem Silbertablett dargereicht. Die nationalen Regierungen selber glauben sich genötigt, ihre Verfassungen zu demolieren und die Souveränität ihrer Staatsvölker als entwertetes Papiergeld zu schreddern. Lauthals verkünden die Ideologen der eurokratischen Diktatur, die Europäische Union erbringe den Beweis, daß eine Demokratie ohne Demos möglich sei, mehr noch: Volksentscheide seien illegitim, da es ein europäisches Volk nicht gebe. Die Brüsseler Eurokraten müssen sich nicht einmal – wie Brecht es der kommunistischen Nomenklatura empfahl – »ein anderes Volk suchen«; ihnen genügt es vollauf, daß es just kein Volk gibt. So dürfen sie regieren in niemandes Namen, für niemandes Wohl und sind niemandem Rechenschaft schuldig.
Die aufgeblähte teure Eurobürokratie, die Kommissionen, das Parlament und nicht zuletzt die Gerichtshöfe sind Ruinen, die eine Straße in die falsche Richtung säumen und sich redlich verdient haben, abgerissen zu werden. Jeden Tag wächst der Unmut über die Zumutung, dieses Monster noch weiter zu füttern. Es ist hohe Zeit, dieses Gebilde aufzulösen. Denn je länger es lebt, desto weiter diskreditiert es die Idee eines vereinigten Europa.
Aus einer Sackgasse kommt man nur rückwärts wieder heraus oder indem man wendet und entschlossen in die Gegenrichtung fährt. Tut man das, werden die europäischen Nationen nicht zurückfallen in eine neue Ära des Nationalismus. Sondern erst dann ist es überhaupt möglich, eine rationale Debatte darüber zu beginnen, welche politische Identität die Nationen in der Zukunft haben wollen. Ob sie bereit sind, einer einzigen großen europäischen Nation anzugehören oder nicht. Einer Nation, die am allerwenigsten dies sein wird: ein Verband ökonomischer Akteure zum gegenseitigen ökonomischen Nutzen und zum Transfer von Schulden und Schuldentilgung. Dann wird der Weg frei zu einem demokratischen Europa, das sich gründet auf einen kollektiven Akt, ausgiebig erörtert, in umfassender Deliberation formuliert und mit breiter Mehrheit beschlossen – Region für Region, Nation für Nation.
Doch dazu bedarf es einer neuen Würde der staatlichen Verfaßtheit, einer neuen Würde des Politischen. Und des klaren Bewußtseins, daß wir Menschen sind, die in der politischen Partizipation einen großen Teil unserer Erfüllung finden.
Das »erste« Gesetz der Geschichte lautet: Alles ist verlierbar. Die Verlierbarkeit rührt aus dem kulturellen Wandel. Menschliche Gesellschaften wandeln sich unablässig; dieser Wandel geschieht zwangsläufig und ist von niemandem zu verhindern. Wandel kann »Gutes« bringen, nämlich »Verbesserungen«, die in einer bestimmten Kultur als solche gelten. Freilich können in diesem Wandel anderseits die eindrucksvollsten kulturellen Errungenschaften wieder verlorengehen. Wir können das wissenschaftliche Denken wieder verlernen; die Emanzipation der Frau kann den nächsten Generationen abhanden kommen; die Religionsfreiheit kann vollkommen verschwinden. Sobald die repräsentativen Demokratien sich auflösen, werden die Bürgerrechte gegenstandslos und die Menschenrechte sinnlos. Die Generationen, die dann heranwachsen, werden den Verlust nicht einmal wahrnehmen, weil er für sie bedeutungslos sein wird. Denn im Wandel verändern sich die Sinnsysteme. Und in einer gewandelten Welt kann man nicht einmal mehr abschätzen, wie schwer der Verlust wiegt; denn was semantisch entwertet ist, also seinen Sinn verloren hat, kann nicht mehr gewogen werden.
Das »zweite« Gesetz der Geschichte betrifft die »Kosten«. Nichts auf dieser Erde ist umsonst. Die Geschichte stellt sich unmittelbar dar als eine Abfolge von Katastrophen; darum sind alle kulturellen Errungenschaften teuer erkauft, mit hohem Einsatz und zäher Mühe, oft mit entsetzlichen Opfern – die republikanische Staatsform ebenso wie der Religionsfriede, der Rechtsstaat ebenso wie die Friedensordnungen, die Demokratie ebenso wie die Menschenrechte. Um die Sklaverei abzuschaffen, mußte der Norden der USA einen äußerst blutigen Bürgerkrieg führen und mußten die Briten und Franzosen in Afrika ständig militärisch agieren.
Wer das ignoriert, dessen kulturelles Bewußtsein liegt auf einem relativ niedrigerem Niveau als dasjenige von Angehörigen sogenannter primitiver Kulturen. Denn noch die einfachste derselben hält Mythen bereit, um ihren Mitgliedern bildhaft vor Augen zu führen, daß nichts selbstverständlich ist und daß die Ordnung, in der sie leben, eine gestiftete ist – sei es von Göttern, sei es von Heroen; die Mythen verhelfen den Menschen zu einem geschärften Bewußtsein davon, daß alle kulturellen Errungenschaften mühevoll erlangt wurden. Wer in unserer europäischen Kultur jene Kosten ignoriert, wer um die prinzipielle Verlierbarkeit nicht weiß, wem daher die Prekarität jeglicher kultureller Leistung nicht zu denken gibt, der streunt als Troglodyt durch seine Lebenswelt, die er für so naturgegeben hält wie der Bär den Wald.
Wir leben in der Geschichte, und wir müssen uns in ihr orientieren. Aber was heißt das? Gegen die Lehre, es sei die Aufgabe der Geisteswissenschaften, die kulturellen Schäden der Modernisierung zu »kompensieren«, hat einst Odo Marquard eingewandt, ihnen obliege vielmehr die Pflicht zur Orientierung. Das Wort »orientieren« enthält den Orient, das Morgenland. Es stammt wohl aus der Baukunst und meint dort die Ausrichtung griechischer Tempel und christlicher Kirchen nach Osten. Mit der Feststellung, wo Osten ist, sind automatisch alle anderen Himmelsrichtungen fixiert. Orientierung heißt Festlegung der Richtung. Was festgelegt ist, kann nicht mehr beliebig verändert werden. Orientieren beinhaltet, die Beliebigkeit auszuschalten; es bedeutet somit auch, die Flexibilität zu reduzieren. Orientierung heißt, in wichtigen Hinsichten inflexibel zu sein.57 Deswegen gehört Orientierung zur Kultur, zur menschlichen Gesellschaft. Keine Gesellschaft ist imstande, sich langfristig auszurichten, wenn sie nicht auf Richtungen festgelegt ist. Kein Mensch ist orientierungsfähig, wenn er nicht vor aller Selbstreflexion weiß, was er in wichtigen Situationen zu tun hat.
Auf der elementaren kognitiven Ebene ist das Orientiertsein unschwer zu bemerken: Es kann nicht alles gleich wichtig sein. Wäre alles gleich wichtig, wären wir nicht bloß außerstande zu handeln, sondern völlig unfähig, wahrzunehmen, zu beobachten und zu denken. Jede Kultur leistet eine beträchtliche Selektionsarbeit mit Hilfe eines Apparates, der vor allem semantische Exklusionen vollzieht, also sehr weniges mit Bedeutung versieht, um alles andere als bedeutungslos auszuschließen. Sie konstituiert also die semantische Apparatur, mittels derer wir wahrnehmen. Doch hier geht es um mehr als nur das Wahrnehmen, nämlich um das Handeln. Kultur orientiert uns normativ. Sie pflockt unsere kardinalen normativen und geistigen Eckpunkte fest. Daß moralische und politische Schranken uns davon abhalten, bestimmte Dinge zu tun, verdanken wir der Orientierungsleistung unserer Kultur.
Aber sind Normen hinreichend stabil? Gewiß, jede Gesellschaft wird – oberflächlich besehen – von Normen zusammengehalten. Doch hinter den Normen stehen Werte. Solange uns diese Werte wichtig sind, werden wir an den Normen festhalten. Wenn die Frauen dasselbe Recht haben, als Personen in der Öffentlichkeit zu erscheinen, wie die Männer, dann müssen sie auf dieselbe Weise ihr Gesicht zeigen. Dann muß die Burka in Europa verboten werden. Das Verbot muß die Norm sein. Der Wert hinter der Norm ist die politische Gleichheit der Geschlechter. Wenn dieser Wert fällt, dann wird die Norm unbegründbar; und dann darf man Frauen das Gesicht verhängen und sie zu Hause einsperren.
Aber wir können die Werte nur verteidigen, wenn wir sie nicht allein kennen, sondern um ihre historische Bedeutung wissen. Amnesty International (AI) verteidigt das Recht jeder Frau, die Burka zu tragen. Diese Organisation bezieht eine menschenrechtsfeindliche Position, weil sie sich verirrt hat. AI hat die kulturelle Orientierung verloren, weil ihre Mitglieder vergessen haben, welcher Wert hinter der Norm des freien Gesichtes steht. Das Vergessen ist gravierend. Mit demselben Recht, das erlaubt, die Burka zu tragen, kann jemand seine eigene Freiheit verkaufen und sich in Sklaverei begeben. Wie würde AI darauf reagieren? Konsequenterweise müßte die Organisation verlautbaren, daß die Selbstbestimmung jedem Menschen erlaube, sich in Sklaverei zu verkaufen; ergo widerspreche das Verbot des Selbstverkaufs der Selbstbestimmung. Sobald dies Argument hoffähig wird und die Gesetzgebung erreicht, wird man die gesetzliche Norm ändern: Wir erlauben dann den Selbstverkauf in die Sklaverei. Geschähe das, so gäbe es spätestens drei Jahrzehnte später in Europa wieder massenhafte Sklaverei. Und warum? Weil wir zwar gelernt haben, daß der Artikel 1 der Menschenrechte unhintergehbar sein soll, aber kein Bewußtsein davon haben, wieso diese Unhintergehbarkeit von kardinaler historischer Bedeutung ist.
Um dieses Problem in Begriffe zu bringen, ist zu klären, welche Komponenten in der Orientierung wirken müssen. Besehen wir nochmals die Normen: Montesquieu vermutete, daß die Freiheit auf dem europäischen Kontinent verlorenginge, falls sie bloß auf den Sitten basierte. Nur Gesetze seien imstande, dauernde Freiheit zu gewährleisten. Wie das? Aus Errungenschaften werden Routinen. Deren Sinn und Zweck verflüchtigt sich allmählich; und dann werden Routinen langweilig. Der unablässige kulturelle Wandel macht aus langweiligen Routinen schließlich skurrile Überbleibsel. Solche absichtlich zu bewahren ist ein widersinniges Unterfangen. Hegel hat das derb ausgedrückt: »Die Gewohnheit (die Uhr ist aufgezogen und geht von selbst fort) ist, was den natürlichen Tod herbeiführt. Die Gewohnheit ist gegensatzloses Tun.«58
Alle Gewohnheit befördert das Vergessen, und alle Verdinglichung ist ein Vergessen. Darum ist zur Bewahrung von kultureller Identität das Eingedenken so wichtig: Sinn und Zweck eines Brauches müssen rituell oder pädagogisch immer wieder in das Bewußtsein eingeholt werden. Daher sind Gesetze stärker als Sitten. Sie haben ein Datum. Werden sie abgeschafft, so geschieht das als intentionaler Akt. Dabei zuckt häufig die Erinnerung daran auf, weswegen einst das Gesetz erlassen wurde. Einer solchen Besinnung entledigt sich eine politische Elite, sobald ihr historisches Bewußtsein sich der Nullmarke nähert. Selbst extrem schwach organisierte Ethnien leisten einen relativ beachtlichen Aufwand, um das Selbstverständliche reflexiv einzuholen: In ihren Mythen machen sie sich bewußt, daß jede Institution und jeder wichtige Brauch »gegründet« oder gestiftet wurde, und hinfort zu bewahren und zu reproduzieren ist. Die Bedeutsamkeit und die Fülle gerade der aitiologischen Mythen, die das Aition, die Ursache, erzählen, illustriert sattsam diese kognitive Energie.
Über den Normen stehen Werte; aber hinter ihnen steht eine Geschichte. Werte geben zwar die Antwort auf die Frage, warum Normen gelten sollen. Aber diese Antwort wird wesentlich plausibler, sobald man uns erzählt, wie es dazu gekommen ist, daß ein bestimmter Wert obsiegte. Warum etwas gelten soll, wird plastisch und einprägsam, sobald wir wissen, wie es zur Geltung kam. Die weltweite Abschaffung der Sklaverei war nur möglich, weil eine sehr entschlossene Bewegung in der englischen und auch in der amerikanischen Gesellschaft sich unentwegt dafür einsetzte. Der Wert, auf den sie sich bezogen, war das unverlierbare Recht aller Menschen auf Freiheit. Wenn eines Tages dieser Wert, verankert im Artikel 1 der Menschenrechte, nicht mehr gilt, dann kann man legitimerweise die Sklaverei wieder einführen. Und er wird seine Geltung verlieren, sobald wir vergessen haben, was Sklaverei ist und wie schwer es war, sie zu beseitigen. Offensichtlich brauchen wir als politische Wesen eine nachhaltige Bildung mit festen Wertbezügen, die sich über Jahrhunderte hinweg durchhalten.
Demnach müssen wir unterscheiden zwischen Orientierung und historischem Bewußtsein. Dieses muß jener beistehen, damit sie dauerhaft bleibt. Wenn im folgenden vom historischen Erinnern die Rede ist, so ist damit kein Erinnern gemeint, das auf dem individuellen Erinnern beruhte oder ihm ähnlich wäre. Denn es handelt sich dabei nicht um das Erinnern von Erlebtem. Es ist vielmehr ein Vorgang, der direkt angeschlossen ist an das kulturelle Gedächtnis, wie Jan Assmann es konzipiert hat. Dieses Gedächtnis ist eine soziale Apparatur, wohingegen das Erinnern als dynamischer Vorgang auftritt, in dem sich stets eine Subjektivierung vollzieht: Das Erinnern bezieht sich auf ein Wir und geht uns an.
Der Unterschied zwischen Orientierung und historischer Erinnerung läßt sich plastisch vorführen: Sogar bei starker normativer Orientierung kann unser Handeln richtungslos und kriminell werden, wenn man unser Erinnerungsvermögen lahmlegt. Der Film »Memento« zeigt einen Mann, der die Fähigkeit, neue Erinnerungen aufzubauen, völlig verloren hat. Er ist daher manipulierbar und wird als Killermaschine gebraucht. Und George Orwell erzählt in seinem Roman »1984«, wie die Diktatur der Zukunft ständig die politische Vergangenheit umschreibt und so das kollektive Gedächtnis der Untertanen verflüssigt. In der Tat, wenn das gelänge, könnte man Menschen programmieren wie Roboter. Ohne unsere Erinnerungen könnte man alles mit uns und aus uns alles machen. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.
In Wahrheit ist jegliche kollektive Erinnerung gekoppelt an ein kollektives Vergessen. Wie beide miteinander verschränkt sind, läßt sich illustrieren an Ereignissen, die sich am Ende der Dreyfus-Affäre zutrugen. Diese zerriss die französische Nation schon mehr als fünf Jahre, als 1899 der Revisionsprozeß begann. Am 9. September sprach das Kriegsgericht in Rennes Dreyfus zum zweiten Mal schuldig. Die aufgewühlte politische Landschaft erstarrte unter dem Befehl, den am 21. September der Kriegsminister de Gallifet an die Armee der Republik ausgab: »L’incident est clos! (…) Je vous demande et, s’il était nécessaire, je vous ordonne d’oublier ce passé.«59 De Gallifet ordnete ein Vergessen an, von dem er glaubte, daß es heilsam sei, um einen bedrohten oder bereits verlorenen Konsens zurückzugewinnen – im Interesse der Einheit der Armee und des Vertrauens, das unabdingbar war, damit die Soldaten einer demokratischen Republik ihren Offizieren gehorchten. Dies um den Preis, ein Unrecht zu vergessen, das auch durch die Wiederholung seiner rechtlichen Bekräftigung um nichts gerechter geworden war. Jahrzehnte später wurde der Gerechtigkeit Genüge getan – weil Teile der Nation das befohlene Vergessen mißachteten.
Indes, das Erinnern ist keineswegs per se heilsam. Rachekulturen nötigen die Beleidigten, die Verletzung ihrer Ehre abzuwaschen mit einem Gegenschlag; und wenn die Beleidigten sich dieser Pflicht entziehen, verlieren sie Ehre und Achtung und müssen wegziehen oder untergehen. Was das bedeutet, darüber belehren uns in grausiger Deutlichkeit ethnologische Untersuchungen über die Racheregeln in Ostanatolien, Korsika und vor allem Albanien.60 Diese Pflicht zur Feindschaft wird genährt von präzisen Praktiken des Mahnens.
Rachekulturen pflegen Mnemotechniken, vor deren Intensität jegliche historische Bildung verblaßt: Die Requisiten des erlittenen Unrechts werden zur Schau gestellt, das heilige Versprechen, die Rache zu vollziehen, wird erneuert; bei der Bestattung der Getöteten entlädt sich eine angestaute Feindschaft in rituellen Gesten, mit denen sich ganze Sippen zur Vergeltung peitschen, ja ganze Städte oder Religionsgemeinschaften. Diese kodierten Manifestationen des Hasses in Trauerritualen überführen die Illusion, Trauer könne die Menschheit vereinen. Die Funktionäre der offiziellen Gedächtnispolitik in den europäischen Ländern seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sind angetan vom berühmten Ausspruch des Baal shem Tov: »Das Vergessen verlängert das Exil; das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« Jedoch ist das Gegenteil ebenso wahr; manches Erinnern verewigt das Unheil, und das Geheimnis der Erlösung heißt dann Vergessen.
Denn Frieden wird es nur geben, wenn die Rache endet und auch die Entzweiung. Besehen wir nochmals den Befehl des französischen Kriegsministers. De Gallifet handelte zwar spektakulär, aber entlang einer strengen Logik. Er versuchte, das kulturelle Gedächtnis der Armee und der französischen Nation mitzugestalten, indem er ein Vergessen befahl. An diesem Gedächtnis ist unentwegt zu arbeiten, damit Nationen nicht auseinanderbrechen und Armeen gehorchen. Man darf nicht alles erinnern, um des inneren Friedens willen.
De Gallifet setzte in die politische Tat um, was Ernest Renan in seinem berühmten Vortrag über das Wesen der Nation an der Sorbonne 1882 feststellte: »L’oubli et je dirais même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la formation d’une nation.«61 Aus dieser Feststellung läßt sich jene Maxime ableiten, gemäß der de Gallifet seinen Befehl zum Vergessen ausgab. Renan verband die memorialkulturellen Funktionen mit der Notwendigkeit der politischen Eintracht handlungsfähiger Gemeinschaften. Er hat das Vergessen zur politischen Tugend erhoben.
Alle Nationen, alle Völker und alle Staaten beruhen auf fundierendem Vergessen. Gründend ist ein solches Vergessen, weil es verhindern soll, daß alte Feindschaften zwischen Segmenten und Teilen der Gemeinschaft wieder bedeutsam werden. Die Bürgerkriege in den Städten des klassischen Griechenland wurden beendet, indem beide Parteien den Schwur leisteten, nichts Böses zu erinnern; desgleichen beinhalteten europäische Friedensschlüsse in der Regel die Klausel »vergeben und vergessen«.62 Das kollektive Gedächtnis war somit ein ständig herzustellendes Resultat; die Beteiligten hatten auf ihr individuelles Gedächtnis so einzuwirken, daß sie dem Eid gehorchen konnten. Die Akteure mußten essentielle Inhalte ihres individuellen Gedächtnisses für das soziale Handeln wirkungslos machen, sie also unterdrücken. Aber führte das verordnete Vergessen nicht zu einer »Verdrängung«? Und hätte solche Verdrängung nicht einen Wiederholungszwang bewirken müssen? Das hatte die Althistorikerin Nicole Loraux im Hinblick auf die griechischen Vergessenseide behauptet.63 Doch es war genau umgekehrt: In jenen Städten, in denen man zwar Vergessen schwor, sich dann aber nicht zum Vergessen zwang, eben dort dauerte es nie lange, bis man sich wieder bewaffnet gegenüberstand. Der Wiederholungszwang meldete sich dort, wo der Konsens der Bürger nicht ausreichte, um das Vergessen wirkungsvoll zu erzwingen. Dauerhafter Friede stellte sich vielmehr dort ein, wo die sozialen, politischen, institutionellen und symbolischen Mechanismen stark genug waren, um repressiv die schmerzlichen Gedächtnisinhalte aus der politisch relevanten Kommunikation herauszudrängen. Hier versagt das psychoanalytische Modell. Die Verdrängung ist in der menschlichen Geschichte großenteils ein heilbringender Vorgang.
Es gibt kollektive Gedächtnisse, die mit verfälschten Inhalten operieren. Kollektive Erinnerungen können völlig unwahr sein. Solche erlogene Geschichte breitet sich seit den letzten vier Jahrzehnten epidemisch aus. Ethnien, die ihre Nachbarn jahrhundertelang versklavten, brüsten sich heute hysterisch als Opfer der Sklaverei. Eine hemmungslose Gedächtnispolitik löscht notwendigerweise die historische Wahrheit aus.64 Die historische Bildung in europäischer Absicht aufzuwerten verlangt darum nach expliziter Einhaltung von kognitiven Geboten. Bildung bedarf eines zureichenden historischen Bewußtseins und Wissens. Dieses ist freilich per Mausklick nicht zu haben. Auch deswegen sind Journalisten und Politiker zu einer bildungsfernen Schicht geworden. Das Ressentiment der Bildungslosen, das sich der politischen Klasse ebenso bemächtigt hat wie der Medienakteure, wird inzwischen medial und karrieremäßig vergütet. Abgesehen von den hausgemachten Schwierigkeiten in der Fachwissenschaft selber liegt hier der maßgebliche Grund für das merkwürdige Desinteresse an der europäischen Vergangenheit.
Die Werte der europäischen Kultur – mit den Knotenpunkten »Demokratie«, »Menschenrechte« und »wissenschaftlicher Diskurs« – sind nur dann zu verteidigen, wenn die späteren Generationen, zumindest deren politische Eliten, nicht nur die Werte kennen, sondern die Erinnerung daran bewahren, warum die vorangegangenen Generationen um dieser Werte willen sich für die eine Option entschieden haben gegen andere. Die Erinnerung an die Weichenstellungen ist kardinal. Und für diese Erinnerung ist die Historie zuständig. Sie hält die Bedeutung jener Kriterien im Bewußtsein, die Auskunft darüber geben, was für die eigene – kulturelle und politische – Identität wichtig ist.