2013
zu Klampen Verlag
Röse 21 · D-31832 Springe
info@zuklampen.de · www.zuklampen.de
Reihenentwurf: Martin Z. Schröder, Berlin
Satz: textformart, Göttingen
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
ISBN 978-3-86674-300-7
Bibliographische Information der
Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie;
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sind im Internet abrufbar:
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Reihe zu Klampen Essay
Herausgegeben von
Anne Hamilton
Hannelore Schlaffer,
geb. 1939, lebt als freie Schrift-
stellerin und Publizistin in Stuttgart. Von 1976 bis 1978 war sie Lektorin in Paris, seit 1982 hat sie eine außerplanmäßige Professur für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München inne. Sie schreibt regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten und hat Bücher und zahlreiche Aufsätze vor allem zur Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie mehrere Essaybände vorgelegt. Von ihr sind zuletzt erschienen »Mode, Schule der Frauen« (2007) und »Die intellektuelle
Ehe« (2011).
HANNELORE SCHLAFFER
Die City
Straßenleben in der geplanten Stadt
zu KlampenEssay 2013
Die sprechende, die erzählte und die nichtssagende Stadt
Die Stadt ist, wie der Stamm, die Familie, die Kultgemeinschaft, eines der grundlegenden und die Zeiten überdauernden Ordnungsmuster der menschlichen Gesellschaft. Man trug den Namen der Stadt so gut wie den seines Heiligen und seiner Familie, hieß Cusanus, da Vinci, de Poitiers, von Gandersheim. Noch heute schätzt sich ein Mensch anders ein, je nachdem ob er ein Berliner, ein Münchner oder ein Stuttgarter ist. Zumindest gibt es noch heute Städte, die eine »gute Adresse«, und solche, die eine »schlechte« sind. In Wolfgang Braunfels’ Buch »Mittelalterliche Stadtbaukunst in der Toskana« (1953) erfährt man, dass in dieser frühen Epoche die Stadt wie ein Haus verstanden wurde, an dessen Errichtung alle Bürger mitarbeiteten, so wie Familienmitglieder heute bei einem Umzug anzupacken haben. »Die Vorstellung sah in ihr [der Stadt] zu jedem Zeitpunkt ein einheitlich errichtetes, hochaufragendes Bauwerk, in dessen planvoller Gestaltung sich ein hoher und ideeller Gedanke spiegelt.« Das Stadtgebilde war so kompakt, dass es, wie Siena, einem Heiligen in die Hand gegeben werden konnte. »Haec est civitas mea« – lautete die Unterschrift unter den Tafeln solcher Stadtheiligen. Noch auf den Stichen von Matthäus Merian nehmen sich Städte aus wie Dinge, die durch die Mauer definiert sind, wie die Nuss durch die Schale, der Mensch durch seine Haut. Bis in die jüngste Gegenwart reicht dieses Wissen von der Bedeutung der Stadt für die menschliche Existenz. »Zu den ältesten Ruhmestaten des Menschen gehört, dass er ein Stadtgründer ist. […] auf Münzen wird oft der Herrscher als solcher dargestellt. Dies also war gleich wichtig wie die Veranstaltung einer Feldschlacht.« (Wolf Jobst Siedler, »Die gemordete Stadt, Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum«, 1964)
Keine Stadt von heute wäre noch einem Heiligen in die Hand zu legen, und nicht etwa deshalb, weil aus Gotteskindern Stadtkinder geworden sind. Der Fall der Stadtmauer bewirkte die Säkularisation der Stadt. Mit ihr verliert sie ihre dingliche wie ihre spirituelle Wesenheit. Sie kann nicht mehr als Haus, sie muss als soziales Gebilde beschrieben werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich von der gebauten Stadt, die Symbol und Machtzentrum war, auf die Bewohner. Von nun an ist die Stadt die schönste, von der am meisten erzählt wird.
Diese Stadt ist Paris. Ein heftiger Kampf tobte um seine Mauern. Sie waren jedoch nicht etwa gegen bewaffnete Feinde zu verteidigen. Zuwanderer vielmehr, die sich in der Stadt Erlösung von ihrer Armut erhofften, sprengten sie. Die Mauern wurden immer weiter hinausgeschoben, es wurden neue errichtet, und endlich fielen sie ganz. Heute erinnern nur noch die Boulevards (der Begriff leitet sich von »Bollwerk« her) an diese Epoche, in der sich die Stadt als Haus zur Stadt ohne Tür und Tor verwandelte. Dieses Gebilde war nicht mehr mit einem Blick zu erfassen, sondern nur noch durch viele Worte zu beschreiben. Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1819) schuf eine neue Gattung der Literatur, Notizen über das städtische Leben, vergleichbar dem Notebook des heutigen Ethnologen, die er 1781 als »Tableau de Paris« publizierte. Er entdeckte den Menschen als soziales Wesen und die Stadt als soziale Organisation. Die Ethnologie begann im Innern der Gesellschaft, auf dem Terrain der Stadt, wo sich Einwohner, Zuwanderer und Besucher zu einer bis dahin unbekannten Einheit vermischten, die es zu studieren galt. Von da an bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wurde die Stadtbeschreibung ein wesentlicher Bestandteil des metropolitanen Selbstbewusstseins, auch in Deutschland, wo Literaten Städte wie München und Berlin nach dem französischen Vorbild darzustellen suchten. Die Stadt ohne Mauern wurde zur Stadt mit dem interessanten Straßenleben.
Mercier, der erste Memoirenschreiber der Stadt, erklärt es ausdrücklich zu seiner Absicht, gelebtes Leben der Nachwelt zu überliefern: »Ich werde von Paris reden, nicht von seinen Bauwerken, nicht von seinen Tempeln und Monumenten, seinen Sehenswürdigkeiten etc.: genug andere haben darüber geschrieben. Ich werde von den öffentlichen und privaten Sitten sprechen, von den herrschenden Ideen, von der gegenwärtigen geistigen Situation, von allem, was mich in diesem seltsamen Durcheinander von absonderlichen oder vernünftigen, aber immer wechselnden Gewohnheiten frappiert hat.« Sein »Tableau de Paris« erreichte die für jene Zeit unglaubliche Auflage von 100 000 Exemplaren. Mercier begründet die Großstadtreportage, indem er Mensch und Umwelt, architektonische Struktur und lebendige Bewegung darin miteinander verband. Dabei lässt er kein ruisseau, keinen Rinnstein, keine latrine publique aus, beschreibt ebenso die Geruchsbelästigung für den Passanten wie Farbenpracht oder Elend ihrer Erscheinung. Die auf die Revolution zustrebende Gesellschaft verschlang diese neue Art von Literatur, denn sie hatte den Blick von den Herrschenden, von König und Kirche, ab- und dem Alltagsleben, also sich selbst, zugewandt. Die anekdotischen Feuilletons über die Stadt, die im 19. Jahrhundert aus Merciers Entdeckung hervorgingen und die Leser der Zeitungen auf unterhaltsame Weise mit sich selbst bekannt machten, haben den historisch bedeutsamen Ursprung dieser Gattung vergessen gemacht: ihr Bündnis mit Aufklärung und Revolution und ihren Beitrag zur Entwicklung eines demokratischen Selbstbewusstseins.
Dennoch hat die Erzählung die Stadt vom Lebensraum, wie Mercier ihn entdeckte, zum Lebenstraum werden lassen, den die Schriftsteller verklärten und den noch heute Touristen suchen. Seit dem 19. Jahrhundert war die Stadt literarisches Faszinosum und realer Schrecken zugleich. Die einen beschrieben den anonymen Passanten in der Masse, die Entwurzelung des Menschen in der Stadt, die Stadt als Moloch und Oger, als Sündenbabel und Börsenplatz. Andere wieder, und das waren nicht wenige, begeisterten sich für das Abenteuer der modernen Existenz, für Anonymität und Individualität des unbeaufsichtigten Lebens, wie es die Metropole erlaubte.
Balzac und Dickens begannen ihre literarische Karriere als Zeitungsschreiber mit sogenannten Physiologien, Charakterstudien jener Typen von Stadtbewohnern, die sie auf den Straßen antrafen: »Die Passanten«, so befindet Balzac in der 1846 im »Diable à Paris« erschienenen »Geschichte und Physiologie der Boulevards von Paris«, »sind Komödianten, ohne es zu wissen. […] Sie lachen, lieben, leiden und lächeln, sie schneiden Gesichter, in denen Tiefsinn oder Hohlheit steckt. Man kann nicht über zwei Boulevards gehen, ohne einem Freund oder einem Feind zu begegnen, ein Original zu sehen, das zu lachen oder zu denken gibt, einen Armen, der nach einem Sous begehrt, einen Vaudevillier (Kabarettisten), der nach einem Sujet jagt.« Alle diese Erscheinungen erfasst die Physiologie in kleinen Porträts, die durch Humor, Spott, Satire die Bürger mit der ausufernden und daher beängstigenden Masse von Fremdem vertraut machte. Balzac beschreibt den Antiquitätenhändler, den Bouquinisten, den Rentier, den Beamten, andere Schriftsteller skizzierten den Studenten, den Schauspieler, die Kokotte. Auch Orte wurden physiologisch erfasst, wie etwa die »Cafés de Paris«. Franz Hessel, der nach diesem Vorbild Berlin beschrieb, nennt Paris »die Vorschule des Journalismus«. 1826 erschien Brillat-Savarins »Physiologie des Geschmacks«, die, obgleich sie von der Kochkunst handelte, als Beobachtung des alltäglichen Lebens auch die Aufmerksamkeit auf die Stadt anregte. Balzac bewunderte an Savarins Schrift den »saveur du style«, den »Geschmack des Stils«, und versuchte einen ähnlichen für die Stadtbeschreibung zu entwickeln. Ehe die Texte im Buch gesammelt wurden, waren sie meist in Zeitungen erschienen und wurden seither als Feuilletons im engeren Sinne verstanden. Zwischen 1815 und 1840 entstanden über 400 Bände dieser Art. Stadt war, was der physiologue beschrieb. Wo seine Feder stillstand, begann die Peripherie, für Balzac etwa an der Port St. Denis: »L’ennui vous y saisit […] Il n’y a plus rien d’original«, konstatiert er in der »Physiologie der Boulevards von Paris«. Nicht die Mauer, der Literat bestimmte, was als Stadt zu gelten habe.
Wie der aus der Naturwissenschaft entlehnte Begriff andeutet, strebt die Physiologie eine Analyse des Straßenlebens an, sucht ein möglichst exaktes, geradezu wissenschaftliches Ordnungssystem zu entwickeln, nach dem sich jene Unbekannten, die sich dort zeigen, als notwendige Elemente beschreiben ließen für die Lebensweise des Organismus Stadt. Die Physiologien gaben dem Passanten im Chaos der Metropole eine Orientierung an die Hand. Im Unterschied zur Moralistik des 17. Jahrhunderts, der La Rochefoucaulds oder La Bruyères, von denen die Physiologen allerdings die Wachsamkeit auf gesellschaftliche Phänomene gelernt haben, waren die Stadtfeuilletons des 19. Jahrhunderts nicht mehr, wie noch Merciers »Tableau«, moralisch, sondern satirisch, wenn sie nicht überhaupt nur unterhalten wollten. In gespielter Bescheidenheit nennt Balzac den physiologue einen »rienologue«, einen Nichtigkeitensammler, manchmal schätzt er ihn aber auch als Botanisierer, der den »petits faits significatifs«, bezeichnenden Kleinigkeiten, auf der Spur sei, die für die Naturgeschichte der Gesellschaft bedeutsam sein könnten – und falls sie das sind, so steigt der Botanisierer in seiner Achtung sogleich auf zum »dieu de la bourgeoisie actuelle«.
Durch Stadtfeuilleton und Physiologie erhielt das Straßenleben eine bis dahin unbekannte Wichtigkeit. Selbst im französischen Roman wird die Straße zum Hauptakteur. Der geschulte – phantasievolle – Blick des Romanciers vermochte aus Gang und Miene das Geheimnis des Passanten zu erschließen und in eine Geschichte zu verwandeln. Ehe dieser literarische Beobachter seine Fähigkeiten entwickelt hatte, war die Straße nichts gewesen als eine Schneise zur Fortbewegung; erst das 19. Jahrhundert entdeckte sie als exotischen Ort, an dem sich Wesen aufhalten, deren Rätsel es zu entschlüsseln gilt. Die Straße wird zum optischen Ereignis. Georges-Eugène Haussmann, der Paris zur Bühne für dieses Schauspiel umbaute, begründet die Breite und Länge der neu angelegten Boulevards damit, dass sich die einander begegnenden Menschen möglichst lange im Blick behalten konnten, »voir trop longtemps le même visage dans le même cadre«. Eine »perspektivische Aufhellung der Stadt« nennt dies Walter Benjamin. Die Glasvitrinen der Cafés, die Haussmann am Straßenrand vorsah, dienten dem Habitué als Stützpunkte seiner Beobachtungskunst. Der müßige Städter bezog dort seinen Posten als Ethnologe.
Die Literatur also war es, die Paris in den Rang der Stadt erhob, wie er zuvor nur Rom, dem antiken wie dem päpstlichen, zugekommen war. Rom und Paris galten, jede auf eigene Weise, dem kulturellen Europa als die Städte schlechthin und sind es bis heute geblieben. Die Gelehrten haben Rom in diesen Stand erhoben, die Schriftsteller Paris. Beide Metropolen erfüllen im Bewusstsein der Nachwelt unterschiedliche Funktionen von Stadt. Rom wird als Architektur gesehen, in der sich die sichtbaren Zeichen staatlicher Macht repräsentieren; in ihnen bewegt sich der Bürger als öffentliche Person. In Paris tritt der Mensch als Privatmann in der Öffentlichkeit auf. Schloss, Kirche, Justizpalast repräsentieren zwar auch hier den Staat, doch die leidenschaftlichere Aufmerksamkeit derer, die die Stadt in Worte fassten, richtete sich auf die Vergnügungsarchitektur des Bürgertums, seine Theater, Cafés, Kaufhäuser, Boulevards, Passagen. Diese Einrichtungen aber wären, anders als repräsentative Gebäude, des Interesses nicht wert, wären sie nicht belebt. Architektur und Mensch waren die Pole, zwischen denen sich die Reflexion über das soziale Muster Stadt bewegte (und auch in diesem Buch bewegen wird). In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschraken die Intellektuellen, die letzten Verfasser von Stadtmemoiren, vor der Kälte der neuen Architektur und der Stillosigkeit des Lebens, das diese hervorbrachte. Immerhin wagten sie es noch, ihre Klage über Wohnsilos und Konsumhöllen laut werden zu lassen – auch diese Klage ist inzwischen verstummt. Nur in Zeitungen wird manchmal, wie etwa im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeinen«, Missmut über den Verlust der bürgerlichen Stadt vernehmlich.
Die Diskussion der sechziger und siebziger Jahre ging von Erfahrungen und Fehlentscheidungen beim Wiederaufbau der deutschen Städte aus, von Visionen einer neuen Ökonomie, neuer Verkehrsbewegungen und Arbeitsbedingungen. Auch die Kritik jener Jahre beobachtete den Menschen in der Stadt – diesmal aber einen anderen als das 19. Jahrhundert; sie interessierte sich nicht mehr für die Phänomenologie des Individuums, sondern für das soziale Subjekt und für die Gesamtheit der Stadtbewohner. Der Impressionismus des 19. Jahrhunderts, der Straßenszene an Straßenszene reihte und Original für Original beschrieb, wurde durch städteplanerisches Denken ersetzt, das sich auf soziale Ideen berief.
Einer der letzten Proteste gegen die moderne Stadt war Alexander Mitscherlichs Buch »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« (1965), eine Mahnung an die Städtebauer der Nachkriegszeit. Auch Mitscherlich hielt am idealisierten Bild fest, welches Dichter und Journalisten von der Stadt des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatten. Nicht zufällig entdeckte die Studentenbewegung, die sich an dieser Stadtkritik beteiligte, Walter Benjamin, dessen Studien den Traum in die schönsten Worte gefasst hatte. Benjamin, dieser Retter der Vergangenheit, ist das Komplement zu Mitscherlich, dem Kritiker der Gegenwart. Benjamins »Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, seine Notizen zum »Passagenwerk« und Mitscherlichs Buch, zu verschiedenen Zeiten entstanden, doch gleichzeitig gelesen, verhalten sich wie Traum und Wirklichkeit. Die Metropole des 19. Jahrhunderts lieferte das Ideal, die geplante und planlos wieder aufgebaute Nachkriegsstadt, die Mitscherlich im Blick hatte, verfehlte es gründlich – das war der Schluss, den man aus beiden Schriften ziehen konnte.
Heute begegnen sich beide Positionen in dem guten Willen, eine bürgergerechte Stadt zu bauen. Zumindest behauptet jede Architekturplanung, das Glück der Menschen im Auge zu haben, und sie demonstriert dies auf jeder Computersimulation, die wieder ein neues City-Center, ein Bürohaus, eine »hochwertige« Wohnanlage anpreist. Die Visionen, mit denen die Stadtplanung wirbt, zehren noch immer vom Ideal der stadtkritischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Architektursimulationen zaubern Menschen zwischen die neuen Bauten hinein und orientieren sich dabei an der Vielfalt der Typen, die sie aus der Stadtliteratur des 19. Jahrhunderts kennen. Die Figurinen sind ein bisschen modernisiert, eigentlich aber doch so wie sie Dumas’ Mohican oder Benjamins Flaneur auch hätten begegnen können: markante Individuen mit starkem Auftritt. Wo Urbanität und Leben in der Innenstadt entworfen wird, schwebt immer ein Hauch Paris über dem Entwurf.
Diese Information für Bürger aber, die Stadtplaner sich zur Pflicht gemacht haben, läuft ins Leere. Die Planung obliegt nicht mehr, wie einst, der Stadt und ihren Verwaltern. Sie wird von Investoren dirigiert, die überregional agieren und sich nicht um die Individualität von Stadt und Stadtbewohnern kümmern. So kann es nicht verwundern, wenn alle Städte gleich aussehen und alle sich dort gleich zu verhalten haben. »Meine Stadt« wird so leicht kein Bürger mehr sagen, und er soll es auch nicht tun. Bewohner, die anssässig sind, stören Investoren nur. Das heutige Stadtzentrum ist ein Knoten, in dem sich die Lebens- und Einkaufskraft des gesamten Umlandes bündelt, das mit der Stadt im übrigen wenig zu tun hat. Dieser Knoten, eben die City, ist bislang als eigenes stilbildendes Ensemble kaum wahrgenommen und bedacht worden.
Nicht nur in Deutschland, in der gesamten westlichen Welt setzt sich ein einheitlicher Stadtplan durch. Städtische Individualität und Tradition werden hinweggeplant, Denkmalpflege wird, wo sie sich dem angeblich guten Willen der Stadtplaner entgegenstellt, übergangen. Der »opulente Schein bei gleichzeitiger gewinnsteigernder Reduktion auf universelle Raster«, so bemerkt Dieter Bartetzko 2012 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, »ist die aktuelle Variante des › International Style ‹ von Stockholm bis Melbourne.« Die Metropolen zerfallen immer deutlicher in zwei Zonen: ein Zentrum – das im folgenden »City« genannt werden soll – und die umgebenden Vororte samt dem Umland. Zu allen Zeiten hatte die Stadt mit Kirche, Rathaus und Markt die Funktion eines Mittelpunkts, die Einwohner selbst aber waren auf dieses Zentrum bezogen und prägten seinen Charakter, ganz anders also als heute, wo die Umlandbevölkerung der Agent des Straßenlebens ist. Die Stadtkritik der Nachkriegszeit spezialisierte sich deshalb gar nicht erst auf die Innenstadt, deren Charakter durch Jahrhunderte hindurch unverändert, unwandelbar und unzerstörbar geblieben zu sein schien. Die Unwirtlichkeit der Städte war immer die der Wohngebiete, und mit ihnen schien die Stadt als Ganzes ausreichend kritisiert. Die sich neu gestaltende Innenstadt blieb unbeachtet. Auch Wolf Jobst Siedlers Buch über »Die gemordete Stadt« bemerkt die Trennung zwischen City und Randzonen noch nicht und hofft, mit der Kritik des Wohnungsbaus eine Analyse der Stadt an sich geleistet zu haben. Das Verhältnis Zentrum – städtisches Umland aber ist ein strukturbildendes Merkmal der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von heute.
Die City ist zum Tummelplatz mit Großstadtgefühl für den Großraum der Region geworden. City – das ist ein Energiezentrum, das kein Leben außer sich duldet und jedes Umfeld auszehrt. Vororte und Kleinstädte im Umkreis werden zu Zonen der Regeneration heruntergebracht, auch wenn Investoren dort »Nebenzentren« anlegen, die sie als »Stadtteilzentren«, »Ladengruppen« oder »Nachbarschaftszentren« in alte Ortsteile einpassen, und vorgeben, damit etwas für die Lebendigkeit des Viertels getan zu haben. Lebenslust, wo sie sich regt, muss sich von Vorstadt und Umland hinwegbegeben: entweder, imaginär, ins Internet, oder, in der Wirklichkeit, auf Reisen, deren alltäglichste Variante die Fahrt in die City ist. Diese Reise ist zu einem der notwendigen gesellschaftlichen Rituale geworden, denn es hält, das wird sich zeigen, die City in Gang.
Dabei macht sich die Gesellschaft angeblich ernste Sorgen um die Gestaltung der Innenstadt. Stadtverwalter und Architekten pochen auf die soziale Verantwortung, die sie bei ihrer Planung leite. Alle Stadtplanung bemüht sich um den Menschen und sein Dasein in der Stadt. Der Soziologe Hartmut Häußermann etwa bezeichnete 1997 Urbanität als »eine Lebensweise, eine Geisteshaltung, eine zivile Kultur mit entsprechenden Verhaltensstandards«, und Ingo H. Warnke verpflichtete in »Die Stadt als Kommunikationsraum und linguistische Landschaft« (2011) die Planer dazu, eine »gesellschaftliche Praxis der Relationierung von Raum und Körper« zu ermöglichen. Über das Ergebnis allerdings, über die gebaute und genutzte Stadt und den Körper in ihr verlieren Stadtplaner kein Wort mehr. Die Straßen der Innenstadt sind belebt, das genügt ihnen zur Rechtfertigung, denn, so bemerkt Dieter Frick zufrieden in seiner »Theorie des Städtebaus« (2011), »je mehr Leute auf der Straße sind und je länger, umso mehr Begegnungen und Kontakte (› soziale ‹ Aktivitäten) kommen zustande«, desto gelungener also sei die Planung. »Kommunikation« gilt für die Planer als »Daseinsgrundfunktion«, die sich mit dieser Forderung gegen Le Corbusiers Charta von Athen und die kalte Hochhausplanung wenden. Unterdessen bleiben die Straßen der Vororte dennoch tot; das kümmert keinen Investor und nicht einmal die Bewohner selbst. Auch der intellektuelle Kritiker von einst entzieht sich der Verantwortung und entschließt sich, das Stadtzentrum zu ignorieren. Er sieht nur die Quartiere und Kieze, in die er sich zurückzieht. Sie stattet er mit den Restposten des alten Stadttraums aus. Allerdings holt auch ihn dort die Wahrheit der gegenwärtigen Stadtplanung ein: Schnell spüren Touristen seine Zuflucht auf und jagen ihn von einem Asyl zum nächsten.