Gary Dexter spielt gern. Zumindest mit seinen Lesern.
Der Marodeur von Oxford erfüllt auf den ersten Blick die Kriterien der buchhändlerischen Warengruppe WG 1 122 – „historische Kriminalromane, die in der Gegenwart geschrieben sind, aber in der Vergangenheit spielen“. Oder kurz period piece, wie die Angelsachsen sagen. Natürlich erinnert ein Buch, das 1893ff. in London und Umgebung spielt und dessen englischer Untertitel „… and other mysteries from the case book of Henry St Liver“ heißt, unweigerlich an die Sherlock-Holmes-Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle, deren letzte Sammlung „The Case-Book of Sherlock Holmes“ heißt. Wenn wir dann noch sehen, dass die beiden Hauptfiguren bei Dexter, eben besagter Henry St Liver und seine Gehilfin, Olive Salter, gemeinsam „Fälle“ aufklären (die bei Holmes „Adventures“ genannt werden), dann ist klar, dass wir es mit einem book about books zu tun haben. Also genau mit dem Genre, für das Gary Dexter im United Kingdom neben seinen Kolumnen für u.a. den Guardian, den Spectator und die London Times berühmt und beliebt ist.
Und so wurde „Der Marodeur von Oxford“ auch gefeiert – als glänzende Parodie auf die Sherlock-Holmes-Storys. Statt sinistrer Verbrechen klären St Liver und Salter in einem ganz anderen Sinn auf. „Wenn die (...) Leute nicht weiterwissen, kommen sie zu mir, und ich bringe sie auf die richtige Fährte. Sie legen mir Beweismaterial vor, und dank meines Wissens über die Geschichte des Verbrechens bin ich normalerweise in der Lage, ihnen weiterzuhelfen“, so erklärt Sherlock Holmes einmal dem getreuen Watson seinen Job. Henry St Liver verfährt genau so, nur mit einem kleinen Unterschied: Den Leuten, die zu ihm kommen, kann dank seines Wissen über die menschliche Sexualität geholfen werden. Verbrechen sind für Dr St Liver und Salter nur der alleroberflächlichste Anlass, sich einen bestimmten Aspekt der „Psychopathia sexualis“ vorzunehmen. Die „Verbrechen“, mit denen sie dann zu tun bekommen, sind keine. Zumindest keine richtig bösen Kapitalverbrechen. Verdacht auf Diebstahl, Rowdytum, ein bisschen Erpressung, eventuell Körperverletzung oder Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit, meistens Bagatellen. Stattdessen stoßen sie auf mehr oder weniger merkwürdige sexuelle Präferenzen und Prägungen, die allesamt menschliches Handeln motivieren und bestimmen. Bei Holmes ist am Ende der Fall gelöst, der Täter tot oder verhaftet – bei St Liver geht das Leben für die meisten seiner Klienten erst jetzt fröhlich los. Ihre „Devianz“ oder ihre „Perversion“ ist nach dem Eingreifen unserer beiden Helden lebbar geworden, „normal“ oder zumindest sozialkompatibel. Und das ist manchmal entschieden more shocking als jedes Gemetzel eines irren Serialkillers.
So weit, so gut. So sehr gut sogar, weil man diese Volte klassisch verstehen kann: Gute historische Romane sind seit Vergil oder allerspätestens seit Felix Dahn auch immer aktuelle Romane, und Dexters Aufruf zu Toleranz und Liberalität gegenüber konstitutiven Außenseitern (ganz im Sinne Hans Mayers) ist in Zeiten des gesellschaftsklimatischen Rollbacks sehr zu begrüßen.
Aber darum geht es nicht in erster Linie. Dexter spielt, wie gesagt, gern. Auf allen Ebenen. Die Frage, ob wir es hier tatsächlich mit einer Parodie zu tun haben, kann allein schon vergnügliche Verwirrung schaffen. Wenn wir davon ausgehen, dass „Parodie“, grob gesprochen, eine komisch-kritische Auseinandersetzung mit einer Vorlage ist, finden wir relativ wenige Merkmale, die für diese Textsorte sprechen. Man könnte sagen, dass das Nicht-oder Kaum-Vorhandensein von Verbrechen in einem Narrativ, das anscheinend extra zur Thematisierung von Verbrechen und deren Aufklärung entstanden war (eben die Detektiv-Geschichte à la Sherlock Holmes), ziemlich komisch sei, also eine „Untererfüllung“ eines charakteristischen Zuges der Vorlage. Sehr überzeugend wäre das nicht.
Überhaupt und so gesehen, ist dann die Frage, ob Der Marodeur von Oxford tatsächlich eine Parodie ist oder nicht, gar nicht mehr so akademisch und verschroben. Denn laut der immer noch gültigen Theorie der Parodie (1973) von Theodor Verweyen kann man Parodie nicht nur als „kritische Nachahmung literarischer Sujets“ verstehen, sondern vielmehr auch „als kritische(n) Bezug auf deren Rezeption.“ Tatsächlich, was wäre der Gag einer Sherlock-Holmes-Kritik? Warum der ganze Aufwand, das penible Nachbauen der Holmes-Watson-Konstellation, die Einführung des Inspector FH Pelham Bias als Gegenstück zu Conan Doyles Inspector Lestrade, der Mycroft-Holmes-analoge Bruder Jack St Liver, eine unaufgeräumte Junggesellenbude mit Stapeln sexualkundlicher Studien, Zeitschriften und anderer einschlägiger Materialien, allerdings ohne das Pendant zu Mrs. Hudson, der Haushälterin von 221 Baker Street? Und was genau würde eine solche Parodie parodieren? Eine bestimmte Holmes-Story? Den Stil von Conan Doyle? Seine politische-moralische-ästhetische-ideologische Haltung? Und in jedem Fall: warum? Mit welcher Intention?
Gegen die Parodie-These spricht auch, dass Dexter sprachlich weder untertreibt noch übertreibt. Der leicht pompöse, gedrechselte, superhöfliche Stil entspricht dem von Conan Doyle ziemlich 1:1; die Exaltation abwegiger lateinischer oder latinisierter Fremdwörter, meistens für psychopathologische Phänomene, Krankheitsbilder oder Befindlichkeiten, ist genauso überspannt wie die Sprachverwendung der konnotierten Werke von Iwan Bloch, Albert Moll, Magnus Hirschfeld, Richard von Krafft-Ebing et al. Das alles ist zwar komisch, macht Dexter und uns Lesern ein diebisches Vergnügen, aber parodistisch ist es nicht. Und wenn sich Olive Salter wie weiland Sherlock Holmes in allerlei Maskeraden begibt, und man sie dennoch ungerührt mit Miss Salter anspricht, dann macht sich Dexter über Conan Doyle lustig, er persifliert.
Vermutlich haben wir es auch eher mit einem Pastiche zu tun, eventuell mit einer Kontrafaktur oder einer Travestie. Natürlich nicht mit einem „Pastiche involontaire“, also einer „Imitation aus Unfähigkeit“, sondern mit einer Imitation zu ganz anderen Zwecken.
Dafür spricht, dass Dexters St Liver explizit wider den viktorianischen Zeitgeist agiert. Die böse, verderbte, restriktive, heuchlerische viktorianische Welt der allgegenwärtigen Nemesis, in der „der erste falsche Schritt unweigerlich zum letzten führt“, wie Steven Marcus, der hellsichtige Exeget viktorianischer Pornografie à la My Secret Life, sie immer wieder beschrieben hat, wird von St. Liver einfach ignoriert und im Lichte seiner sexualwissenschaftlichen Kompetenz einfach fröhlich und tongue-in-cheek unterlaufen.
Nur so, wenn überhaupt, könnte man von Parodie sprechen: Wenn Dexters Methode, das angeblich Deviante zum einvernehmlich Lebbaren, nicht zu Kriminalisierenden zu ernennen, als „ideologiekritische“ Volte gegen das Holmes’sche Verfahren des Generalverdachtes zu verstehen sein könnte, das aus dem Alleralltäglichsten (die Holmes’sche Zigarettenasche etwa, die St Liver achtlos durch die Gegend streut) immer das Kriminelle herauslesen will.
Auch hier spielt Dexter virtuos mit Fiktivem und Historischem. Nehmen wir einen Moment das fiktive Setting ernst, in dem er seine Figuren agieren lässt. Wir stoßen dann auf eine Umbruchszeit der Ablösung von Körperstrafen durch das Bestrafen von Psychen und „Seelen“ (Stichworte: Seelenqual und Sühne), wobei zunehmend auch über „die Schatten hinter den Tatsachen des Verbrechens“ geurteilt wird. Foucault hat in Überwachen und Strafen (unsere achte und letzte Geschichte ist ja eine großartig persiflierende Hommage an Foucaults kapitales Buch) gezeigt, wie dabei über „rechtlich gar nicht Kodifizierbares“ mitgeurteilt wird, wie dabei dann die „Monstren“, die „Perversen“, mithin die „Unangepassten“ mitsamt ihren psychischen und natürlich sexuellen „Anomalien“ in den Fokus des Urteilens und Strafens rücken, und wie immanent logisch dabei die Zusammenführung von Verbrechen und „Perversion“ wird. Bedenkt man dazu noch Foucaults Bemerkung, dass der „Kriminalroman, der sich in den Feuilletons und in der billigen Literatur zu entwickeln beginnt (…) vor allem zu zeigen (hat), dass der Delinquent einer anderen Welt zugehört, ohne Beziehung zur täglichen und vertrauten Existenz“, das Verbrechen also in einem „monotonen Diskurs“ als „Monstrosität“ isoliert wird – dann sind St Liver und Olive Salter eine kleine, aber effektive anti-viktorianische Moral-Guerilla, die den Kurzschluss von sexueller „Anomalie“ zum Jack-the-Ripper, zum House-of-Terror und anderen viktorianischen Sadismen und Masochismen verweigert. Ein Kurzschluss nebenbei, der auch heute noch die meisten belanglosen Serialkiller-Thriller antreibt …
Der ganze geistes-, sozial-, kultur- und literaturgeschichtliche Kontext, in dem Dexter seine intelligenten Verwirrspiele ansiedelt, bündelt sich in den beiden Hauptfiguren. In dem netten BBC-TV-Film Sherlock Holmes and the Case of the Silk Stockings (2004, Regie Simon Cellan Jones) spielt die Lektüre von Richard Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis eine gewisse Schlüsselrolle. Ein damals noch wild umstrittenes Standardwerk, das in England vor allem in den Studies in the Psychology of Sex von Henry Havelock Ellis (1859–1939) sein Pendant hatte. In der „Author’s Note“ zu Der Marodeur von Oxford bezieht sich Gary Dexter explizit und artig auf Havelock Ellis und macht die anscheinend üblichen Honneurs gegenüber dem großen Meister. Sicher hat er hier nur vergessen zu erwähnen, dass Havelock Ellis eben mit Vornamen Henry heißt wie St Liver. Havelock Ellis beschäftigte sich vor allem mit „sexual inversion“, also mit einer der vielen zeitgenössischen Verklausulierungen von Homosexualität. -Dexter lässt seinen Henry St Liver glatt eminente Nachforschungen über „sexual inversion“ bei Tauben anstellen, aber damit natürlich nicht genug. 1891, ein Jahr vor den Ereignissen unseres Romans, heiratete Havelock Ellis eine lesbische Frau, vollzog die Ehe (nach allem, was man weiß) nicht und lebte als Junggeselle in einer dito Bude. Ob die Beschreibung des leicht heruntergekommenen, nicht unbedingt dem kerlig-militärischen Männerideal der Zeit entsprechenden und erschrocken über seinen albernen Bart in die Welt schauenden Henry St Liver, der zudem mit einer „high, effeminate voice“ spricht, tatsächlich ein getreuliches Porträt von Havelock Ellis ist, ist nicht so wichtig. Er ist auf jeden Fall gemeint.
Noch deutlicher gemeint ist Olive Salter. Unter dem Pseudonym Roderick Iron hatte sie, in Goongerwarrie, Australien aufgewachsen, den zunächst erfolglosen, dann immer populäreren Roman The Story of an Australian Barn verfasst, weswegen sie von Henry St Liver kontaktiert und in einen der vielen Londoner Debattierclubs, der realen Fabian Society nicht unähnlich, eingeführt wurde. Unter anderen illustren Menschen trifft sie dort auf Eleanor Marx, die Tochter des großen Karl. Ah, denkt man als gewitzter Leser, ein hübscher Cameo-Auftritt, so wie wir später noch andere celebrities der Zeit treffen: den abstoßenden Edgar Rampoe mit seinem Pavian, der recht eigentlich Hirai Taro hieß und unter dem Pseudonym Edogawa Rampo (die japanische Aussprache von Edgar Allan Poe) den japanischen Kriminalroman „begründete“ und nie in Zusammenhang mit einem fiesen Affen gebracht werden konnte – oder auch Oscar Wilde, den wir erstaunt als maulfaulen Gesellschaftsmuffel erleben, dessen Pointenfeuerwerk zuhause sorgfältig vorbereitet werden muss, wenn es spontan zünden soll.
Aber schon wieder spielt Gary Dexter mit den echten und fiktiven Konstellationen herum. Die historische Eleanor Marx gehörte in den engen Kreis um Havelock Ellis (und George Bernard Shaw) und war vor allem best friend mit Olive Emilie Albertina Schreiner aus Wittenberge, Basutoland. Olive Schreiner war Feministin und Sozialistin, gehörte zum Gründungsnukleus der Labour Party und war vor allem Schriftstellerin. Ihr großer Erfolg: The Story of an African Farm, verfasst unter dem Pseudonym Ralph Iron. Eleonor Marx’ Cameo-Auftritt ist somit kein Cameo-Auftritt, sondern Teil von Dexters Anspielungsstrategie, mit der er sein dem Zeitgeist subversiv gegenüberstehendes Personal aufbaut. Ebenso listig, ironisch und mehrdeutig, gar paradox verknüpft Dexter die „Devianzen“ mit normativen Wertesystemen wie der Religion und deren mehr oder weniger obskuren Ableitungen. Es wundert uns also nicht, zum Beispiel in der „Schuhfetischismus“-Geschichte eine Statue der Heiligen Teresa von Ávila, der unbeschuhten Karmelitin und Mystikerin herumstehen zu sehen, und in diesem Zusammenhang schon gar nicht, dass Henry St Liver das Ideal seiner „Gemeinschaft des Neuen Lebens“ analog zu Rabelais’ „Abtei Thelema“ beschreibt. Wobei der Gag nicht nur in der Erwähnung der antiklösterlichen Utopie in Rabelais’ Gargantua liegt, dessen Abtei Thélème nur die ganz und gar unchristliche Ordensregel „Tu, was Du willst“ zulässt. Der Nachbrenner besteht in der Tatsache, dass der obskure Okkultist, Satanist und Guru Aleister Crowley etwas später, also um 1920 auf Sizilien, eine Art Landkommune namens „Abtei Thelema“ betreiben sollte, deren Tätigkeitsbeschreibung sich so ähnlich anhörte, wie Henry St Livers reformerisches Programm. Woraus wir lediglich lernen können, dass die meisten Anspielungen und beiläufigen Bemerkungen, die uns stutzen lassen, vermutlich zwei- und dreifach verzwirbelt sind … Oder manchmal auch nur so tun.
Dass Dexter gleichzeitig die beiden großen Erzählparadigmen – die Kriminalgeschichte à la Conan Doyle und den viktorianischen Porno – demontiert, indem er sie nur der Form halber, aber inhaltlich und wertetransportierend überhaupt nicht stattfinden lässt, das ist sehr komisch und sehr amüsant.
Gut, dass es sich um ein unterhaltsames Stück Literatur handelt, feinst geklöppelt und detailreich durchdacht. Deswegen müssen wir es nicht in Diskurs umsetzen, können völlig ad lib spekulieren, was uns der Dichter damit sagen will. Wir könnten, wenn wir wollten, jede Menge Anschlüsse finden – zur Psychoanalyse, zu Freuds Methode aus dem „Abhub, dem refuse“ des Offiziellen, zu neuen Erkenntnissen zu kommen, oder zu Carlo Ginzburgs berühmtem Essay über „Spurensicherung“, zu Walter Benjamins Aufsatz zu dem Erotika-Sammler Eduard Fuchs und so weiter … Dabei könnten wir aber schon wieder auf den einen oder anderen neuen Spielzug von Gary Dexter stoßen. Da hilft nur penser pulp.
Penser Pulp
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Die Sexualwissenschaftler, die auf diesen Seiten genannt werden, gab es wirklich, auch wenn ihre Werke hier nicht immer akkurat wiedergegeben werden und einige chronologische Verschiebungen stattgefunden haben. Ich habe viele der hier beschriebenen Elemente Havelock Ellis’ Studies in the Psychology of Sex (7 Bände, 1897–1928) entlehnt. Leser, die sich für die Zeitspanne der „Erschaffung der Liebe“ in der europäischen Sexualwissenschaft interessieren, als Kategorien wie „homosexuell“, „Transvestit“ und „transsexuell“ (neben anderen) weitgehend entwickelt wurden, werden an Ellis verwiesen, wie auch an die Werke der Dreieinigkeit deutscher Pioniere: Albert Moll, Magnus Hirschfeld und Iwan Bloch.