Geld und Macht in der schweiz
Mit Fallstudien von Peter Streckeisen,
Ganga Jey Aratnam, Markus Bossert
und Gian Trepp
Mitarbeit: Mirja Bänninger, Cornelia Brüllmann, Christoph Brunner, Reto Bürgin, Milan Büttner, Ursina Conzelmann, Cédric Duchêne-Lacroix, Eliane Eggenschwiler, Oliver Fahrni, Bianca Fritz, Esther Girsberger, Stephan Graf, Hugo Hanbury, Veronika Henschel, Jérôme Jacky, Saskia Jaeggi, Victoria Jäggi, Anna Jungen, Sarah Kehrli, Jeremias Kläui, Markus Kocher, Rodrigo Krönkvist, Magdalena Küng, Rahel Locher, Simon Monfort, Astrid Motz, Simon Mugier, Michael Mülli, Bastian Nussbaumer, Stefanie Omlin, Riccardo Pardini, Kathrin Pavic, Martin Rohmeder, Nathalie von Rotz, Cynthia Rudin, Melina Rutishauser, Anouk Sartorius, Sarah Schilliger, Samuel Schlaefli, Hector Schmassmann, Aline Schoch, Mario Steinberg, Peter Sutter, Anja Vatter, Florian Vock, Franz C. Widmer, Davide Zollino und Eveline Zwahlen.
Rotpunktverlag.
Der Verlag dankt für die Unterstützung:
© 2015 Rotpunktverlag
www.rotpunktverlag.ch
ISBN 978-3-85869-677-9
1. Auflage 2015
Hans Tschäni publizierte 1983 seine Studie Wer regiert die Schweiz? Der damalige Redaktor des Tages-Anzeigers kritisierte die enge Verflechtung des Staates mit wirtschaftlichen Kartellen sowie »die Selbstaufsicht der Banken«. Er analysierte, wer mit welchem Auftrag im Parlament politisierte und wie die »Filzokratie« demokratische Prozesse unterlief. Inzwischen ist die Welt stärker globalisiert, rationalisiert und modernisiert. Und das Militär ist auch nicht mehr, was es einmal war. Wir fragen, wie sich Macht und Herrschaft in der Schweiz heute manifestieren: in und über Personen, Institutionen und Ideologien. Wir wollen ergründen, wer den sozialen Wandel wie beeinflusst. Und dabei interessiert uns, welche Rolle das Geld spielt. Wir suchen Spuren mehr oder weniger verborgener Mechanismen der Macht. Im Sinne einer Annäherung.
Im ersten Teil des Buches setzen wir uns exemplarisch mit dem Einfluss von Finanzinstituten, Unternehmen, Verbänden, Denkfabriken, Netzwerken, politischen Einrichtungen und staatlichen Verwaltungen auseinander. Wir skizzieren aktuelle Entwicklungen und beziehen uns auf über 200 eigene Gespräche. Im zweiten Teil folgen Fallstudien: zum Bankenstaat und zur Macht des ökonomischen Denkens von Peter Streckeisen, zur Nationalbank von Gian Trepp, zu den größten (Rohstoff-)Konzernen von Ganga Jey Aratnam, zum Gewerbeverband von Markus Bossert.
Ich danke allen Interviewten, Autoren der Fallstudien und weiteren Mitarbeitenden. Ich danke auch allen Studierenden, die persönliche Erfahrungen bei einem Bankpraktikum oder bei Diensten auf einem Golfplatz oder einer Luxusjacht aufzeichneten. Auf einzelne Arbeiten nehmen wir Bezug. Vielen Dank auch allen, die uns wertvolle Hinweise vermittelt haben. Ein besonderer Dank gilt dem Zürcher Rotpunktverlag.
Ich verantworte den Haupttext und die meisten Interviews. Etliche Mitarbeitende unterstützten mich dabei. Deshalb dominiert im Text die Wir-Form. Wobei unsere Debatten öfter kontrovers blieben.
Des Schweizers Schweiz heißt ein Buch von Peter Bichsel. Er publizierte es 1969 und las damals an der Universität Basel daraus vor. Am Schluss fragte er: »Will noch jemand diskutieren?«, und fügte an, ohne eine Sekunde zu zögern: »Auch ich gehe lieber ein Bier trinken.« Damit beendete er die Veranstaltung. Doch seine Lesung wirkte nach. Bichsel beschrieb seine ambivalente »Liebe zur Schweiz«. Sie ist gut nachvollziehbar.
Im ersten Teil unserer Arbeit nähern wir uns ausgewählten Gefügen und Konstellationen der Macht an. Dazu gehören Institutionen, Personen, Interessen und Dynamiken. Wir fragen, wer überhaupt wie Einfluss nimmt. Als Grundlage dienen Interviews, die wir geführt haben, Dokumenten-, Medien- und Kontextanalysen sowie teilnehmende Beobachtungen.
Im Frühjahr 2015 gründeten die Unternehmer Hansjörg Wyss und Jobst Wagner den Verein Vorteil Schweiz. Sie setzen sich mit sieben Millionen Franken dafür ein, die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union (EU) zu erhalten. Ihr Geld dient laut SonntagsZeitung (5.4.2015: 1) dazu, politische Inhalte zu befördern. Gegen die Macht, die Christoph Blocher, ein anderer Unternehmer, ausübt. Der Philosoph Georg Kohler sieht die »Gefahr einer Plutokratie«, also der Geldherrschaft, wie in den USA und anderswo, auch in der Schweiz. Reiche hätten heute bei uns mehr politischen Einfluss als vor fünfzig Jahren, erläuterte er mir. (7.12.2014) Und die Weigerung, diese Mittel offenzulegen, zeuge von einem Demokratiedefizit. Die Weltwoche (9.4.2015: 12) mokierte sich, wie die Zeitung 20 Minuten über »Vorteil Schweiz« berichtete. Statt des Vereins habe sie das »EUNo«-Komitee in den Vordergrund gerückt. Die Weltwoche illustrierte (und ironisierte?) ihre Kritik mit einem kleinen Bild von Hansjörg Wyss und einem großen Bild des EU-Gegners Christoph Blocher.
Wir versuchen, uns Dynamiken der Macht anzunähern. Wir fragen, wer in der Schweiz den Ton angibt. Sind es eher wirtschaftliche, politische oder zivilgesellschaftliche Kreise? Oder hat »das Volk« das Sagen, das an der Urne immerhin Ja oder Nein stimmen darf? Und lassen sich die erwähnten Akteure überhaupt klar voneinander unterscheiden? In unserer Studie Wie Reiche denken und lenken (Mäder/Jey/Schilliger 2010) untersuchten wir, wie Reiche auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagierten. Einzelne plädierten dafür, den sozialen Ausgleich freiwillig zu fördern. Wir warnten davor, die Existenzsicherung dem Goodwill von Begüterten zu überlassen. Hier diskutieren wir nun, wie materiell mehr oder weniger Privilegierte ihren Einfluss ausüben. Wir werfen einen soziologischen Blick auf wirkungsmächtige Praktiken.
Hans Tschäni beschrieb in seinem Buch Wer regiert die Schweiz? die Politik und Verwaltung als verlängerten Arm der Wirtschaft. Inzwischen liegt eine weitere Studie mit demselben Titel vor. Sie stammt von Matthias Daum, Ralph Pöhner und Peer Teuwsen. (2014) Die drei Autoren untersuchen, welchen Einfluss die Wirtschaft, Politik und Lobbys »heute tatsächlich haben«. Nach ihrer Auffassung sind viele frühere Seilschaften und der »alte Filz« passé: Neue »unbekannte Hintermänner« prägen die Geschicke des Landes. Wichtig ist zudem die Bundesverwaltung. Sie vereint viel Kompetenz. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) reguliert die Banken und Versicherungen. Die Wettbewerbskommission (Weko) kontrolliert, ob Konzerne das Kartellgesetz beachten. Und was tun die Medien? Sie sind (laut Daum et al. 2014) keine »vierte Gewalt« mehr im Staat. Sie plakatieren mehr Vordergründiges, statt gründlich zu recherchieren und eigenständig zu agieren. Wir setzen uns mit diesen Thesen auseinander und versuchen, der Macht auf die Spur zu kommen.
Uns interessiert, was heute passiert. Wie sehr prägen die Großindustrie und das Finanzkapital die Schweiz? Gebärdet sich die Politik schwach gegenüber Starken und stark gegenüber Schwachen? Oder handelt sie im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise nun selbstbewusster? Einzelne Wirtschaftsverbände versuchen derzeit, ihre eigenen Leute wieder mehr auf das politische Parkett zu hieven. Was bedeutet das? Und wie reagieren zivilgesellschaftliche Gruppen? Sind sie in der Lage, demokratische Prozesse auszuweiten?
Macht bedeutet, wenn wir uns an Max Weber (1922) orientieren, die Fähigkeit, eigene Interessen gegen Widerstreben durchzusetzen. Wie gut das gelingt, hängt von Ressourcen ab. Wichtig sind ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital (Bourdieu 1983); Geld, Beziehungen, Ausbildung und Prestige. Wir analysieren Dynamiken der Macht im Kontext sozialer Gegensätze. Wir fragen, ob Reiche eher eine Macht-(Krysmanski 2004.) oder eine Leistungselite (Freiburghaus 2008) sind. Und warum Einzelne ihre eigenen Interessen als gesellschaftliche durchsetzen können. (Gramsci 2012, H. 6: 783) Zudem interessiert, wie sich Macht herrschaftlich institutionalisiert und in sozialen Beziehungen dokumentiert.
Macht lässt sich nach Michel Foucault (2005: 256) ohne direkte physische Gewalt ausüben. Sie bezieht sich auf Handlungen von Subjekten und Kräfteverhältnisse. Macht äußert sich im »Führen der Führungen« und im Schaffen von Wahrscheinlichkeiten. Sie wandelt sich ständig und passt sich veränderten Gegebenheiten an. Macht wirkt nicht nur von oben nach unten oder durch Zwang. Sie kann sich auch von unten entfalten und über soziale Bewegungen sehr produktiv sein. Wir versuchen, Dynamiken der Macht sichtbar zu machen. Machteffekte zeigen sich auch, wenn wir Widerstände gegen sie analysieren.
Macht ist an keine bestimmten Orte gebunden wie die Bundesversammlung oder Verwaltungsräte globaler Unternehmen. Sie durchfließt und verbindet sämtliche Teile der Gesellschaft. (Foucault 1983) Macht ist kein Privileg des Staates oder einer sozialen Klasse. Sie wirkt auch als »Mikromacht« in Familien, Schulen, Produktionsstätten, Gefängnissen und Armeen. Und darin liegt ihre besondere Kraft: Sie ist allgegenwärtig und prägt so die öffentliche Kontrolle und komplexe Ordnung. Die Macht ist keine Institution, keine Struktur, keine »Mächtigkeit einiger Mächtiger«.
Gilles Deleuze und Félix Guattari (1980: 15) entwarfen für die Macht das Denkbild des Rhizoms. Rhizome sind pflanzliche Erdsprosse. Sie wachsen oft dicht über dem Boden und weiten sich gerne wie das unterirdische Geflecht eines Pilzes oder ein Achsensystem aus. Macht ist demnach kein Baum mit Wurzeln, sondern eher ein verwobenes Gefüge. (A. a. O.: 10) Macht erscheint »amorph und heterogen«, als Netz oder Kräftefeld, ohne Subjekte oder Objekte. Das Rhizom hat multiple Eingänge und Ausgänge, Risse und Schaltstellen. Ganga Jey Aratnam knüpft in seiner Fallstudie über Glencore Xstrata (Seite 395) daran an.
Das Wirtschaftsmagazin Bilanz (1/2015) orientiert sich offenbar am Verständnis von Max Weber, wenn es jeweils die Mächtigsten der Schweiz vorstellt. Kriterien sind: erstens der Einfluss im eigenen Unternehmen; zweitens die Wirkung auf die Politik oder Gesellschaft; drittens die Fähigkeit, sich gegen andere durchzusetzen. Nach dem leistungsorientierten (meritokratischen) Prinzip sind wir selbst dafür zuständig, welchen Platz wir in der Gesellschaft einnehmen. Wer fleißig ist, gelangt nach oben. So setzen sich in der Schweiz (laut Freiburghaus 2008) neue Funktionseliten durch. Sie zeichnen sich durch besondere Fähigkeiten und spezialisiertes Wissen aus: Es reiche nicht mehr, Offizier zu sein, um eine Hochschule leiten zu können. Der Weg nach oben führe über eine gute Ausbildung und eine hohe Bereitschaft zur Mobilität. Leistung zähle mehr als Herkunft. Die Kinderstube, Studienfreunde und exklusive Clubs bleiben aber aus unserer Sicht wichtig. Ebenso wie Machteliten (Mills 1956; Krysmanski 2004), die vornehmlich aus begüterten Kreisen stammen und soziale Gegensätze perpetuieren.
Soziale Ungleichheiten liegen vor, wenn Mitglieder einer Gesellschaft dauerhaft in unterschiedlichem Maße über notwendige oder begehrte Güter verfügen. Es geht dabei um die Verteilung von Ansehen, Reichtum und Macht. (Levy 2003: 286) Wichtig sind auch, nebst materieller Sicherheit, der Zugang zu sozialen und kulturellen Angeboten sowie die Chancen, ein gutes Leben zu führen. Im Vordergrund steht der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Er wird heute eher selten diskutiert. Die Wahrnehmung verlagert sich von der vertikalen Gliederung (oben/unten) zur horizontalen. Klassenmodelle unterschieden im 19. Jahrhunderts die Lohnabhängigen von der Bourgeoisie, die über die Produktionsmittel verfügte. Die klassentheoretischen Ansätze betrachteten diese Gegensätze als Triebkräfte des sozialen Wandels. Spätere Analysen betonten weitere Merkmale wie Ausbildung und berufliche Qualifikationen. Max Weber (1922) sah die Lebensführung als wichtige Ursache sozialer Ungleichheit. Soziale Schließung und Hierarchisierung erschweren Außenstehenden den Zugang zu wichtigen Positionen. Theodor Geiger (1932) knüpfte daran an. Soziale Schichten prägen aus seiner Sicht soziale Mentalitäten und das Prestige mit. Alle diese Ansätze gehen noch von vertikalen Ungleichheiten aus. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neuere Theorien sozialer Lagen und Milieus betonen die Individualisierung und das subjektive Wohl (Lebenszufriedenheit). Horizontale soziale Differenzierungen scheinen alte Klassengegensätze abzulösen.
Ulrich Beck charakterisierte die Individualisierung »jenseits von Stand und Klasse«. (1983) Er subjektivierte die soziale Frage und akzentuierte: erstens das Herauslösen aus herkömmlichen Sozialformen, zweitens den Verlust traditioneller Sicherheiten und drittens neue soziale Einbindungen – dank Wahlmöglichkeiten. Solche Prozesse lassen sich teilweise nachweisen. Aber sie heben soziale Klassen keineswegs auf. Dass heute auch qualifiziert Ausgebildete erwerbslos sein können, veranschaulicht nach Beck die Klassenlosigkeit sozialer Ungleichheit. Gerhard Schulze (2000) nahm diesen »Beleg« auf und hob die Bedeutung sozialer Milieus und Erlebnisgemeinschaften hervor. Er verlagert die Ursachen sozialer Ungleichheit ins Innenleben der Menschen. Die Suche nach Glück löse die Sorge um das Materielle ab. Das erlebnisorientierte Denken ersetze das produktionsdominierte. Der Alltag erscheint so als Lebensbühne und Verlängerung der inneren Perspektive. Aber Lebenswelten sind nur beschränkt wählbar. Die individuelle Sicht verdeckt Machtverhältnisse.
Pierre Bourdieu (1979, 1993a) verknüpfte vertikale und horizontale Unterschiede sowie Struktur und Kultur. Nach seinem Verständnis sozialer Räume markiert der Lebensstil den sozialen Ort der Menschen. Angehörige der Oberschicht sind eher in der Lage, einen spielerischen Umgang mit Wissen und Werten zu pflegen, als Angehörige der Unterschicht. Wer sich im Alltag wie durchsetzt, hängt von der Ausstattung mit verschiedenen Ressourcen ab. Äußere Faktoren prägen unsere Denk- und Handlungsmuster. (Bourdieu 1997a: 779) Die eigene Klassenlage ist dabei zentral. Sie determiniert uns aber nicht kausal. »Feine Unterschiede« machen sich über Titel, Kleidung, Sprache, Manieren und den Geschmack bemerkbar. Sie verweisen auf unsere Herkunft. Unser Lebensstil folgt dem sozialen Rang. Unser Habitus drückt aus, woher wir kommen. Er hält uns so im sozialen Rang gefangen.
Wie gesellschaftliche Bedingungen persönliche Lagen prägen, analysiert der britische Sozialwissenschaftler Richard G. Wilkinson (2009) in dem (mit Kate Pickett verfassten) Buch Gleichheit ist Glück. Die Verteilung von Einkommen beeinflusst das individuelle Wohl. Mit steigendem Einkommen sinken die gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Der Bundesrat weist in seinem Bericht »Verteilung des Wohlstands in der Schweiz« (27.8.2014) darauf hin, wie der Anteil der Tieflöhne seit dem Jahr 2000 anstieg. Im Jahr 2012 lagen 13,4 Prozent aller Stellen unter der Schwelle von monatlich 4343 Franken. Das Einkommen entscheidet auch mit, wer mehr oder weniger Einfluss hat, so Wilkinson (in unserem Gespräch vom 24.5.2013). Die soziale Ungleichheit erhöht nach seinen Studien ebenfalls die wirtschaftliche Instabilität.
Wir nähern uns mit unterschiedlichen methodischen Zugängen den Dynamiken der Macht an. Eine erste Grundlage bilden die Gespräche. Wir interviewten über 200 Personen aus: Finanzinstituten, großen wirtschaftlichen Unternehmen, wirtschaftlichen und politischen Verbänden, Politik und Verwaltung, Justiz, Militär und Polizei, Denkfabriken und Denknetzen, Gemeinwohl-Ökonomien und Stiftungen sowie Medien. Aus diesen Bereichen wählten wir je fünf Personen aus, mit denen wir uns schon in einer früheren Studie (Mäder et al. 2010) unterhielten. Uns interessierte, wie sich ihre Haltungen verändert haben. Zudem kontaktierten wir je fünf weitere Personen, die mit der jeweiligen Materie vertraut sind. Zusätzliche Gespräche kamen über Empfehlungen und zufällige Begegnungen zustande. Die Gespräche begannen meistens mit einer längeren erzählerischen Sequenz zum persönlichen Werdegang. Dann folgten fokussierte Passagen dazu, wer seinen Einfluss wie ausübt. Beim Auswerten der transkribierten Interviews ordneten wir die Aussagen einzelnen Vorabkategorien zu. Dabei interessierte vor allem das eigene Verständnis sowie das persönliche Erleben und Reflektieren von Macht. Weitere Kategorien bildeten wir anhand der transkribierten Gespräche. Wir interpretieren die Interviews zurückhaltend. Etliche Auszüge drucken wir unkommentiert ab. Lesende können sich so ein eigenes Bild machen.
»Eine besondere Art der Macht ist die Selbstbestimmung, das heißt die Freiheit, die einem gegeben wird und die man sich nimmt«, sagte mir Daniel Vasella, der ehemalige Verwaltungsratspräsident von Novartis, in einem früheren Gespräch. (29.6.2010) Und: »Leider bauen die meisten Menschen ihr eigenes inneres Gefängnis und agieren zugleich als deren Wärter, sodass sie nach einem Regelwerk handeln, welches nur in ihrer eigenen Vorstellung existiert.« Eine solche Aussage dient dem Verständnis von Macht, die Daniel Vasella überhöht und zugleich herunterspielt. Oder wenn Joseph Jimenez, der derzeitige CEO der Novartis, an deren Generalversammlung 2014 einen einzigen Satz auf Deutsch sagt und alle Aktionärinnen und Aktionäre frenetisch applaudieren, dann sagt das auch etwas darüber aus, wie sich Macht legitimiert.
Bei allen Gesprächen achteten wir auf das, was wir hörten, sahen und sonst noch bemerkten. Auch intuitiv. Was löst das Gegenüber aus? Sympathie, Befremden oder Irritation? Mit einigen Interviewten konversierten wir schriftlich weiter. Mit einzelnen über eine längere Zeit. Die verwendeten Gesprächsauszüge ließen wir autorisieren. Einzelne Interviewte begnügten sich mit geringfügigen Änderungen. Andere kürzten viele Aussagen weg oder formulierten sie stark um. Diese teilweise recht aufwendige nachträgliche Kommunikation erhellte sensible Bereiche und das Bemühen, ein bestimmtes Bild zu vermitteln. Ein Bankdirektor sprach sich für eine eidgenössische Erbschaftssteuer aus, wollte das aber nicht stehen lassen.
Eine zweite Grundlage unserer Arbeit bilden zahlreiche Dokumente und Medienberichte. Wir werteten sie in einzelnen Bereichen (Denkfabriken) und Themen (Steuerdebatte) auch inhalts- und diskursanalytisch aus. Im Vordergrund stand die Frage, wer Macht thematisiert und auf welche Weise dies geschieht. Bei den Medienanalysen werteten wir zudem alle Ausgaben der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) während einer zufälligen Zeitspanne (vom 20. April bis 20. Mai 2015) aus. Als weitere Dokumente nutzten wir auch Selbstpräsentationen (Homepages), Jahresberichte, statistische Berichte und Protokolle. Zudem weitere Studien, (Auto-)Biografien und Informationen, die wir aus Ämtern, Verwaltungen und dem Umfeld von Mächtigen erhielten; von einem Butler, einem Chauffeur, von Verwandten eines Bundesrats oder von einem Strafrichter (über die Selbstbereicherung von Anwälten). Einen interessanten Einblick gewähr(t)en uns auch zugesandte Brief- und Honorarkopien. Einzelne forderten uns ethisch heraus. Wie ist es möglich, Transparenz darüber herzustellen, wie das Getriebe funktioniert, ohne einzelne Personen an den Pranger zu stellen? Was tun, wenn Verwandte eines amtierenden Bundesrates einem einen langen Briefwechsel zukommen lassen, bei dem es um massive Erbstreitigkeiten geht?
Hinzu kommen als dritte Grundlage eigene Beobachtungen; so etwa bei Weiterbildungsveranstaltungen von Finanzinstituten, in Beratungsgremien von Unternehmen oder bei gewerblichen und gewerkschaftlichen Anlässen. Dabei achteten wir darauf, wie sich Mächtige und Machtstätten präsentieren. Als hilfreich erwiesen sich auch Einladungen zu Diskussionen bei Medien, Unternehmen, Serviceclubs und Netzwerken (HSG-Alumni, Rotary, Kiwanis usw.). Nach einer Fernsehdiskussion erzählte mir beispielsweise Headhunter Björn Johansson, wie er Benedikt Weibel, den ehemaligen CEO der Schweizerischen Bundesbahnen, einschätzt. Er halte ihn für viel fähiger als manche andere CEOs in großen Konzernen. Ein Typ wie Weibel lasse sich aber kaum entsprechend vermitteln, wenn er das falsche Parteibuch habe. Bei einem späteren Gespräch (7.2.2013) dementierte der Headhunter allerdings diese Aussage, als ich ihn öffentlich darauf ansprach. Der Verwaltungsratspräsident eines großen Unternehmens fügte hingegen, nachdem er sich mir gegenüber (10.11.2014) dezidiert über eine Bundesrätin und eine frühere Regierungsrätin geäußert hatte, gleich vorsorglich an: »Und sollten Sie das jemals verwenden, dann weiß ich von nichts.« Das sind so kleine Geschichten, in denen wir uns meistens selber erkennen. Sie erhellen auch ein wenig, wie unsere Gesellschaft funktioniert.
Wertvolle Informationen trugen zahlreiche Studierende bei. Dies im Rahmen von Vorlesungen und Seminaren zu »Geld und Macht: Die Schweiz zwischen Meritokratie und Oligarchie« (HS 2012, Universität Zürich), »Raum und Macht« (FS 2013, Universität Basel), »Wer regiert die Schweiz?« (HS 2013, Universität Basel), »Macht und Ohnmacht: biografisch erforscht« (HS 2014, Universität Basel). Die Studierenden interviewten und porträtierten ausgewählte Personen, sie berichteten von ihren Praktika bei Banken und Unternehmen, ihrer Zugbegleitung beim Orient-Express oder ihrem Babysitting bei Reichen. Mehrere Hundert Berichte liegen vor. Einzelne nahmen wir hier auf. Die Studierenden wirkten auch als Sounding Board. Wir werteten mit ihnen ab und zu anonymisierte Interviews aus.
Zum kollektiven Validieren unserer Wahrnehmungen trugen auch intensive Debatten bei. Zudem bezogen wir gezielt externe Sichtweisen ein. Wir baten beispielsweise zwei Journalisten, unsere Studie kritisch zu kommentieren. Der eine (Oliver Fahrni, Redaktor Work) gilt politisch als progressiv-links, der andere (Franz C. Widmer, ehemaliger Chefredaktor Basellandschaftliche Zeitung, bz) als konservativ-liberal. Beiden verdanken wir wertvolle Kommentare. Bei konkreten Hinweisen zitieren wir sie namentlich. Fahrni enthielt sich als Angestellter der Unia beim Kapitel Gewerkschaft, Widmer beim Kapitel Medien. Einzelne Wahrnehmungen diskutierten wir auch mit weiteren Fachleuten, zum Beispiel mit Dagobert Kuster, dem ehemaligen Geschäftsführer der Basler Volksbank, und Urs Hägeli, einst stellvertretender Direktor der UBS Schweiz.
Unsere Arbeit ist biografisch orientiert. Wir diskutieren, wie sich Macht bei einzelnen Personen und Institutionen manifestiert. Das Biografische erhellt dominante Strukturen, Werte und Einstellungen. Unsere Interviews dokumentieren, wie Mächtige ihre Haltungen plausibilisieren. Die subjektiven Deutungen vermitteln ihre Sicht von Wahrheiten, Wirklichkeiten und Sinngehalten. Das hilft, sich verstehend sozialen Realitäten anzunähern. Die Macht der Mächtigen lässt sich allerdings nie wahrheitsgetreu eruieren. Wir konstruieren sie mit, auch wenn wir unsere Eindrücke kollektiv validieren und möglichst wenig Eigenes in die anderen hineinprojizieren wollen. In der Schweiz ist der Zugang zu Mächtigen relativ einfach. Das sagt auch etwas über sie und das Land aus. Auch die erhöhte Offenheit von (älteren) Personen, die schon etwas mehr Distanz zum aktuellen Geschehen haben, kam uns entgegen.
In der Regel führten wir die Gespräche im gewohnten Umfeld der Interviewten. Dabei erörterten wir auch Kontexte, in denen Mächtige so handeln, wie sie handeln. Der Wert von Erinnerungen und Deutungen ist allerdings umstritten. Sie erhellen und trügen zugleich. Wenn wir Geschichten aus dem Blickwinkel von Beteiligten rekonstruieren, ist Erlebtes subjektiv wahr und – wie jede Quelle – kritisch zu betrachten. Sichtweisen verändern sich in kommunikativen Prozessen. Je nach Interview kommen besondere Gefühle, Deutungen und Fantasien auf. Das Zusammenspiel der Beteiligten beeinflusst die Darstellung. Weitere Gegebenheiten wirken schon vor dem Gespräch. Zum Beispiel Medienberichte sowie die unterschiedlichen sozialen Milieus, in denen sich Fragende und Interviewte bewegen. Wir unterscheiden bei unseren Interviews zwischen dem Erzählten, Erlebten und der Sinngebung. (Rosenthal 1995: 130) Zudem achten wir auf Schlüsselerlebnisse und biografische Wendepunkte. (Haumann/Mäder 2008: 279) Unsere Studie beinhaltet also einen deutenden und sinnverstehenden Zugang. Eine solche Forschung gestaltet sich als kommunikativer Prozess. Sie erfordert eine Sensibilität für die eigene Wahrnehmung und die Interaktionen zwischen allen Beteiligten. Mit einzelnen Interviewten finden seit Jahren regelmäßige Treffen statt, mit andern ein häufiger Austausch per E-Mail. Die etablierten Bande helfen, nachzufragen und Sichtweisen präziser wahrzunehmen. Sie erhöhen aber auch die Gefahr, kritische Distanz zu verlieren. Umso wichtiger sind die Transparenz und das kollektive Korrektiv. Dies im Sinne eines permanenten Austauschs mit Personen, die unterschiedliche Sichtweisen einbringen. Hilfreich war für uns auch ein mehrtägiger Austausch mit Bettina Dausien, die an der Universität Wien Biografieforschung lehrt.
Die Biografieforschung ist daraufhin zu befragen, ob sie die individualistische Sicht verstärkt. Sie tut das aus unserer Sicht nicht, wenn sie die sozialen Kontexte einbezieht und danach fragt, wie sich im Individuellen das Gesellschaftliche dokumentiert. Der biografische Ansatz erlaubt jedenfalls keine Generalisierung; er ist vielmehr eine spezifische Form sozialer Annäherung, die es mit strukturellen Voraussetzungen zu verknüpfen gilt.
Pierre Bourdieu (1986: 69) warnt vor der biografischen Illusion, die der »Lebenserzählung« anhaftet. Dem Erzählen wohne in vielen Fällen die Tendenz inne, zwiespältige Lebensphasen als eine »kohärente Geschichte« darzustellen. Bourdieu wehrt sich dagegen, das Ich als das scheinbar Wirklichste der Wirklichkeiten anzuerkennen. (Bourdieu 1986: 72) Er geht (strukturalistisch) davon aus, dass es in der sozialen Welt auch Strukturen gibt, die unabhängig von den Akteuren sind. Sie beeinflussen die Individuen, die selber auf Strukturen zurückwirken. Bourdieu nimmt auch (konstruktivistisch) eine soziale Genese der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata an. Sie konstituieren den Habitus. Strukturen bilden die Grundlage der subjektiven Repräsentationen. Sie prägen die Zwänge der Interaktionen. Die Repräsentationen sind aber ebenfalls wichtig. Sie veranschaulichen individuelle und kollektive Alltagspraxen, die wiederum Strukturen erhalten und verändern.
Der Schriftsteller Alex Capus berichtet in seinem Buch Mein Nachbar Urs (2014), wie die Züge von Olten aus ohne Halt in alle Himmelsrichtungen zu wichtigen Schweizer Städten fahren. In Olten kreuzen sich zwei wichtige Verkehrsachsen. Und so sind morgens um sieben Uhr schon viele Leute auf den Perrons. Beim Gleis 2 stehen die Leute, die in Zürich bei einer Bank oder beim Fernsehen arbeiten. Sie tragen taillierte Anzüge, machen kompetente Gesichter und nehmen niemanden wahr. Beim Gleis 3 stehen die Leute, die in der Basler chemischen Industrie arbeiten. Hier sind die Dresscodes weniger streng. Und die Leute tragen Wasserflaschen mit sich, als ob sie auf eine Expedition gingen. Beim Gleis 9 stehen jene, die bei der Bundesverwaltung in Bern arbeiten. Sie tragen graue Jacketts und Mephisto-Schuhe. Und beim Gleis 12 stehen die Touristen, die nach Luzern, und die Italiener, die nach Italien fahren. Das sind allerdings keine Berufspendler. Denn in Luzern arbeitet niemand. So erzählt Alex Capus in seiner literarischen Sozialstudie von Olten und der Schweiz. Er erhellt, wie Menschen unterschiedliche kulturelle Mentalitäten repräsentieren.
Wir fragen ebenfalls, was die vielfältige Schweiz kennzeichnet. Nach ein paar Kennzahlen und sozial-strukturellen Hinweisen vergegenwärtigen wir uns das Bild, das die Sinus-Milieustudie (2013) von der Schweiz vermittelt. Darauf folgt ein Stimmungsbild aus der Gemeinde Vorderthal (SZ). 85 Prozent der Stimmenden sagten dort Ja zur »Masseneinwanderungsinitiative« (MEI). Die Gemeinde zählt 8 Prozent ausländische Personen, darunter sechs Asylbewerbende. Samuel Schlaefli besuchte die Gemeinde während seines Forschungspraktikums im Rahmen unserer Studie. Er führte zahlreiche Gespräche und typisierte zwei völlig unterschiedliche Haltungen anhand zweier Personen. Um die neoliberal konservative Haltung besser zu verstehen, fragte ich bei alt Bundesrat Christoph Blocher nach.
Was kennzeichnet also die Schweiz? Ist es die direkte Demokratie, die Neutralität, der Föderalismus, die Binnenlage, die schöne Landschaft, der Reichtum, die Stellung in der Welt, das Rote Kreuz oder was sonst? Und wann entstand die Schweiz? Beim Rütlischwur 1291, nach dem Dreißigjährigen Krieg 1648, am Wiener Kongress 1815, mit der neuen Verfassung 1848 oder mit deren Revision 1872? Wichtig ist, nebst dem Zweiten Weltkrieg, der Fall der Berliner Mauer 1989. Darauf bezieht sich eine Kernthese von uns. Das eigentlich erfreuliche Ende des Kalten Krieges markiert deutlich einen Paradigmenwechsel, der sich schon seit den späten 1970er-Jahren abzeichnete. Er führt vom politischen Liberalismus, der auf einen minimalen sozialen Ausgleich achtet, zum wirtschaftsorientierten Neoliberalismus, also einem finanzgetriebenen Kapitalismus. Dieser überlagert viele Lebensbereiche. Er ökonomisiert und kommerzialisiert sie.
Die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Sie verfügt über ein Bruttoinlandprodukt (BIP) von nahezu 80 000 Franken pro Kopf (2015). Wie die kleine Schweiz groß geworden ist, beschreibt Gerhard Schwarz, der Direktor von Avenir Suisse und ehemalige Chef des NZZWirtschaftsressorts. Er betont in Wirtschaftswunder Schweiz (Breiding/ Schwarz 2011) den Fleiß und die Innovationen. Gesellschaftliche Ungleichheiten sind nach seiner Darstellung unvermeidbare Begleiterscheinungen einer offenen und leistungsbezogenen Gesellschaft. »Reich ist die Schweiz nicht wegen des Geldes«, ergänzt Gerhard Schwarz (2013: 18) im Magazin der Bank Vontobel. Zum Geldreichtum dazu komme das immaterielle Kapital: Bildung, politische Führung, Behördenqualität und das Rechtssystem. Weiter zu erwähnen wären: der Fleiß unzähliger Migranten und Migrantinnen, günstig importierte Rohstoffe sowie das ausgeklügelte Wechselspiel zwischen Freihandel und Protektionismus, den die Schweiz immer wieder zum Schutz ihrer eigenen Produktion betrieb. Gleichwohl empfiehlt sie heute ärmeren Ländern, rigoros die Schranken zu öffnen und den Freihandel auszuweiten. Gerhard Schwarz befürwortet diese Liberalisierung, wie er in unserem Gespräch (9.2.2012) bemerkte. Wir plädieren für einen fairen Handel im Rahmen einer neuen Weltwirtschaftsordnung mit indexierten Preisen für Rohstoffe und Fertigprodukte.
Die Schweiz ist stark exportorientiert. Sie hat eine hohe Außenhandelsquote. Ihr Binnenmarkt ist relativ klein. Europäische Märkte sind für die Schweiz wichtig. Sie nehmen (je nach Quelle) rund 50 bis 60 Prozent der Exporte auf. Von dieser Bedeutung zeugen auch zahlreiche bilaterale Abkommen mit der Europäischen Union. (Oster 2011: 1) Angewiesen ist die Schweiz, nebst Absatzmärkten, vor allem auf Rohstoffe. Und der industrielle Sektor ist, trotz dem stark ausgebauten Dienstleistungssektor, immer noch recht bedeutend. (BAK Basel Economics 2011: 8) Der tertiäre Sektor beschäftigt in der Schweiz etwa drei Viertel aller Arbeitskräfte. Im Jahr 2014 waren es 76,1 Prozent. (www.bfs.admin.ch) Bedeutsam sind Handel, Gastgewerbe und vor allem Finanzdienstleistungen. Das Handelsvolumen beläuft sich auf rund zwei Drittel des BIP (2014: 64,3%). Andere Quellen geben niedrigere Anteile an. Die Schweiz importierte im Jahr 2014 Waren im (unterschiedlich veranschlagten) Wert von 179 bis 253 Milliarden Franken. Die Exporte betrugen zwischen 208 und 285 Milliarden Franken. Fast drei Fünftel gingen in die Europäische Union. Chemikalien gehören zu den wichtigsten Handelswaren, zusammen mit Arzneimitteln. Auch Maschinen und Uhren sind sehr gefragt. Zu den zentralen außereuropäischen Handelspartnern zählen die USA, China und Japan.
Die Handelsbilanz der Schweiz war allerdings im 19. und 20. Jahrhundert überwiegend negativ. Das ist vielen kaum mehr bewusst. Der Historiker Jakob Tanner erinnerte in unserem Gespräch (15.4.2015) daran. Um die Mitte der 1990er-Jahre kehrten die Vorzeichen. Und im 21. Jahrhundert setzt sich der Trend zur überschüssigen Handelsbilanz fort. Somit ist die Schweiz weit mehr als ein traditionelles Kapitalexportland mit einem großen Nettovermögen im Ausland, was Yves Wegelin in seinem Beitrag »Gut so, Herr Jordan!« (WOZ 22.1.2015) problematisierte: Die Schweiz schreibe seit Anfang der 90er-Jahre Leistungsbilanzüberschüsse. Sie exportiere also mehr Dienstleistungen und Waren ins Ausland, als sie importiere. Wenn ein Land Exportüberschüsse erziele, brauche es ein anderes Land, das weniger exportiere, als es importiere. Und um diesen Importüberschuss aufzukaufen, komme es vor, dass sich dieses Land beim Überschussland verschulde.
In der Schweiz verfügt 1 Prozent der privaten Steuerpflichtigen über mehr steuerbares Nettovermögen als die übrigen 99 Prozent. Darauf wies der Global Wealth Report der Credit Suisse (2010: 120) hin. In späteren Ausgaben relativierte die Bank ihre Angabe. Sie schlug nun auch die Pensionskassengelder, bei denen es sich eigentlich um aufgeschobene Löhne handelt, zu den Vermögen. Aber das Verhältnis bleibt krass; egal, ob es nun 1 oder knapp 3 Prozent sind, die mehr besitzen als der große Rest. Wie der Reichtum zunimmt, dokumentierte das Wirtschaftsmagazin Bilanz im Dezember 2014. 1989 besaßen die 300 Reichsten in der Schweiz 82 Milliarden Franken, Ende 2014 bereits 589 Milliarden.
1 Prozent der Weltbevölkerung ist übrigens vom Jahr 2016 an ebenfalls reicher als die restlichen 99 Prozent. Das geht aus einer Studie von Oxfam, dem Verbund unabhängiger Hilfswerke, hervor. Die ursprünglich britische Entwicklungsorganisation präsentierte die Studie 2015 am WEF in Davos. Während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien gegründet, engagiert sich Oxfam in vielen Ländern für mehr soziale Gerechtigkeit. Laut Oxfam besitzen die achtzig reichsten Menschen der Welt ebenso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Das sind 3,65 Milliarden Menschen (2015). Von den zehn reichsten Griechen leben übrigens fünf in der Schweiz. (Blick am Abend, 1.7.2015: 6) Philip Niarchos wohnt in St. Moritz (GR). Sein Familienvermögen beträgt 10,8 Milliarden Franken. Verfügt ein Haushalt über mehr Vermögen als 4000 Dollar, dann gehört er bereits zur reicheren Hälfte der Erdbevölkerung. Die ärmere Hälfte kommt laut dem Global Wealth Report (Credit Suisse 2013) auf weniger als 1 Prozent der weltweiten Vermögen.
Wie sich die Schweiz verändert (hat), analysiert die Sinus-Milieustudie von 2013. (Media Trend 2014) Ich diskutierte (am 19.6.2014) mit Christoph Müller darüber, dem Verantwortlichen des Sinus-Instituts in Heidelberg. Die Studie sondierte insbesondere die Folgen von Globalisierung, Digitalisierung und Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Befindlichkeiten der Schweizer Bevölkerung. Die Flexibilisierung von Arbeit und Privatleben, die Erosion klassischer Familienstrukturen, die Digitalisierung des Alltags und die wachsende Wohlstandspolarisierung erscheinen in einer neu skizzierten Milieulandschaft. Wir leben nach dieser Darstellung in einem Zeitalter der Entgrenzung – das für manche Milieus ungeahnte Chancen bietet, andere dagegen überfordert und verunsichert.
Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise sowie in ihrer sozialen Lage ähneln. Die Landkarte der Sinus-Milieus erscheint als »Kartoffelgrafik« (»Härdöpfel-Chart«). Sie zeige auf, wie die Lebenswelten und Werte auseinanderdriften: Die digitale Spaltung nimmt zu. Und die gesellschaftliche Mitte gerät unter Druck. Sie grenzt sich verstärkt gegen die soziale Unterschicht ab, die sich durch die gesellschaftliche Modernisierung noch stärker prekarisiert. Gleichzeitig nehmen die Wahlmöglichkeiten in der Gesellschaft zu. Das erhöht insbesondere die Lebensqualität der Wohlsituierten. Das eigene Leben erscheint als Projekt, das stets effizient zu managen ist. An der Spitze entsteht eine kosmopolitische Elite.
Die jungen Milieus stehen für Machen und Erleben. Zwei neue Milieus tauchen hier auf. Das Milieu der Adaptiv-Pragmatischen reagiere auf die unsicheren Lebensperspektiven mit verstärkter Anpassung: Pragmatismus und Nützlichkeitsdenken nehmen zu. Man ist leistungsbereit im Beruf und hedonistisch in der Freizeit. Anders zeigt sich das Milieu der digitalen Kosmopoliten: Diese sind experimentierfreudig, weltoffen und avantgardistisch. Grundmotive sind die Selbstverwirklichung und der Individualismus.
Laut Christoph Müller teilen Mentalität und Sprache die Schweiz in verschiedene Regionen auf: In der Deutschschweiz zählen besonders Leistung, Status und Prestige, in der Suisse romande regionale Eigenarten. Die Menschen sind offen und legen Wert auf persönliche Kontakte. Traditionelle Werte bestimmen indes die italienische Schweiz.
Zu andern Ergebnissen kommt die repräsentative Studie Point de Suisse