amazinGRACE
amazinGRACE
Die neue Dimension der Heilung
Annette Bokpe, Annette Müller
Bildnachweis
Alle in diesem Buch verwendeten Fotos stammen aus dem Privatbesitz von
Annette Müller mit allen Rechten.
Besuchen Sie uns im Internet unter www.ecole-san-esprit.de und www.do-ut-des.eu
® 2015 SAN ESPRIT Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Agnieszka Gantz
Umschlagfoto: Annette Müller
Satz: Monsenstein und Vannerdat
ISBN 978-3-943-09903-4
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Ein Anruf mit Folgen
2. Abschied und Aufbruch
3. Die Zusammenkunft
4. Am eigenen Leib
5. Eine neue Form der Wahrnehmung
6. Nah und Fern
7. Wie alles begann
8. Von Tieren und Menschen
9. Heilen und Lehren
10. Die Gnade Gottes
11. Der immerwährende Regenbogen
12. Ein Schatten auf der Schulter
13. Eine weitere Kraft
14. Die Kraft der Gedanken
15. Im Leerlauf
16. Nocebo und die Kraft der Programmierung
17. Ich gebe, damit du gibst
18. Vergangenheit und Zukunft
19. Ein großer Aufwand schmählich ist vertan
20. Und die Erde dreht sich weiter
21. Asche und Karma
22. Eine Frage der Haltung
23. Wir versetzen Berge
24. Als wäre dort nie etwas gewesen
25. Schwingungen und Herzenswünsche
26. Auf zu neuen Ufern
Nachwort
amazinGRACE Kontaktadressen
Vorwort
Höre den Ruf!
Folge dem Ruf!
Rufe!
Im Tal funkelt das magische Lichtermeer von Waikiki. Es glitzert weiß, gelb und blau im Dunkel der Nacht. Vereinzelt kann ich die Bewegungen der Fahrzeuge verfolgen, die sich über die Stadtautobahn bewegen oder sich den Hügel hinauf- und hinunterschlängeln. Ich lehne am Geländer der Terrasse und lasse meinen Blick über die Stadt schweifen. Ich ahne das Meer in der dunklen Ferne und werde von den weißen Wolken im pechschwarzen Himmel fortgezogen. Ich gebe mich ganz dieser Atmosphäre und der Musik hin, die aus dem Raum hinter mir über mich hinweg ins Tal getragen wird. Bis wohin wird sie zu hören sein und wie klingt es wohl, wenn sie sich mit dem Lärm der Stadt vermischt?
Jeden Sonntag trifft sich eine Gruppe von Leuten, um sich frei und ekstatisch ausgewählten Rhythmen und Klängen hinzugeben. Auch ich erlaube meinem Körper, sich frei zu bewegen – vorsichtig, denn ich kann die Gallensteine, die mich bei meiner Ankunft auf Hawaii wie aus heiterem Himmel überfielen, noch immer schmerzhaft in meiner rechten Seite spüren. Diese Tage sind qualvoll und eine große Herausforderung für mich. Ich fühle mich etwas ratlos und verwirrt. Müde und geknickt gehe ich in eine hintere Ecke des Raumes und setze mich auf den Holzboden. Ich strecke die Beine aus und lehne mich an die Wand. Ich höre einfach nur zu. Ich fühle und beobachte. Es ist interessant zu sehen, wie ein jeder sich so ganz anders und individuell zu den gleichen Klängen bewegt. Mir wird klar, dass mein Vorstellungsvermögen und meine Phantasie hier an Grenzen stoßen. Weiter können sich meine Gedanken nicht bewegen, denn eine solche Vielfalt übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Ich frage mich, welche Kraft oder Intelligenz dazu in der Lage ist, unendlich viele Individuen zu erschaffen, die sich einerseits gleichen und dennoch komplett unterschiedlich sind. Ich fühle mich in diese Frage hinein, ahne die Kraft der Schöpfung, staune und bewundere wieder einmal das, was mir so unbegreiflich und doch so nah ist.
Auf dem Weg nach hier oben, im Jeep, fragte mich mein Gastgeber etwas über mein »Erwachen« - so nannte er das. Das Gespräch klingt in mir nach.
»Das war kein Erwachen für mich. Erwachen stelle ich mir anders vor. Es war ein Ruf, den ich vernahm«, war meine Antwort. Ich schilderte ihm – noch immer leicht erschrocken von der Erinnerung – dass ich mich aufgrund der schweren Folgen eines Autounfalls in einer stetigen Abwärtsspirale befunden hatte, ohne die geringste Hoffnung auf Besserung. Und wie durch Magie erfuhr ich damals Heilung durch die Kraft des menschlichen Geistes – durch energetisches Heilen… Geistheilung. Das rettete nicht nur mein Leben, sondern wurde zu einem Ruf. Diesem folgte ich und erlangte selbst wunderbare Heilkräfte. Bei meinem Versuch, das Unfassbare zu begreifen, nannte ich dieses Unerklärliche amazinGRACE.
Und noch immer gibt es für mich keine Alternative zu diesem Namen. Tief in meinem Herzen sage ich zart zu amazinGRACE: »Ich liebe dich!« – dankbar, dass diese unglaubliche Kraft scheinbar mich gewählt hat.
Der Holzboden unter mir und die Wand, an der ich lehne, sind kühl. Ich entspanne mich, lasse alles los und genieße es, im Hier und Jetzt zu sein. Ich atme den Moment. Die Luft trägt das Salz des Pazifiks in sich. Es scheint mir, als trüge sie auch den Segen des Meeres und gleichzeitig das Glitzern der Sterne, das Weiß der Wolken sowie das Schwarz der Nacht zu mir. Etwas verändert sich. Die Musik wird ruhiger und getragener. Der Abend kommt bald zu einem Ende, sagt die langsamere Musik zu dem Puls und dem Adrenalin der Tanzenden. Auch bei mir verändert sich die Stimmung – Ende und Aufbruch machen sich in mir breit. Die Musik wird immer ruhiger. Auf einmal kommt von irgendwoher ganz unerwartet ein Anflug von Gänsehaut über mich und ergreift mich von oben bis unten mit dem Erkennen der Melodie: Amazing Grace! Und es ist mir klar, ganz klar, dass dieses Lied genau zu diesem Zeitpunkt nur für mich spielt! Es ist mein Lied! Die Antwort auf meine Liebeserklärung! Ich gebe mich diesem perfekten Moment hin.
Der Text des Liedes ist in Cherokee, also verstehe ich die Worte nicht. So lasse ich meine ganz eigenen dazu entstehen und so wird es zu einem Zwiegespräch. Da geschieht es: Ich erwache! Ich erwache zu der Erkenntnis, mein eigenes Wunder zu sein. Zeitgleich erlebe ich, dass ich mich selbst liebe. Zum ersten Mal! Jetzt weiß ich, was damit gemeint ist! Ich hebe meinen linken Arm und betrachte meine Hand. Wie schön und vollkommen sie ist! Wie viele Menschen wurden durch meine Hände schon geheilt? Wie viel Glück brachten sie schon? Das ist es, von dem das Lied berichtet. Es ist eine Hymne an mich und ich befinde mich glücklicherweise in einem Zustand, sie annehmen und zulassen zu können. Sie ehrt mich, indem sie mir sagt, wie unsagbar viel ich von dieser empfangenen Gnade zurück- und weitergab. Ich empfange diese Botschaft aus ganzem Herzen und sage zum ersten Mal, ohne falsche Bescheidenheit, ein hundertprozentiges »Ja!« zu amazinGRACE. Dies ist ein Moment der Wahl: »Möchtest du diesen Weg weitergehen? Das Vehikel für amazinGRACE sein?«
Ich atme tief durch und antworte ganz bewusst mit »Ja!« – mit einem »Ja!« der Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Annette Müller
1. Ein Anruf mit Folgen
Auf der Suche nach einer Adresse fällt mir eines Tages zufällig die Telefonnummer einer alten Bekannten in die Hände. Annette Müller: erfolgreiche Verlagskauffrau und Betreiberin eines Versandhandels für ausgewählte Geschenkartikel. Spontan beschließe ich, sie anzurufen.
Ich bin gespannt, ob die Nummer noch existiert. Es läutet. »SAN ESPRIT, Guten Tag!«, höre ich schließlich eine mir vertraute Stimme sagen. Tatsächlich! Es ist eindeutig Annette, die sich meldet. Nach etwas einleitendem Smalltalk erkundige ich mich nach ihrem geschäftlichen Befinden und Treiben. »Ich bin inzwischen Heilerin und leite eine Klinik für geistige Heilung im Chiemgau: SAN ESPRIT«, antwortet sie. Was war das? Meine alte Bekannte ist offensichtlich übergeschnappt. Geistheilerin?! Ich kann es nicht fassen. Was war nur in den letzten Jahren mit ihr passiert? Annette unterbricht mein Schweigen: »Da staunst du, was?« Noch bevor ich etwas erwidern kann, berichtet sie, dass sie schon tolle Heilerfolge erzielt hätte und nun sogar eine Schule für Geistiges Heilen betreibt.
An diesem Punkt bin ich drauf und dran, einfach aufzulegen und dem ganzen Spuk ein Ende zu bereiten. Doch höflich, wie ich nun einmal bin, sage ich: »Ist ja interessant! Wie bist du denn dazu gekommen?« »Ach, das ist eine lange Geschichte. Das muss ich dir alles einmal in Ruhe erzählen. Weißt du, es ist wirklich so großartig, wenn man die Fähigkeit hat, Menschen von Krankheiten zu befreien. Das kannst du dir gar nicht vorstellen!«
Nein, das kann ich tatsächlich nicht. Und auch dass Annette dies vermag, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Wie soll es denn auch möglich sein, dass eine ganz normale Frau ohne jegliche medizinische Ausbildung kranke Menschen heilen kann? Und was heißt überhaupt Geistheilung? Ich denke da doch eher an Manipulation und Täuschung. Bestenfalls treten bei dem einen oder anderen vielleicht auch Placebo-Effekte ein. Aber wirkliche Heilung? Nein, das halte ich für ausgeschlossen.
Als Annette mich schließlich auch noch fragt, ob ich bei ihr eine Ausbildung zur Heilerin machen will, muss ich mir das Lachen verkneifen. Ich als Heilerin?! Das finde ich amüsant. Nein, eine solche Ausbildung würde ich sicher nicht machen. Da ich einem längeren Gespräch über dieses Thema ausweichen will, antworte ich nur: »Du, das ist jetzt alles ein bisschen viel! Lass mich darüber nachdenken.« »Ja, dann schau dir doch einfach mal meine Webseite an: www.sanesprit.de«, schlägt Annette daraufhin vor.
»Ja, das mache ich«, sage ich und finde einen Vorwand, um das Gespräch zu beenden. Ich wünsche meiner alten Bekannten alles Gute, viel Erfolg und verspreche, mich zu melden. Letzteres habe ich allerdings nun wirklich nicht vor.
Nachdenklich sitze ich wenige Minuten später an meinem Schreibtisch. Irgendwie geht mir das Telefongespräch nicht aus dem Kopf. Ich beschließe, meinen Kindern davon zu erzählen. Das würde sie sicher amüsieren – insbesondere Ina, denn die strebt ein Medizinstudium an. Doch als ich mit den Worten »Stell dir mal vor…« in ihr Zimmer komme, wehrt sie gleich ab: »Keine Zeit, Mama, wir schreiben morgen eine Mathearbeit.« Auch Anna, deren Abitur vor der Tür steht, ist gerade zu beschäftigt, um sich mit mir zu unterhalten.
Ich gehe in die Küche und mache mir eine Tasse Tee. Nachdenklich betrachte ich die beleuchteten Fenster der Häuser auf der anderen Straßenseite. Ich kann die Wandlung von Annette einfach nicht verstehen. Was hatte sie wohl nur dazu bewogen, sich ausgerechnet mit Geistheilung zu befassen? Außerdem kann ich mir, wenn ich ehrlich bin, auch gar nicht viel darunter vorstellen. Sei’s drum! Ich nehme mein Notebook vom Schreibtisch, gehe ins Wohnzimmer und mache es mir auf dem Sofa bequem. Zuerst schaue ich mir die Webseite von SAN ESPRIT an. Anschließend google ich mich auch noch im Internet durch Geistheilung, energetische Heilung und alles was mir sonst noch dazu einfällt. Ohne es richtig zu merken, verbringe ich Stunden damit und stelle fest, dass die esoterische Szene einen breiten Raum im Netz einnimmt. Vereinzelt gibt es überraschenderweise auch die eine oder andere wissenschaftliche Stellungnahme dazu. Das meiste Gelesene bewerte ich mit der Note »großer Schwachsinn«. All dies passt einfach so gar nicht in mein Weltbild. Ich bin tagtäglich mit der Realität großer Unternehmen konfrontiert und berate Menschen, die bei Umstrukturierungen durchs Raster fallen. Mit anderen Worten: Ich kümmere mich um wirkliche Probleme in einer wahren Welt.
Schließlich stolpere ich über einen Bericht einer Dame, deren Gürtelrose durch die Behandlung einer Geistheilerin innerhalb kürzester Zeit verschwand. Dieser Artikel löst etwas in mir aus. Mir fällt ein, dass ich genau das ja selbst schon einmal erlebt habe. Ich komme ins Grübeln. War all das, was ich im Internet über Aura, Schwingungen, geistige Heilkräfte und Chakren las, wirklich nur Spinnerei? Über mein Notebook hinweg schaue ich auf eine Aufnahme, welche zwischen anderen auf einem Schränkchen steht – ein rund 25 Jahre altes Szenenfoto, auf dem ich in der Rolle der Sophie in »Kabale und Liebe« zu sehen bin. Bilder aus längst vergangenen Tagen steigen in mir auf. Ich erinnere mich an den Tag, an dem mich mitten in den Proben eine Gürtelrose mit unglaublichen Schmerzen überfiel. Der Arzt, den ich aufsuchte, schrieb mich umgehend krank und sprach von einer längeren Ruhepause und Geduld. Das wollte ich allerdings alles nicht wahr haben. Nicht jetzt, so kurz vor der ersten Aufführung! Auf der Suche nach einer anderen, schnelleren Lösung empfahl mir ein Kollege, zu einer alten Dame zu gehen, und mir diese Gürtelrose einfach »wegpusten« zu lassen. Das hörte sich für mich zwar verrückt an, in meiner Verzweiflung wollte ich aber auch nichts unversucht lassen.
Der Behandlungsansatz der alten Frau stellte sich gelinde gesagt als eigenartig heraus. Sie machte Kreuzzeichen über den schmerzenden Stellen, murmelte unverständliche Worte und blies mir zwischendurch auf die Haut. Am Ende der Sitzung überreichte sie mir Kartoffelmehl, das ich über die Flecken verteilen sollte. Und bevor ich schließlich ging, wies sie mich noch an, dass ich ihr nun ein Geschenk auf die Kommode legen solle, mich aber weder von ihr verabschieden noch auf meinem Nachhauseweg zurückblicken dürfe. Mir kam das Ganze lächerlich vor. Alles Hokuspokus, dachte ich mir insgeheim. Aber Tatsache ist: Nach drei solcher Behandlungen war ich geheilt.
Als ich meinen Eltern von dieser Erfahrung erzählte, waren diese alles andere als überrascht. Sie kannten solche Phänomene aus ihrer Kinderzeit. Sowohl im Dorf meines Vaters als auch in dem meiner Mutter gab es damals jemand, den man rief, wenn es um Dinge ging, bei denen die klassische Medizin nicht helfen konnte. Neben der Verwendung regionaler Heilkräuter kamen auch Rituale, Gebete und Magie zum Einsatz.
Nachdenklich nippe ich an meinem Tee. Ich erinnere mich an die harte Anfangszeit in Westberlin, wo ich gemeinsam mit meinem afrikanischen Mann ein touristisches Unternehmen mit Spezialisierung Westafrika gründete. Auf unseren zahlreichen Reisen erlebte ich, wie Menschen in Trance versetzt wurden, plötzlich nicht mehr mit ihren eigenen Stimmen sprachen oder Wunden wie von Geisterhand geschlossen wurden. Damals wie heute fällt es mir schwer daran zu glauben, dass hier Heilkräfte oder Magie wirken. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass es für all die verrückten Dinge, die ich sehe, logische Erklärungen gibt. In Benin hingegen, dem Heimatland meines Mannes, zweifelt niemand daran, dass es übernatürliche Kräfte und wundersame Heilung gibt. Nun gut, überlege ich weiter. Selbst wenn es tatsächlich solche Phänomene geben sollte, dann können dies allerdings stets nur bestimmte Personen. In Afrika waren es alte, weise Menschen, die durch geschickte Manipulation, tiefgreifende Menschenkenntnis und mit Hilfe von Pflanzen, deren Heilkraft anderen unbekannt ist, Dinge bewirkten, die uns unerklärbar scheinen. Und selbst wenn man davon ausgeht, dass hier eine höhere Kraft im Spiel sein sollte, steht diese nicht einfach jedem zur Verfügung.
Und jetzt will mir eine stinknormale deutsche Frau erzählen, sie sei Geistheilerin und jeder kann es von ihr lernen, denke ich und schüttle mehrmals meinen Kopf.
Ich gehe noch einmal auf die Seite von SAN ESPRIT und lese im Internet einige Berichte von Menschen, die von Annette Müller behandelt wurden: Skoliosen waren in kürzester Zeit weg, Beinlängenunterschiede ausgeglichen, ja sogar an Krebs erkrankten Menschen wurde geholfen – wissenschaftlich gesehen alles unmöglich. Konnte wirklich etwas Wahres an diesen Berichten sein? Oder glauben Leute einfach so sehr an die Fähigkeit des Heilens, dass sie tatsächlich gesund werden? Andererseits, gibt es nicht vielleicht doch etwas zwischen Himmel und Erde, das wir mit den uns derzeit zugänglichen wissenschaftlichen Methoden noch nicht nachweisen können? Immerhin gab es auch schon den wissenschaftlichen Nachweis darüber, dass die Erde eine Scheibe ist und der Mann, der seinerzeit mit völlig anderen Methoden bewies, dass dem nicht so ist, wurde lange genug ausgelacht, angezweifelt und für verrückt gehalten. Und heute? Tja, heute ist allen klar: Die Erde ist eine Kugel.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist bereits halb vier Uhr morgens. Ich bin todmüde und klappe mein Notebook zu. Als ich endlich im Bett liege, drehen sich meine Gedanken im Kreis. Ach, wie lange soll ich mich noch mit diesen Dingen befassen, sage ich mir. Ich beschließe das ganze Thema erst einmal zu vergessen und mich lieber wirklich wichtigen Dingen zu widmen. Und während ich daraufhin darüber nachdenke, was ich alles am nächsten Tag zu tun habe, überfällt mich schon nach kurzer Zeit tiefer, fester Schlaf.
Annette Müller:
Menschen haben keine Ahnung davon, wie großartig sie sind. Sie wissen nicht, welche Kräfte in ihnen schlummern. Es gibt zwar zahlreiche Bücher und Lehren, in denen uns das gesagt wird, und ich treffe auch ständig Leute, die das glauben und auch versuchen zu leben – doch keiner oder nur ganz wenige scheinen es auch umsetzen zu können. Es gibt also diese eine generelle Überzeugung, ein allgemeines Wissen, und dennoch wird es nicht gelebt oder erlebt. Ich selbst kenne nur eine Handvoll Menschen, die anderen ein Leitbild sind – ein Beispiel für das großartige, das wahre Menschsein.
Wenn wir allerdings in unseren Heilpraxen die Hände auflegen und in kürzester Zeit, schon nach wenigen Sitzungen – manchmal bereits nach der ersten – bahnbrechende Heilung stattfindet, dann ist das Staunen spürbar. Man kann es im wahrsten Sinne des Wortes anfassen. Wir Heiler beweisen und leben das, was andere nur theoretisch von sich geben. Wer, wie Annette, die ihren Weg des ungläubigen Staunens und Erfahrens in diesem Buch beschreibt, sich einmal für diesen einen, den alles verändernden Schritt entscheidet, der wird nur selten von Selbstzweifeln geplagt oder am Sinn des Lebens zweifeln.
Manchmal erleben Menschen Wunder, die sie erschüttern und ihr Weltbild infrage stellen. Sie erahnen dann, dass es zwischen Himmel und Erde viel mehr gibt, als sie mit ihrem Verstand sehen und erfassen können. Und doch geraten solche Erfahrungen meist schnell wieder in Vergessenheit – sie passen einfach nicht in die von uns gelernten Muster der Wahrnehmung.
Wunder zu bewirken ist ein Geschenk. Diese Fähigkeit ist für mich eine ganz große Gnade und ein Privileg. Ich halte diese Gabe nicht nur für ein Geschenk, sondern für die Möglichkeit, unser gesamtes Menschheitsbild komplett auf den Kopf zu stellen und neu zu definieren. Menschen halten sich im Kollektiv grundsätzlich für schlecht. Es fällt uns leicht, Dinge zu sagen wie: »Wir bringen einander um«, »Wir zerstören die Umwelt«, »Wir rotten Tiere aus«, »Wir gefährden den Planeten« und vieles mehr… So etwas geht uns leicht über die Lippen. Doch zu sagen, dass wir Menschen herrlich sind, Brücken bauen, Energie erzeugen, Flugzeuge durch die Lüfte fliegen und Eisen auf den Ozeanen schwimmen lassen, so wagt keiner zu denken und schon gar nicht zu fühlen. Doch nur etwas Gefühltes ist Realität! Theorie bringt uns nicht weiter! Wir sind die Kinder Gottes. Wir sind ihm ebenbürtig. Und wir alle können im Kleinen das erschaffen, wozu Gott im Großen in der Lage war und ist.
2. Abschied und Aufbruch
Einige Wochen später erhalte ich einen furchtbaren Anruf. Schon morgen muss sich mein Cousin einer Notoperation am Herzen unterziehen. »Es sieht nicht gut aus«, sagt meine Mutter traurig am Telefon und fügt hinzu: »Peter ist so geschwächt, dass eine Operation eigentlich nicht möglich ist.« Ich schlucke. Aber ohne diesen Eingriff kann er auch nicht weiter leben, denke ich. Peter ist schon seit sehr langer Zeit krank. In jungen Jahren war er Spitzensportler in der ehemaligen DDR. Die damals eingesetzten Medikamente und Aufputschmittel vergifteten und zerstörten seinen Körper. Bereits vor dreißig Jahren räumten ihm seine Ärzte nur noch eine Lebenserwartung von höchstens zehn Jahren ein.
Am Abend liege ich auf dem Bett und starre an die Decke. Ich fühle mich hilflos und ohnmächtig. Ich will einfach irgendetwas tun. In dieser aussichtslosen Situation treffe ich eine Entscheidung. Spät am Abend rufe ich Annette an. Ich schildere kurz die Situation und frage sie um Hilfe. Um Peter über Fernheilung Impulse schicken zu können, bittet sie mich, ihr ein Bild von ihm zu schicken. Ein solches kann ich allerdings in der kurzen Zeit nicht auftreiben. Ach, was hätte sie denn auch schon tun können, denke ich am nächsten Morgen und bin in Wahrheit erstaunt, dass ich sie überhaupt kontaktiert habe. Und dennoch hatte dieses Telefonat mit Annette irgendetwas Tröstendes, das ich mir nicht erklären kann.
Nach seiner schweren Operation wird Peter in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt und liegt im Universitätsklinikum Jena auf der Intensivstation – angeschlossen an eine Herz-Lungen-Maschine und diverse andere Geräte. Meine Kinder und ich zögern nicht lange und fahren zu ihm. Als wir sein Zimmer betreten, erschaudere ich: Alles blinkt und überall sind Kabel und Drähte. Mein Cousin ist kaum noch als Mensch zu erkennen. Alles ist nur noch Technik.
Der verantwortliche Pfleger macht uns klar, dass Peter nichts von unserem Besuch spürt, da sich ein künstlicher Tiefschlaf wesentlich von einem klassischen Koma unterscheidet. Dennoch sitzen wir an seinem Bett, streicheln ihn und sprechen zu ihm. Während meine Töchter bei Peter im Zimmer bleiben, gehe ich auf den Flur und beschließe, Annette ein weiteres Mal anzurufen. Diesmal erläutere ich ihr seinen Zustand im Detail. Sie macht mir keine falschen Hoffnungen. Im Grunde macht sie mir überhaupt keine Hoffnung. Peter kann in diesem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit nicht mehr geheilt werden – aber darum geht es mir in Wahrheit auch gar nicht mehr. Ich weiß auch nicht… vielleicht will ich einfach nur noch ein letztes Zeichen: eine Verbindung, einen Abschied.
»Lege deine Hände auf Peters Kopf, wenn du wieder ins Zimmer gehst, und ich sende von hier aus über dich Impulse«, weist Annette mich an. Da ich mein Mobiltelefon nicht mit zu ihm nehmen darf, vereinbaren wir einen minutengenauen Zeitpunkt, an dem wir unser Vorhaben starten wollen. Als ich schließlich an Peters Bett stehe, lege ich zu der vereinbarten Zeit meine Hände auf seinen Kopf. Ohne eine Regung liegt er da. Peter fühlt sich unglaublich kalt an. Nach ein paar Sekunden spüre ich plötzlich eine unglaubliche Hitze in meinen Handflächen, welche auf seinen Körper übergeht. Im gleichen Moment sagt meine Tochter, die seine Hand hält: »Mama, jetzt hat sich seine Hand bewegt.«
Als wir dies später dem Pfleger erzählen, erläutert er uns, dass dies völlig unmöglich sei. In einem künstlichen Koma sind sowohl sämtliche Schmerzen als auch das Bewusstsein ausgeschaltet. Empfindungen jeglicher Art oder gar Bewegungsreflexe sind dementsprechend unmöglich. Dieses Erlebnis beschäftigt mich für eine lange Zeit. Es verblüfft mich nicht nur, sondern berührt mich tief. Immer wieder tauchen in mir die Bilder von damals auf. Obwohl medizinisch ausgeschlossen, wurde der eiskalte Körper meines Cousin für einen kurzen Moment warm und seine Hand drückte die meiner Tochter. Kurze Zeit später starb Peter. Doch eben dieses letzte Zeichen erleichterte uns – meinen Kindern und mir – den Abschied und die Trauer.
Ich kann mir nicht helfen: Die Vorstellung, jemanden zu kennen, der vielleicht tatsächlich heilen kann, fühlt sich irgendwie gut an. Immer öfter entsteht in mir der Wunsch, mehr über Geistheilung zu erfahren. So nehme ich mir vor, Annette einfach einmal zu besuchen und sie bei ihrer Tätigkeit zu beobachten. Einige Monate später rufe ich sie an.
»Ja, klar kannst du mich besuchen«, sagt Annette, als ich ihr von meinem Plan erzähle. »Willst du nicht gleich die Ausbildung mitmachen? Das sind mehrere Intensiv-Wochenenden, die sich über einen Zeitraum von zwei Jahren verteilen.«
Nein, an der Ausbildung würde ich sicher nicht teilnehmen, denke ich still bei mir. Trotzdem empfinde ich eine gewisse Neugier. Und eben diese Neugier ist dann auch der Auslöser für eine Idee, die mir spontan in den Sinn kommt.
»Was hältst du davon, wenn ich mir die Ausbildung als Journalistin ansehe und sie dokumentiere oder etwas darüber schreibe?«, frage ich zurückhaltend.
»Ja, das ist eine tolle Idee!«, antwortet Annette.
Ich erkläre ihr, dass ich skeptisch sei und sehr kritisch an dieses Unterfangen herangehen würde. »Wenn ich ein Haar in der Suppe finde, werde ich es schreiben. Und ich werde nach diesem Haar suchen.«
»Prima!«, antwortet Annette. »Das erste Ausbildungsmodul beginnt am 30. Januar 2009. Ich freue mich auf dich!«
Ihre Selbstsicherheit macht mich sprachlos.
Zwei Monate später hebt meine Maschine am frühen Freitagmorgen in Berlin Tegel ab. Während ich in den strahlend blauen Himmel schaue, fällt mir plötzlich ein, dass ich ja gar nicht weiß, wie Annette aussieht. Ich kenne sie nur über das Telefon und von Fotos auf ihrer Webseite. Würde ich sie wohl am Flugplatz erkennen? Aber sicher, denke ich kurz darauf. Sie wird auffällig aussehen, wie alle esoterischen Leute: Amulette, ein folkloristisches Flatterkleid und der klassische »Ich-Liebe-Euch-Alle«- Blick. Entspannt lande ich auf dem Flugplatz in München. Ich nehme mein Gepäck in Empfang und begebe mich erwartungsvoll zum Ausgang. Meine Blicke streifen über die dort wartenden Menschen. Einige Sekunden später ruft jemand meinen Namen. Ich erkenne die Stimme sofort. Als ich Annette sehe, bin ich dann doch ein wenig enttäuscht. Keines meiner Vorurteile wird bestätigt: Keine Amulette, kein Flatterkleid, nicht einmal der betont liebevolle Blick. Stattdessen hat sie eine braune Schlaghose an, samt dazu passenden Rollkragenpullover. Darüber trägt sie einen dicken Mantel. Sie sieht wie eine ganz normale Frau aus.
Wir umarmen uns und Annette sagt: »Das Beste ist, du nennst mich Neti. Wir müssen uns ja irgendwie wegen unserer gleichen Vornamen unterscheiden. Neti ist übrigens auch mein spiritueller Name.«
Spiritueller Name, aha, denke ich und sage: »Ich muss meinen Namen aber nicht verspiritualisieren, oder?«
»Nein«, sagt Neti und lacht laut, »bloß nicht. Unser Ziel ist es, das Geistige Heilen gesellschaftskonform zu präsentieren, da würde so etwas nur stören. Und stelle dir dich doch einmal als seriöse Geschäftsfrau mit einem indischen Namen vor…« Da lachen wir beide herzhaft. Ich erhielt gerade eine Kostprobe von Netis prägnantem Humor.
In Frabertsham angekommen, biegen wir in die Schnaitseer Straße. Die Villa SAN ESPRIT thront auf einer kleinen Anhöhe. Sie erinnert mich an einen Herrschaftssitz. Der Gelbton, in dem die Villa gestrichen ist, hebt sich von den weißen Holzläden ab, welche die Fenster rahmen. Als wir durch das große, kunstvoll geschmiedete Tor auf das Grundstück fahren, erkenne ich erst die wahren Ausmaße des Geländes. Das ist kein Garten, das ist ein Park, denke ich. Ich bin beeindruckt. Durch eine schwere Eingangstür aus Eichenholz betreten wir das Haus. »Ich bringe dich erst einmal in dein Zimmer. Danach zeige ich dir alles«, sagt Neti, während sie eine Tür öffnet, hinter der eine großzügige Treppe in die erste Etage führt. »Hier oben in den Räumen sind normalerweise Besucher untergebracht, die sich für einen stationären Aufenthalt entscheiden. Jetzt am Wochenende bewohnen die Schüler des Kurses diesen Bereich«, erklärt sie und öffnet die Tür zu meiner Unterkunft. Wir stellen mein Gepäck ab. Anschließend führt Neti mich durch das gesamte Haus.
»Das ist ja richtig luxuriös bei dir«, sage ich anerkennend. Alles passt zusammen. Die Details sind liebevoll ausgewählt und platziert. Jeder einzelne Raum hat eine ganz eigene Note.
Als wir später gemeinsam essen, verleihe ich meiner Bewunderung für dieses prachtvolle Anwesen und dessen wunderbarer Einrichtung noch einmal Ausdruck.
»Machst du das hier alles eigentlich ganz alleine?«, frage ich sie.
»Nein, natürlich nicht. Das wäre auch gar nicht zu schaffen. Zita, meine Mutter hilft mir sehr und natürlich Anya, meine Tochter.«
Wir unterhalten uns noch über alles Mögliche. Je länger unser Gespräch dauert, desto mehr fällt mir auf, dass Neti komplett ohne esoterische Anwandlungen und Formulierungen auskommt. Sie, die offensichtlich alles gut im Griff hat, kritisch aktuelle Themen reflektiert, sehr gut informiert ist und mitten im Leben steht, passt in so gar kein Klischee. Über ihre Erfolge als Geistheilerin spricht sie wie andere über ihre beruflichen Erfahrungen als Ingenieur, Wissenschaftler oder Coach. Später helfe ich ihr noch beim Herrichten des Seminarraums. Dieser wirkt trotz seiner beachtlichen Größe ausgesprochen behaglich. Dafür sorgt neben dem mit Holzparkett ausgelegten Fußboden ein Kachelofen, aus dem man das Knacken von brennenden Scheiten vernehmen kann. Neben dem Ofen stehen eine Couch sowie mehrere Hocker und Sessel. Am hinteren Ende des Raums befinden sich zwei Behandlungsliegen. Das Zentrum des Zimmers bildet ein riesiger, massiver Holztisch mit geschwungen geschnitzten Beinen, auf dem wir Schreibmaterial, mehrere Glasschalen mit Nüssen sowie Gläser und Karaffen mit Wasser verteilen. Die notwendigen Stühle platzieren wir um den Tisch herum. Während wir mit all dem beschäftigt sind, frage ich Neti, ob es denn besondere Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung gibt und wie das alles ablaufen würde.
»Nein, bestimmte Voraussetzungen oder Vorbildungen muss keiner mitbringen, nur nachgewiesene Störungen in der Gehirnchemie sowie Drogen-, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch stellen Gründe dar, dass man eine solche bewusstseinserweiternde Ausbildung nicht machen kann«, bekomme ich als Antwort. Weiter erklärt Neti mir, dass in jedem der Ausbildungsmodule neue Heiltechniken vermittelt und geübt werden.
»Es wird erläutert, in welchen Fällen man welche Techniken oder Methoden anwendet und alles wird immer gleich untereinander ausprobiert. Das Wichtigste hierbei sind Kraftanbindungen, die es den Schülern erlauben, wirkliche Wunderheiler zu werden.«
Noch bevor ich auf das Wort »Wunderheiler« reagieren kann, klingelt Netis Telefon und sie eilt aus dem Zimmer. Ich sehe ja heute Abend, wie das alles hier so abläuft, denke ich bei mir und betrachte zufrieden unseren fertigen Seminartisch. Mein Blick wandert weiter im Raum. Eine Glastür führt in den Wintergarten. Ich betrete ihn und genieße die Aussicht über den Park und die sich daran anschließende, schier unendliche Weite. Frabertsham scheint am Ende der Welt zu liegen. In dem Ort gibt es vielleicht noch zehn, elf weitere Häuser. Ansonsten sehe ich rund um den Park der Villa nur Wiesen, Felder, Wälder und Himmel – soweit das Auge reicht.
Als ich etwas später in meinem behaglichen Gästezimmer den Koffer auspacke, versuche ich, meine Eindrücke zu sortieren. Ich befinde mich an einem Ort, an dem ich mich vom ersten Augenblick an wohlfühle. Die Atmosphäre im Haus hat etwas Beruhigendes, Warmes, Besonderes – und das hat nicht nur mit der geschmackvollen Einrichtung zu tun. Ich denke an eine Freundin von mir, die immer, wenn sie irgendwohin kommt, darüber spricht, ob sie dort »Good Vibrations« oder »Bad Vibrations« spürt. Für mich ist das Einschätzen solcher Schwingungen immer ein Ausdruck dafür, wie man sich in Gegenwart von Menschen und deren Umgebung fühlt. Und hier? Alle Räume hier – ja sogar der Park – senden mir starke »Good Vibrations«. Ich verliere mich in meinen Gedanken. Wie oft wende auch ich, die nüchterne und rationale Annette, in der Alltagssprache Worte wie »gute Energien«, »Schwingungen«, »Aura« oder »Wellenlänge« an. Und, wie oft sage ich zu meinen Kindern oder guten Freunden Sätze wie »Ich schicke dir Kraft«, obwohl ich das doch eigentlich gar nicht kann. Ich grüble. Oder war ich vielleicht doch dazu in der Lage?
Annette Müller:
Warum kann ein Heiler heilen? Warum kann er, wenn er jemandem die Hände in dieser Absicht auflegt oder über Gedanken Heilimpulse schickt, Veränderungen hervorrufen? Und warum können das nicht alle Menschen, wenn diese Fähigkeit doch in jedem von uns schlummert? Die Antwort ist: Es ist das erweiterte Bewusstsein, das ihn dazu befähigt.
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Wenn ein Mensch sein Gedächtnis verliert, so verliert er auch über die Zeit das Bewusstsein für seinen Wert und seine Individualität. Im Laufe der in diesem Buch beschriebenen Ausbildung gingen die Schüler und ich gemeinsam in das Altersheim von Frabertsham, um dort deren neugewonnen Fähigkeiten anzuwenden, zu heilen und den alten Menschen etwas Gutes zu tun. Es war für mich an diesem Tag schockierend, vormals voll im Leben stehende, kraftvolle und lebensfrohe Menschen, hilflos und abhängig – teilweise in Abwesenheit ihres Verstandes und Gedächtnisses – zu begegnen. Allerdings führte mir dieser Besuch auch wieder einmal ganz klar die Wichtigkeit eines funktionierenden Bewusstseins und das Drama des geistigen sowie körperlichen Verfalls vor Augen. In einem Altersheim erleben wir das Gegenteil von einem erwachten Geist. Wir bekommen drastisch vor Augen geführt, was es bedeutet, mit einem erloschenen Geist zu leben: Menschen ohne Bewusstsein für sich selbst, wer sie sind oder einmal waren. Was nutzt es im Endeffekt, wenn man der Erfinder des Rades ist, sich aber an nichts mehr erinnert. Es ist erschütternd.
An unserer Schule, der ÉCOLE SAN ESPRIT, üben wir in bewusstseinserweiternden Aufgaben unser Gehirn darin, seine Zellen zu aktivieren und neue neuronale Verknüpfungen herzustellen, um so die bislang brachliegenden Fähigkeiten langsam aufzuwecken und zu schulen. Meiner Meinung nach werden unser Verstand und Gehirn von unserer Gesellschaft tagtäglich mit beschränkenden und einengenden Gedanken bombardiert. Das Resultat ist Bewusstseinsbegrenzung. Von Geburt an werden wir auf ein oberflächliches Rädchen-Dasein programmiert. Wir sollen reibungslos funktionieren.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich in meiner Jugend qualvolle, leidvolle Gedanken und überwältigende Gefühle absoluter Sinnlosigkeit hatte. Es wollte mir damals nicht einleuchten, warum ich in der Schule so einen uninteressanten Schwachsinn lernen muss. Ich verstand nicht, wieso ich irgendeinen Beruf erlernen soll, der mich nicht im Geringsten interessiert und warum ich Tag für Tag Zeit verschwenden soll für etwas, das meiner Ansicht nach komplett unlogisch ist. Auch konnte ich nicht akzeptieren, warum ich Menschen bewundern und achten soll, die dadurch reich werden, dass sie andere ausnutzen und ausbeuten. Ich hinterfragte also wütend, weshalb ich Tag für Tag eine Arbeit machen soll, die andere reich, mich selbst aber kaputt macht: Und das alles nur, um eines Tages erschöpft in mein Grab zu fallen. Heute denken sicherlich nicht nur Jugendliche in der Pubertät so. Fast jeder einzelne Erwachsene, dem ich begegne, trägt diese Gedanken in sich und sucht nach einem Ausweg – doch die Fesseln der Programmierung sitzen eisern und fest.
Mit den verschiedenen Übungen der Ausbildung öffnen wir unseren Geist. Wir erschließen uns andere Ebenen des Erlebens. Wir stellen eine Verbindung mit unserer Intuition her und dies ermöglicht es uns, neue geniale und brillante Gedanken zu entwickeln sowie Zusammenhänge zu erkennen, die weit über das einschränkende Gedankengut unserer Gesellschaft hinausgehen. Wir erweitern also unseren Blick und Horizont. Und so finden wir einen Ausweg aus dem RädchenDasein. Wir breiten unsere Schwingen aus und erfahren unglaubliche Lebenskraft und Freude.