DER AUTOR
Foto: © Maria Wood
James Dashner ist in Georgia aufgewachsen. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Utah. Schon in frühen Jahren wollte Dashner Schriftsteller werden, arbeitete aber zunächst im Finanzwesen, bevor er sich vollständig dem Schreiben zuwandte und mit seinen Jugendbüchern in den USA die Bestsellerlisten stürmte, u. a. mit der Trilogie Mazerunner.
Von dem Autor sind bei cbt außerdem erschienen:
Der Game Master – Tödliches Netz
Der Game Master – Gegen die Spielregeln
James Dashner
Der Game Master
Das Spiel ist aus
Aus dem Englischen
von Karlheinz Dürr
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1. Auflage
Deutsche Erstausgabe September 2016
© 2015 by James Dashner
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »The Game of Lives« bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books,
a division of Random House, Inc., New York.
© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe
by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Lektorat: Andreas Rode
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Evelina Kremsdorf/Arcangel Images
he ∙ Herstellung: TG
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-17131-5
V001
www.cbt-buecher.de
Für Lynette
Prolog
Michael wehrte sich nicht gegen den Schlaf. Der SUV war gut gefedert und glich die Schlaglöcher und Unebenheiten im Straßenbelag mit sanftem Schaukeln aus. Das gleichmäßige Summen der Reifen auf dem Asphalt wirkte einschläfernd; zum ersten Mal seit Tagen konnte er sich entspannen. Seine Augenlider sanken herab. Auch wenn er im Umgang mit der Realität – oder der Unrealität – Experte sein mochte – jetzt, nach allem, was er in letzter Zeit hatte durchmachen müssen, wäre ihm eine nette kleine Ohnmacht durchaus recht. Denn er hatte wirklich viel wegstecken müssen, sehr viel. Wenn sich auch nur die geringste Chance böte, der Welt und ihren vielen Krankheiten zu entfliehen – er würde sie ergreifen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Leider sah es nicht so aus, als könne er in nächster Zeit in einen Coffin schlüpfen und die Welt für ein paar Stunden vergessen.
Das Kinn sank ihm auf die Brust, der Kopf rollte haltlos hin und her. Er zuckte zusammen, richtete sich wieder auf, lehnte sich im Sitz zurück. Ihm war klar, dass es nur ein Traum war, denn plötzlich saß er nicht mehr in einem Auto, das von Sarahs Dad gesteuert wurde, sondern zu Hause am Küchentisch. Dort, wo er gesessen hatte, bevor alles begann. Wo ihm Helga, sein Kindermädchen, schon Hunderte, wenn nicht Tausende Male das Frühstück vorgesetzt hatte. Der fremde Besucher im Gefängnis kam ihm plötzlich in den Sinn, sein seltsames Gelaber über Träume in den Träumen, die Andeutung, dass die Logik der Möbiusschleife gewissermaßen auch auf das VirtNet zutreffe. Und dass einen manche Dinge in den Wahnsinn treiben könnten, wenn man zu oft darüber nachdenke.
»Schmecken großartig, deine Waffeln!«, sagte Michael. Was ihn am meisten überraschte, war, wie echt sie schmeckten. Warmer, milder Buttergeschmack. Er schluckte einen Bissen und lächelte.
Und dann war Helga plötzlich da! Die liebe, strenge Helga. Sie warf ihm den Blick zu, während sie das Geschirr wegräumte. Den besonderen Blick, den Michael im Laufe der Jahre schon oft genug zu sehen bekommen hatte. Mit dem sie ihn davor warnte, er solle bloß nicht versuchen, sich bei ihr einzuschleimen. Diese Art Blick schenkte sie ihm sonst nur, wenn er wieder mal eine Erkältung vortäuschte, um die Schule zu schwänzen, oder ihr vorlog, er hätte seine Hausaufgaben gemacht.
»Keine Angst«, beruhigte er sie, »das ist nur ein Traum. Ich kann essen, so viel ich will!« Er grinste und nahm noch einen Bissen, kaute langsam und schluckte. »Ich glaube, Gabby wird immer noch vermisst, ich hab nichts mehr von ihr gehört. Wird super, wieder mit Bryson und Sarah zusammen zu sein. Das Terrible Trio, nicht unterzukriegen. Selbst wenn wir uns alle drei auf einen Rücksitz zwängen müssen wie Ölsardinen in eine Büchse. Aber egal. Wer hätte gedacht, dass mein Leben dermaßen aus dem Ruder läuft? Ist doch total bescheuert.«
Helga nickte, lächelte, beugte sich zur Spülmaschine hinunter. Das Klappern und Klirren von Geschirr, Besteck und Gläsern füllte die Küche.
Michael runzelte die Stirn; Helga schien alles völlig egal zu sein. »Vielleicht weißt du doch nicht alles. Schau’n wir mal. Also, ich erkläre es dir: Jemand hat uns hereingelegt, damit wir das gesamte VNS-Sicherheitssystem in die Luft jagen, und das haben wir dann auch gemacht. Es ist jetzt so gut wie tot. Sarahs Eltern – sie wurden gekidnappt, verstehst du? – tauchen plötzlich wie aus dem Nichts auf, befreien uns aus dem Knast und erzählen uns, dass du hinter allem steckst. Zusammen mit einer Bande Tangents. Du, Helga! Mein pummeliges Kindermädchen als Revoluzzerin! Hättest du vielleicht die Güte, mir das mal ein bisschen zu erklären?«
Aber sein Kindermädchen blickte kaum auf und zuckte nur kurz die Schultern. Klappern und Klirren gingen weiter, die Türen der Küchenschränke schlossen sich mit sanftem »Bumm«. Michael war klar, dass es zu schön war, um wahr zu sein. Es wäre am besten, einfach diesen Traum, friedlich am heimischen Küchentisch zu sitzen, zu genießen. Tatsächlich gab es keinen Ort im ganzen Universum, an dem er sich vor seinen eigenen Gedanken verstecken konnte, und auf seinen Verstand konnte er sich erst recht nicht verlassen. Er stopfte sich noch ein paar letzte Bissen Waffel in den Mund, genoss die knusprige Kruste und das butterweiche Innere, spürte aber bereits, dass sein Traum bald enden würde. Und Helga hatte noch kein einziges Wort gesagt.
»Ich denke mal, du kannst nicht mit mir sprechen, wenn ich träume?«, fragte Michael. »Das ist doch total daneben. Übrigens hat Kaine behauptet, er hätte euch umgebracht, dich und meine Eltern.« Die Gesichter seiner Eltern kamen ihm in den Sinn; er seufzte tief auf, als er den Stich in seinem erträumten Herzen verspürte. »Vielleicht hast du irgendwie fliehen können? Keine Ahnung. Aber du könntest doch wenigstens in meinem Kopf weiterleben? Oder wäre das dann so, als würde man sich mit einer Toten …«
Helga drehte sich scharf zu ihm um; ihr Gesicht war rot vor Wut. »Die Holy Domain, Junge! Du weißt, wo du hingehen musst! Zurück zur Holy Domain. Bring es dort zu Ende, wo es angefangen hat!«
Michael starrte sie geschockt an, wollte antworten, aber – kaum zu glauben – in genau diesem Augenblick hatte ein besonders tiefes Schlagloch die Frechheit, ihn aus dem Traum zu reißen.
Kapitel 1
Ländliches Idyll
1
Als Michael aus dem Traum hochschreckte, verspürte er etwas nicht sehr Angenehmes – einen Würgereiz. Bestimmt nicht die schönste Empfindung, wenn man gerade aus einer Art Trance erwacht.
Er zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen. Er hätte etwas gegen Seekrankheit einnehmen sollen. Sarahs Dad hielt sich offenbar für einen Formel-1-Fahrer, aber weder das Fahrzeug noch die Straße schien damit einverstanden zu sein. Inzwischen fuhren sie nicht mehr auf einer Schnellstraße, sondern waren auf einer kleinen und sehr kurvenreichen Landstraße unterwegs. Und Gerard der Tollkühne, der kommende Superstar aller Landstraßen-Rennfahrer, lief auf dieser ländlichen Nebenstraße mit den meisten Haarnadelkurven und den größten Schlaglöchern der Welt zu absoluter Höchstform auf.
Michael versuchte, die unzähligen engen Kurven hier in den Bergen des nördlichen Georgia auszugleichen, so gut es ging. Als ob er damit den Wagen auf der Straße halten könnte! Dichtes Blätterwerk und von Kudzu überwucherte Bäume säumten die Straße und bildeten einen prächtigen grünen Tunnel, in den immer wieder kurze Sonnenstrahlen blitzten.
»Sind Sie sicher, dass sie ›Helga‹ gesagt hat?«, fragte Michael noch einmal, weil ihm der Traum noch frisch in Erinnerung war. Gehe zur Holy Domain, hatte Helga gesagt. Was logischerweise bedeutete, dass ihm sein eigener Verstand genau dasselbe sagte. Sie mussten zu dem Ort zurück, an dem alles begonnen hatte, wenn sie es endlich beenden wollten. Das kam Michael recht plausibel vor.
Gerard hielt das Lenkrad fest umklammert, als befürchte er, dass es ihm jeden Augenblick aus den Händen gerissen würde. Statt einer Antwort seufzte er nur genervt. Nancy, seine Frau, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, war höflicher und drehte sich zu ihm um.
»Ja«, antwortete sie mit freundlichem, geduldigem Lächeln, als sei es das erste Mal, dass er die Frage stellte, und nicht das fünfte oder sechste Mal.
Er saß auf dem Rücksitz in der Mitte, Bryson saß links, Sarah rechts. Seit der unerwarteten Wiedervereinigung war nicht viel gesprochen worden. Sie waren gejagt, ins Gefängnis geworfen und daraus befreit worden, alles innerhalb weniger Tage. Aber es waren lange Tage gewesen, und Michaels Freunde machten einen genauso verwirrten Eindruck wie er selbst. Michael hatte keine Ahnung, was er von alledem halten sollte. Sarahs Eltern waren gekidnappt, dann aber von einer Gruppe mysteriöser Leute befreit worden. Dieselben mysteriösen Leute, die dann Gerard und Nancy angewiesen hatten, ihre Tochter und deren Freunde aus dem Knast zu holen und sie zu einer bestimmten Adresse in den Appalachen zu bringen.
Aber es war auch die Rede von Tangents gewesen. Und von einer Frau namens Helga.
Unmöglich, dass mit dieser Helga mein Kindermädchen gemeint ist, dachte er zum hundertsten Mal. Oder doch? Seine Helga gab es nicht mehr – stimmte doch, oder? Soweit Michael wusste, war sie ein Tangent gewesen, und genau wie Michaels Eltern war auch sie von Kaine deaktiviert worden. Zumindest hatte Kaine ihren Datenverfall beschleunigt. Aber ob sie nun real gewesen waren oder nicht, ihr Tod hatte aus Michaels Gefühlen eine Wüste gemacht, und seither war in dieser Wüste nicht mehr viel gewachsen.
Sarah stieß ihm den Ellbogen leicht in die Rippen, als wollte sie ihm etwas sagen, aber dann wurde sie heftig gegen ihn gepresst, als Gerard den Wagen wieder einmal abrupt in eine Kurve riss. Die Reifen quietschten, ein Vogelschwarm explodierte förmlich aus dem Blätterdach, das die Straße säumte, und stob kreischend in die Höhe.
»Alles klar bei dir?«, fragte Sarah und setzte sich wieder aufrecht. »Für jemanden, der gerade aus dem Knast geflohen ist, kommst du mir nicht besonders fröhlich vor.«
Michael zuckte die Schultern. »Ich glaube, ich muss das alles erst einmal wieder auf die Reihe kriegen.«
»Danke für die Message«, flüsterte sie. Sie meinte die Mitteilung, die er geschickt hatte. Obwohl sie in verschiedenen Zellen gefangen gewesen waren, hatten sich Sarah und Michael durch die Firewalls des Gefängnisses gehackt und kurze Nachrichten ausgetauscht. »Hat mir wirklich sehr geholfen.«
Michael nickte und brachte ein leichtes Lächeln zustande. Plötzlich drängte sich eine furchtbare Erinnerung in seine Gedanken: Sarah, die in der Lavahöhle starb. Ihr Kampf um einen letzten Atemzug, bevor sie auf Kaines Pfad in den tiefsten Winkeln des VirtNet eliminiert wurde. Michael hatte sie in diese entsetzliche Sache hineingezogen. Und ihre Eltern. Und Bryson. Es hatte ihm schier das Herz gebrochen, als er Sarahs qualvollen Tod mitansehen musste – auch wenn es nur ein virtueller Tod gewesen war. Dann wurde die Erinnerung durch einen ganz neuen, schrecklichen Gedanken verdrängt: Erwartete sie jetzt ein noch schlimmeres Schicksal, als in geschmolzenem Gestein zu sterben?
Bryson beugte sich vor und schaute seine beiden Freunde mit säuerlicher Miene an. »Hey – mir hat niemand eine Message geschickt! Das ist nicht cool, Leute!«
»War ’ne gute Tat«, sagte Michael grinsend. »Wollte auf keinen Fall dein Schläfchen stören.«
Und Sarah rieb noch ein bisschen Salz in Brysons verletztes Gemüt, indem sie auf ihren EarCuff tippte und Michaels Message auf den Screen lud. Wir werden siegen, schwebte die kurze Mitteilung vor ihnen in der Luft. Michael verspürte ein wärmendes Glücksgefühl in der Brust, als er sah, dass sie die Message nicht gelöscht hatte. Er lächelte mehr als nur ein bisschen verlegen.
»Ach, wie süß«, murrte Bryson, lehnte sich wieder zurück und starrte Michael gereizt von der Seite her an. »Und von wegen Schläfchen – ich hab seit Tagen … ach, verdammt, seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen. Und wer ist schuld daran? Du, Kumpel.«
»Das stimmt«, nickte Michael bedrückt. Er wusste, dass sein Freund das nur scherzhaft gemeint hatte, aber er fühlte sich trotzdem schuldig. Was Bryson gesagt hatte, war schlicht die Wahrheit. Die Übelkeit in seinem Magen, die Gerard mit seiner tollkühnen Fahrweise verursachte, stieg plötzlich in ihm hoch. »O Mann«, stöhnte er. »Sir? Äh … Gerard? Könnten Sie mal kurz anhalten? Ich fühle mich nicht so arg gut.«
»Dreh den Kopf zu Bryson«, befahl ihm Sarah ohne die geringste Spur von Mitgefühl und rückte, so gut es ging, von ihm weg. Sie öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit. »Frische Luft hilft vielleicht ein bisschen.«
Aber ihr Dad hatte bereits abgebremst und lenkte den Wagen in eine unasphaltierte Haltebucht am Straßenrand.
»Hier kannst du mal kurz aussteigen, mein Junge«, sagte Gerard gelassen. Michael war sicher, dass Gerard dieses kleine Manöver nicht zum ersten Mal ausführte – offenbar wusste er genau, was seine Fahrweise mit den Mägen seiner Fahrgäste anstellte. »Aber beeil dich – wir sind jetzt schon zu spät dran!«
Sarahs Mum schlug ihren Mann leicht auf den Arm. »Sei nicht so hartherzig, Liebling. Dem Jungen geht’s nicht gut.«
Michael schob sich ein bisschen grob über Sarah hinweg und sprang aus dem Auto, bevor sie protestieren konnte. Das grauenhafte Knastfrühstück stieg in ihm hoch, es war absolut unmöglich, es zurückzuhalten. Er schaffte es noch bis zum nächsten Gebüsch, das eine sehr übel riechende Überraschung erlebte.
2
»Eklig, Mann … da sind noch ein paar Spritzer auf deinem Hemd«, sagte Bryson ein paar Minuten später, als sie weiterfuhren. Der kleine Zwischenfall änderte nicht das Geringste an Gerards Fahrstil.
Michael grinste – es war ihm egal. Er fühlte sich viel besser als noch vor ein paar Minuten. Die Welt sah plötzlich heller und freundlicher aus.
»Freut mich, dass du glücklich bist«, murrte Bryson und klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Muss dir wahrscheinlich sogar dankbar sein, dass du mich nicht vollgekotzt hast.«
»Gern nicht geschehen«, gab Michael zurück.
»Fühlst du dich besser?«, erkundigte sich Sarah.
»Wie neugeboren.« Michael verschränkte die Arme und setzte sich ein wenig bequemer zurecht. »Irgendwie kommt mir plötzlich alles viel leichter vor. Ich bin immer noch nicht sicher, was da in Atlanta passiert ist – aber es ist doch schon ganz gut, dass wir alle noch leben, oder nicht? Und dass wir jetzt zu Leuten unterwegs sind, die uns helfen wollen.«
Und dass ich einen Plan habe, dachte er. Zum ersten Mal seit Langem hatte er einen Plan, und das fühlte sich gut an. Er würde zur Holy Domain gehen, zurück an den Ort, an dem alles begonnen hatte. Er musste nur auf den richtigen Moment warten, seinen Freunden den Plan zu erklären.
»Kumpel«, sagte Bryson, »du bist ein Das-Glas-ist-halb-voll-Typ. Gefällt mir.«
Sarah lächelte und schob heimlich ihre Hand in Michaels Hand. Ihre Finger verschlangen sich mit seinen. Und für Michael wurde die Welt noch freundlicher. Gabby, dachte er, wir müssen uns um sie kümmern. Zuletzt hatte er sie bewusstlos auf der Straße liegen sehen – nachdem sie von einem Polizisten niedergeschlagen worden war. Und er, Michael, war schuld daran, er hatte sie in diese Sache hineingezogen. Er wollte sie nicht noch tiefer hineinziehen, aber wenigstens musste er dafür sorgen, dass es ihr gut ging.
»Wir sind fast da«, verkündete Gerard, der Rennfahrer, und hob den Fuß einen halben Millimeter vom Gaspedal. »Äh … glaube ich jedenfalls.«
Schmetterlinge regten sich plötzlich wieder in Michaels Magen. Er drückte Sarahs Hand ein wenig fester und beugte sich vor, um besser durch die Windschutzscheibe hinausschauen zu können. Sie fuhren immer noch durch einen dichten grünen Tunnel; der Wald schien kein Ende zu nehmen. Michael hatte nicht die geringste Ahnung, was sie erwartete – oder wohin sie fuhren und warum. Aber seine Erregung wuchs, je länger er auf die Straße hinausblickte. Irgendwie erinnerte sie ihn an den Pfad, und plötzlich wurde er von einer neuen Angst gepackt, ob er sich wirklich im Wake, in der Echtwelt, befand. Vielleicht lag er irgendwo in einer dieser Kisten, die Coffin genannt wurden, weil sie wirklich wie Särge aussahen, während sie in Wirklichkeit technische Wunderwerke waren. Wenn man sich in einen Coffin legte, wurde man mit unzähligen NerveWires und LiquiGels in das VirtNet hochgeladen. War er nun im Sleep oder im Wake? Michael hatte sich schon zu oft täuschen lassen und wusste, dass er nie mehr völlig sicher sein würde.
Wieder fiel ihm der Mann ein, der ihn kurz vor Agentin Weber im Gefängnis besucht hatte. Er war ihm auch im Traum erschienen … und Michael erinnerte sich deutlich an das, was er gesagt hatte. Dass man sich hundert oder tausend Mal liften und immer wieder aufwachen könne, in einer Schicht des VirtNet nach der anderen, bis man nicht mehr wisse, ob man sich in der virtuellen oder der realen Welt befand. Wie war das? Wie ein Traum im Traum? Schon der bloße Gedanke jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
Die Straße fiel plötzlich scharf ab. Michael schüttelte den Kopf und vertrieb den Gedanken, bevor ihm wieder schwindelig wurde. Viel besser, sich auf das zu konzentrieren, was um ihn herum vor sich ging – ob es nun die reale Welt war oder nicht.
Draußen hatte sich der Wald gelichtet. Ein breites Tal erstreckte sich vor ihnen, begrenzt von zwei dicht bewaldeten Gebirgszügen. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, sodass die Landschaft fast düster wirkte, als wollte sie ihnen einen Ersatz für das Halbdunkel des grünen Tunnels bieten, aus dem sie gerade herausgekommen waren.
»Fahren wir dorthin?«, erkundigte sich Bryson, öffnete den Sicherheitsgurt und rutschte dicht an den Fahrersitz heran, um nach vorn spähen zu können. »Die Hütten müssen doch mindestens tausend Jahre alt sein.«
»Das wird es wohl sein«, antwortete Nancy. »Ich sehe weit und breit keine anderen Gebäude.«
Michael starrte in das Tal hinunter. Auf der Talsohle, weit unter ihnen, lagen mehrere lang gestreckte, einstöckige Häuser verstreut, die wie alte, verbeulte Schiffscontainer aussahen. Oder wie Militärbaracken, wie man sie höchstens noch in alten Kriegsfilmen zu sehen bekam, deren Handlung irgendwo in einem exotischen Dschungel spielte. Sogar aus der Ferne waren große, klaffende Löcher in den Dächern zu erkennen; einige waren offenbar geflickt worden, aber die meisten klafften weit auf, sodass die Räume darunter den Naturgewalten ausgesetzt waren. Kudzu und Efeu wucherten überall, und Teile der Gebäude waren so überwachsen, dass sie wie Formschnittskulpturen im Garten eines längst vergessenen Riesen aussahen.
»Mannomann«, stöhnte Bryson. »Ich hatte eigentlich ein bisschen mehr Luxus erwartet, ein Hotel im Stil von New Hillman oder MaBelle Five Star. Im Knast funktionierten wenigstens die Toiletten.«
»Schlangen«, flüsterte Sarah wie in Trance. »Ich wette, es wimmelt nur so von Schlangen.«
Michael blendete die Bemerkungen aus; er weigerte sich, seinen gerade erst wieder aufkeimenden Enthusiasmus dämpfen zu lassen. Und er war auch so neugierig, dass er den halb verfallenen Zustand der Häuser einfach ignorierte. »Sie waren also noch nie hier?«, fragte er Gerard, und als der nur stumm den Kopf schüttelte, versuchte er es anders. »Wo haben Sie Helga und die anderen denn kennengelernt? Und woher wussten Sie, wo Sie uns finden würden? Und wieso kennen Sie den Weg hierher?«
Nancy drehte sich zu ihm um. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen, fürchte ich. Wahrscheinlich wisst ihr drei mehr als wir. Diese … Tangents – so haben sie sich jedenfalls genannt – stürmten in das Lagerhaus, in das uns die Kidnapper gebracht hatten, befreiten uns, gaben uns die Keycard für das Auto und beschrieben uns den Weg. Das passierte praktisch in Windeseile. Wir hatten keine andere Wahl, als ihnen zu vertrauen. Und offenbar war das richtig, denn immerhin konnten wir euch aus dem Gefängnis herausholen.«
Michael nickte; dagegen war nichts einzuwenden. Trotzdem: Nie mehr würde es ihm leicht fallen, fremden Menschen zu vertrauen. Doch im Moment ging es nur darum, am Leben zu bleiben, und er musste zugeben, dass die Fahrt hierher die sinnvollste Entscheidung gewesen war.
Außerdem war da noch diese Helga. Die wollte er unbedingt kennenlernen.
Die Straße führte in die Talsohle hinunter; jetzt hatten sie keinen Überblick mehr. Nach ein paar Minuten brachte Gerard den Wagen vor einem der überwachsenen Häuser zum Stehen. Was Michael aus der Ferne nicht hatte sehen können: Vor dem Haus, im Schatten der gewaltigen Bäume, parkte mindestens ein Dutzend Fahrzeuge. Alle Autos sahen ziemlich ramponiert und uralt aus – es fehlte nur noch der Bewuchs mit Kudzu, dann hätte man glauben können, dass sie schon genauso lange hier standen wie die Häuser.
Gerard hatte kaum angehalten, als auch schon eine groß gewachsene Frau aus der Tür eines der Gebäude trat. Sie trug staubbedeckte Jeans, ein schwarzes Sweatshirt und hatte ihr sandblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Selbstbewusst kam sie auf den Wagen zu, ein strenges Stirnrunzeln im Gesicht.
»Das ist sie«, murmelte Gerard, als er das Fenster herunterließ.
Michael erkannte sie nicht; sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit »seiner« Helga, obwohl er natürlich nicht wissen konnte, wie Helga im Wake aussah. Seine Zuversicht sank.
Sie beugte sich zum Fahrerfenster herab, stützte sich mit den Unterarmen auf und musterte die Insassen genau. Auf Michael blieb ihr Blick ein wenig länger haften. Schließlich wies sie mit einem Kopfnicken zu dem Haus, aus dem sie gerade gekommen war.
»Kommt rein.« Ihre Aussprache wies nicht die geringste Spur des deutschen Akzents auf, den Michael erwartet hatte. »Beeilt euch, bevor die Welt aus den Fugen gerät.«
Sie drehte sich um und ging zur Baracke zurück.
3
»Nun mal langsam, Kumpel. Langsam.« Warum brauchte Bryson so lange, um aus dem Auto zu steigen? Noch nie war Michael ungeduldiger gewesen als jetzt. Er musste herausfinden, was mit dieser Helga war und wer die Leute waren, mit denen sie es hier zu tun hatten. Vielleicht konnten sie ihm helfen, zur Holy Domain zurückzukehren. Er zischte Bryson gereizt an.
»Komm schon, Mann, reg dich ab!«, gab Bryson zurück. Ohne sich vom Fleck zu rühren. Stattdessen starrte er Michael durchdringend an. »Sind wir sicher, dass das hier okay ist?«
»Ja!«, gaben Michael und Sarah wie aus einem Mund zurück. Sarahs Eltern waren bereits ausgestiegen.
»Seid ihr … bombensicher?«, hakte Bryson nach. »Das sagte meine Oma immer. Wenn ihr wirklich bombensicher seid, bin ich dabei.«
Michael stöhnte und zwang sich, nicht auszurasten. »Ja. Ich bin bombensicher.«
»Na gut. Okay.« Bryson stieß die Tür auf und stieg aus. Michael hätte ihm am liebsten mit einem Fußtritt beim Aussteigen geholfen. Sarah stieg auf der anderen Seite aus. Sie folgten Gerard und Nancy auf dem von Unkraut und Gras fast völlig überwucherten Trampelpfad zur Haustür, die weit offen stand. Gerard zögerte keine Sekunde und trat ein. Nancy und die drei Freunde folgten ihm.
Drinnen wurden sie von der großen Frau erwartet. Michaels ganze Aufmerksamkeit wurde jedoch sofort von etwas ganz anderem gebannt.
In der Baracke war es zwar düster, aber seine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Was er sah, schockierte ihn. Es war, als sei er urplötzlich in eine andere Welt gestoßen worden. Die halb überwucherte Hütte, die von außen den Anschein erweckte, als könne sie kaum noch Wind und Wetter trotzen, beherbergte ein technologisches Wunderland. Über die Decke zogen sich lange Reihen blendarmer LEDs, darunter schwebten Dutzende NetScreens grün schimmernd im Raum. An einer Längswand reihten sich blaue NerveBoxes; an der Wand gegenüber saßen Männer und Frauen und arbeiteten konzentriert und offenbar mit äußerster Entschlossenheit an ihren Workstations. Michael bemerkte, dass die Wände mit neuen Balken und Brettern ausgebessert worden waren. Das Dach hatte man mit großen Plastikbahnen abgedichtet.
Die Stimme der Gastgeberin drang durch Michaels benommenes Staunen. »Wir brauchten ein abgelegenes Quartier …«
»Mission erfüllt«, murmelte Bryson.
»… aber es musste auch eine unabhängige Stromquelle und Zugang zu den Satelliten-VirtNet-Feeds haben«, fuhr sie fort. »Das hier ist einfach ideal – es war früher ein militärisches Trainingszentrum für Hightech-Spezialisten. Irgendwann wurde es geschlossen, weil der Staat sparen musste. Für uns ist es geradezu perfekt. Wir haben zwar ein paar Wochen gebraucht, um die Baracken notdürftig zu reparieren, aber jetzt läuft alles. Wie ihr seht, läuft die Arbeit schon auf vollen Touren.«
Michael hatte eine Million Fragen, aber eine Frage platzte förmlich aus ihm heraus.
Er trat vor die große Frau und schaute ihr direkt in die Augen. »Gerard sagt, Sie nennen sich Helga. Und dass Sie ein Tangent sind. Heißt das, dass Sie …« Plötzlich wusste er nicht mehr, wie er die Frage stellen sollte.
Überrascht sah er, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, die im Licht der LEDs glitzerten. »Ja«, sagte sie leise, zog ihn an sich und umarmte ihn so heftig, dass ihm fast die Luft abgepresst wurde. »Und du musst dann Michael sein, auch wenn du jetzt anders aussiehst. Mein Junge.«
Michael verschlug es förmlich die Sprache; erst nach ein paar Augenblicken konnte er die Umarmung erwidern. »Sie sind … du bist … Helga? Wirklich? Aber … wie …?« Sie hatte offenbar kein Problem damit, ihn in seinem neuen Körper zu akzeptieren, während ihm das bei ihr nicht so leicht fiel – zu groß war der Unterschied zwischen seinem ältlichen, pummeligen Kindermädchen und dieser groß gewachsenen teutonischen Kriegerin.
Sie schob ihn ein wenig von sich und schaute ihn an. Trotz der Tränen leuchteten ihre Augen grimmig und entschlossen. »Inzwischen hat sich viel getan, wir haben uns eine Menge zu erzählen. Um es kurz zu machen: Wir waren schon auf Kaines Spur, bevor du ihm über den Weg gelaufen bist. Wir haben ihm das Mortality-Programm gestohlen. Oder besser gesagt: Wir haben eine Raubkopie angefertigt. Das mussten wir tun, Michael. Und wir mussten hier in die reale Welt gehen, wenn wir eine Chance haben wollten, die virtuelle Welt zu retten.«
Plötzlich wurde Michael wieder von der Übelkeit überwältigt, die ihn schon im Auto überfallen hatte. »Warte … heißt das, ihr … habt die Körper von Menschen gestohlen?«, fragte er entsetzt und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Du … Wie soll ich dir glauben, dass du wirklich Helga bist? Können wir euch überhaupt vertrauen?«
Die Frau, die sich Helga nannte, lächelte nachsichtig. »Gute Fragen. Ich werde jetzt einzelne beantworten. Ich denke, es wird mir nicht schwer fallen, dir zu beweisen, wer ich bin. Frag mich etwas, das nur wir beide wissen können …«
Sie hielt inne und ließ den Blick nachdenklich über Michaels Freunde und Sarahs Eltern gleiten. Es war offensichtlich, dass sie genauso besorgt waren wie er. Sie alle waren entschlossen, genau das zu verhindern: dass Kaine und seine Tangents die Körper von Menschen übernahmen – und mussten jetzt feststellen, dass die Retter keineswegs besser waren als Kaine selbst. Oder jedenfalls musste es ihnen so vorkommen.
»Wir haben niemandem den Tod gebracht«, stellte die große Frau schließlich klar. Jetzt verhielt sie sich wieder sehr formal, und ihr Gesichtsausdruck war nicht mehr liebevoll. Aber Michael sah die tiefe Trauer in ihrem Blick. »Jedenfalls nicht den Wahren Tod.«
»Den Wahren Tod?«, wiederholte Sarah und warf Michael einen warnenden Blick zu. Michael war es plötzlich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
»Bitte«, sagte die Frau, leicht genervt. Offensichtlich frustrierte es sie, wie ihre Zuhörer auf die Enthüllung reagierten. »Setzen wir uns erst einmal und besprechen die ganze Sache, okay? Bitte.« Sie wies zu einem Tisch in der Nähe der Coffins, um den mehrere Stühle standen.
Michael, Sarah und Bryson verständigten sich mit kurzen Blicken, dann zuckte Michael die Schultern und ging zu dem Tisch hinüber, wobei ihm die Worte »Wahrer Tod« immer noch in den Ohren nachklangen.
4
»Am besten fangen wir mit dem Anfang an«, sagte die große Frau, als alle am Tisch Platz genommen hatten. »Ihr habt ein Recht darauf zu erfahren, wer ich bin – damit ihr mir wirklich vertrauen könnt.« Helga schaute sie der Reihe nach an, bis sie sicher war, dass ihr alle aufmerksam zuhörten. Dann wandte sie sich direkt an Michael. »Ich war wirklich Helga, dein Kindermädchen. Tief im Innern hatte ich schon lange den Verdacht, dass wir Tangents sein könnten, aber du warst für mich trotzdem ein realer Mensch, Michael. Sehen wir einmal für einen Moment von Kaine ab. Ich glaube, dass viele von uns Tangents den Sprung zum menschlichen Bewusstsein geschafft haben – wodurch sich der Datenverfall sehr stark verlangsamt. Und ich weiß, dass du diesen Sprung ebenfalls geschafft hast.« Sie wandte die Augen von ihm ab und ihr Blick verlor sich in der Ferne, irgendwo in einer Unendlichkeit alter Gedanken. Doch dann richtete sie ihn plötzlich wieder auf ihn und schaute ihm hart und entschlossen in die Augen. »Was ich damit sagen will, Michael, ist, dass du für mich immer wie ein eigener Sohn sein wirst. Und das will ich dir beweisen.«
Michael runzelte die Stirn und schaute sein Gegenüber ebenso entschlossen an, während er mit seinen Zweifeln kämpfte und sich seine Optionen durch den Kopf gehen ließ. Die Frau beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet. Auf Michael wirkte sie überzeugend, ihr Blick war durchdringend und voller Schmerz. Im Raum herrschte Stille, oder jedenfalls kam es ihm so vor, als er sich voll und ganz auf sie konzentrierte. Helga. Seine Zukunft stand auf dem Spiel.
»Okay«, sagte er schließlich und versuchte, klar zu denken. »Was ist mein Lieblingsfrühstück?«
»Warte mal, Kumpel«, mischte sich plötzlich Bryson ein, bevor Helga antworten konnte. »Das beweist doch rein gar nichts.« Er schaute Michael scharf an. »Wenn dein Kindermädchen ein Tangent war, kann Kaine natürlich jedes einzelne Detail aus deinem Leben kennen. Er braucht dann die Infos nur auf sie« – eine Kopfbewegung zu Helga – »downzuloaden, bumm. Oder noch schlimmer: Er könnte sie einfach programmiert haben! Das bringt doch gar nichts!«
»Das hilft mir nicht, Mann«, gab Michael zurück. Aber sein Freund hatte recht. Die Sache war wirklich frustrierend.
Helga nickte und stand auf. »Er hat recht. Nicht was Kaine angeht, sondern dass es praktisch unmöglich ist, dir ohne jeden Zweifel zu beweisen, dass ich wirklich Helga bin. Ich könnte den ganzen Tag lang darüber reden, dass du zum Frühstück am liebsten Waffeln hattest, und erzählen, wie du gebettelt hast, Gruselromane lesen zu dürfen, obwohl du noch nicht mal fünf warst, und ich dir nur immer Virty die VirtNet-Fee zu lesen gab. Oder über dein gebrochenes Bein, als du sieben warst. Oder darüber, wie oft ich dich erwischt habe, als du dich in den Coffin von deinem Dad geschlichen hast, obwohl du das noch gar nicht durftest. Wie oft ich dir spät nachts noch Käsestückchen und Salzkekse ans Bett brachte, wenn du mit deinem NetScreen versucht hast, irgendwelche Codes zu knacken. Oder wie wir beide versuchten, dein Zimmer nach der katastrophalen Übernachtungsparty aufzuräumen, bevor deine Eltern von ihrer Geschäftsreise zurückkamen …«
Sie brach ab, ein warmes Lächeln im Gesicht, während Michael sie mit offenem Mund anstarrte.
»Ich könne damit noch ewig weitermachen«, fuhr sie fort, »und dich trotzdem nie völlig überzeugen. Und deine Freunde erst recht nicht. Ich bin ein Programm, Michael, nichts weiter. Niemand wird verstehen, wie das schmerzt, außer mir selbst, das kannst du mir ruhig glauben. Ich weiß nicht, wie ich dein volles Vertrauen gewinnen kann.«
»Äh … Mann … ich wollte wirklich niemand beleidigen …«, begann Bryson und wandte verlegen den Blick ab.
Michael merkte plötzlich, dass er zitterte. Gefühle kochten in ihm hoch, vermischt mit Erinnerungen. Bryson hatte ein sehr gutes Argument vorgebracht – sie durften es nicht einfach beiseiteschieben. Aber gleichzeitig musste Michael wieder Vertrauen lernen. Er musste lernen, jemandem zu vertrauen. Und wenn man ihm einen Detektor eingepflanzt hätte, der anzeigte, ob er den Worten seines Gegenübers glaubte, dann hätte der jetzt sicherlich in den höchsten Tönen gejubelt.
»Du bist es wirklich«, flüsterte er.
Niemand reagierte. Vielleicht hatte ihn niemand gehört.
»Du bist es«, wiederholte er lauter.
Und dann lief er um den Tisch und umarmte sie, bevor irgendjemand die Tränen zu sehen bekam, die ihm aus den Augen quollen.