Anna Stern
Roman
Dieses Buch wurde unterstützt durch die Kulturförderung Kanton St. Gallen.
Verlag | Salis Verlag AG, Zürich www.salisverlag.com * info@salisverlag.com |
Lektorat | Patrick Schär |
Korrektorat | Ina Serif |
Umschlagbild | Ras Rotter (http://rasrotter.fotograf.de) |
Umschlaggestaltung | Peter Löffelholz für Torat GmbH |
1. Auflage 2016 | |
© 2016, Salis Verlag AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten | |
ISBN 978-3-906195-44-5 |
Wir kennen ihn,
Auch in der Ferne
Bleibt er uns nah.
Wir lieben ihn,
Sein Geheimnis geht mit uns.
OTTO HEUSCHELE
DER BODENSEE
And you are a fisherman’s son
And that is what you’ll become
You are a fisherman’s son
That is what you’ll become.
PORT O’BRIEN
FISHERMAN’S SON
Er drückt die Stopp-Taste und nimmt die Kassette aus dem Fach. Auf dem schmalen, weißen Klebeetikett steht in der fein säuberlichen Handschrift des Gutachters das Datum des heutigen Tages, 20. November 2013. Er steckt die Kassette in die Jackentasche und geht zur Tür. Die Hand auf dem Lichtschalter, schaut er sich noch einmal kurz um und fragt sich, ob er auch nichts vergessen hat. Die Kassette habe ich, denkt er, und wenn er jetzt schon wüsste, wie oft er sie sich in der nächsten Woche noch anhören wird, ließe er sie vielleicht zurück. Die Figur habe ich ebenfalls, und das Fahrrad ist im Kofferraum. Er hat entschieden, das Mobiltelefon zurückzulassen, er will nicht, dass man ihn findet, und müsste es deshalb ohnehin bald loswerden. Sein Herz pocht schnell in seiner Brust, doch als plötzlich das Telefon auf dem Schreibtisch klingelt, setzt sein Herzschlag für einen Augenblick aus. Kurz zögert er, die Versuchung ist groß. Doch dann denkt er, dass er nicht noch mehr Zeit verlieren darf, schaltet das Licht aus und schließt die Tür zweimal hinter sich ab. Im Wagen wirft er die Kassette zu der anderen auf dem Beifahrersitz, tastet mit der linken Hand nach der Figur unter seinem Sitz und zählt dann kurz mit geschlossenen Augen bis zehn, bevor er den Wagen startet und am See entlang in Richtung Nordosten fährt. Schon nach wenigen Metern hat ihn der dichte Nebel verschluckt.
Das Telefon in der Polizeidienststelle von R. klingelt, bis der junge Longhi den Anruf entgegennimmt und die Frau anhört, die ihren Mann als vermisst melden will. Sie wird zu Paul Faber durchgestellt, der an diesem Morgen früher als sonst an seinem Arbeitsplatz eingetroffen ist, um an einem Bericht zu arbeiten, der schon seit Tagen fertig sein müsste. Weil Faber müde ist und nicht gestört werden will und weil er hofft, der Anrufer hänge einfach wieder auf, wenn sich niemand melde, lässt er das Telefon zuerst eine Weile klingeln, bevor er den Hörer schließlich unwillig an sein Ohr hebt. Als er hört, dass der Mann erst seit dem Vorabend verschwunden ist, versucht er, die Frau, die sich als Frau H. vorgestellt hat, mit dem Hinweis darauf loszuwerden, dass bei erwachsenen Personen ohne Verdacht auf einen Unfall, ein Verbrechen oder auf Suizid keine Fahndung eingeleitet werden kann. Man sei, unterbricht sie ihn, zum Essen verabredet gewesen und ihr Mann sei nicht erschienen. Sein Fahrrad sei ebenfalls verschwunden, des Weiteren eine Skulptur und eine Kassette, deren Bedeutung sie jedoch nicht weiter erläutert. Obwohl Faber ihr versichert, dass derlei Dinge – gemeint ist die Vermisstmeldung von Personen durch besorgte Angehörige – nicht selten vorkämen und sich in der überwiegenden Zahl der Fälle als Fehlalarm erwiesen – meist gibt es für die scheinbar verschwundene Person nämlich durchaus einen guten Grund, ihr Umfeld über bestimmte Unternehmungen nicht in Kenntnis zu setzen –, beharrt Frau H. auf dem Verschwinden ihres Mannes. Paul Faber nimmt seine Brille von der Nase, reibt sich mit Daumen und Ringfinger der rechten Hand die Augen und denkt nach. So werde ich die Frau nicht los, denkt er und spekuliert, dass sie sich die Sache mit der Vermisstmeldung noch einmal anders überlegt, wenn sie weiß, dass sie dafür auf der Wache vorbeikommen muss, weshalb er Frau H. bittet, ihn in der Dienststelle aufzusuchen, um die Meldung offiziell zu machen und das weitere Vorgehen zu besprechen – wie er sich ihr gegenüber ausdrückt. Vielen Dank, sagt Frau H., ich werde kommen, worauf sie sich verabschieden und Faber den Hörer neben das Telefon legt, um nicht weiter gestört zu werden. Statt sich umgehend wieder seinem Bericht zuzuwenden, steht er auf und stellt sich ans Fenster, blickt auf den See in der Ferne, der ruhig daliegt, eine im grauen Novemberlicht randlose Fläche, dann auf den Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch, die Fotografie eines Gesichts, und wieder zurück auf den See, der die Antworten auf seine Fragen ebenso wenig weiß wie er selbst. Paul Faber seufzt, er gähnt, er setzt sich an den Tisch zurück und schreibt weiter an seinem Bericht. Doch es dauert in der Folge nicht lange – jedenfalls nicht so lange, wie Faber gebraucht hätte, um die Arbeit zu beenden –, bis ein junger Polizeianwärter an die Tür zu seinem Büro klopft und ihm, nachdem er lange auf das Herein seines Vorgesetzten gewartet hat, ausrichtet, dass im Foyer eine Frau H. darauf warte, ihn zu sprechen. Ich komme, sagt Faber, lässt dann aber doch noch einmal fünf Minuten vergehen, bis er den unfertigen Bericht speichert und, nach einem letzten Blick auf das Foto im Rahmen, sein Zimmer verlässt, um mit Frau H. über deren Mann zu sprechen.
Als er aufwacht, ist es vor dem Fenster bereits hell, und für einen kurzen Moment – die Zeit, die er benötigt, um sich an das zu erinnern, was am Vorabend geschehen ist – wundert er sich darüber. Er ist normalerweise ein Frühaufsteher, im Winterhalbjahr wird er immer bereits lange vor Sonnenaufgang wach, auch ohne Wecker. Seine Tante sagt, es liege im Blut, sein Vater, sein Urgroßvater, alle Männer der Familie seien Frühaufsteher. Oder Lerchen, wie sie es nennt. Als Kind fand er ihre Einteilung der Menschen in Lerchen und Eulen immer lustig, die Vorstellung von sich als Vogel gefiel ihm. Doch wenn er hätte wählen dürfen, wäre er keine Lerche gewesen, kein einfacher Singvogel wie die Kohlmeisen und Haussperlinge, die er auch jetzt durch das gekippt stehende Fenster zwitschern hören kann. Ihr nervöser Flug gefiel ihm nicht, lieber wäre er ein Milan oder Bussard gewesen, mit scharfen Krallen und eigenem Revier, im Gleitflug über der Landschaft kreisend, darauf wartend, dass eine unvorsichtige Maus sich aus ihrem Versteck wagt, um sich dann jäh auf seine Beute zu stürzen. Das war einmal, denkt er, zieht sich die Decke über den Kopf und lächelt zufrieden, nicht ahnend, dass es das letzte glückliche Lächeln sein wird für lange Zeit. Denn sowie er die Augen schließt und sich streckt, sind die Bilder da, setzt die Erinnerung ein. Er weiß noch nicht genau, was gestern passiert ist, oder wie es passieren konnte. Was er jedoch mit aller Deutlichkeit begreift: Heute ist der erste Tag vom Rest seines Lebens. Als er sich aufsetzt, hat das Lächeln sein Gesicht längst verlassen, seine Züge sind hart. Als könnten sie ihm erklären, was sich zugetragen hat, hält er sich die Hände vors Gesicht, es sind starke Hände, die Arbeit gewohnt sind, viele Narben, auch frische Wunden, und unter den lange nicht geschnittenen Fingernägeln dunkle Ränder. Es muss Erde sein, denkt er, vielleicht noch Erde von Joes Vaters Land. Als er aufsteht, fällt etwas zu Boden, es scheppert, er hört die Vögel einen Augenblick lang nicht mehr. Es ist eine Kassette, er greift danach und legt sie auf seinen Tisch. Am Fenster schiebt er den Vorhang zur Seite, um einen Blick in den Garten zu werfen, er sieht durch die Äste der kahlen Bäume zur Straße, das Auto, nach dem er Ausschau hält, steht nicht an seinem Platz. Doch er tut es auch, um sich zu versichern, dass die Figur noch auf dem Fensterbrett steht. Da ist sie, sauber, glänzend, man sieht ihr nicht an, was geschehen ist. Er lässt den Vorhang wieder halb vor das Fenster gleiten, schlüpft in eine frische Jeans und zieht sich das grüne T-Shirt über den Kopf, das Joe ihm zum Abschied geschenkt hat, auf seiner Brust ein gelber Hirsch im Sprung. Er nimmt die Kassette vom Schreibtisch, geht die Treppe hinunter und in die Küche. Das Haus ist leer, still, er kann wieder die Vögel im Garten hören. Er nimmt die Milch aus dem Kühlschrank, schenkt sich ein Glas ein und schaltet das Radio an, setzt sich mit der Milch an den Küchentisch und wartet auf die Nachrichten. Er hält es für unwahrscheinlich, dass sie bereits eine Meldung bringen, doch mit Sicherheit weiß er es nicht. Und gerade jetzt würde er vieles tun, um diesen Zustand zu verändern.
Frau H. erwartet ihn, ja, hält ihm, sowie er den Eingangsbereich betritt, mit einer Sicherheit ihre Hand entgegen, die Faber überrascht, woher weiß sie, wer ich bin, bleibt ihm noch die Zeit, sich zu fragen, ehe sie ohne das geringste Zögern sagt, Herr Faber, ich bin Frau H., ich habe Sie aus der Zeitung erkannt, und natürlich, Faber erinnert sich, das letzte Mal ist noch nicht lange her. Er schüttelt ihre Hand, Frau H., sagt er und weist ihr den Weg in einen Gang, der vom Foyer wegführt, wenn Sie mir bitte folgen wollen, und er geht ihr voran. Sie treten in ein ungenutztes Büro, in dem ein Tisch steht und zwei Stühle und in dem es nach Thymian riecht, und Faber nimmt eine Karaffe und zwei Gläser aus einem Hängeschrank an der Wand und füllt die Karaffe am Waschbecken daneben mit kaltem Wasser. Setzen Sie sich, sagt er zu der Frau, als er die Karaffe und die Gläser auf den Tisch stellt, und Frau H., die jünger ist und größer, als Paul Faber sie sich vorgestellt hat, und die ihr blondes Haar zu einem langen Zopf geflochten trägt und ihre Sonnenbrille auch in dem dunklen, fensterlosen Raum nicht ablegt, macht auf Faber einen sehr ruhigen, besonnenen, ja beinahe unbeteiligten Eindruck, wie sie reglos auf ihrem Stuhl sitzt, die Hände im Schoß gefaltet, sodass es ihm schwerfällt, dieses Bild mit dem aufgeregten Eindruck in Einklang zu bringen, den ihr Anruf bei ihm hinterlassen hat. Erzählen Sie doch bitte, leitet er das Gespräch ein, was genau passiert ist, worauf sie wiederholt, dass nicht nur ihr Mann, sondern auch dessen Fahrrad verschwunden sei und dass diese Skulptur fehle – eine verkleinerte Darstellung von Giacomettis Katze, wie sie betont – und eine Kassette, auf der, so glaubt Paul Faber zu verstehen, nicht Musik aufgezeichnet ist, sondern etwas anderes. Sie legt eine Fotografie zwischen sie beide auf den Tisch, von der er annimmt, dass sie ihren Mann zeigt, und sagt in einem Ton, der keinen Widerspruch zulässt, das ist mein Mann, Sie müssen ihn finden. Faber nimmt das Foto in die Hand, er sieht einen Mann seines Alters mit buschigen schwarzen Augenbrauen und kurz geschnittenem Haar derselben Farbe, ein schmaler Mund, nicht lächelnd, in den in die Ferne blickenden Augen glaubt Faber für einen Moment, etwas wie Traurigkeit zu entdecken, doch als er noch einmal hinsieht, ist der Ausdruck verschwunden, und Faber denkt, bleich sieht er aus, kränklich. Er dreht das Foto auf der Suche nach einer Jahreszahl um, kann aber nirgends eine entdecken, und er fragt, wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, und legt das Foto wieder zwischen sie auf den Tisch. Gestern Morgen, antwortet Frau H. und nimmt endlich die Sonnenbrille ab, als er zur Arbeit gefahren ist, und bevor Sie fragen, nein, es ist nichts passiert, es war alles wie immer, er war wie sonst. Frau H. blickt Paul Faber herausfordernd an, sieht ihm direkt in die Augen, das ist ungewöhnlich, denkt Faber, wie oft versuchen die Menschen, mit denen ich es Tag für Tag zu tun habe, doch, meinem Blick auszuweichen, die einen, weil sie fürchten, ich könnte in ihren Augen etwas entdecken, Schuld vielleicht oder wenigstens das, was sie vor mir geheim zu halten versuchen, die anderen aus Angst, sie könnten in meinem Blick auf eine Wahrheit stoßen, nach der sie gar nicht gesucht haben. Nicht so Frau H., sie sieht ihn mit großen Augen an, die Pupillen geweitet, das Grün der Iris hell, durchsichtig fast, und der Blick doch intensiv, es fühlt sich an, als könne sie in ihn hinein-, durch ihn hindurchsehen, zu seinen Zweifeln, in sein Innerstes, Paul Faber wendet den Blick ab. Ich habe später noch einmal mit ihm gesprochen, sagt sie, wir haben am Nachmittag telefoniert. Faber wartet darauf, dass die Frau weiterspricht, den Grund für diesen Anruf erklärt, doch sie zögert, schweigt, und er fragt nach. Das hat nichts mit der Sache zu tun, sagt sie. Das entscheiden nicht Sie, sagt er, erhebt sich und geht in dem kleinen Raum auf und ab, ihr bohrender Blick verunsichert ihn. Da sie weiter keine Anstalten macht, auf seine Frage einzugehen, fragt er, ob ihr Mann Familie habe oder Freunde, bei denen er sich aufhalten könnte. Bei Freunden sei er nicht, erklärt sie, die habe sie bereits angerufen, und mit seinem Vater spreche sie nicht. Der Grund dafür tut ebenfalls nichts zur Sache, wenn Sie glauben, ihn informieren zu müssen, dann tun Sie das, aber es muss ohne mich gehen, sagt sie zu Faber, der sich mit beiden Armen schwer auf die Lehne des Stuhls stützt und ihrem fordernden Blick über den Tisch hinweg begegnet, doch das wird Sie nicht weiterbringen, mein Mann würde da nicht hingehen, nicht freiwillig, und ganz abgesehen davon, der Alte lebt in Amerika, es wäre besser, Sie fragten mich endlich, warum ich nicht schon viel früher gekommen bin. Paul Faber kann sich ein Lächeln nicht verkneifen und fragt sich, ob die Frau dreist ist, provokant oder einfach nur sie selbst. Er zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzt sich ihr wieder gegenüber, ohne sie aus den Augen zu lassen, er tut ihr schließlich den Gefallen und fragt. Danke, Herr Faber, sagt Frau H., endlich. Und sie beginnt ihre Erzählung, setzt damit jedoch erst nach dem nachmittäglichen Anruf ein, über den zu sprechen sie sich vorher schon geweigert hat, und sagt, dass sie durchaus schon am Abend beunruhigt gewesen sei, als ihr Mann nicht wie verabredet zum Essen erschien, dass sie sich dafür aber eine natürliche Erklärung habe vorstellen können, er sei trotz allem erwachsen, frei, Herr über seine eigenen Stunden, dass sie lange im Restaurant auf ihn gewartet, dieses dann jedoch gegen neun Uhr wieder verlassen habe, allein, die Belegschaft könne dies sicher bestätigen, dass sie zuerst bei ihren Eltern vorbeigefahren sei, um die gemeinsame Tochter abzuholen, eine Abweichung von den ursprünglichen Plänen, doch daran habe sie nicht mehr gedacht, sie habe das Gefühl gehabt, Clara in der Nähe haben zu müssen, und dann nach Hause, von wo aus sie wiederholt im Büro ihres Mannes sowie auch auf seinem Mobiltelefon – erfolglos – und anschließend bei Freunden und Bekannten angerufen habe, dass ihr jedoch niemand über den Verbleib des Vermissten habe Auskunft geben können, das sei nicht seine Art, ganz und gar untypisch, hätten alle gesagt, dass sie dann trotz der späten Stunde bei der Nachbarin geklingelt und sie gebeten habe, vorbeizukommen und auf das Mädchen aufzupassen – es schlief bereits –, damit sie selbst zum Büro ihres Mannes fahren konnte, wo sie jedoch auch keine Hinweise auf dessen Verbleib habe feststellen können, sie habe nichts gefunden, weder das Fahrrad noch die Katze noch ihren Mann, nur sein Mobiltelefon, auf einer Ecke des Schreibtisches, was ihr zwar seltsam erschienen sei, doch man wisse ja nie, weshalb sie es liegen lassen habe, dass sie sich da gedacht habe, das Beste wäre es, jetzt schlafen zu gehen und bis zum nächsten Morgen zu warten, worauf sie wieder nach Hause gefahren sei und sich hingelegt habe, ohne jedoch einschlafen zu können, dass sie noch einmal aufgestanden sei und einige Zeit im Dunkeln in der Bibliothek gesessen habe, wie lange, wisse sie nicht, doch als sich auch da die Müdigkeit nicht habe einstellen wollen, habe sie sich entschieden, eine Schlaftablette zu nehmen, das tue sie selten, eigentlich nie, doch außergewöhnliche Umstände erforderten außergewöhnliche Maßnahmen, sie habe ja auch an das Mädchen denken müssen, die Abwesenheit des Vaters sei schon beunruhigend genug, dass sie dann geschlafen habe, ja, jedoch nicht gut, wie man das halt so kennt, und dass sie dann, da ihr Mann am heutigen Morgen noch immer nicht wieder aufgetaucht war und im Hinblick auf das, was sie bei ihrem Besuch in seinem Büro festgestellt habe, sich durchgerungen habe, hier anzurufen, bei der Polizei. Frau H. schließt die Augen und atmet tief durch, auch Faber merkt, dass er die Luft angehalten hat, und ist froh um diese Pause. Die Stille, die sich in diesen Sekunden im Raum ausbreitet, hat jedoch etwas Unvollständiges, ein Sirren liegt in der Luft, womöglich nur der Nachhall des eben Erzählten. Doch zur Sicherheit wartet Faber, er schenkt aus der Karaffe, die bislang unberührt zwischen ihnen auf dem Tisch gestanden hat, zwei Gläser Wasser ein und schiebt Frau H. eines über den Tisch hin zu, lässt es jedoch nicht los, nicht, als sie zuerst abwesend danach greift, und auch nicht, als sich ihr Griff fester darum schließt und sie es in ihre Richtung zu ziehen versucht, sodass Wasser über den Rand und auf den Tisch schwappt, und er lässt nicht los, bis Frau H. aufsieht und ihn an und er das Glitzern in ihren Augen erkennt, und sie fragt mit zitternder Stimme, was ist. Sagen Sie es mir, erwidert Faber und lockert vorsichtig den Griff um das Glas, warum diese Unruhe. Sie glauben mir nicht, ihr Ton ist schon wieder sicherer, als sie das sagt, eine kurze Unsicherheit nur davor, Sie nehmen mich nicht ernst, für Sie bin ich nur eine von vielen, eine, die Aufmerksamkeit sucht. Sie trinkt hastig einen Schluck Wasser, bevor sie weiterspricht, lässt Faber dabei jedoch keinen Moment aus den Augen, sie sagt, Ihre Vierundzwanzig-Stunden-Regel interessiert mich nicht, ich kenne meinen Mann und ich liebe ihn und ich weiß, dass es keinen guten Grund gibt für ihn, nicht zu einer Verabredung zu erscheinen, es sei denn, jemand hindere ihn daran, er würde nicht vor uns davonlaufen, vor seiner Familie, ich bewahre seinen Pass zu Hause zusammen mit meinem auf, falls Sie gleich danach hätten fragen wollen, sie haben noch heute Morgen nebeneinander in der Schublade gelegen, seiner und meiner, und deshalb will ich, dass Sie ihn suchen, jetzt, sofort, und nicht erst dann, wenn Ihr beschissenes Protokoll es Ihnen erlaubt. Sachte, sachte, hätte Faber beinahe gesagt, er ist um Beschwichtigung bemüht, stattdessen sagt er, ich glaube Ihnen durchaus, Frau H., ich sehe nur die Dringlichkeit nicht, wie ich Ihnen bereits erklärt habe, können wir bei Vermisstenfällen, die volljährige Personen betreffen, erst dann eine Untersuchung einleiten, wenn Verdacht auf ein Verbrechen besteht, und das tut es hier nicht. Aha, sagt Frau H., so ist das, und fragt dann, ob sich an seiner Prioritätensetzung vielleicht etwas ändere, wenn sie ihm sage, dass es im Büro ihres Mannes – der, wie sich im Folgenden herausstellt, Gutachter ist, wofür, erschließt sich Paul Faber aber nicht –, dass es also im Büro des Gutachters, das ihrem Kenntnisstand nach der letzte bekannte Aufenthaltsort des Vermissten ist, dass es dort Flecken gebe, Spritzer eher, die von Blut stammen könnten. Frau H. sagt das zögerlich, verhalten, und Paul Faber fragt sich und schließlich sie, weshalb sie das nicht am Telefon schon gesagt habe oder zumindest gleich zu Beginn ihres Gesprächs. Ohne ihre Antwort abzuwarten, verlässt er den Raum, um die landesweite Fahndung nach dem vermissten Mann – die Überprüfung von Krankenhauseinweisungen, Taxifahrten und Hotelübernachtungen, die Analyse von Telefonverbindungen und Bankauszügen und, mit Frau H.s Zustimmung, das Vorbereiten der Pressemeldung mit der Bitte um Hinweise aus der Bevölkerung – einzuleiten und zusammen mit der Hundestaffel auch ein Team der Kriminaltechnik zum Büro des Gutachters zu schicken, wobei es ein Glück ist, dass Frau H. den Zweitschlüssel für diesen Raum bei sich hat und ihm diesen ohne Umstände aushändigt, weil ja alles zum Wohl ihres Mannes geschieht und sie, wie sie sagt, gerne auch etwas tun möchte und nicht nur dasitzen und warten. Daraufhin bittet Faber Frau H., ihn in sein eigenes Büro zu begleiten, wo er anfängt, die erforderlichen Formulare auszufüllen. Die Frage nach Familie und Freunden haben sie bereits geklärt, Faber fordert sie auf, deren Namen aufzuschreiben, verzichtet jedoch darauf, sie noch einmal nach dem Vater des Gutachters zu fragen. Als er sich nach möglichen Feinden ihres Mannes erkundigt, erwidert sie, die habe er eigentlich nicht. Auf Fabers Bitte, dieses eigentlich näher zu erläutern, erwidert Frau H., dass der Gutachter eben Gutachter sei und es nun einmal in der Natur eines Gutachtens liege, bei der einen oder anderen Partei Unmut auszulösen. Es hat hin und wieder Anrufe gegeben, sagt sie, anonyme, unfreundliche, und den einen oder anderen Brief – sie vermeidet es, das Wort auszusprechen, aber Paul Faber versteht durchaus, dass sie Drohbrief sagen will –, doch mein Mann macht ja nur seine Arbeit und weiter nichts. Er bittet sie, etwas mehr von dieser Arbeit zu erzählen, worauf sie sagt, sie wisse eigentlich kaum Bescheid darüber und ob er denke, dass das wichtig sei. Es wäre nachlässig, entgegnet Paul Faber, in diesem Stadium etwas auszuschließen, man wisse ja nie. Es stellt sich jedoch heraus, dass Frau H. – die jetzt, da man ihre Besorgnis ernst zu nehmen scheint, gelöst wirkt, ruhig wie zuvor auch schon, jedoch mit weniger Nervosität in ihrem hellgrünen Blick, weniger Spannung – tatsächlich nicht viel mehr über die Arbeit ihres Mannes berichten kann, außer dass er gerade im Auftrag der Gemeinde das Gutachten zum See erstellt. Von diesem Gutachten hat natürlich auch Paul Faber schon gehört und in der Zeitung gelesen, so genau weiß er das jetzt nicht mehr, doch jedenfalls ist auch ihm, wie fast allen einigermaßen am Zeitgeschehen interessierten Bewohnern der weiteren Region, bekannt, dass, nachdem man dreißig Jahre früher gegen eine Überdüngung der Gewässer gekämpft hat, heute dank dem Mitte der Achtziger eingeführten Phosphatverbot für Waschmittel und kraft einer Effizienzsteigerung der Abwasserreinigungsanlagen inzwischen das Gegenteil zum Problem geworden ist. Die Fischer klagten in den vergangenen Jahren immer wieder über den Nährstoffmangel im See – allem voran fehle es an Phosphor –, da dieser das Algenwachstum limitiert und auf ihre Fangquoten drückt. Sie sehen ihre Existenzgrundlage bedroht und forderten erst kürzlich die Einführung eines unteren Phosphorgrenzwerts, worauf postwendend der Aufschrei vonseiten der Natur- und Umweltschutzorganisationen folgte. Von verschiedenen Parteien bedrängt, gab die Gemeinde daraufhin ein Gutachten in Auftrag, das abklären sollte, wie den verschiedenen Nutzungsinteressen – der Trinkwassergewinnung, dem Tourismus, der Erhaltung der Biodiversität und nicht zuletzt auch der Fischerei – am besten Rechnung getragen werden kann. Das Gutachten ist noch ausstehend und der zuständige Gutachter jetzt allem Anschein nach verschwunden, denkt Paul Faber, der der Frau ebendieses Gutachters gegenübersitzt. Sie spielt mit ihrem langen blonden Zopf, es gibt diese vier Fischer aus der Region, sagt sie zögerlich, drei junge und einen alten, die vom Fischen leben, die für eine Düngung kämpfen und Druck zu machen versuchen, worauf Faber sich nach den Namen erkundigt, mit der Absicht, sich demnächst mit ihnen zu unterhalten. Aber die weiß ich doch nicht, sagt Frau H. und fragt, ob man sie noch brauche, weil sie doch Clara, die Tochter, vom Ballett abholen müsse und sie habe ja jetzt alles gesagt. Diese Skulptur, fragt Faber, es gibt noch Dinge, die er wissen muss, bevor die Frau gehen kann, ist sie wertvoll, ich meine, wäre es möglich, dass sie gestohlen werden sollte und ihr Mann die Diebe dabei überrascht hat, dass er deshalb verschwinden musste. Die Katze, fragt Frau H. mit ungläubiger Miene, als habe Faber chinesisch gesprochen oder ungarisch, nein, die hat nur persönlichen Wert, wer sollte denn die stehlen. Faber weiß es auch nicht, es war ja nur eine Idee, der Versuch, einen Zusammenhang herzustellen, eine mögliche Richtung, eine Spur auszumachen, und er fragt sie, was eigentlich die Rolle dieser Kassette sei, weshalb sie überhaupt danach gesucht habe. Sehen Sie, versucht sich Frau H. an einer Erklärung, diese Kassette, alle seine Kassetten sind wichtig für meinen Mann, ich hoffte, diese würde mir verraten, was geschehen ist, Sie werden sehen, Sie werden verstehen, ich hoffte, ich könnte sie hören und herausfinden, doch sie ist nicht da, er muss sie mitgenommen haben, derjenige, der meinen Mann … Sie ließ den Satz unbeendet, und in den Sekunden der Stille, die folgten, dachte Paul Faber, oder Ihr Mann hat sie aus genau dem Grund nicht zurücklassen wollen, weil sie ihm wichtig ist und er sie noch braucht, wo immer er jetzt ist. Danke für Ihre Hilfe, sagt er jedoch nur und begleitet Frau H. nach unten vor die Tür und über den Parkplatz zur Kriminaltechnik, man müsse ihr, erklärt er, zu Vergleichszwecken die Fingerabdrücke nehmen, das verstehe sie bestimmt, worauf sie entgegnet, dass sie im Büro ihres Mannes nichts angefasst habe, trotzdem, sagt Faber, und es bleibt dabei. Bevor er sich verabschiedet, bittet er Frau H., sich verfügbar zu halten, ich werde mich auf jeden Fall wieder bei Ihnen melden, möglicherweise heute schon, und geht dann wieder in sein eigenes Büro zurück, jedoch nicht ohne die Gelegenheit zu nutzen und auf dem kurzen Weg über den Parkplatz eine Zigarette zu rauchen, was er in seinem Zimmer nicht mehr darf.
Noch in der Nacht hat er in der Schublade in der Küche den Schlüssel zu seinem Zimmer herausgesucht. Er hat ihn noch nie zuvor benutzt, dazu bestand keine Notwendigkeit. Doch jetzt, mit der Figur auf seinem Fensterbrett, ist es ihm lieber, wenn er das Zimmer abschließen kann. Es gibt niemanden, der es betreten würde, doch das Gewicht des Schlüssels in seiner Hosentasche vermittelt ihm ein Gefühl von Sicherheit. Man weiß nie, denkt er und schließt die Tür hinter sich ab.
Paul Faber bleibt vor dem Haupteingang stehen, um die Selbstgedrehte fertig zu rauchen, und bereut, dass er sich am Morgen nicht die Zeit genommen hat, die wärmere Jacke aus dem Schrank auf dem Dachboden zu holen, weil das für Ende November ungewöhnlich milde Wetter über Nacht umgeschlagen hat und von den Dächern jetzt kurze Eiszapfen hängen, er schaut in den grauen Himmel hinauf, und einen Moment dünkt es ihn, die Luft rieche nach Schnee. Zurück an seinem Schreibtisch, erkundigt sich Paul Faber bei den Kollegen, die er mit den Nachforschungen zum Gutachter betraut hat, nach ersten Ergebnissen, erhält jedoch nur negative Rückmeldungen. Keine Einweisung in ein Krankenhaus, keine Hotelübernachtung oder Taxifahrt für einen Mann, auf den die Beschreibung passt. Den Unterlagen der Bank entnimmt er nur, dass der Gutachter weder im letzten Monat einen größeren Betrag abgehoben noch in den letzten vierundzwanzig Stunden seine Kreditkarte benutzt hat, um eine Zugfahrkarte oder ein Flugticket zu kaufen oder ein Auto zu mieten oder überhaupt etwas anderes zu tun. Er ruft auf seinem Computer das E-Mail-Programm auf und beantwortet die Mitteilungen, die seiner unmittelbaren Aufmerksamkeit bedürfen, löscht andere und beginnt eine Nachricht an seine Schwester, die sich kürzlich nach Ava erkundigt hat, doch die Worte fehlen ihm und er schickt sie nicht ab. Als die Uhr am Kirchturm Mittag schlägt, legt Paul Faber die Papiere zur Seite, weil er eine Pause benötigt und eine Dosis Nikotin. Zum Rauchen muss er wieder vor die Tür, und da er keinen Hunger verspürt, holt er sich anschließend in der Cafeteria nur eine Tasse Kaffee und einen Apfel und geht in sein Zimmer zurück, wo er sich am Waschbecken etwas Wasser ins Gesicht spritzt, um die Müdigkeit zu vertreiben. Und obwohl er nicht in den Spiegel schaut, sieht er die eigentlich noch jungen Züge vor sich, die ihm daraus entgegensehen würden – das halblange dunkelblonde Haar, die eng stehenden blauen Augen hinter der Brille mit den verschmierten, runden Gläsern, der breite Mund mit den schmalen Lippen und vorzeitige Falten, wobei er nicht weiß, ob sie vom Lachen kommen oder von den Sorgen – und die ihm fremd sind, zunehmend fremder werden, und nicht zum ersten Mal denkt er, dass dies der Polizist Faber ist, und er weiß nicht, wann ihm der Mensch Faber abhandengekommen ist. Er denkt an Ava und fragt sich einmal mehr, ob sie möglicherweise doch recht gehabt hat. Manchmal kann er sie ganz deutlich vor sich sehen, wie sie ihre Sachen zusammenpackt und geht, wie sie sich noch einmal umdreht in der Tür, um ihm einen letzten Blick zuzuwerfen aus ihren verschiedenfarbigen Augen, grün das rechte, taubengrau an diesem Tag das linke, und er kann hören, was sie sagt, ganz deutlich, und bei dieser Erinnerung wird ihm regelmäßig schlecht. So auch jetzt, und er trinkt noch einen Schluck Wasser, um den sauren Geschmack, der ihm die Speiseröhre hochsteigt, zu bekämpfen. Als er sich an den Schreibtisch setzt, kippt er als Erstes den Bilderrahmen neben dem Computer mit der Glasseite nach unten, sodass ihn ihr anklagender Blick nicht länger ablenkt, legt den Apfel neben die Tastatur, wo er auch in einer Woche noch liegen wird, und unternimmt dann einen halbherzigen Versuch, den für das Gespräch mit Frau H. unterbrochenen Bericht fertig zu schreiben, wobei es ihm jedoch nicht gelingt, sich auf die Angelegenheit zu konzentrieren, weil stattdessen das Gesicht des Gutachters seine Gedanken durchkreuzt, gefolgt von Avas vorwurfsvollem Blick, und ihn das Hin und Her der Kollegen auf dem Flur ablenkt und überhaupt die Luft zu dick zum Atmen ist. Paul Faber entscheidet, zuerst zu Frau H. nach Hause und anschließend zum Büro des Gutachters zu fahren, wovon er sich zweierlei erhofft, dass nämlich er sich ein Bild machen könne vom Vermissten, das umfassender wäre als die Fotografie, die Frau H. ihnen netterweise zur Verfügung gestellt hat, und dass weiter sich die Nebel lichteten, die seinen Kopf ausfüllen und geordnetes Denken unmöglich machen. Er sucht die Telefonnummer heraus, die Frau H. hinterlassen hat, wählt und lässt es dann, den Blick aus dem Fenster auf die graue Wolkendecke, die sich darunter ausbreitende Stadt gerichtet, ohne jedoch etwas zu sehen, lange klingeln, es nimmt niemand ab. Ich fahre trotzdem hin, entscheidet er, nachdem er die Adresse in den Unterlagen nachgesehen hat, er kennt die Gegend, das gemeinsame Zuhause von Gutachter und Frau H. liegt auf dem Hügel über der Stadt, dort vorbeizufahren, bedeutet nur einen kleinen Umweg, wenn er von der Dienststelle zum Büro des Mannes fahren will.
Obwohl ihm bewusst ist, dass in den Zeitungen unmöglich bereits etwas stehen kann, geht er am frühen Nachmittag zum Laden an der Ecke und kauft alle Zeitungen, die sie dort um diese Tageszeit noch haben. Weder im Radio noch im Fernsehen haben sie etwas berichtet, und auch im Internet hat er keine Meldung gefunden. Trotzdem, denkt er, sicher ist sicher und sicher ist besser, legt aber die Zeitung mit den fremden Schriftzeichen trotzdem wieder zurück, weil er zugeben muss, dass das zu weit geht. Er sieht der Frau des Besitzers an, dass sie ihn gern fragen würde, wofür er die vielen verschiedenen Zeitungen braucht, doch sie ist Kurdin oder Syrerin, er weiß es nicht genau, jedenfalls spricht sie die Sprache kaum, einzig die Zahlen beherrscht sie, weshalb sie nur die Kasse bedient und außer dem Preis der zu bezahlenden Waren nichts sagt. Auch jetzt nicht, und er ist froh, dass er sich nicht mit ihr unterhalten muss, es wäre ihm lieber, das Reden bliebe ihm ganz erspart. Es ist nicht, dass ihm die Worte fehlen, nur braucht er sie jetzt dringender in seinem Kopf. Um für sich den Vorabend zu beschreiben, wieder und wieder, die Abläufe auf Fehler zu überprüfen, minutiös, um herauszufinden, ob er etwas anders hätte machen können und wann der richtige Zeitpunkt gewesen wäre, um … Es geht mir dabei nicht um Rechtfertigung, sagt er zu sich selbst, er ist alt genug, um zu wissen, dass er die Geschichte nicht umschreiben kann. Was er zu erreichen erhofft: Verständnis. Nicht von jemand anderem und nicht für sein Handeln, sondern einzig von sich allein und für die Mechanismen, die das Handeln erforderlich gemacht und ein bestimmtes Ergebnis erzwungen haben. Was er sich fragt: an welchem Zeitpunkt ihm die Kontrolle über die Mechanismen entglitten ist. Und: ob es danach noch eine Gelegenheit gegeben hätte, die Kontrolle wieder zurückzugewinnen. Doch dafür braucht er Worte, lange, kurze, Worte, die er unablässig in seinem Kopf hin- und herschiebt, gegeneinander abwägt, austauscht, in immer neue Relationen setzt. Um die Möglichkeit zu prüfen, dass das Ergebnis ein anderes gewesen wäre, hätten die Mechanismen eine andere Reihenfolge gehabt.
reichenden Regalen Hunderte von Büchern, Belletristik, wie Faber erkennt, aber auch Fachliteratur, eine ganze Reihe von Lexika, Bücher über Fahrräder, Zeitschriften zur Gartengestaltung und auf einem kleinen Tisch in der Fensternische Ernst Haeckels und ein dicker Band mit dem Titel der, wie Faber mit einigem Erstaunen feststellt, deutliche Gebrauchsspuren zeigt und somit offensichtlich nicht nur zur Zierde daliegt. Er geht durch eine weitere Tür, nicht ohne sich abermals zu fragen, was ein Mann wohl begutachten muss, um sich in einem solchen Haus niederlassen zu können, durch die er in eine geräumige Diele gelangt, von der eine Treppe in die oberen Stockwerke abgeht, er sieht, dass die Anziehsachen der Mädchen im ganzen Eingangsbereich verstreut liegen, eine Jacke ist vom Haken gerutscht, ein Schal am Fuß der Treppe, Claras rote Mütze auf dem ersten Treppenabsatz, und dann hört er ihre Stimmen von oben und nimmt an, dass dort die Schlafzimmer sind, ein Spielzimmer für Clara vielleicht, Badeund Ankleidezimmer, und er entscheidet sich dagegen, seinen Rundgang durch das Haus in diese privaten Räume auszudehnen, er will das Entgegenkommen der Frau nicht über Gebühr ausreizen, und so sucht er den Weg in die Küche, öffnet zuerst die Tür in ein großräumiges Bad mit frei stehender Badewanne und dann zu einem Raum, bei dem es sich um ein Gästezimmer handeln könnte, bevor er schließlich Frau H. leise summen hört und hinter der nächsten Tür auch auf sie stößt. Sie wohnen schön, sagt er und hofft, dass sie aus seinem Ton nicht etwa Neid heraushört, sondern eher die Bewunderung, die erein Gespräch zu beenden, nie verärgert auseinander- oder abends zu Bett zu gehen, ich habe mein Versprechen gebrochen, und jetzt ist es zu spät, und mir ist noch immer nicht klar, wie Ihnen das weiterhelfen soll, ob Sie jetzt glücklich sind, nun, da Sie es wissen, ob es Sie befriedigt, nein, sagen Sie nichts, Sie tun nur Ihre Arbeit, ich weiß, Sie wollen helfen, Sie sind verpflichtet dazu, abzuklären, ob es für meinen Mann einen Grund geben kann, all das hier zurückzulassen, seinem Leben den Rücken zu kehren, ich kann das verstehen, aber ich kann Ihnen auch versichern, dass es diesen Grund nicht gibt, ich liebe meinen Mann und ich weiß, dass er mich liebt, Clara, dieses Haus, den Garten, den er ganz allein pflegt, er würde nicht freiwillig gehen, doch mir ist auch klar, dass ich das nicht kann, Sie allein entscheiden, ob Sie mir glauben oder nicht, ich kann nicht mehr und vielleicht wäre es deshalb jetzt das Beste, wenn Sie gingen, mich und meine Tochter für den Moment in Frieden ließen, Sie können mich anrufen, später, an einem anderen Tag, doch ich wäre jetzt gern etwas allein, sagt Frau H. und dreht sich zu Paul Faber um, ich habe Clara, um die ich mich kümmern muss, ihr Vater ist nicht mehr da, ich muss jetzt eine bessere Mutter sein.