Federica de Cesco
Fern von Tibet
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Ich erwachte, streckte mich und blinzelte. Die Sonne schien, und es duftete nach Kaffee. Ich brauchte keinen Wecker. Der Schulstress riss mich pünktlich jeden Morgen um halb sieben aus dem Schlaf. Meine Eltern sind geschieden. Ich wohnte mit meiner Mutter in einem Neubauviertel am Stadtrand von Zürich: vier kleine Zimmer, Küche, Bad. Nicht übel. Aber der Schulweg war lang, vier Kilometer in die nächstgelegene Vorstadt, bei jedem Wetter, Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant, dann die gleiche Strecke wieder zurück. Früher hatte ich ein Moped, da brauchte ich mich nicht so anzustrengen, aber heutzutage wurden Schüler, die mit dem Moped fuhren, schief angesehen. Also bekam ich ein Rad, mit allem Schnickschnack, stand morgens eine halbe Stunde eher auf und strampelte. In die Stadt fuhr ich normalerweise mit der Straßenbahn. Der Verkehr war schlimm. Meine Mutter hatte Angst, dass ich überfahren würde. Tatsächlich hatten manche Autofahrer das Zeug zum potentiellen Serienkiller, hauptsächlich am Freitagabend.
Ich stellte mich unter die Dusche, zog frische Jeans und ein sauberes T-Shirt an. Ich brauchte fünf Minuten, um mein Haar trocken zu fönen; eigentlich hätte ich es längst wieder schneiden sollen – meine Mutter sagte: »Dein Haar ist das Schönste, was du hast«, und das bedeutete für mich, dass ich nicht besonders toll aussah.
Sie stand in der Küche, als ich kam. Sie war noch verschlafen, mit einer Zigarette im Mund. Ich fand es scheußlich, dass meine Mutter rauchte, und riss sofort das Fenster weit auf. Sie stieß den Rauch durch die Nase.
»Bin ich dir widerlich?«
»Es stinkt.«
»Ich kann mir das nicht von einem Tag auf den anderen abgewöhnen«, erwiderte sie. »Und wenn ich das Rauchen aufgebe, werde ich fett.«
Meine Mutter war strichdünn, fast ohne Busen, mit einem ganz flachen Bauch. Sie trug einen Bürstenschnitt; von hinten sah sie wie ein Junge aus.
»Ein bisschen Willen gehört schon dazu«, sagte ich.
Sie steckte eine Scheibe Weißbrot in den Toaster.
»Du hast gut reden, Alice. Hab du erst mal einen Beruf, und das ganze Zeug am Hals … und eine Kasse, die abends stimmen muss.«
Meine Mutter war Verkäuferin in der Schreibwarenhandlung Peter. Das Geschäft hatte mehrere Filialen. Meine Mutter arbeitete im Hauptgeschäft, in der Zürcher Altstadt, ganz nahe am See.
Die Kaffeemaschine blubberte. Ich holte Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank.
»Was macht ihr heute in der Schule?«, fragte meine Mutter.
»Ach, nichts«, brummte ich. »Wir sitzen einfach nur da.« Die Schule: ein Bau aus den siebziger Jahren, eine richtige Schülerfabrik. Beton, Glas, Kunststoff, dazwischen ein Pausenhof, wo man im Sommer schwitzt und sich im Winter eine Lungenentzündung holt. In den letzten Jahren hatten die Schüler dort die Wände besprayt. Den ersten war es an den Kragen gegangen: Strafgelder, Verweise. Dann rückten ganze Kommandos nachts an, schrieben gemeine Sprüche an die Wände. Schließlich wurde es dem Schulamt zu teuer. Man sagte den Schülern, sie dürften die Wände »dekorieren«, ihrer Fantasie »freien Lauf« lassen. Aber was erlaubt ist, macht keinen Spaß mehr. Ein paar Schüler bemalten die Wände mit Comic-Strip-Monstern, dann war endgültig Schluss.
Ich schloss gerade mein Fahrrad mit der Kette, als Frau Richter über den Schulhof auf mich zukam. Frau Richter war unsere Klassenlehrerin.
Ich ahnte Böses.
»Alice.«
Ich blieb stehen, senkte den Kopf.
»Ich möchte einen Augenblick mit dir reden.«
Sie sagte es in dem Ton, den sie immer anschlug, wenn sie etwas durchsetzen wollte. Ich versuchte, sie zu ignorieren. »Alice, was ist los? Früher warst du so gut in Algebra, aber deine letzte Mathearbeit ist eine Katastrophe. Du meldest dich kaum, deine Aufsätze sind schlecht. Dabei ist dieses Jahr so wichtig für dich! Wir wollen doch beide, dass du nächstes Jahr noch aufs Gymnasium wechseln kannst.«
Ich zwirbelte an einer Haarsträhne herum. Mir war egal, ob ich es schaffte oder nicht. Wozu auch?
»Meine Mutter sagt, dass es sich für ein Mädchen nicht lohnt. Sie hat mit ihrem Chef gesprochen. Im Frühjahr kann ich als Lehrling bei ihm anfangen.«
»So?«, meinte Frau Richter streng. »Das finde ich aber sehr schade. Ich hatte gehofft, du würdest noch das Abitur machen.«
Ich zog die Schultern hoch. Eine Zeit lang war ich auf dem besten Weg gewesen. Und plötzlich nicht mehr weitergegangen. Irgendwie hing das mit meinen Eltern zusammen. Der ewige Krach damals, bevor es zur Scheidung kam. Entweder schrien sie sich an, oder sie redeten kein Wort miteinander, nicht einmal bei Tisch. Ich wusste, dass beide in dieser Zeit zu einem Eheberater gingen. Was dort passierte, wusste ich nicht. Wahrscheinlich saßen sie nur da und redeten über ihre Probleme. Eines Tages hat mein Vater dann seine Sachen gepackt und die Scheidung beantragt. Doris, meine Mutter, hat jubiliert: So, jetzt muss er mir Geld geben, dachte sie. Irrtum: Er hatte nur für mich zu zahlen. Worauf wir in eine billige Wohnung ziehen mussten und Doris wieder ganztags arbeitete. Und zu dem ganzen Ärger kam noch die Sache mit Stefan, meinem neuen Freund. Kurzum, ich hatte alles Mögliche im Kopf, nur nicht die Schule. Und was die Richter sagte, war mir egal.
»Die Ausbildung ist wichtig, Alice. Sie ist das Kapital deines Lebens.«
Blabla, dachte ich und blieb stumm wie ein Fisch.
»Dir fehlt es an Ehrgeiz«, fuhr Frau Richter eindringlich fort. »Ein intelligentes Mädchen wie du sollte ein Ziel vor Augen haben.«
Welches Ziel? Mich interessierte im Augenblick nicht viel. Außer Stefan vielleicht, und der auch nur in Grenzen.
»Hallo, Pocahontas!« So hatte er mich damals angesprochen. Ich hatte den Film nicht gesehen – über das Alter war ich hinaus –, aber die Bilder waren überall, in jedem Kaufhaus und in jeder Zeitschrift.
»Stuss!«, sagte ich.
Stefan kam aus der Parallelklasse. Er war nicht sehr groß, aber sportlich und gut gebaut. Er hatte helle Augen, lockiges braunes Haar und trug einen kleinen goldenen Ring im linken Ohrläppchen. Viele Mädchen waren scharf auf ihn, weil er in einer Band sang, bei den Hard Liners. Und zwar ziemlich gut, wie alle Leute erzählten. Mich hatte er wie Luft behandelt. Bis zu jenem Morgen, an dem er plötzlich kurz vor dem Unterricht vor mir stand.
»Rote Schwester böse auf weißen Bruder?« Stefan rollte dramatisch die Augen. »Kommt gleich mächtiger Vater mit schlimmem Tomahawk?«
Ich musste lachen; er hatte eine entwaffnende Art. Weil ich ein bisschen anders aussehe als andere, werde ich oft angemacht. Meistens hält man mich für eine Thailänderin. Auf das Nachgepfeife und auf so dumme Sprüche wie »Na, Süße, wie wär’s mit einem Body-Body?« reagiere ich längst nicht mehr.
»Hör auf mit dem Quatsch. Ich komme aus Tibet.«
»Ist ja egal. Ein paar Federn im Haar – und fertig ist die Squaw!«
»Sehr witzig«, sagte ich.
Er merkte, dass ich genervt war.
»Entschuldige. War nicht böse gemeint. Wollte dir ja nur sagen, dass du besonders aussiehst.«
»So?«, meinte ich schnippisch.
»Apart«, sagte er. »Die anderen haben alle den gleichen Kopf.«
Ich dachte, halt jetzt endlich den Mund.
»Du bist wirklich ganz schön arrogant. Schau doch mal selbst in den Spiegel!«
»Ich bin kurzsichtig.«
»Der scheint hinter dir her zu sein«, sagte meine Freundin Jessica später. »Pass bloß auf, der knutscht mit jeder.«
Ich beneidete Jessica um ihre großen blauen Augen, ihre blonde Naturkrause. Sie selbst fand sich abscheulich.
»Ich habe eine platte Nase und Lippen wie ein Entenschnabel!«
Wir sprachen eine Weile von Stefan. Er war in der Schule keine Leuchte, gab sich aber auch nicht viel Mühe. Sein Vater war Direktor einer Papierfabrik; der Sohnemann sollte später die Berufsschule besuchen und dann das Unternehmen weiterführen. Der Chefsessel war ihm schon vorgewärmt. Inzwischen befasste er sich mit Rockmusik.
Ich traf Stefan in der Pause wieder. Er kam, als Jessica gerade auf dem Klo war und ich draußen auf sie wartete. Ich saß, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, und aß einen Apfel; er setzte sich neben mich, genau da, wo Jessica noch vor einer Minute gesessen hatte.
»Seit wann bist du eigentlich in der Schweiz?«, wollte er wissen.
»Ich wurde als Baby adoptiert.«
»Was war denn mit deinen Eltern?«
»Sie mussten Tibet verlassen.«
»Warum?«
Ich hatte diese Fragen schon tausendmal gehört.
»Weißt du überhaupt, wo Tibet liegt?«, erwiderte ich unwillig.
»In China?«
»Soll ich dir eine knallen?«
Er hob den Arm, um sein Gesicht zu schützen.
»He, lieber nicht!«
Er sah, dass ich richtig wütend war, und fügte hinzu: »Sorry! Über die USA weiß ich ganz gut Bescheid. Ich kann dir genau sagen, wo New York und Los Angeles liegen. Aber von Asien habe ich keine Ahnung …«
»Dann hat es keinen Sinn, dass wir darüber reden.«
»Sei doch nicht so«, sagte er. »Woher soll ich auch etwas darüber wissen? Unser Lehrer hat gesagt, dass Tibet heute zu China gehört, obwohl das den Tibetern nicht passt. Ich glaube, so ungefähr hat er es gesagt, ich habe nicht richtig zugehört. Du bist die erste Tibeterin, mit der ich rede, und obendrein keine echte mehr. Wenn du adoptiert wurdest, bist du ja Schweizerin. Oder nicht?«
»Stimmt«, antwortete ich matt.
»Und deine richtigen Eltern? Wo sind die jetzt?«
Ich verlor allmählich die Geduld. Es gab Leute, denen man wirklich alles erklären musste. Jessica hatte schon Recht, Stefan war tatsächlich nicht der Hellste.
»Die sind auf der Flucht gestorben. Sie mussten über den Himalaja. Kaum zu glauben, was?«
»Was war denn? Krieg?«
Ich nickte.
»Die Chinesen sagen, Tibet habe vor achthundert Jahren zu China gehört, was eine riesengroße Lüge ist. Tibet war nur eine Zeit lang unter mongolischer Herrschaft. Aber weil das Gebiet strategisch wichtig ist und Bodenschätze hat, besetzten die Chinesen das Land im Jahr 1959; sie behandeln die Bevölkerung seither wie Yakmist.«
»Wie was?«
»Wie Yakmist! Ein Yak ist eine Art Kuh mit langen Haaren und lebt im Himalaja.«
»Ach so. Und warum sind deine Eltern geflohen?«
»Das Leben in Tibet muss ziemlich furchtbar gewesen sein. Tausende von Tibetern gingen ins Exil. Viele wurden dabei getötet. Ich weiß nicht, unter welchen Umständen meine Eltern ums Leben kamen. Ich weiß auch nicht, ob ich Geschwister hatte, ich war ja noch ein Baby. Jedenfalls kümmerten sich andere Flüchtlinge um mich. In Dharamsala – das ist eine Stadt an der indischen Grenze – landete ich in einem Krankenhaus. Verwandte waren nicht aufzutreiben. Also schickte mich das Rote Kreuz in die Schweiz. Ich kam ins Kinderdorf Trogen und wurde zur Adoption freigegeben.«
»Und jetzt heißt du Alice Hofer.«
»Stört dich das?«
»Mich? Überhaupt nicht! Ich finde das alles ziemlich spannend.«
Stefan reckte seine langen Arme und gähnte.
»Uaaah! Jetzt habe ich sogar was dazugelernt. Triffst du dich mit anderen Tibetern?«
»Wozu?«
»Gedankenaustausch.«
Ich zog die Schultern hoch.
»Interessiert mich nicht.«
Nach diesem Gespräch hatten wir uns ein paar Mal getroffen. Natürlich hatte ich schon vorher mit anderen Jungen geknutscht. Aber mit Stefan war es dann zu mehr gekommen.
»Besuch mich doch mal«, hatte er gesagt, »samstags ist bei uns keiner da.«
Das Haus, in dem er wohnte, stand an einem Hang. An diesem Samstag regnete es, der Gartenweg war nass und glitschig.
»Noch vor zwei Jahren konnte man vom Balkon aus über den See blicken«, sagte Stefan. Aber jetzt stand ein Hochhaus davor, das die Sicht völlig versperrte.
»Mein Vater hat ganz schön getobt, als das Projekt bekannt wurde. Er hat sogar bei der Stadtverwaltung Krach geschlagen, aber es hat nichts genützt. Der Klotz wurde uns vor die Nase gesetzt. Und jetzt können uns die Leute in die Schlafzimmer sehen. Nur in meines nicht«, fügte er anzüglich grinsend hinzu.
In Stefans Zimmer herrschte ein Chaos: Jeans, alte Turnschuhe, schmutzige Handtücher, zusammengeknüllte T-Shirts. Ich sah einige Flaschen Bier und Coladosen, einen Stapel Kassetten, eine Stereoanlage und ein Schlagzeug. Überall an den Wänden hingen Poster von Rockmusikern. Das Bett war ungemacht.
Gebrauchsfertig, kam mir in den Sinn.
Wir schmusten ein bisschen. Stefan wollte sofort zur Sache kommen. Ich fragte, ob er einen Gummi habe. Hatte er natürlich nicht. Ich sagte: »Ohne Gummi läuft nichts.« Er schmollte ein wenig.
»Okay«, meinte ich. »Beim nächsten Mal bringe ich welche mit.«
Nach all den Schauergeschichten im Fernsehen und den endlosen Vorträgen meiner Mutter machte es mir nichts aus, in die Apotheke zu gehen und Präservative zu kaufen. Ich war ja schließlich kein Kleinkind mehr.
Eine Woche später klappte es dann besser. Für mich war es das erste Mal. Nachher war ich enttäuscht. Wahrscheinlich hatte ich zu große Erwartungen gehabt, mir die Sache wundervoll und überwältigend vorgestellt. Stattdessen war es ziemlich schmerzhaft gewesen und hatte keine zehn Minuten gedauert, das Theater mit dem Gummi mit einbegriffen. Zum Glück hatte sich Stefan nicht wie der letzte Idiot angestellt. Natürlich erzählte ich Jessica alle Einzelheiten, von A bis Z. Immerhin war ich stolz, dass ich endlich mit einem Jungen geschlafen hatte. Dabei wusste ich nicht einmal, ob ich in Stefan richtig verliebt war.
Nach dem Gespräch mit Frau Richter überraschte er mich von hinten, wirbelte mich herum und verpasste mir einen filmreifen Kuss. Ich stieß ihn weg. Ich hatte davor schon öfter beobachtet, wie er mit anderen Mädchen die gleiche Szene geübt hatte. Es war mir immer peinlich, wenn er vor allen Leuten seine Show abzog.
»Lass das.«
»Hast du Zeit?«, fragte er.
»Wann?«
»Am Freitagabend. Da trete ich mit meiner Band auf. Im Blauen Keller. Wir machen eine Art Musik-Marathon. Hier, ich geb dir schon mal eine Freikarte.«
»Ich weiß nicht, ob ich da Zeit habe.«
Ich verhielt mich ganz cool. Mädchen, die sich anklammerten, bloß weil sie mit einem Jungen im Bett gelegen hatten, waren mir zuwider.
»Hab doch Zeit«, sagte er.
»Ich bin schon mit Jessica verabredet.«
»Die soll auch kommen. Im Blauen Keller gibt es eine Menge cooler Typen. Nicht nur mich.«
Ich zog die Schultern hoch.
»Ich werde es mir überlegen.«