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Serdar Somuncu

DER
ADOLF
IN MIR

Die Karriere einer verbotenen Idee

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Inhalt

Titelseite

Vorwort

Diktaturen der Vergangenheit – und der Gegenwart

Autobiografisches

Im Heim

Schulzeit

Konservatorium

Obdachlos

Die Lesereise mit »Mein Kampf«

Die Jahre nach »Mein Kampf«

Sportpalastrede 2001–2003

Ironie oder Homophobie?

Flüchtlinge

Anfälligkeiten

Hitler Kebab 2003–2005

Schulvorstellungen

Bombendrohungen

Erste TV-Shows

Von »TV total« zu »Quatsch Comedy Club«

Stefan Raab

Quatsch Comedy Club

Zensur

Öffentlich-rechtliche Sender

Kollegen

BILD-Zeitung 2006–2008

BILD-Lesungen

Hatenight 2008–2010

Kreative Autofahrten

Hassprediger 2010–2013

Experimente

Zurück zur Musik und H2 Universe 2013 bis heute

Gangsta-Rap

Bushido

Erstes Album und Missverständnisse

Sexy Revolution & The Politics

Hassprediger Reloaded

Lucke, Sarrazin und Buschkowsky

AfD und Bernd Lucke

Thilo Sarrazin

Heinz Buschkowksy

Islamismus

NSU

Nazis in der DDR

Zu Gast bei No-go-Areas?

Veränderte deutsche Gesellschaft

Welche Chancen birgt die Freigabe von »Mein Kampf«?

Schlusswort

Impressum

Vorwort

Hitler verfolgt mich. Ich laufe. Immer schneller. Immer weiter. Bin außer Atem. Ich drehe mich um, aber ich sehe nichts. Ich laufe weiter. Bis an das Ende meiner Kraft. Bis ans Ende meiner Angst. Immer weiter. Ich drehe mich um, meine Augen scannen jeden Winkel und jede Bewegung. Nur ein kurzer Augenblick Pause. Dann wieder weiter. Schneller, über Asphalt und Stein, über Wiesen, durch Wälder, auf Hügel und durch schmale Gassen.

Obwohl ich mich anstrenge, komme ich keinen Schritt voran. Die Bedrohung kommt immer näher. Sie hat mich schon fast am Kragen, ich spüre ihren Atem in meinem Nacken.

Plötzlich stolpere ich und falle hin. Ich schnaufe, bin vollkommen außer Puste. Meine Lungen schmerzen, aber mein Verstand ist hellwach. Mein ganzer Körper pulsiert und meine Haut ist wie Pergamentpapier, dünn und zum Zerreißen gespannt.

Und dann bohren sich mir Stiefel ins Gesicht. Erst einer, dann zehn, dann Hunderte. Sie treten mir mit voller Wucht auf die Nase, in die Augen.

Ich blute, ich röchle, ich stöhne und alles schmerzt. Mein ganzer Körper verkrampft sich und ich spüre, wie mein Bewusstsein schwindet. Die kalten Sohlen streicheln meine Seele, ihr Profil hinterlässt einen Abdruck in meinem Nervensystem. Ich höre Schreie und Gejaule. Wie von einer Hundemeute, die sich auf ihr erlegtes Opfer stürzt, um es zu zerfleischen. Am Ende wird es immer wärmer und dunkel. Ich ergebe mich den Qualen und genieße es, mir vorzustellen, dass es bald vorbei sein wird. Ich verlasse mich darauf, dass es keine Erinnerung gibt, und wache auf.

Schweißgebadet. Und das nicht zum ersten Mal. Wie in einer Endlosschleife träume ich diesen Traum. Hitler verfolgt mich und ich gehe daran zugrunde.

Es ist nun schon Jahre her, dass ich mit meinen öffentlichen Lesungen aus Adolf Hitlers »Mein Kampf« auf Tour war und immer noch quält mich ab und zu dieses merkwürdige Überbleibsel aus jener Zeit, entstanden aus der realen Bedrohung, die ich damals fast tagtäglich erlebt habe. Es ist zu einer Bürde geworden, die ich nicht mehr loswerde: Ich habe eine diffuse Angst um mich und mein Leben und die böse Ahnung, dass das, was ich mir in meinen schlimmsten Träumen vorstelle, eines Tages zur grausamen Realität wird.

Gleichzeitig aber verstärkt sich in mir mit jeder Sequenz, die ich träume, die Hoffnung darauf, diese Angst beherrschen zu können, sie in den Griff zu bekommen, um sie in Tapferkeit umwandeln zu können. Wie ein Artist, der die Höhe sucht, um den Absturz nicht zu fürchten. Ich balanciere auf einem sehr dünnen Seil, ich sehe das Ziel schon vor Augen, aber ich weiß auch, dass jede falsche Bewegung, jeder ungeplante Moment und jeder Zufall mich zu Fall bringen könnten und ich in den Abgrund falle, den ich selbst gesucht habe.

Eine seltsame Gemengelage ist in mir entstanden und gerade das ist das Besondere, das heute meinen Blick auf das ganze Thema Hitler auszumachen scheint. Ich habe auf der einen Seite die Berührungsangst verloren, die sich einem wie ein unüberwindbares Hindernis in den Weg stellt, wenn man sich mit Hitler auseinandersetzt, und auf der anderen Seite habe ich eine viel diffusere Angst entwickelt, weil ich weiß, wie unberechenbar die Auswirkungen seiner Ideen auch heute noch sein können.

Weshalb ich mich auf dieses Thema eingelassen habe, weiß ich nicht mehr. Ich bin oft danach gefragt worden und ich habe so oft darauf geantwortet, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Meistens habe ich eine auswendig gelernte Antwort wiederholt. Es war das Einfachste, nicht darüber nachzudenken, und es war darüber hinaus zu schmerzhaft für mich, in die Tiefe zu gehen und mich zu fragen, wo der Hitler vielleicht in mir sein könnte, den ich allabendlich auf der Bühne rausgelassen habe wie ein Dompteur sein Raubtier.

Jetzt, wo er in mir wütet, manchmal gegen mich und manchmal gegen andere, manchmal beherrschbar und manchmal außer Kontrolle, versuche ich zu verstehen.

Ich hatte anfangs nur eine Idee. Einen Gedanken, der sich verselbstständigt und eine eigene Dynamik entwickelt hat. Es ist etwas daraus entstanden, was ich nicht mehr kontrollieren kann und dessen Entwicklung nicht in meiner Macht liegt. Es ist mir weder möglich, diese Idee verschwinden zu lassen, noch kann ich sie in irgendeiner Art und Weise lenken oder nachträglich verändern. Sie ist einfach da. Mir bleibt nur, sie zu akzeptieren und sie so gut wie möglich zu kennen und vielleicht sogar darüber zu erzählen, wie diese Idee heute aussieht, welche Form sie mittlerweile angenommen hat.

Die Gestalt dieser Idee einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem der größten Tabus der deutschen Geschichte hat sich im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder verändert. Je nach Lage und Kontext schien es so, als könne der Gedanke immer wieder neue Umrisse und Formen annehmen. Mal ist es die Person Hitler, um die es geht, mal ist es die Faszination, die von ihr ausgeht, dann sind es Entstehung und Auswirkungen der Hitlerzeit oder historische Zusammenhänge und Ursachen.

Auch wenn es die naheliegendste Frage zu sein scheint, wie man auf den Gedanken kommen kann, öffentlich aus Hitlers »Mein Kampf« zu lesen, ist es nahezu unmöglich, eine plausible Antwort darauf zu geben. Ich bin davon überzeugt, dass es sein muss. Und während auf der einen Seite die Geschichte in mir mit diesem Buch weitergeht, läuft auch die Geschichte um dieses Buch weiter und offenbart immer spannendere Wendungen. Sie atmet Gegenwart. Der vorerst letzte Akt steht an, wenn Ende 2015 die Urheberrechte von »Mein Kampf« freigegeben werden und das, was alle befürchten, aber niemand einschätzen kann, eintritt: »Mein Kampf« wird frei erhältlich sein und jeder kann das Werk lesen, ohne dass er dabei ein schlechtes Gewissen haben muss.

Womit wir zugleich an den Anfang der Geschichte kommen, die ich erzählen will. Es geht um die Geschichte eines verbotenen Buches und unseren merkwürdigen Umgang damit. Und es geht um meine Geschichte mit Adolf Hitlers »Mein Kampf«, die mich seit fast 20 Jahren prägt, und um meine Erfahrungen mit unsichtbaren, gegenwärtigen Diktaturen.

Es ist eine seltsame und spannende Geschichte zugleich. Voller Verbote und Zwänge, voller Unstimmigkeiten und Ängste.

Es ist der Einblick in meine eigene und die Seele eines ganzen Volkes und seiner Nachkommen, ein genauer Blick auf den Umgang von Menschen mit Schuld und Verantwortung und den gescheiterten Versuch einer ganzen Nation, das kollektive Gewissen zu entlasten, den verzweifelten Versuch, einen Frieden mit etwas zu finden, das man noch nicht einmal kennt, und die Sehnsucht danach, endlich Antworten zu geben auf Fragen, die sich über Generationen wie spitze Pfeile in die Seele bohren, ohne dass man sie abwehren kann.

Diktaturen der Vergangenheit – und der Gegenwart

Der Erfolg von Hitlers Ideen bis heute

Ob es Kafkas »Bericht für eine Akademie« war, in dem der zum Mensch gewordene Affe Rotpeter seinen Werdegang zum gefeierten Varieté-Star schildert, oder Bertolt Brechts »Unaufhaltsamer Aufstieg des Arturo Ui«, schon bei meinen frühen Stücken interessierte mich vor allem der Kampf des Einzelnen gegen die Obrigkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus schloss sich daran nahtlos an.

Ich bin es im Gegensatz zu vielen anderen meiner Generation nicht leid, über die Grauen des Dritten Reichs sprechen zu müssen, und ich will auch weiterhin etwas dazu hören, weil mich brennend interessiert, wie es dazu kommen konnte, dass sich ein ganzes Volk dem Diktat eines Irrsinnigen unterworfen hat.

Für mich war dies, vielleicht auch, weil ich keine Verwandten habe, die in der Waffen-SS waren, kein Tabuthema, das ich verdrängen wollte, sondern es war die zentrale Frage der deutschen Identität. Wie gehen wir mit Hitler um?

Jüngsten Umfragen der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge gibt heute jeder zehnte Jugendliche an, etwas gegen Juden zu haben. Mehr als 50 Prozent der Befragten haben etwas gegen Ausländer und immer noch zu viele finden richtig und konsequent, was Hitler getan hat, und wünschen sich sogar eine starke Führungspersönlichkeit an die Macht. Haben die Deutschen also wirklich aus ihrer Vergangenheit gelernt? Oder wachsen die Täter nach? Sind die Deutschen wirklich schon so weit, dass sie dieses düstere Kapitel der Geschichte ad acta legen können und zurück zur Normalität kehren können?

Hitler ist eine ständige und immer noch gültige Mahnung daran, wie weit Menschen auf ideologische Irrwege geraten können und sich in ihrer Auffassung von Gerechtigkeit fremdbestimmen lassen. Dabei macht noch nicht einmal die »Einzigabartigkeit« der Person Hitlers die größten Sorgen, sondern der unheimliche Erfolg seiner Ideen bis heute. Jeder Mensch, der heutzutage diskriminiert, verprügelt und ermordet wird, weil er eine andere Hautfarbe, einen anderen Glauben oder eine andere sexuelle Orientierung hat, ist ein stiller Erfolg für Hitler und jeder Gedanke, den wir daran verschwenden, ein adäquates Zeitmaß für Verarbeitung zu finden, ein Schlag ins Gesicht derer, die um Erinnerung kämpfen.

Heute stehe ich seit mehr als 30 Jahren als Schauspieler auf der Bühne. Vieles hat sich seitdem geändert. Als ich 1996 die Idee hatte, öffentlich Passagen aus Hitlers »Mein Kampf« zu lesen und diese mit satirischen Kommentaren zu versehen, war Deutschland nicht so, wie es heute ist. Und auch ich habe nicht so gedacht, wie ich heute denke. Aber wie war ich? Unbefangener, naiver, ahnungsloser, unbeholfener und irgendwie neugierig. Heute bin ich erwachsener, aber auch befangener, und irgendwie auch belasteter.

Mit Erfahrungen, Geschichten und Gedanken. Ich habe in den letzten Jahren vieles erlebt und einiges davon auch wieder vergessen. Vor allem bin ich Teil einer Geschichte geworden, deren Anfang und Ende nicht abzusehen ist. Je weiter ich mich mit der Vergangenheit beschäftige, desto mehr sehe ich Verbindungen zur Gegenwart und Zukunft.

Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr verändert sich meine Einstellung zu »Mein Kampf«, doch die Fragen, warum dieses Buch auch heute noch nicht gelesen wird, bleiben. Weil es angeblich verboten sein soll? Weil es so kompliziert sein soll? Oder weil sich niemand dafür interessiert? Braucht es überhaupt eine Aufklärung, um denen, die sich dafür interessieren, einen Leitfaden für den richtigen Umgang zu geben, oder sollte man die Neugierigen sich selbst überlassen, in der Hoffnung darauf, dass sie schon nichts falsch verstehen?

Ende des Jahres 2015 werden die Urheberrechte an »Mein Kampf« freigegeben und mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit steht uns eine breite Debatte darüber bevor, ob und wie man damit umgeht.

Ich glaube, dass meine Meinung dazu von Bedeutung sein kann. Schließlich habe ich einen 1428 Vorstellungen dauernden Praxistest vor Zuschauern unterschiedlichen Alters, Herkunft und politischer Einstellungen hinter mir, plus der Begegnung mit Zeitgenossen, Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten und kann wahrscheinlich wie kein anderer aus einer eigenen Perspektive berichten, wie es ist, wenn man mit dieser heiklen Schrift durch die Lande zieht. Darüber hinaus waren auch die Bühnenjahre, die an die »Mein Kampf«-Lesung anschlossen, für mich in unterschiedlichster Weise Lehrjahre in Sachen Diktaturen der Vergangenheit und der Gegenwart.

Zu den Fragen, die ich mir immer wieder stelle, gehört auch die Frage danach, ob man über Hitler lachen darf. Und obwohl schon zahlreiche Antworten darauf gegeben wurden und die Angelegenheit längst geklärt sein müsste, wird sie immer wieder zum Thema gemacht, so als wäre es noch nie besprochen worden, dass das Lachen über Hitler nicht gleichzusetzen ist mit dem Lachen über die Opfer und dass eine künstlerische Auseinandersetzung auch immer bedeutet, sich von den Restriktionen des Rationalen zu lösen und einen eigenen, vielleicht sogar emotionaleren Umgang mit Dingen zu finden.

Die Frage des richtigen Umgangs mit Hitler und seinen Hinterlassenschaften ist immer verbunden mit der Angst, bei einer falschen Herangehensweise ertappt zu werden und damit in Verdacht zu geraten, ein Sympathisant der nationalsozialistischen Ideologie zu sein.

Deshalb gibt es auch bis heute Berührungsängste bei der Auseinandersetzung mit »Mein Kampf«, die einen unbefangenen Umgang nahezu unmöglich machen. Eine Rolle spielt dabei auch, dass einige davor warnen, dass ein falscher Eindruck entstehen könnte, wenn man im Ausland sieht, dass in Deutschland wieder nationalsozialistische Texte gelesen werden.

Die Neugierigen sind dazu gezwungen, ihr Interesse ins Verborgene zu verlagern, damit wird dem Hype um das Buch und seine Freigabe ein unnötiger Schub verschafft und die aufgeklärte Debatte unmöglich gemacht.

Ein Großteil der jungen deutschen Bevölkerung möchte endlich wieder ein unbeflecktes Nationalgefühl zur Schau tragen, ohne dafür in Verdacht zu geraten, nationalistisch zu sein. Dass diese Haltung nicht unbedingt ausschließlich den Extremen zuzuordnen ist, sondern sogar in einem Großteil des Durchschnitts der deutschen Bevölkerung existiert und vertreten wird, zeigt auch das folgende Zitat des sonst eher gemäßigten Talk-Radiomoderators Jürgen Domian:

»Ich möchte auch nicht als Deutscher, und schon gar nicht meine Generation und die Jungen schon überhaupt nicht, auf die Vergangenheit reduziert werden und nehme mir auch absolut das Recht heraus, die israelische Regierung zu kritisieren, und würde mich massiv verwahren gegen das, dass das antisemitisch ist. Wenn ich eine Regierung kritisiere, kritisiere ich nicht das Kulturvolk der Juden, das ist doch völliger Unsinn. Ich habe sogar manchmal den Eindruck, dass tendenziell in unseren Medien zu israelfreundlich berichtet wird und dass das Leid, was innerhalb der Palästinenser oder innerhalb des palästinensischen Staats passiert, dass das gar nicht so transportiert wird, wie es eigentlich sein müsste (…). Und ich reagiere da auch wirklich aggressiv, wenn man immer dann mit unserer Vergangenheit ankommt. Ja, die Vergangenheit ist schlimm, dazu bekennen wir uns. Das akzeptieren wir. Aber wir werden deshalb nicht mundtote Bürger und wir wollen uns äußern zu allen Dingen auf dieser Welt, so auch zu der Politik Israels.«

(Jürgen Domian, »Domian«, 02.02.2013)

Die meisten hoffen immer noch darauf, dass die Zeit schon alle Wunden heilt und nur genügend Jahre zu vergehen brauchen, bis man wieder von einer Normalität ausgehen kann. Meine große Hoffnung, dass man sich als Deutscher in einer dauerhaften Vorbildfunktion sieht und sich der aus Schuld entstandenen Verantwortung nicht nur kollektiv ausgeliefert fühlt, sondern auch intensiv stellt, hat sich damit leider noch nicht eingelöst. Bis zum heutigen Tag ist der Wunsch, einen endgültigen Schlussstrich ziehen und sich entlasten zu wollen, stärker.

Gerade die jüngste Debatte um den Prozess und das Urteil gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning hat gezeigt, dass die Diskussion um angemessene Bestrafung und Milde wichtiger zu sein scheint als die Fragen danach, wofür eigentlich das Urteil steht und welches Maß gerechter gewesen wäre als die Verurteilung eines 94-jährigen Mordsgehilfen in über 300 000 Fällen zu drei Jahren Haft.

Die Aufarbeitung der Geschichte hat nichts mit einem Freispruch von Schuld zu tun. Es bleibt eine dauerhafte Verantwortung für das, was man Haltung aus Erfahrung nennt. Aus meiner Sicht kann diese Haltung nur aus einer ständigen Selbstreflexion entstehen, ein Prozess, der weder heute beginnt noch morgen endet.

Sind wir klüger als die Menschen vor hundert Jahren oder sind wir sogar noch anfälliger für Ideologien? Ich bin heute mehr denn je fest davon überzeugt, dass sich nur mit einem geschärften Gespür für die Zusammenhänge, wie die modernen Ausläufer des Faschismus unsere Gesellschaft unterwandern, eine Antwort darauf geben lässt.

Es spielt dabei mittlerweile keine Rolle mehr, woher der Angriff auf unseren Rechtsstaat kommt. Sei es durch den Kampf der Religionen auf der Suche nach einer universellen Antwort auf den Sinn des Lebens, der uns in jüngster Zeit mehr und mehr bestimmt, oder die Diskussion um das richtigere Gesellschaftsmodell zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die uns lange Zeit beschäftigt hat.

Wir haben auf all diese subtilen Angriffe auf unser Lebensmodell von Freiheit und Selbstbestimmung noch längst nicht die richtigen Antworten gefunden. Unserer Verantwortung, die Errungenschaften einer aufgeschlossenen und modernen Gesellschaft zu beschützen, können wir erst vollständig gerecht werden, wenn wir die moralischen und ethischen Grundsätze unserer Haltung erforschen und dafür die Handlungsstränge der Zeit verbinden.

Damals ging es um Krieg und Frieden, heute leben wir in der längsten Friedensperiode, die Europa je erlebt hat. Damals ging es um das Leben nach einer der größten Wirtschaftskrisen der Geschichte. Heute geht es um Umverteilung von Reichtum und Schaffung weltweiter sozialer Gerechtigkeit. Damals haben die Menschen Identität vor allem durch die Zugehörigkeit zu einer Nation definiert. Heute lassen wir unsere Identität von Netzwerken fremdbestimmen.

Auch unsere Haltung zu den gravierenden Veränderungen in der Welt steht zur Disposition. Die Frage danach, ob wir Kriege mitfinanzieren, indem wir Waren kaufen, deren Erlöse in unbekannte Taschen fließen, ist ebenso aktuell wie die Frage danach, wer eigentlich Nachrichten macht und damit Meinung erzeugt.

Können wir diese Auseinandersetzung Demagogen und Verschwörungstheoretikern überlassen oder gibt es einen anderen, vernünftigeren Weg, herauszufinden, wer und was die Welt in unserer Zeit regiert? Und selbst wenn man denen glaubt, die meinen, die wahren Hintergründe zu sehen, kann man ihnen vertrauen?

Ob es Edward Snowden ist oder Xavier Naidoo, ob es Gerhard Wisnewksi ist oder Akif Pirinçci, es ist immer wichtig, die Motivation hinter den Aussagen zu betrachten. Sind sich Menschen wie Jürgen Elsässer, Horst Mahler, Peter Handke, Pierre Vogel, Ken Jebsen, Thilo Sarrazin, Eva Herman, Frei.Wild, Andreas Gabalier in ihren Aussagen der Parallelen zu den Verschwörungstheorien der Nazis bewusst?

Benutzen sie den Kampf um Wahrheit für ein viel unlauteres, nicht offensichtliches Ziel oder geht es ihnen wirklich nur um die Freiheit Palästinas, die Verbreitung des wahren Glaubens, die unrechtmäßige Bombardierung Serbiens, die Meinungsfreiheit in Deutschland, die schonungslose Analyse von versteckten Missständen und das Recht Wladimir Putins, die Krim zu annektieren?

Wie absurd sind diese ideologischen Irrläufer, wenn sie letztlich in der Verklärung des syrischen Bürgerkriegs zum Freiheitskampf münden, den tradiert-affektiven Antiamerikanismus zur zentralen Argumentation stilisieren und zugleich der grausamen Propaganda der IS-Terroristen Vorschub leisten?

Wer also glaubt, dass Hitler nur über die Fragen einer vergangenen Zeit geschrieben hat, der irrt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Wissenschaft große Fortschritte gemacht, die großen Themen waren die Psychoanalyse Freuds, die Frage danach, was Konsum ist und wie man das Zusammenleben der immer größer werdenden Anzahl an Menschen organisiert, aber auch der Clash zwischen den Ideologien des Karl Marx und dem Weltbild des zu Ende gehenden deutschen Kaiserreichs, der Fortschritt der Industrialisierung und der Aufbruch der Kunst in neue Richtungen vom Impressionismus zu Atonalität und schließlich die Auswüchse des Parlamentarismus, der Pluralismus der urbanen Lebensräume und die unkontrollierbare Dynamik der Börse – alles Aspekte, die heute eine ebenso große Rolle in unserem Leben spielen und in unser Denken und Handeln einwirken.

Es sind Themen, die auch heute noch unsichtbar unsere Ideale von Glück und Unglück bestimmen, und es sind Inhalte, die wir so niemals mit der Lektüre von »Mein Kampf« in Verbindung bringen würden. Deshalb bleibt es unvermeidbar, diese Verbindung zu suchen und sie aufzudecken, ohne dass dabei eine ideologische Verklärung entsteht.