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Klara Obermüller
Spurensuche

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3. Auflage

Alle Rechte vorbehalten

© Xanthippe Verlag, Zürich 2016

Lektorat: Katharina Blarer, Zürich

Korrektorat: Thomas Basler

Umschlag, Gestaltung und Satz:

Isabel Thalmann, buchundgrafik.ch

Umschlagfoto: Privatbesitz Obermüller

Druck: Prime Rate Kft, Budapest

ISBN 978-3-905795-42-4

Klara Obermüller

Spurensuche

Ein Lebensrückblick in zwölf Bildern

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Inhalt

Einleitung

 1. Die Schachpartie

 2. Das schwarze Heft

 3. Das rote Haus

 4. Die Herkunft

 5. Der untreue Gärtner

 6. Das Missverständnis

 7. Der Brautbrief

 8. Das Tagebuch

 9. Die Akte

10. Das Sterbejahr

11. Der Abschied

12. Der letzte dunkle Punkt

«Alles Geschriebene
ist ein Heimkehrversuch.»
Adolf Muschg

Einleitung

Ein wackliges Regal im Keller, darauf eine lange Reihe grauer Archivschachteln, alle fein säuberlich beschriftet und prall gefüllt. In den Schachteln lagert der Inhalt meines grossen alten Schreibtischs, der nach dem Umzug vor vier Jahren in der neuen Wohnung keinen Platz mehr fand. In den Schachteln befinden sich, neben vielem anderen, auch die Papiere, die ich noch aus der Vergangenheit besitze. Viel ist es nicht: ein paar Aufsatzhefte und Zeugnisse aus der Schulzeit, einige wenige Tagebücher, ein Bündel Briefe, Fotos von früher, das eine oder andere amtliche Dokument, mehr nicht. Ich hatte nie das Bedürfnis, mein Leben zu archivieren. Es war mir nicht wichtig genug, ich war mir nicht wichtig genug, ich weiss es nicht.

Seit einiger Zeit jedoch üben die Schachteln eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich will wissen, was drin ist. Ich möchte wissen, was war. Ich möchte wissen, wie alles gekommen ist und wie ich die wurde, die ich bin.

Eine Alterserscheinung? Vermutlich. Das Gefühl der Endlichkeit, der Begrenztheit des Lebens ist stärker geworden in letzter Zeit – und damit auch das Bedürfnis, etwas festzuhalten von dem, was einem unaufhaltsam durch die Finger rinnt. Ich hatte schon immer ein Faible für Stundengläser: zuschauen, wie der Sand rinnt, lautlos, stetig, bis der obere Behälter leer ist, man das Gehäuse dreht und das Rieseln von vorne beginnt. Im Leben gibt es dieses Drehen nicht. Wenn das Glas leer ist, ist es leer. Rückkommensanträge sind vergeblich.

Aber was hat es zu dem gemacht, was es ist? Was hat mich zu der gemacht, die ich heute bin?

Es drängt mich mehr denn je, Antworten auf diese Fragen zu finden. Ob es überhaupt möglich ist, wird sich zeigen. «Nach vorne gerichtet, müssen wir das Leben wagen», sagt Kierkegaard, «erst in der Rückschau können wir es erkennen.» Aber was erkennen? Die Summe all jener Erfahrungen, Begegnungen und Entscheidungen, die es zu dem haben werden lassen, was es heute ist? Dies zumindest sollte möglich sein: herauszufinden, wie alles begann und wie das, was heute vorliegt, sich aus diesen Anfängen heraus entwickelt hat.

Die Antworten liegen allerdings nicht auf der Hand. Ich muss sie suchen, aus unzähligen kleinen Bestandteilen und Begebenheiten zusammenklauben: Spurensuche in eigener Sache.

Da sind einmal die unmittelbaren Zeugnisse meiner Existenz: die Briefe, Tagebücher, Aufsatzhefte, Schulzeugnisse und amtlichen Dokumente, die in den Archivschachteln im Keller lagern und Auskunft geben über wichtige Stationen meines Lebens. Da sind die Fotoalben, die mein Vater im Laufe meiner Kindheit und Jugend angelegt hat und in denen ich mir und meiner Vergangenheit wiederbegegne. Und da sind schliesslich die paar wenigen Möbel und Einrichtungsgegenstände aus dem Haushalt meiner Eltern, die einst auch Teil meines eigenen Alltags waren. In all diesen Dingen sind Erinnerungen gespeichert, die lebendig werden im Moment, da ich sie beschreibe. Das ist ein möglicher Weg: schreibend eine Welt rekonstruieren, die es nicht mehr gibt, meine Welt. Und während ich dies tue, während ich benenne, beschreibe, mich erinnere, werde ich wieder Teil dieser Welt und sie ein Teil von mir. Aber reicht das aus, um mir selbst auf die Spur zu kommen?

Rekonstruktion der Vergangenheit ist das eine, etwas anderes deren Überprüfung. Je mehr ich in die Erinnerungen eintauche, desto öfter meldet sich das Gewissen zu Wort. An dem, was ich getan oder unterlassen habe, lässt sich nichts mehr ändern. Die Frage aber, ob auch richtig war, was ich getan oder auch nicht getan habe, bleibt, und es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, sich ihr zu stellen. Viele der Menschen, die mich durchs Leben begleiteten, sind tot. Ich kann ihnen nicht mehr sagen, was sie mir bedeutet haben. Ich kann ihnen nicht mehr danken. Ich kann nicht nachholen, was ich versäumt, nicht ungeschehen machen, wo ich gefehlt habe. Ich hätte so vieles nachzutragen und weiss doch, dass es dafür in den meisten Fällen zu spät ist. Doch nur schon darüber zu schreiben, tut gut.

Im Verlauf des Schreibens habe ich gespürt, wie die Dinge ins Lot kamen. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes über die Bücher gegangen, habe gesichtet, geordnet und aussortiert, was ich in Erinnerung behalten und was ich dem Vergessen anheimgeben will. Vieles ist mir erst durch den Prozess des Schreibens wieder in den Sinn gekommen. Ich wusste nicht, dass ich es wusste. Wenn es dann aber aufstieg wie Blasen aus einem dunklen Teich, überkam mich ein Gefühl grosser Erleichterung. Das war es, dein Leben, es ist noch immer da, es gehört zu dir und macht aus, was du bist.

Es sind Augenblicke des Glücks dabei, aber auch Momente der Trauer, des Bedauerns, der Scham. Ich darf mich an sie erinnern, ich muss mich ihnen stellen. Neben konkreten Zeugnissen aus der Vergangenheit gibt es verschwommene Bilder, vage Vermutungen, durch wiederholtes Erzählen konservierte Ereignisse. Es gibt aber auch Lücken, die sich nicht mehr füllen, Räume, die sich nicht mehr öffnen lassen. Ich lasse sie unberührt. Ich will nichts erfinden, will nicht rekonstruieren, was sich nicht mehr zusammenfügen lässt. Die Aufzeichnungen sollen so lückenhaft bleiben wie die Erinnerungen, die mein Gedächtnis gespeichert hat.

Zwölf Kapitel sind im Verlauf der letzten Monate entstanden: Kapitel, die Schlaglichter werfen auf einschneidende Erfahrungen, folgenreiche Begegnungen, prägende Lektüren. Ihnen zur Seite stehen zwölf Bilder, die ihrerseits Auslöser von Erinnerung waren. Der Bogen spannt sich von Ereignissen, die meiner Geburt vorausgingen, über Szenen aus Kinder- und Jugendtagen bis hin zum aktuellen Prozess des zunehmenden Älterwerdens. An die Anfänge gibt es keine Erinnerung, das Ende liegt noch im Dunkeln. Dazwischen breitet sich aus, was sich mein Leben nennt.

Den Prozess des Erinnerns und Aufschreibens habe ich als geistiges Abenteuer erlebt: faszinierend und erhellend zugleich – für mich. Und für andere? Ich weiss es nicht, könnte mir aber vorstellen, dass der eine oder andere sich in meinem Lebensrückblick wiedererkennt. Es gibt Zeitgenossenschaft, und es gibt geistige Verwandtschaft. Mit beidem rechne, auf beides zähle ich, wenn ich diese Texte in die Öffentlichkeit entlasse.

Zuvor aber gilt es, all jenen zu danken, die das Entstehen dieser Texte freundschaftlich-kritisch begleitet haben: allen voran meinen guten alten Freundinnen Susanne Dubois, Judith Kimche und Eva Koralnik für Anregung und Ermutigung, meinem lieben Kollegen Oliver Demont für Zuspruch über die Generationen hinweg sowie meinem teuren Freund Andreas Kruse für sein ebenso feinfühliges wie aufmerksames Gegenlesen. Ich danke Peter Obermüller und Christine Hirt für ihr Verständnis und ihre wohlwollende Unterstützung. Ich danke Katharina Blarer für ihr behutsames Lektorat und Yvonne-Denise Köchli für ihren verlegerischen Einsatz. Und ein ganz besonderer Dank geht schliesslich an meinen Mann Kurt Studhalter, ohne dessen Liebe und Grosszügigkeit dieses Buch nicht hätte erscheinen können.

Klara Obermüller, im Frühling 2016

1 Die Schachpartie

 

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Meine Eltern beim Schachspielen, 1923

Zwei junge Menschen, ein Mann und eine Frau, sitzen einander gegenüber am Tisch und spielen Schach. Er ist am Zug, sie denkt nach, den Kopf in die Hand gestützt. Das Spiel scheint schon eine ganze Weile zu dauern. Weisse und schwarze Figuren liegen zu beiden Seiten des Bretts. Genau in der Bildmitte im Hintergrund steht eine ältere Frau. Sie hat ihre rechte Hand auf den Tisch gelegt und schaut zu. Die Szene mit den Blumen am linken Rand, den Trauben (künstlichen?) in der Keramikschale und den zu einem akkuraten Dreieck gefügten Personen wirkt arrangiert. Sie hat etwas von einem Stillleben: gefrorene Zeit, ein Augenblick im Leben dreier Menschen, für immer festgehalten auf belichtetem Papier.

Wer hat das Foto gemacht? Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, wann es aufgenommen wurde: am 9. September 1923, so steht es auf der Rückseite eines der Abzüge, die von dieser Aufnahme erhalten geblieben sind. Ein anderer trägt das Datum 23. Dez. 1930 und darunter die Widmung: «Meinem Liebsten einen herzlichen Willkommensgruss auf Weihnachten 1930 von seinem Trudy. » Es ist die Schrift meiner Mutter. Das Paar auf dem Foto sind meine Eltern. Die ältere Frau ist meine Grossmutter, die Mutter meiner Mutter. Im September 1923 waren die beiden – Arnold und Gertrud hiessen sie – 16 und 19 Jahre alt und vermutlich noch nicht einmal verlobt. Das erklärt vielleicht, warum sie während ihrer Schachpartie nicht allein sind. Die Mutter schaut zu. Die Mutter wacht darüber, dass nichts Ungehöriges geschieht.

Als Trudy ihrem Noldi an Weihnachten 1930 das Foto schenkte, war klar, dass die beiden heiraten würden. Am 10. Oktober 1931 war es dann so weit. Die Hochzeit fand in Grosshöchstetten bei Bern statt. Auch davon gibt es Fotos: sie im weich fliessenden Seidenkleid mit Pelzjäckchen, er im schwarzen Anzug mit breitem Revers, sehr schmal beide, sehr jung beide und beide etwas ängstlich in die Kamera blickend.

Meine Eltern kannten sich, solange sie denken konnten. Die beiden Väter hatten sich im Welschlandjahr am Genfersee kennengelernt und waren Freunde geblieben. Als die ersten Kinder kamen, übernahmen sie die wechselseitige Patenschaft. Die beiden Familien verkehrten eng miteinander. Für meinen Vater, so erzählte man mir, sei es von klein auf klar gewesen, dass er einmal die Tochter seines Patenonkels zur Frau nehmen würde. Ob es für sie auch so klar war, weiss ich nicht. Einmal, während ihrer Lehrzeit als Krankenschwester, sei sie in einen der Ärzte verliebt gewesen, erzählte sie später. Ein andermal habe sie von einem Sohn aus gutem Hause einen Heiratsantrag bekommen. Der junge Mann wies sich mit seinem Bankkonto aus und gestand ihr, dass er in seiner Freizeit sticke. Gegen die Beharrlichkeit meines Vaters hatten wohl beide nicht die geringste Chance.

Die wenigen noch vorhandenen Briefe aus der Verlobungszeit meiner Eltern zeugen von einer tiefen Verbundenheit zwischen den beiden. Sie gehörten zusammen. Sie liebten sich. Sie konnten ohne einander nicht sein. Fast 50 Jahre waren sie verheiratet gewesen, als mein Vater 1979 an Prostatakrebs starb. Er war immer der Gesunde gewesen, der Starke, während meine Mutter ein Leben lang kränkelte. Mal war es das Herz, mal die Bronchien, mal der Rücken oder die Kieferhöhlen. Dagegen gab es Tabletten. Sie schluckte sie ihr Leben lang: Tabletten gegen Schmerzen, Tabletten gegen zu niedrigen Blutdruck, Tabletten gegen Schlaflosigkeit.

Gegen ihr eigentliches Leiden aber half keine Medizin. Meine Mutter war sieben Jahre alt gewesen, als ihr älterer Bruder beim Rumturnen auf dem Treppengeländer zu Tode stürzte. Sie fühlte sich schuldig, weil sie nicht auf ihn aufgepasst hatte. Die Geschichte, wie es geschah, habe ich in meiner Kindheit immer und immer wieder gehört: wie Unruhe aufkam, als der Junge nicht vom Spielen zurückkehrte, wie die Grossmutter ihn suchen ging, wie sie ihn fand, zerschmettert am Fuss des hohen Treppenhauses, und wie sie das tote Kind in ihrer Schürze die fünf Stockwerke hoch in die Wohnung trug. Der Schmerz meiner Grossmutter muss masslos gewesen sein. Sie trug von diesem Tag an nur noch Schwarz, erlitt in der Folge mehrere Fehlgeburten und gab meiner Mutter zu verstehen, dass ihr, wenn schon, der Tod der Tochter lieber gewesen wäre als derjenige des einzigen Sohnes.

Von dieser Kränkung hat sich meine Mutter nie erholt. Sie war temperamentvoll, sie war feinfühlig, klug und witzig, aber sie war auch zutiefst verunsichert. Die Angst vor dem Schicksal, das so plötzlich und so grausam zuschlagen kann, hat sie ein Leben lang begleitet. Ihre Ängstlichkeit lag wie ein Schatten auch über meiner Kindheit. Wenn mein Vater oder ich auch nur ein paar Minuten zu spät nach Hause kamen, geriet sie in helle Aufregung und machte uns Szenen, die schwer zu ertragen waren. Dagegen vermochte auch mein Vater mit seiner inneren Ruhe und Verlässlichkeit nichts auszurichten. Er beschützte, er stützte seine Frau, wo er nur konnte. Er las ihr im wahrsten Sinne des Wortes jeden Wunsch von den Lippen ab und erfüllte ihn, wenn es ihm irgendwie möglich war.

Nur das eine blieb er ihr schuldig: ein eigenes Kind. Neun Jahre warteten sie vergeblich auf eine Schwangerschaft, neun Jahre, in denen sie litt und sich wegen Depressionen in psychiatrische Behandlung begeben musste. Schliesslich riet der Arzt meinen Eltern dazu, ein Kind zu adoptieren. Sie taten es im Sommer des Jahres 1940. Das Kind, das sie in einem St.Galler Kinderheim aussuchten, war ich. Sie nahmen mich «an Kindes statt» an, wie es offiziell heisst, und taten alles, was in ihrer Macht stand, damit ich mich auch wie ihr eigenes Kind fühlte.

Woran es lag, dass die Ehe meiner Eltern kinderlos blieb, habe ich nie erfahren. Ich habe auch nie danach gefragt. Ich weiss nur, dass ich diesem Umstand meine Existenz verdanke: nicht, dass ich auf der Welt bin, dafür haben andere gesorgt, aber dass ich die werden konnte, die ich heute bin. Ohne ihre Liebe, ohne ihr Vertrauen und ihre Unterstützung wäre dies nicht möglich gewesen.

Rückblickend wirkt das Foto meiner Schach spielenden Eltern auf mich wie eine Verheissung. Die beiden jungen Leute haben ihr Leben noch vor sich. Es ist noch alles möglich. Sie können noch glücklich werden, können im Beruf vorankommen, können Kinder kriegen und im Kreise einer grossen Familie ein erfülltes Leben führen. Von den Problemen, die auf sie zukommen, wissen sie noch nichts: nichts vom aufkommenden Nationalsozialismus, nichts vom Krieg, nichts von den schwierigen Jahren ihrer Kinderlosigkeit, aber auch nichts vom Glück, das sie als junge Eltern mit ihrem fremden Kind erlebten. Von den politischen Ereignissen haben sie später oft gesprochen, von den persönlichen Schwierigkeiten kaum. Ich vermute, dass meine Mutter die treibende Kraft bei der Adoption war. Sie war diejenige, die ihr Schicksal nicht akzeptieren konnte und das Gefühl hatte, ohne eigenes Kind keine vollwertige Frau zu sein. Mein Vater reagierte da wohl eher fatalistisch. «Es kommt, wie es kommen muss», war einer seiner Lieblingssprüche. Er sagte es nicht nur, er meinte es auch so. Diese Schicksalsergebenheit war es wohl, die ihm seine innere Ruhe verlieh.

Wie zwei so unterschiedliche Menschen zusammen glücklich werden konnten, ist eigentlich erstaunlich. Ich denke, sie ergänzten sich auf geheimnisvolle Weise. Ihre Liebe hatte etwas Unantastbares. Die Rollenverteilung zwischen den beiden war wie ein Naturgesetz: sie die Musische, die Empfindsame, die Liebes-und Anlehnungsbedürftige, er der Nüchterne, der Vernünftige, der Pragmatiker, der Fels in der Brandung, der sich im Hintergrund hielt und selbst kaum Ansprüche stellte.

Fühlte er sich wohl in dieser Konstellation? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass er am Ende seines Lebens lange versucht hatte, seine Krebserkrankung vor meiner Mutter geheim zu halten. Nach seinem Tod habe ich unter seinen Papieren ein altes Schulheft gefunden, das er als Tagebuch benutzt hatte. Neben alltäglichen Dingen wie Kleiderkäufen, Reparaturarbeiten am Haus, Besuchen und Ferienabwesenheiten sind darin auch ärztliche Befunde festgehalten, die darauf hindeuten, dass der Verdacht auf Prostatakrebs bereits drei Jahre vor seinem Tod aufgekommen war und er sich entgegen dem ärztlichen Rat einer Operation verweigert hatte. «Für mich ist die Sache wie eine eingesetzte Zeitzünderbombe», schreibt er am 2. Juni 1978 in sein Heft. Da hatte er nur noch etwas mehr als ein Jahr zu leben. Das Wissen um seinen Zustand vertraute er einem alten, halb zerfledderten Schulheft an. Meine Mutter und mich liess er im Unklaren.

Warum tat er das? Warum hat er sich nicht rechtzeitig behandeln lassen? Ich vermute, dass er es sich nicht erlauben wollte, nicht erlauben konnte, krank zu sein. Krankheit war die Domäne meiner Mutter. Ihr gebührte alle Aufmerksamkeit und Fürsorge. Für ihn blieb da kein Platz mehr. War es so? Oder war es ganz anders? Heute ist es zu spät zum Fragen.

Dem Heft entnehme ich, dass er sich nach zahlreichen ärztlichen Konsultationen schliesslich zu einem kleinen Eingriff entschloss. Dieser scheint an sich gut verlaufen zu sein. Doch bald schon ist in dem Tagebuch von Rückenschmerzen und Beschwerden in den Beinen die Rede. Die Ärzte sehen zunächst keinen Zusammenhang zur vorangegangenen Operation und verordnen Spasmo-Cibalgin. Für Februar und März verzeichnet das Heft so alltägliche Dinge wie Zahnarzt-und Coiffeurbesuche, den Tod einer alten Nachbarin oder den Kauf einer neuen Krawatte. Am 19. März 1979 brechen die Eintragungen ab. Vier Monate später ist mein Vater tot und meine Mutter allein. In ihre Trauer mischte sich leiser Ärger darüber, dass er sich nicht an die Abmachung gehalten und ihr den Vortritt gelassen hatte.

Ich mache mir heute Vorwürfe, dass ich mich in jener Zeit nicht mehr um meinen Vater gekümmert hatte. Überhaupt fragte ich mich selten, wie es ihm ging. Die Befindlichkeiten meiner Mutter nahmen in unserer Familie so viel Aufmerksamkeit in Anspruch, dass für ihn nicht mehr genug Platz blieb. Dieses Versäumnis würde ich gerne wiedergutmachen und ihm sagen, wie viel er mir bedeutete. Meine Mutter hat mich mit Liebe überschüttet. Sie hat mich angespornt und gefördert. Ihr verdanke ich die Liebe zur Literatur und zur Musik, aber auch den Ehrgeiz, es in Schule und Beruf zu etwas zu bringen. Mein Vater hielt sich im Hintergrund, aber er war da, wenn ich ihn brauchte, und vermittelte mir jenes Grundvertrauen ins Leben, das mich allen Krisen zum Trotz nie verlassen hat.

2 Das schwarze Heft

 

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Meine Mutter und ich während der Ferien in Oberägeri, 1943

Unter den Papieren, die mein Vater nach seinem Tod hinterlassen hatte, fand sich neben den Tagebuchaufzeichnungen auch ein kleines schwarzes Wachstuchheft. Als ich es öffnete, stellte ich fest, dass er darin akribisch festgehalten hatte, was es über mich und meine Person zu sagen gab. «Geboren 11. April 1940 in St.Gallen», steht da, «Heimatort Othmarsingen/Aargau, im Raindörfli eingezogen 20. August 1940, Heimatschein vom 26. April 1940, Kontrollnummer Register Zürich Y4924.» Auf die Personalien folgen Angaben zu meinem Gewicht: 2850 Gramm waren es bei der Geburt, 4260 Gramm am 19. August, 5680 Gramm am 12. September und 7300 Gramm am 16. Oktober. Am 12. November, so lese ich, bekam ich den ersten Zahn, unten rechts. Am 1. Januar 1941 benutzte ich zum ersten Mal erfolgreich den Topf. Am 12. Januar erfolgte die erste Ausfahrt im neuen Kinderwagen. Am 10. Februar wog ich bereits 10 100 Gramm. Und am 11. April 1941 feierte ich meinen ersten Geburtstag: «Gesund und munter», schreibt mein Vater und fügt hinzu: «Hat 4 Zähnchen, 3 weitere sind am Durchstossen. Sagt Amm und Apa und seinen Namen: Äiji!» Es folgen Einträge zum Kauf der ersten Lederschuhe, «No. 19, braun, Fr. 9.80», zu den ersten Gehversuchen, zum Gebrauch erster Wörter und zu den ersten selbstständigen Schritten im Freien.

Die Aufzeichnungen in dem schwarzen Wachstuchheft tragen den Titel «Notizen über Clärly» und sind der früheste schriftliche Nachweis meiner Existenz. Natürlich befindet sich irgendwo unter meinen Akten ein Geburtsschein, der bezeugt, dass es mich gibt. Und natürlich besitze auch ich einen Schriftenempfangsschein, ein Familienbüchlein und einen Pass. Meine Identität ist gut belegt und amtlich bescheinigt. Aber nichts von alledem betrifft mich so direkt wie diese knappen, handgeschriebenen Notizen meines Vaters über das früheste Stadium meiner Entwicklung. Sie enden mit dem 11. April 1943, meinem dritten Geburtstag, und setzen dann noch einmal ein am 12. Februar 1949, dem Tag, an dem ich von meiner Mutter über das Adoptionsverhältnis aufgeklärt wurde. Dazwischen nichts, ausser einem alten, unten eingerissenen und zweimal gelochten Fahrschein, auf dessen Rückseite steht: «Erstes Trambillet von Clärly, 11. April 1944, 4jährig.»

Authentische Erinnerungen an diese Ereignisse gibt es keine. Aber es gibt Bilder: Bilder, die aus mündlicher Überlieferung aufsteigen, und Bilder, die Momente meines Lebens auf belichtetem Papier festhalten. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Fotograf, der jeden Schritt meiner Entwicklung mit der Kamera einfing und die Bilder, präzise beschriftet, in Alben klebte. Diese Alben habe ich nach dem Tod meiner Eltern an mich genommen und bewahre sie sorgsam auf. Wenn ich sie mir anschaue, werden Empfindungen wach, die ich längst vergessen glaubte. Und ich meine mich zu erinnern, auch wenn das vom Alter her gar nicht möglich ist. Ich sehe mich aus meinem Kinderbettchen heraus in die Kamera lächeln. Ich sehe mich dick und zufrieden auf dem Topf sitzen. Ich sehe mich mit den bunten Kugeln an meinem Laufgitter hantieren. Und ich sehe mich in den braunen, halbhohen Lederschuhen die ersten selbstständigen Schritte im Freien machen. Das alles und noch viel mehr hat mein Vater fotografisch festgehalten und mir damit jene Anhaltspunkte geliefert, die ich brauche, um mich meiner zu vergewissern.

Am eifrigsten fotografiert wurde in den Ferien. Diese Aufenthalte in bescheidenen kleinen Pensionen auf dem Land oder in den Bergen – ins Ausland fahren konnten wir wegen des Krieges nicht – waren Fixpunkte im Jahreskreis. Ich kann die Stationen noch heute auswendig aufsagen: 1943 Oberägeri, 1944 Hirserenbad, 1945 Latsch, 1946 Morschach, 1947 Heimberg, 1948 Bos-cha, 1949 Roggwil, 1950 Amden ... Die Angaben in den Fotoalben bestätigen mir, dass die Erinnerung mit der Realität übereinstimmt. Wir waren da, meine Eltern und ich, und später auch die Grossmutter, als wir sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr allein zu Hause lassen konnten. Ich spüre noch die Hitze jener Sommertage und höre den Regen aus Dachrinnen tropfen. Ich rieche das Heu in der Luft und den Geruch erster Tropfen auf staubigem Boden. Ich spüre die Hand meines Vaters, der mich sicher einen schmalen Bergpfad entlang führt. Ich höre das Lachen meiner Mutter, die neben mir über eine blühende Wiese geht. Es ist Sommer, es ist immer Sommer auf diesen Bildern.

Einer dieser Sommer ist mir besonders in Erinnerung geblieben, vielleicht weil es die ersten gemeinsam verbrachten Ferien waren: der Sommer 1943 in Oberägeri, wo wir uns bei der Bauernfamilie Meier eingemietet hatten und ich zum ersten Mal mit Tieren in Berührung kam, zum ersten Mal kuhwarme Milch trank und zum ersten Mal unliebsame Bekanntschaft mit Mist und Gülle machte. Auf einem der Bilder sind meine Mutter und ich zu sehen, wie wir über eine Wiese dem Fotografen entgegenkommen. Meine Mutter trägt einen grossen Strauss Butterblumen im Arm. Ich gehe vor ihr her, meinen Teddy im Arm und in der Hand ebenfalls Butterblumen: einen wirr nach allen Seiten zeigenden, schütteren Besen. Meine Hände sind noch zu klein für die grossen Stengel. Aber ich mache es wie die Grossen, und ich bin stolz. Mutter und Kind sind ein Inbegriff von Glück.

Die Fotos in den Alben rufen die Gefühle des Glücks wach, aber ich spüre es auch, wenn ich mich erinnere: sonntags ins Bett meiner Eltern kriechen und den Geschichten zuhören, die mein Vater erzählt, den Geruch sonnenwarmen Wassers einatmen, wenn ich auf der Dachterrasse in einer Zinkwanne gebadet werde, an der Hand der Eltern durch Bergwiesen wandern, der Waschfrau zusehen, wenn sie, in Dampf gehüllt, unsere Leintücher traktiert, bei jeder neuen Kinderkrankheit die Kühle frischer Bettwäsche um die fieberheissen Glieder spüren, neue Tigerpantöffelchen kaufen, die ersten Buchstaben schreiben ins noch unberührte Heft ...