© Philip Schulte
Katharina Saalfrank ist Diplom-Pädagogin, Musiktherapeutin, Eltern- und Familienberaterin sowie erfolgreiche Ratgeber-Autorin. Sie arbeitet bindungs- und beziehungsorientiert in eigener pädagogisch-psychologischer Praxis in Berlin und stellt vor allem die konstruktive Beziehung zwischen Eltern und Kindern sowie die emotionalen Entwicklungsprozesse der Kinder in den Mittelpunkt. Von 2004 bis 2011 hat sie als Pädagogin in der RTL-Sendung Die Super Nanny Familien in schwierigen Situationen gecoacht. Katharina Saalfrank ist Mutter von vier Söhnen und lebt mit ihrem Mann in Berlin.
Weitere Informationen unter www.katiasaalfrank.de
Einleitung
Kapitel 1
Warum es sich lohnt, neue Wege zu gehen
Ohne Machtkämpfe ist das Familienleben leichter
Kinder sind nicht gegen uns oder Wie Kooperation gelingt
Die elementare Bedeutung von Bindung
Wie Strafen die emotionale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen
Keine Angst vor »Tyrannenkindern«
Strafen verhindern konstruktive Konfliktlösungen
Kapitel 2
Wenn Eltern strafen – die Gefühlswelt der Erwachsenen
Ärger
Verantwortungsgefühl und Druck von außen
Hilflosigkeit
Angst und Sorge
Überforderung und Stress
Zungenentspannung
Entspannung durch Atmung
Entspannung durch Powernapping in der Mitte des Tages
Wut und Rage
1. Frühe Verletzungen der Seele
2. Wenn Gefühle keinen Raum haben dürfen
1. Beziehungspause – Unterbrechung der Situation
2. Bewusstmachung und Verlangsamung der emotionalen Kettenreaktion
3. Installieren eines wohlwollenden und freundlichen inneren Beobachters
4. Langfristig denken
5. Energieabbau durch körperliche Aktivität
Was sich verändern kann
Scham
Kapitel 3
Strafen, Konsequenzen, Sanktionen – was dieser Umgang mit Kindern macht
Körperliche Strafen
Psychische Strafen
Die Folgen von Strafen
Grenzüberschreitungen im Alltag von Kindern
Warum Loben überflüssig ist
Kapitel 4
Den Kreislauf unterbrechen – einen Aufbruch wagen
Erst verstehen, dann handeln
Auf sich selbst schauen
Alte Verhaltensmuster verändern
Achtsame Sprache
Kapitel 5
Der neue Weg für Eltern: bindungs- und beziehungsorientiert – eine gute Alternative
Die Klaviatur des emotionalen Gleichgewichts
Entwicklungsphasen und andere sensible Phasen
Konfliktlösung ohne Strafen und Sanktionen – der wertschätzende Dialog
1. Zuwendung und Hinwendung zueinander
2. Interesse haben
3. Offenheit und Unvoreingenommenheit
4. Einander wirklich zuhören
5. Verständnis für das Gegenüber entwickeln
6. Empathie und Einfühlung
7. Ernst nehmen und anerkennen
Einen neuen Anfang wagen! Aber wie?
Kapitel 6
Jetzt reicht’s aber! Typische Situationen, die alle Eltern kennen und die Sie schon immer mal ohne Strafen
lösen wollten
Computerspiele
Smartphone
Nur Mut! Rückenstärkung für Eltern
Hilfreiche Blogs
Private Beratungspraxis Katia Saalfrank Berlin
Literatur
Dank
»Nein«, sagt der Vater von Leon. Ärgerlich schaut er den Vierjährigen an. »Neeeeein«, wiederholt er noch einmal bewusst mit tiefer Stimme, um seinem Nein noch mehr Gewicht zu verleihen. »Nein, Leon, jetzt reicht’s mir aber!«, stößt er ungeduldig aus. »Mein lieber Freund! Wenn du jetzt nicht von der Fensterbank herunterkommst, dann spiele ich nicht mehr mit dir, und zur Oma gehen wir nachher auch nicht!«
Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie bitten Ihre Kinder mehrmals, etwas zu tun oder zu unterlassen. Sie haben als Eltern gute Gründe für Ihre Bitten, Sie haben es erklärt, mehrfach. Sie versuchen es freundlich, Sie sagen es noch und noch einmal! Doch Sie haben einfach das Gefühl, überhört zu werden oder »gegen eine Wand« zu reden. Oder gar, dass Ihr Kind Sie bewusst ärgern möchte! Wenn Sie dann irgendwann glauben, die komplette Bandbreite Ihrer Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, beginnen Sie, mit Konsequenzen zu drohen, oder verhängen Strafen:
»Jetzt reicht’s mir aber«, ruft Lisas Mutter genervt ihrer zwölfjährigen Tochter entgegen. »Ich habe es im Guten versucht, und ich war sehr geduldig! Wir haben x-mal drüber geredet. Und was ist passiert? Nichts! Dein Zimmer ist nicht aufgeräumt und deine Hausaufgaben hast du auch noch nicht gemacht. Es reicht mir jetzt wirklich!« Das Gesicht der Mutter ist vor Ärger rot angelaufen. Nachdem es den ganzen Nachmittag Streitereien gegeben hatte, platzt ihr nun der Kragen, und sie schreit los: »Das hat jetzt Konsequenzen, mein Fräulein! Du hast dich nicht an unsere Absprachen gehalten, das geht so nicht. Dafür darfst du heute Abend kein Fernsehen mehr schauen, und den Besuch am Wochenende bei deinen Freundinnen kannst du auch vergessen!«
Lassen Sie uns ein kleines Gedankenexperiment machen und diese Situation in eine Erwachsenenbeziehung übersetzen. Folgender Dialog entsteht dann:
Frau (empört): »Was? Du hast nicht aufgeräumt? Das kann doch wohl nicht wahr sein.«
Mann: »Ich hatte noch andere Dinge zu tun und bin noch nicht dazu gekommen.«
Frau (wird lauter): »Wie? Und unsere Buchung für den Urlaub hast du auch noch nicht erledigt?«
Mann: »Das wollte ich noch machen.«
Frau (laut): »Also, jetzt reicht’s wirklich! Ich habe es im Guten versucht, und ich war sehr geduldig! Wir haben x-mal drüber geredet. Und was ist passiert? Nichts! Die Küche ist nicht aufgeräumt, und unser Urlaub ist auch nicht gebucht. Es reicht mir jetzt wirklich.« Frau (schreit jetzt): »Das hat jetzt Konsequenzen, mein lieber Freund! Du hast dich nicht an unsere Absprachen gehalten, das geht so nicht! Dafür darfst du heute Abend das Fußballspiel nicht anschauen, und dein Bier am Wochenende mit deinen Freunden kannst du auch vergessen.«
Wenn ich in meinen Veranstaltungen zu diesem kleinen Gedankenexperiment einlade, reagiert das Publikum immer gleich: Es lacht laut auf, und viele schmunzeln. Es hört sich eben lustig an, wenn der eine Partner dem anderen wie einem Kind droht. Unter Erwachsenen hört es sich »schräg« an – zwischen Eltern und Kindern finden solche Dialoge tagtäglich statt, und Erwachsene finden das erst einmal gar nicht merkwürdig. Denn: Ist es nicht so, dass wir Eltern dafür verantwortlich sind, aus unseren Kindern gesellschaftsfähige Wesen zu machen? Und gehört es da nicht auch dazu, ein Verhalten, das wir nicht gutheißen, zu sanktionieren und Kindern Grenzen aufzuzeigen? Ist das nicht notwendig, wenn wir wollen, dass Kinder sich an die Regeln in unserer Gesellschaft halten?
Nein, es ist nicht notwendig. So viel kann ich schon einmal sagen. Warum wir es trotzdem häufig tun und warum es uns so schwerfällt, es anders zu machen, lohnt sich zu hinterfragen. Doch für mich geht es gar nicht in erster Linie darum, dass wir die Verantwortung für das Aufwachsen unserer Kinder und auch dafür haben, dass sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden. Die Frage ist für mich eher: Auf welche Art und Weise dürfen Kinder erwachsen werden? Von welchen Werten ist ihr Aufwachsen geprägt?
Ich möchte gleich einem Missverständnis vorbeugen und klarstellen, dass Kindheit ohne Strafen für mich nicht bedeutet, dass Kinder ohne Orientierung von Erwachsenen aufwachsen, sich selbst überlassen sind oder es hier um einen Laissez-faire-Umgang handelt, bei dem Kinder keine Grenzen erfahren. Ganz im Gegenteil! Kinder brauchen Führung – ohne die sind sie verloren. Die Frage ist nur, wie die Qualität dieser Führung beschaffen ist und für welche Form der Führung ich mich entscheide. Ist es eine autoritäre, sanktionierende Führung oder eine, die wertschätzend auch die Bedürfnisse des anderen berücksichtigt?
Das Gegenteil einer sanktionierenden Führung ist jedoch auch keine »Kuschel-Pädagogik«, die Kinder über »Tische und Bänke« gehen lässt, wie von Verfechtern des autoritären Erziehungsstils gerne vermutet wird. Nein, ganz und gar nicht. Ich halte den strafenden, sanktionierenden Umgang mit unseren Kindern für unnötig und überflüssig. Ich möchte konstruktive Alternativen zu Strafen und Sanktionen anbieten, denn die gibt es. Sie basieren auf meinem bindungs- und beziehungsorientierten Ansatz mit Kindern, der sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte in meiner Arbeit mit Familien, aber auch für mich als Mutter bewährt hat.
Diese Pädagogik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass wesentliche Aspekte von Bindung und Beziehung in besonderer Weise im Umgang miteinander berücksichtigt werden, sodass einerseits die konstruktive Beziehung und der wertschätzende Dialog zwischen Erwachsenen beziehungsweise Eltern und Kindern sowie die individuellen emotionalen Entwicklungsprozesse der Kinder im Mittelpunkt stehen. Wichtige Erkenntnisse aus der Bindungs- und Säuglingsforschung und aus der Entwicklungspsychologie werden berücksichtigt und spielen eine entscheidende Rolle dabei, welche Beziehungsantwort Eltern ihren Kindern geben. Andererseits geht es darum, individuelle Beziehungsgeflechte zu analysieren und zu verstehen – ein großer Unterschied zur Verhaltenspädagogik, die nicht auf das Verstehen von Ursachen, sondern auf reine Symptombehandlung und Anpassung setzt.
Das Fatale ist, dass ein Umgang mit Kindern, der auf reine Verhaltensanpassung und auf Lob für gutes Verhalten, auf Strafen und Konsequenzen für »negatives«, »schlechtes« oder von uns nicht erwünschtes Verhalten setzt, zwar »funktioniert«, jedoch die Beziehungsqualität innerhalb der Familie, insbesondere die zwischen Eltern und Kindern, stark belastet. Mehr noch, er kann sogar mit negativen Langzeitfolgen für die psychische und physische Gesundheit der Kinder einhergehen. Wer es also aufgrund dieser Erkenntnisse anders machen will, muss nicht nur auf der Beziehungsebene umdenken, sondern noch wichtiger: umfühlen und sich ganz neu in die Beziehungen in der Familie und in Kinder einfühlen. Wenn wir anders fühlen und denken, können wir auch Handlungsalternativen finden und uns aus bisherigen Mustern befreien.
Ich möchte mich mit diesem Buch in erster Linie nicht gegen, sondern für etwas aussprechen. Für eine Kindheit ohne Strafen. Und für eine achtsame, liebevolle, fürsorgliche und konstruktive Begleitung unserer Kinder. Ich möchte Herzen öffnen und Empathie wecken, das emotionale Sensorium in uns selbst schärfen und die Einfühlung in unsere eigenen und in die Bedürfnisse unserer Kinder wecken. Bei allen Menschen, die es anders machen wollen. In diesem Sinne möchte ich Sie dabei begleiten, neue Wege zu beschreiten, und Sie ermutigen, nicht aufzugeben, wertschätzende Lösungswege zu suchen.
Das alles ist sicher leicht gesagt. Doch ich weiß, dass die Umsetzung für viele Eltern überhaupt nicht einfach ist. Warum? Weil wir den Kontrollmodus abschalten und Vertrauen lernen dürfen. Das geht nicht ohne die Reflexion eigener Handlungsmuster. Schnell werden Stimmen in uns wach, die alte Erziehungssätze in uns wecken und uns zuflüstern: »Wer nicht hören will, muss fühlen!«, »Strafe muss sein!« oder auch »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!«. Diese Stimmen sind mal lauter, mal leiser, und sie machen es nicht leicht, Vertrauen in uns selbst und in die Beziehung zu unseren Kindern zu entwickeln.
Solange sich alle gut verstehen, ist das kein Problem. Dann können wir freundlich und wertschätzend miteinander umgehen. Was aber, wenn wir uns ärgern, wenn wir wütend sind und wenn in unserer Wut die Stimmen überhandnehmen und uns in alte Muster zurückwerfen? Ich treffe oft auf Eltern, die ihren Kindern eine Kindheit ohne Strafen ermöglichen wollen und die merken, dass es nicht so einfach ist, die eigenen Beziehungsmuster, Verhaltensweisen und Prägungen hinter sich zu lassen. Und so fragen mich viele: Warum ist es so schwer, es anders zu machen, und wie können wir die eigenen tief sitzenden Handlungsmuster unterbrechen? Das alles sind Fragen, mit denen wir uns in diesem Buch beschäftigen wollen.
Es geht nicht darum, zu urteilen, ob die Eltern in meinen eingangs beschriebenen Beispielen »richtig« oder »falsch« gehandelt haben oder ob sie gute oder schlechte Väter oder Mütter sind. Bei der Erziehung – oder besser, in der Beziehung zu unseren Kindern – laufen viele unbewusste Prozesse ab, und wir hinterfragen unser Handeln oft nicht, weil wir im Alltag einfach Erziehung »betreiben« und es selbst so erfahren haben. Nie habe ich im Rahmen meiner beruflichen Praxis »schlechte« Eltern getroffen. Im Gegenteil. Sie alle lieben ihre Kinder sehr und haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Beste gegeben. Die Frage, die viele Eltern bewegt, ist: Warum können wir in Konfliktsituationen die Liebe zu unseren Kindern nicht (mehr) in liebevolles Handeln umsetzen?
Eine Mutter sagte in meiner Beratung einmal: »Ich will einfach nur, dass mein Kind auf mich hört! Kennen Sie diese Momente?« Ich kenne sie – als Mutter und als Pädagogin in meiner Arbeit als Eltern- und Familienberaterin. Und doch: Als vor über 20 Jahren mein erstes Kind zur Welt kam, habe ich sehr schnell den Wunsch entwickelt, es anders zu machen. Anders, als ich es selbst erlebt habe, und auch anders, als es mir von außen geraten wurde. Warum? Weil ich mein Kind in seinem Verhalten vor allem verstehen wollte. Weil ich schon damals davon überzeugt war, dass das Verhalten von (großen und kleinen) Menschen einen bestimmten Sinn hat und dass wir den manchmal nicht sofort verstehen und erkennen können, dass es sich aber lohnt, hinter das Verhalten zu schauen.
Auch die Eltern, die mir in meiner Praxis begegnen, wollen es anders machen. Sie sind auf der Suche nach neuen Wegen und wollen ihre Kinder besser verstehen, wollen auf ihre Bedürfnisse reagieren und geraten dabei immer wieder in einen sanktionierenden Umgang. Eine Mutter beschreibt es so:
Mir passiert es, wenn ich in überfordernde Situationen komme beziehungsweise schon länger an meiner Belastungsgrenze balanciere. Dann werde ich laut und doof und schicke die Kinder schon mal in ihre Zimmer. Wir haben drei, sie sind acht, fast vier und zwei Jahre alt. Ich fahre zwar schnell wieder runter und hole die Kids wieder aus ihrem Zimmer, entschuldige und erkläre mich – ich bin aber trotzdem unglücklich und kann das Ganze nicht ungeschehen machen. Ich habe ein großes Problem mit Abgrenzung, gehe oft über meine Grenzen. Ich wünsche mir so sehr, aus dieser Strafspirale rauszukommen.
Eltern merken, dass es nicht einfach ist, Konflikte auch auszuhalten und es somit anders zu machen. Was ist das genau für ein Muster, in das wir immer wieder zurückfallen? Wo kommt es her und warum sitzt es so tief? Warum ist es für unser Beziehungsverhalten so destruktiv, wie können wir es hinter uns lassen und wie im Alltag handeln? Auch darum wird es in diesem Buch gehen.
»Aber Kinder brauchen doch Grenzen!«, wird Eltern immer wieder zugerufen. Und jetzt komme ich und sage: Wir müssen Kindern keine Grenzen setzen. Wir dürfen uns in unseren eigenen Grenzen zeigen. Ja, ABER … schallt es gleich von allen Seiten. Wenn ich auf Veranstaltungen mit Lehrerinnen oder Erzieherinnen bin, ist das genau meine Erfahrung – aber auch Eltern erheben Einspruch. Moment mal, keine Grenzen setzen? Ja, ABER, das geht doch nicht! Ja, ABER, dann tanzen die Kinder uns doch auf der Nase herum! Das große JA, ABER versperrt uns die Sicht auf alles Neue und verhindert so, dass wir eine neue Perspektive einnehmen, dass wir den Blick auf das Bisherige verändern können. Deshalb möchte ich Sie, bevor Sie weiterlesen, um etwas bitten: Stellen Sie Ihre bisherigen Gedanken und Vorbehalte zunächst zur Seite. Ich bitte Sie um Offenheit und um Unvoreingenommenheit und lade Sie dazu ein, das Gelesene auf sich wirken zu lassen, ohne gleich den großen »Ja-aber-Filter« darüberzulegen.
Natürlich werden wir uns mit der Frage, in welcher Weise Erwachsene Grenzen setzen können, ohne zu strafen, auseinandersetzen – nicht an dieser Stelle, und doch möchte ich Ihnen hier schon sagen: Die Frage, wie wir Grenzen für uns selbst setzen und uns auch abgrenzen können, gehört zu einem wesentlichen Themenfeld, wenn wir über Beziehungen sprechen.
Ich habe keine Methode zu verkaufen, ich möchte nicht überzeugen und nicht missionieren. Dennoch gibt es aus meiner Sicht interessante Erkenntnisse aus der Säuglings- und Bindungsforschung, der Hirnforschung und der Entwicklungspsychologie, die deutliche Hinweise darauf geben, dass es sich lohnt, den Umgang mit unseren Kindern zu überdenken. Kindheit ohne Strafen, geht das? Warum sollten wir uns auf den Weg machen, und was spricht dafür, es anders zu versuchen? Das möchte ich gern im ersten Kapitel anhand verschiedener pädagogischer, psychologischer und auch neurobiologischer Grundlagen beleuchten, wobei dem Aspekt der Bindung eine besondere Bedeutung zukommt. Eine sichere Bindung ist die Grundlage für eine gesunde Entwicklung unserer Kinder, und Strafen können diese Entwicklung massiv behindern.
Insgesamt ist die Gefühlswelt von uns Eltern vielfältig geprägt: durch eigene Erfahrungen in der Kindheit und auch durch viel Druck und Erwartungen von außen. In welchen Situationen gehen mit uns »die Pferde durch«? Welche Gefühle bringen uns dazu, zu strafen und Konsequenzen zu verhängen? Darüber möchte ich im zweiten Kapitel einen Überblick geben. Es wird emotional, das verspreche ich Ihnen.
Im dritten Kapitel schauen wir uns die Mechanismen von Strafen, Konsequenzen und Sanktionen an und stellen uns der Frage, was dieser Umgang bei den Beteiligten bewirkt. Vielleicht werden Sie überrascht davon sein, wie viele Auswirkungen diese Maßnahmen auf der Bindungs- und Beziehungsebene und somit für die Entwicklungen unserer Kinder haben.
Ja, und dann steht natürlich die herausfordernde Frage im Raum, wie wir aus einem sanktionierenden Umgang herausfinden können – wenn wir denn wollen. Das vierte Kapitel zeigt anhand von Beispielen und praktischen Übungen auf, wie wir einen anderen Umgang mit unseren Kindern entwickeln können. Dabei geht es auch um Sie als Eltern und um die Auseinandersetzung mit Ihren eigenen Beziehungsmustern und Erfahrungen als Kind. Das ist wichtig, damit Sie wirklich neue Wege gehen können und nicht immer wieder in alte strafende Verhaltensmuster zurückfallen.
Im fünften Kapitel geht es um grundlegende Prinzipien auf dem neuen Weg, den bindungs- und beziehungsorientierten Ansatz, emotionale Grundbedürfnisse und den wertschätzenden Dialog als Grundlage im Miteinander. Im abschließenden Kapitel greife ich ganz klassische Alltagssituationen auf, die wir Eltern alle kennen. Dort werden weitere Denkanstöße und Hinweise gegeben, wie Situationen im Alltag mit unseren Kindern ohne Strafen und Konsequenzen in einem bindungs- und beziehungsorientierten Miteinander gut zu lösen sind.
Ich wünsche mir, dass es Ihnen als Eltern gelingt, eine Kindheit ohne Strafen möglich zu machen und neue wertschätzende Wege in der Beziehung zu Ihren Kindern zu finden. Voraussetzung dafür ist, dass Sie sich auf neue Wege einlassen, dass Sie das hier zusammengetragene Wissen aufnehmen und bereit für persönliches Wachstum sind, vielleicht auch bereits Gedachtes und Gefühltes neu denken und fühlen und es wirklich anders machen wollen. Ich bin sicher: Wenn Sie das Buch gelesen haben, verstehen Sie das Verhalten Ihrer Kinder besser und werden auch Ihr eigenes Handeln viel besser reflektieren und nachvollziehen können. Gerade die Erkenntnisse aus der Neurobiologie können uns als Eltern bestärken, unbewusste Vorgänge in unser Bewusstsein holen, Aufschluss über Folgen unseres Handelns geben und unsere Augen für uns und unsere Kinder öffnen.
So können Sie sich auf neue Wege begeben, gleichzeitig etwas über sich und die Entwicklung Ihrer Kinder erfahren und so entspannter und gelassener im familiären Alltag agieren. Das Ziel ist, dass Sie Ihre Kinder mehr genießen und neue Handlungsalternativen finden, ohne den kraftraubenden Machtkampf, ständiges Schimpfen und Strafen im täglichen Miteinander. Wir sollten nicht vergessen: Für uns ist es »nur« der Alltag mit unseren Kindern. Für die Kinder ist es ihre Kindheit – sie haben nur die eine.
Kapitel 1
In meine Beratung kommen immer wieder Eltern mit dem Anliegen, besser mit ihrem Kind zurechtkommen zu wollen. Gerade nach dem ersten Babyjahr, wenn Kinder laufen und sprechen lernen, werden die Bedürfnisse nach Autonomie, Selbstständigkeit und der Drang nach Selbstwirksamkeit stärker. Das heißt, es beginnt ein neuer Lebensabschnitt: Kinder werden körperlich aktiver, können sich unabhängiger von ihren Eltern bewegen und so auch ihre Umwelt mehr und mehr selbstständig erkunden. Diese Zeit ist für Kinder der Beginn einer tief greifenden emotionalen Entwicklung, und Eltern sind oft zunächst überrascht, dass die eben noch so freundlich lächelnden Babys auf einmal so widerständig werden. Umso erschrockener sind sie über sich und ihre eigenen Reaktionen. Anfangs beruhigen sich Eltern noch selbst, indem sie sich sagen, dass es nur die »Trotzphase« oder die sogenannte Autonomiephase ist. Dann aber werden die Kinder älter, es beginnen Machtkämpfe, diese verhärten sich, und Eltern begegnen ihren Kindern mit Maßnahmen, die das Verhalten der Kinder an ein von ihnen gewolltes anpassen sollen.
Mein Sohn Tom (fünf Jahre) ist heute total aufgedreht, wild und ungestüm gewesen. Wir haben ihn von der Kita abgeholt, waren noch kurz bei der Oma, was Tom schon nicht so gut fand, und kamen nach Hause. Er sollte sich wie immer hinsetzen und seine Schuhe ausziehen beziehungsweise wir helfen ihm dabei, wenn er es möchte. Doch er rutschte extra von der Treppe runter, legte sich auf den Boden und trat wie wild gegen die Heizung. Einfach so! Wie bringen wir unserem Kind bei, dass so etwas nicht geht?
Wir haben ihm dann ganz ruhig gesagt, dass er das nicht machen soll, und auch erklärt, dass die Heizung kaputtgeht, dass alles dreckig wird und dass wir das nicht wollen. Es hatte keinen Sinn! Wir konnten ihn gar nicht erreichen! Er hat uns einfach ignoriert, nicht auf uns gehört und weitergemacht.
Mein Mann hat ihn dann bestraft, was ich aber überhaupt nicht gut finde. Ich will das einfach nicht mehr. Da ich aber auch nicht möchte, dass der eine Elternteil Ja und der andere Nein sagt, habe ich die Strafe meines Mannes dann mit durchgezogen, auch wenn ich es nicht so gemacht hätte. Das hat natürlich zu extremen Diskussionen zwischen uns beiden geführt, weil ich meinem Mann erklären wollte, dass ich das so nicht richtig finde.
Er hat gesagt: »Tom, du weißt ganz genau, dass du nicht gegen die Heizung treten oder hauen sollst, jetzt gibt es keine Gute-Nacht-Geschichte.« Mein Sohn ist ausgerastet. Er hat geschrien und getobt. Wollte sich dann nicht ausziehen lassen, wollte keinen Schlafanzug, wollte seine Zähne nicht putzen und natürlich auch nicht ins Bett. Eine Stunde hat er gewütet und war danach so erschöpft, dass er dann doch eingeschlafen ist. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, aber was soll ich machen, wenn ich mit meinem Mann nicht einer Meinung bin? Ich kann meinem Sohn ja dann schlecht doch die Geschichte vorlesen.
Solche oder ähnliche Situationen kennen bestimmt viele Eltern. Wir wollen, dass unsere Kinder etwas tun oder lassen, und wenn sie dem nicht nachkommen, neigen wir häufig dazu, das Handeln des Kindes als Angriff zu verstehen und persönlich zu nehmen. Dabei ist in der Regel nichts, was Kinder tun, gegen uns Erwachsene gerichtet. Wenn wir aber diesem Trugschluss unterliegen, beginnt ein (Macht-)Kampf zwischen Eltern und Kind, der im Ergebnis nicht das nach sich zieht, was das Kind eigentlich braucht. Denn Kinder machen in diesen Momenten letztendlich vor allem wichtige Erfahrungen mit sich und ihren Emotionen machen.
Der Machtkampf ist als Art und Weise, miteinander in Beziehung zu treten, nicht konstruktiv. Er kostet alle Beteiligten Kraft, und es gibt nur Verlierer: sowohl die Eltern als auch das Kind. Dabei erlebe ich viele Eltern zerrissen zwischen dem Altbekannten und etwas Neuem: Während der Vater von Tom im Beispiel eine Strafe verhängt, spürt die Mutter deutlich, dass sie das nicht (mehr) möchte. Sie merkt, dass sie dadurch in einen anstrengenden Kampf mit ihrem Kind gerät, und will es anders machen.
Wenn Eltern mit ihren Kindern in einen Machtkampf geraten, beginnen sie häufig, ihre Kinder zu strafen. Doch Strafen helfen dem Kind nicht. Sie sind sogar schädlich für die Entwicklung. Das »Trotzverhalten« kann sich verstärken, und die Machtkämpfe nehmen zu. Manche Kinder ziehen sich zurück und verschließen sich. Sie fallen dann zwar weniger auf, werden jedoch in ihrer emotionalen Entwicklung gehemmt, weil sie keine Verbindung zu ihren Gefühlen erlangen und so keine angemessenen Strategien für den Umgang mit ihnen entwickeln können. Außerdem sinkt die Kooperationsbereitschaft der Kinder.
Wenn wir für einen Augenblick aus der Situation heraustreten und Tom und seine Eltern von außen betrachten, können wir schnell merken, dass hier nichts im Verhältnis steht: Wir sehen zwei erwachsene Menschen, die mit einem Fünfjährigen auf der Treppe rangeln und einen zermürbenden Kampf kämpfen. Einen von vielen. Dabei ist es so, dass das Verhalten von Kindern immer ein Ergebnis dessen ist, was für eine Beziehung Eltern anbieten (können).
Alle Menschen werden mit Eigenheiten, Eigenarten und bestimmten Charakterzügen geboren, doch wie Kinder sich dann tatsächlich entwickeln, hängt vor allem davon ab, wie die Eltern mit ihnen umgehen und wie sie diese Beziehung gestalten. Die Verantwortung für die Qualität der Beziehung liegt ganz bei den Eltern. Es ist unsere Aufgabe, die Beziehung zu den Kindern zu gestalten – sie selbst wären hier völlig überfordert. Kinder verursachen (mit ihrem nicht an unsere Vorstellungen angepassten Verhalten) allenfalls Belastungen. Die Verantwortung, damit gut umzugehen und für eine gelingende Beziehung zu sorgen, liegt in unseren Händen.
Die Art und Weise, in der der Vater hier die Verantwortung für die Beziehung zu seinem Sohn übernimmt, ist jedoch wenig fürsorglich und liebevoll. Durch die Strafe und die Form der Kommunikation wird die Beziehung zwischen Vater und Sohn belastet. Auch gibt der Vater Tom die Verantwortung für den Konflikt: »Tom, du weißt ganz genau, dass du nicht gegen die Heizung treten oder hauen sollst.« Die Botschaft, die die Eltern an Tom senden, lautet: Wir lehnen dich mit diesem Verhalten ab – und es ist deine Schuld.
Wir säen in dieser Form von elterlicher Führung in der kindlichen Seele zwei Gefühle: Schuld und Scham. Beide Gefühle sind destruktiv und richten sich gegen den Menschen.
Nicht, dass hier Missverständnisse aufkommen. Das alles bedeutet nicht, dass ich Toms Eltern und ihren Wunsch danach, dass ihr Sohn nicht gegen die Heizung tritt, nicht nachvollziehen kann. Und natürlich wollen wir, dass unser Kind lernt, sich entsprechend zu verhalten. Es geht vielmehr um die Art und Weise, wie Eltern diesen Konflikt lösen und wie wir unsere Kinder durch eine Auseinandersetzung führen.
Durch Strafen nimmt das unerwünschte Verhalten – gerade in dieser wichtigen Phase der zunehmenden Autonomie der Kinder – nicht ab, sondern eher zu. Durch Bestrafung nutzt der Erwachsene seine elterliche Autorität – er missbraucht seine Macht und übt Kontrolle aus. Der eigene Wille des Kindes wird gebrochen, der in der Situation unsichere Erwachsene wird so gestärkt. Beim Kind können durch Strafen unerwünschte Verhaltensweisen unterdrückt beziehungsweise erwünschte angewöhnt werden, eigene wichtige Erfahrungen kann es jedoch nicht machen. Es lernt nur: Ich muss gehorchen, sonst erfahre ich Schmerzen oder mir wird etwas weggenommen. Bei Tom ist es die Gute-Nacht-Geschichte. Kinder erleben durch Bestrafung Demütigung und Ablehnung. Sie erfahren, dass sie so, wie sie sind, nicht geliebt werden.
Wird ein Kind häufig bestraft, so ist die Beziehung nicht von Vertrauen, sondern von Angst geprägt. Diese Angst kann zu einer Dauerbelastung führen. Durch regelmäßige Bestrafung kann sich das Kind nicht nach seinen eigenen Bedürfnissen und Eigenheiten entwickeln. Es wird eher verängstigt sein, seine eigene Meinung zu sagen, wird Konflikten aus dem Weg gehen und sich im schlimmsten Fall nichts zutrauen.
So können wir uns fragen: Wie sollen unsere Kinder sein? Welche Werte wollen wir weitergeben? Was ist das Ziel unserer Erziehung? Und erreichen wir dieses, wenn wir Konsequenzen und Sanktionen androhen und verhängen? Sollen unsere Kinder lernen, dass man Konflikte so klärt: Der Stärkere verbietet dem Schwächeren etwas, setzt sich mit Schimpfen und Gewalt durch, kränkt und wertet ab? Ziele wie Verantwortungsbewusstsein, Eigenständigkeit, autonomes Handeln, ein starkes Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit sind aus meiner Sicht nur schwer zu erreichen, wenn wir kindliches Verhalten mit Strafen oder Sanktionen belegen. Um ganz deutlich zu werden: Diese Ziele werden nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Kindheit wird zu einem Kampf, und später kämpft man als Erwachsener weiter. Gegen Schuld, Scham und ein geringes Selbstwertgefühl.
Da wir heute gesicherte Erkenntnisse darüber haben, was Kinder für eine gesunde seelische Entwicklung brauchen, können wir uns ganz bewusst von Strafen und Konsequenzen als Erziehungsmaßnahme abwenden und zu einer neuen Haltung finden. Einer Haltung, die nicht aus Kampf, Abwertung und Verletzungen besteht, sondern in der wir die emotionalen Bedürfnisse und persönlichen Grenzen von Kindern achten, sie als Persönlichkeit annehmen und Konflikte wertschätzend und konstruktiv lösen. Die Machtkämpfe reduzieren sich so, die Qualität der Beziehung verändert sich, und das Vertrauen zwischen Eltern und Kindern wächst.
Damit wir unser Verhalten unseren Kindern gegenüber ändern können, ist es erst einmal wichtig, zu verstehen, was in Kindern vorgeht und warum sie sich so verhalten.
Durch Strafen nimmt das unerwünschte Verhalten nicht ab, sondern eher zu. Es entsteht eine Machtspirale, aus der es oft keinen Ausweg gibt. Strafen und Konsequenzen zeigen häufig (leider!) einen kurzfristigen Erfolg – deshalb ist es so verführerisch, sie einzusetzen. Letztlich jedoch sind sie das Tor zum Machtkampf zwischen Groß und Klein, verschärfen negative Haltungen und Einstellungen auf beiden Seiten und können auch problematisches Verhalten bei Kindern verfestigen.