Jean-Pascal Ansermoz
Regensymphonie
2 E r z ä h l u n g e n
Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlags gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.
Jean-Pascal Ansermoz
»Regensymphonie«
Bonusgeschichte
Jean-Pascal Ansermoz
»Die Summe unseres Lebens«
Deutsche Erstveröffentlichung
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
2017 Jean-Pascal Ansermoz
Lektorat & Satz: KopfKino-Verlag
Covergestaltung: coverandbooks / Rica Aitzetmüller
Umschlagmotiv: unclesam & thehiddenface & markszalai / Adobe Stock
KopfKino-Verlag
Thomas Dellenbusch
Gluckstr. 10
D-40724 Hilden
www.MeinKopfKino.de
KopfKino, das sind berührende, nachdenkliche oder auch spannende Kurzromane in Spielfilmlänge. Ihre ungefähre Lesezeit liegt zwischen 60 und 180 Minuten.
Sie eignen sich daher wunderbar für all die vielen kleinen zeitlichen Zwischenräume, die das Leben hat: für die Reisezeit in Bahn, Bus, Auto oder Flugzeug, für die Stunden in Wartezimmern, für den Aufenthalt beim Friseur, während der Dialyse, für den Nachmittag im Freibad oder am Strand, vor dem Schlafengehen oder einfach so für zwischendurch, um circa zwei Stunden unterhaltsam zu füllen.
Da ihre Lesezeit ungefähr der Länge eines Spielfilms entspricht, eignen sie sich auch hervorragend dazu, sie sich gegenseitig vorzulesen und den Fernseher einmal ausgeschaltet zu lassen. Lassen Sie sich von Fernseher und Leinwand nicht das ganze Vergnügen abnehmen.
Genießen Sie Ihren eigenen Film auf der größten Kinoleinwand der Welt: Ihrer Fantasie!
Jeder Kurzroman ist als eBook und als Hörbuch erhältlich, viele auch als Taschenbuch.
Informieren Sie sich regelmäßig auf
MeinKopfKino.de
über Neuerscheinungen, die Autoren, Termine für
Lesungen, Hintergründe, oder laden Sie sich einzelne
Geschichten als eBook oder Hörbuch herunter.
Jean-Pascal Ansermoz
Regensymphonie
2 E r z ä h l u n g e n
»Hörst du den Regen?«
Die Frage war nicht, ob ich ihn hörte, sondern wie um alles in der Welt ich ihn nicht hätte hören können. Seit Tagen trommelte er sich in meine Gedanken, nur durch eine dünne Zelthaut getrennt, zählte für mich die Stunden und Minuten und legte sie mir zu Füssen. Es war kalt und nass, und der Tag ähnelte der Nacht.
Dieser noch mehr als alle anderen.
»Ich liebe es, ihm zuzuhören. Hast du gewusst, dass er Geschichten erzählt?«
Geschichten?
Geschichten schwirrten genug in meinem Kopf herum. Bei manchen Bildern wusste ich schon gar nicht mehr, ob ich sie je erlebt hatte, oder ob es sich einfach nur um Fantasiegebilde handelte, die mir das Leben schwer machten. Meine Gedanken liefen in die Irre, wenn die Stunden sich auszogen, wie Schlangen sich häuteten. Immer und immer wieder dieselben Reigen. Ich kannte die Kehrreime auswendig.
Und jedes Mal stimmten sie mich traurig.
Mit meinen zwölf Jahren hatte ich bereits genug Geschichten für ein ganzes Leben. Und jeden Tag kamen neue hinzu. Das Lager war voll von ihnen. Die Welt schrumpfte auf wenige Quadratmeter Frustration und Erschöpfung. Ein Horizont, der weinte und schrie, in der Nacht, wenn Erinnerungen plötzlich wieder lebendig wurden und Bilder wie Raketen in meinen Kopf schossen.
Alima drehte sich zu mir und sah mich aufmerksam an. Ich gab sicher kein schönes Bild ab. Zusammengekauert umschlossen meine Arme seit Stunden meine Beine. Ich zitterte fast nur noch, wenn nicht vor Kälte, dann vor Erschöpfung. Ein Wunder, dass ich noch nicht krank geworden war.
»Komm her«, sagte sie und hob einen Zipfel ihrer Decke. Das musste sie mir nicht zweimal sagen. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen? Eine Geschichte des Regens?«
Die plötzliche Wärme ließ die Welt sich um mich drehen. Ihr Geruch, so vertraut und nach all den Kilometern doch so fremd, machte mich schwindlig. Das fühlte sich an wie Heimat. Diejenige, die wir vor Monaten verlassen hatten, meine Schwester, mein Bruder und ich. Ja, ich wollte eine Geschichte hören. Und sei es nur, um bei ihr sitzen bleiben zu dürfen.
Ich nickte. Sie strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Einen kurzen Augenblick zog sie die Augenbrauen zusammen und sah in den Regen hinaus. Dann lächelte sie und begann zu erzählen.
»Ein Strom floss vom Ursprung in fernen Gebirgen durch sehr verschiedene Landschaften und erreichte schließlich eine Sandwüste. Genauso, wie er alle anderen Hindernisse überwunden hatte, versuchte er nun auch, die Wüste zu durchqueren. Nach wenigen Metern aber merkte er, dass - so schnell er auch durch den Sand fließen mochte - seine Wasser verschwanden. Er war jedoch davon überzeugt, dass es für ihn der einzig mögliche Weg war, die Wüste zu durchqueren. Da hörte er eine Stimme: »Der Wind durchquert die Wüste, und das Wasser kann es auch.« Der Fluss wandte ein, dass er sich doch gegen den Sand werfe, dabei jedoch nur aufgesogen würde; der Wind aber fliegen könne und deshalb die Wüste zu überqueren vermochte. »Wenn du dich auf die gewohnte Weise vorantreibst, wird es dir unmöglich sein, sie zu überwinden. Du wirst entweder verschwinden, oder du endest als Sumpf. Du musst dem Wind erlauben, dich zu deinem Bestimmungsort zu tragen«, flüsterte die Stimme. »Aber wie soll ich das machen?«, fragte der Fluss. »Indem du dich von ihm aufnehmen lässt.« Diese Vorstellung war für den Fluss unannehmbar. Schließlich war er noch nie zuvor aufgesogen worden. Er wollte keinesfalls seine Eigenart verlieren. Denn wenn man sich einmal verliert, wie kann man da wissen, ob man sich je wiederfindet? »Der Wind weiß wie«, sagte die Stimme. »Er nimmt deine Flüssigkeit auf, trägt sie über die Wüste und lässt sie wieder fallen. Und als Regen wird dein Wasser wieder zum Fluss.« »Woher kann ich wissen, ob das wirklich wahr ist?« »Es ist so, und wenn du es nicht glaubst, kannst du eben nur ein Sumpf werden. Und auch das würde viele, viele Jahre dauern. Weiter kommst du dann aber nicht. Die Frage ist also, willst du hierbleiben, oder folgst du deinen Träumen?« »Aber kann ich nicht derselbe Fluss bleiben, der ich jetzt bin?« »Niemand bleibt, wie er ist«, flüsterte die geheimnisvolle Stimme. »Das Leben ist ständig in Bewegung. Und du bist ein Teil dieses Lebens. Ob du es wahrhaben willst oder nicht. Das Wesentliche an dir wird fortgetragen und bildet dann wieder einen neuen Strom. Heute wirst du nach dem genannt, was du jetzt gerade bist, doch du weißt nicht, welcher Teil deines Selbst morgen der Bestimmende sein wird.« Als der Strom dies hörte, stieg in seinem Innern langsam ein Gefühl auf. Dunkel erinnerte er sich an einen Zustand, in dem der Wind ihn - oder einen Teil von ihm? - auf seinen Schwingen getragen hatte. Das war lange, lange her, bevor er zu jenem Fluss geworden war, der nun die Wüste zu durchqueren suchte. Und da ihm keine andere Lösung zur Verfügung stand, als zu vertrauen, gab er sich schließlich hin. Er ließ seinen Dunst in die Arme des Windes aufsteigen, der ihn willkommen hieß und sachte vorwärts trug. Als sie nach vielen, vielen Kilometern endlich den Gipfel des Gebirges erreicht hatten, ließ der Wind ihn wieder herabfallen. Weil er zu Beginn voller Ängste gewesen war, konnte der Fluss nun diese Erfahrung mit all ihren Einzelheiten viel deutlicher empfinden. Sie prägte sich ihm ein. Der Strom hatte gelernt zu vertrauen. Und deshalb sagt man, dass der Weg, den der Strom des Lebens auf seiner Reise einschlagen muss, auch in den Sand geschrieben ist.«
»Das muss aber ein großer Fluss gewesen sein«, dachte ich laut und sah dabei zu den schweren Wolken hoch.
»Vielleicht waren es ja auch mehrere Flüsse, die sich zusammengefunden haben.«
»So wie wir hier?«, fragte ich sie.
»Schau, alle hier haben eine andere Herkunft, aber alle wollen dieselbe Wüste durchqueren.«
So hatte ich mir das noch nicht überlegt.
»Wir müssen durch eine Wüste?«
Ihr Lachen nahm mir meine plötzliche Befangenheit wieder. »Unsere Wüste hat einen anderen Namen. Aber sie tötet genau gleich, wenn man nicht aufpasst.«
»Du meinst den Krieg, nicht wahr?«
Sie nickte bedächtig und seufzte.
»Unsere Wüste heißt Krieg.«
Jetzt musste ich nicken, obwohl ich nicht alles begriffen hatte. Aber solange sie bei mir war, konnte kommen, was wollte. Auch eine Wüste. Wir würden es durchstehen. Da war ich mir sicher.
»Und jetzt ruhe dich aus. Du siehst müde aus.«
Sie nahm mich bei den Schultern und zog mich sachte zu sich hin, bis mein Kopf in ihrem Schoss lag. Ich wehrte mich nicht. Das war ein wunderbarer Moment.
»Alima?«
»Ja?«
»Wir sollten sein wie die Winde, nicht wie Flüsse.«
»Das würde vieles einfacher machen.« Sie lächelte gutmütig. Ich dachte noch einen kurzen Moment an ihre Geschichte und horchte dem Regen. Eigenartig, wie sich die Welt veränderte, wenn eine Begebenheit sie dir näher brachte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als könne ich die Regentropfen unterscheiden, als hätte jeder von ihnen eine eigene Stimme. All diese Klangfarben zusammen ergaben eine Melodie, eine Symphonie des Regens. Etwas Sonderbares geschah mit mir. Der Fluss der Gedanken rückte in den Hintergrund. Ich war mir seiner zwar weiterhin bewusst, nahm ihn aber nicht mehr so wahr wie zuvor. Er verlor an Wirklichkeit, an Einfluss, an Intensität. Es gab nur noch diese Stimmen da draußen und die Wärme in mir drinnen. Die Gedanken machten etwas anderem Platz. Es fühlte sich friedlich an und geborgen. Wie eine Umarmung. Ich fühlte mich nicht mehr klein. Auch nicht mehr hilflos. Mit einem Male war alles wieder möglich. Ich fühlte mich befreit. Die Ängste schwiegen. Und aus dieser Stille wuchs Zuversicht. Zumindest hatte ich diesen Eindruck, als ich mich andächtig und auch ein wenig eingeschüchtert dem Moment hingab. Ich wagte es kaum noch zu atmen, aus Angst, etwas zu zerstören, das sich so perfekt anfühlte.
Genau hinzuhören war für mich neu und deshalb anstrengend. Schnell hatte die Müdigkeit meine Aufmerksamkeit eingeholt. Meine Augenlider wurden immer schwerer. Ich versuchte ein letztes Mal, mich gegen den Schlaf zu wehren.
Vergebens.
In meinem Traum lief ich durch die Wüste.
Als ich erwachte, war Alima nicht mehr bei mir unter der Decke. Benommen gähnte ich und schaute mich um. Nebenan weinte ein Baby. Ich hörte eine Frau, die ihm leise zuredete. Sehen konnte ich beide nicht.
Der Regen fiel immer noch. Zum Glück stand das Zelt auf Holzpaletten. Das verhinderte, dass wir zusätzlich zu Kälte und Wind auch noch im Wasser saßen.
Ich setzte mich auf und zog die Decke enger um meine Schultern, um die Wärme bei mir zu halten. Um mich weniger einsam zu fühlen auch. Einen kurzen Augenblick nahm ich ein Aufflackern meiner Angst wahr, beruhigte mich aber dann wieder. Vielleicht war ja bereits Essenszeit. Sie verteilten es zu einer bestimmten Stunde. Wer zu spät erschien, bekam nichts mehr. Manchmal gab es Reis. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen. Erst jetzt spürte ich, wie hungrig ich tatsächlich war. Ich trat vor das Zelt und setzte mich an die Kante des überstehenden Holzfundaments.
Draußen war immer etwas los.
Menschen kamen und gingen. Wohin wusste niemand. Hier gab es nicht viele Orte, wo man hingehen konnte. Und trotzdem gab es viele Rastlose. Wie Vögel streiften sie durch die Alleen. Vögel, denen man die Flügel gestutzt hatte, um sie am Weiterfliegen zu hindern. Ich versuchte, die Melodie des Regens wiederzufinden. Aber selbst als ich den Kopf schief legte und alle anderen Geräusche ausblendete, kam die Symphonie nicht mehr zurück.
Ich blieb mit der Erinnerung allein.
»Wenn du darüber nachdenkst, ob der Regen aufhört, verlierst du deine Zeit. Denn dem Regen sind deine Gedanken egal.«
Der Mann, der diese Worte zu mir gesprochen hatte, war keine zehn Schritte vor mir stehen geblieben. Ich wusste nicht, wie lange er mich schon beobachtete.
Seine Augen lachten. Und er sprach meine Sprache, wenn auch mit einem starken Akzent.
»Wenn ich dem Regen lange genug zuhöre, habe ich das Gefühl, ich sei der Regen«, fuhr er fort. »Als würde ich mit dem Wasser verschmelzen. Es ist ein schönes Gefühl, wenn Grenzen sich auflösen.«
Er hielt seinen Kopf den Wolken entgegen. Ich sah, wie Wasser über sein Gesicht rann. Der Mann strahlte etwas Freundliches aus. Vielleicht gab dies mir das Vertrauen, ihm Antwort zu geben. Vielleicht war es die Sprache, die wir gemeinsam hatten. Vielleicht war es auch nur, dass er mich an meinen Onkel erinnerte, der immer viel gelacht hatte und immer für einen Scherz zu haben gewesen war. Onkel Habib, wie alle ihn nannten, war überall beliebt gewesen und kannte das ganze Dorf. Habib bedeutet auf Arabisch so viel wie Geliebter, und diese Bezeichnung fand in ihm seine ganz eigene Definition. Wenn er lachte, wackelte sein dicker Bauch. Solange ich mich erinnern konnte, hatte er einen Schnauz getragen. Den gleichen wie der Mann vor mir.
»Wie heißt du, mein Freund?«
Ich überlegte einen kurzen Augenblick, da Alima mir eingetrichtert hatte, nicht mit Fremden zu reden. Aber sie war ja jetzt nicht da.
»Kadir«, sagte ich ein wenig verlegen.
»Kadir«, wiederholte er nachdenklich und so, wie er es ausgesprochen hatte, erhielt mein Name etwas Geheimnisvolles. Das gefiel mir.
»Ein schöner Name. Darf ich mich zu dir setzen, Kadir?«
Ich antwortete ihm nicht. Ihn schien das aber nicht zu stören. Er setzte sich trotzdem. Allerdings nicht direkt neben mich. Er ließ einen gebührenden Abstand zwischen uns. Ich glaube, auch wenn er den Arm ausgestreckt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, mich zu berühren.
»Ich heiße Namid. Das ist ein indianischer Vorname und bedeutet Sternentänzer.« Er schwieg einen Augenblick, und ich spürte, wie er mich kurz ansah. »Ich habe dich noch nie gesehen. Bist du erst kürzlich angekommen?«
Ich nickte und sagte schnell: »Ich bin begleitet.«
Das war etwas, was ich gelernt hatte. Minderjährige Kinder sollten immer sagen, sie seien begleitet. Denn unbegleitete Kinder wurden eingesammelt und in Heime gesteckt. »Von meiner Mutter«, fügte ich hinzu, obwohl das nicht stimmte.
»Du bist ein schlechter Lügner, Kadir. Und das ist auf eine Art auch gut so.«
»Sie ist schon erwachsen und passt auf mich auf«, rechtfertigte ich mich.
»Wie alt ist sie denn?«
»Alt genug«, gab ich spitz zurück, war ich doch beleidigt, dass er mir nicht glaubte.
Aber Namid schien es mir nicht übel zu nehmen. In seinen Augen lag viel Wohlwollen, als er mich ansah. Sein Blick ließ alle unangenehmen Gefühle von mir abfallen.
»Du hast deine Lektion gelernt. Das ist gut. Ihr müsst zueinanderhalten.«
Für einen Augenblick schwieg er, und wir schauten dem fallenden Regen und den rastlosen Vögeln auf zwei Beinen zu, die auf ihrer Suche nach irgendwas vor unserem Zelt vorbeigingen. Keiner beachtete uns.