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Danielle

LAPORTE

BLEIB

BEI DIR

dann findest du dich selbst

Der ehrliche Wegweiser für deine spirituelle Reise

Aus dem Amerikanischen übertragen von Karin Weingart

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel WHITE HOT TRUTH. Clarity for keeping it real on your spiritual path – from one seeker to another bei VIRTUONICA Publishing, an imprint of Danielle LaPorte, Inc, Vancouver BC, Canada.

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Erste Auflage 2018

Copyright © 2017 by VIRTUONICA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Ansata Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Sabine Zürn

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München, nach einer Vorlage von LaurieMillotte.com

Umschlagfoto: © Catherine Just

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22677-0
V001

www.Integral-Lotos-Ansata.de

www.facebook.com/Integral.Lotos.Ansata

Für meine Freundinnen

von früher, heute, morgen, immer und ewig; ohne euch wäre ich längst übergeschnappt – auf die unangenehme Art. Und die Therapierechnungen hätten mich in den Ruin getrieben.

Ihr sorgt dafür, dass ich den Kontakt zu den wichtigsten Dingen des Lebens nicht verliere.

Ich war ein Suchender und bin es noch,

jetzt aber befrage ich keine Bücher mehr und nicht die Sterne.

Jetzt höre ich auf die Lehren meiner Seele.

RUMI

INHALT

Kapitel 1 DIE KIRCHE DER SELBSTVERBESSERUNG

Wenn spirituelles Engagement Schwerstarbeit ist

Kapitel 2 DIE MEGA-LÜGEN

Irrtümer auf dem Weg zur Wahrheit

Kapitel 3 WAHRHAFTIGES SUCHEN

Wie Weisheit entsteht (kleiner Tipp: sehr merkwürdig)

Kapitel 4 HEILMETHODEN

Mischen wir unsere eigene Medizin (alles rein experimentell, versteht sich)

Kapitel 5 NIMM DICH RICHTIG WICHTIG

Die Kuriositäten des Selbsthasses und die einzige Garantie für Selbstliebe

Kapitel 6 DU BIST ETWAS BESONDERES – ABER NICHT ZU BESONDERS

Auf der Suche nach dem Selbstwert

Kapitel 7 ÜBER-MENSCHLICH

Entscheide dich für wahre Präsenz

Kapitel 8 EIN OFFENES HERZ UND EIN HOHER ZAUN

Spirituelle Menschen und ihre Grenzen

Kapitel 9 BEREIT ZU VERZEIHEN

Der steinige Weg zur Vergebung

Kapitel 10 DIENST DER SEELE

Bewusster Optimismus und ein Leben in Fülle

Kapitel 11 DU BIST DER GURU

Die heißeste Wahrheit überhaupt

Kapitel 12 FALSCHE FREIHEITEN

Wenn der heilige Sex auf Abwege gerät

Kapitel 13 DER NEW-AGE-WERKZEUGKASTEN

Höheres Bewusstsein, mehr Respekt, weniger Abhängigkeit

Kapitel 14 DER PFAD INNERHALB DES PFADES

Die Karussellfahrt zur lebensbejahenden Disziplin

Kapitel 15 EIN GESUNDES URTEILSVERMÖGEN KANN NICHT SCHADEN

Wenn das Negative dem Positiven dient

Kapitel 16 WAS DAS LEIDEN BETRIFFT

Seele – Schmerz – Standpunkt

Kapitel 17 DAS WÜNSCHEN OPTIMIEREN

Das Erschaffen der Wirklichkeit

Kapitel 18 HINGABE

Jetzt, glaube ich, bist du bereit

DANKE!

BLEIB BEI DIR, DANN FINDEST DU DICH SELBST

Fragen zur Selbstreflexion

ÜBER DIE AUTORIN

1

DIE KIRCHE DER SELBSTVERBESSERUNG

Wenn spirituelles Engagement Schwerstarbeit ist

Dearly beloved,

We are gathered here today 2 get through

this thing called life.

PRINCE

»Betreten drei Seelenklempner eine Bar: ein Buddhist, ein Agnostiker und ein Katholik …«

Nein, das ist kein Witz, sondern die Geschichte meiner Gesprächstherapien. Ich hatte schon Coaches fürs gesamte Leben, für Kreativität, für öffentliches Reden und intuitive Geschäftsführung. Außerdem war ich bei AstrologInnen, nicht nur bei westlich orientierten, sondern auch bei einer Vertreterin der asiatischen Kunst der Horoskopdeutung (die man dann »vedisch« nennt). Weil … na ja, weil ein Hintertürchen ja nie schaden kann – für den Fall, dass einem die erste Auskunft, die man erhält, nicht gefällt. Ich habe mit der hawaiianischen Göttin Pele kommuniziert, mit meinen Geistführern und Erzengel Metatron geplaudert. Tête-à-têtes hatte ich mit meinem inneren Kind, meinem künftigen Selbst und den Devas meiner Website. Ich habe mich in Dutzende vergangener Leben rückführen lassen, das eine oder andere Gelübde aufgekündigt, das ich während einer meiner früheren Reinkarnationen abgelegt hatte, und mir das Kleingedruckte in meinen Seelenverträgen durchgelesen.

In der Hypnotherapie habe ich versucht, mein Karma aufzulösen; dabei stellte sich allerdings heraus, dass dieses In-Trance-Versetzen bei mir nicht funktioniert, weshalb ich das Karma nun wohl auch weiterhin mit mir herumschleppen muss. Ich habe Wellness-Workshops über mich ergehen lassen, die von kettenrauchenden Megalomanen geleitet wurden, deren Umgang mit MitarbeiterInnen zum Himmel stank. Barfuß bin ich sechs Meter weit über glühende Kohlen gegangen – ohne mir die Fußsohlen zu verbrennen. Ich habe in der Infrarotsauna Sprechgesänge und Gebete ausgeschwitzt – und anschließend meine Mikrowelle entsorgt. Die Kunst, Synchronizitäten fest einzuplanen, habe ich mir im Selbststudium angeeignet.

Vor meinem ersten Besuch im Weißen Haus habe ich mir Schutzsteine in den BH gestopft. Von der Security blieben sie unentdeckt – was mal wieder zeigt, wie magisch Amethyste sein können. Pilze habe ich eingeworfen, Schmerzmittel aber abgelehnt. Um die Nacht durcharbeiten zu können, habe ich blaugrüne Afa-Algen genommen, und für meine Muschi war mir feinster Kombucha-Tee gerade gut genug. Während eines Kaffee-Einlaufs habe ich meditiert. (Und eines kann ich dir sagen: Wenn du in der Lage bist, mit einem Röhrchen im Allerwertesten zu meditieren, bist du schon so gut wie erleuchtet.) Um meinen Seelengefährten aufzuspüren, habe ich mir reichlich Transkriptionen von Channelings zu Gemüte geführt – die ich jetzt für mindestens zwei Trennungen und einige verpasste Ficks mit echt guten Typen verantwortlich mache. Hätte ich mich nämlich weniger darauf versteift, meine perfekte Zwillingsflamme zu finden, wäre ich wahrscheinlich … na ja, lockerer gewesen. Auch war ich der New-Age-Bewegung sogar einmal kurz untreu wegen eines Techtelmechtels mit der Neuen Physik. Nichts geschieht ohne Grund.

Als »Motivationsrednerin« stand ich auf vielen Bühnen, um Selbstliebe und gesunde Grenzen als unsere höchste Verantwortung zu predigen. Der Großteil meines Publikums dachte bestimmt: Die lässt sich garantiert nichts gefallen. Doch hinter den Kulissen habe ich ganz schön was eingesteckt, ordentlich Mist von Lovern und MitarbeiterInnen, weil ich Toleranz für das spirituelle Nonplusultra hielt, als einzig zulässige Vorgehensweise (die mich allerdings eher zum Stillhalten verdammte). Ich versuchte, mich weniger auf meine Wünsche und mehr auf meine Bedürfnisse zu konzentrieren – konnte aber nur schwer einen Unterschied erkennen. Schließlich erkor ich Freddie Mercury zu meinem Krafttier. Das half. Die Show musste ja weitergehen.

Drei wahre Heil-Wunder habe ich erlebt, die mich demütig und zugleich voller Ehrfurcht zurückließen. Ein Medizinmann aus New Mexico befreite meine Psyche von einem tief sitzenden Schmerz, den ich seit Jahren empfunden, aber nicht hatte benennen können. Am Ende der Zeremonie wedelte er mit einer Adlerfeder über meinem Kopf und sprach dazu die Worte: »Von nun an nur noch vorwärts, nur noch vorwärts.« In Bali suchte ich nach einem Motorradunfall einen Heiler auf, der mir eine Druckpunktmassage verpasste, die so qualvoll war, dass ich laut aufschrie. Woraufhin er einen Sprechgesang anstimmte, auf meine Knie und Fußgelenke pustete und dieselben Punkte noch einmal drückte. Der Schmerz war weg. Nach meinen schlimmsten Verlusten legten mir begabte Freundinnen die Hände auf. Sie lösten bei mir körperliche Beschwerden – eine unglaubliche Befreiung – durch ihre Liebe und das segensreiche Lachen, das nur Frauen kennen, die auch schon solche Situationen durchgemacht haben. Aber das kennen ja die meisten von uns.

Von einem sogenannten Energie-Heiler wurde ich belästigt und übers Ohr gehauen, benutzt wegen meiner Muschi, wegen meines Geldes und meiner Beziehungen. Im Nachhinein sehe ich darin aber eine tief greifende, absolut notwendige Einweihung in mein volles Potenzial. Früher habe ich immer nur geglaubt, das Licht würde die Dunkelheit besiegen. Heute bin ich der strahlende Beweis dafür.

Als ich vor einem buddhistischen Lama aus Tibet kniete, habe ich ihn doch tatsächlich allen Ernstes gefragt:

»Erklärst du mir bitte, worum es im Leben wirklich geht?«

Im Lotussitz habe ich meinen Atem beobachtet: ein … und … aus … Habe beim Einatmen sehr bewusst das Leiden von Tsunami-Überlebenden in mich aufgenommen und Trost und Genesung ausgeatmet. Aus dem Evangelium der Maria Magdalena habe ich einiges über Frauenunterdrückung und Radikalfeminismus gelernt. Meine Vorstellungen von einem Punkte vergebenden Gott begannen zu schwinden. Und beim Aufarbeiten meiner schwierigen Beziehung zur Meditation erschienen mir ganz besondere Bilder des Lichts, die ich später in wissenschaftlichen Texten und sakralen Kunstwerken wiederfand.

Ich kam meiner inneren Wahrheit immer näher.

Zuvor aber musste ich erst noch erkennen, dass irgendwo zwischen Yoga-Kursen, Telefonaten mit Schamanen und geführten Fantasiereisen mein spiritueller Weg zu einer neuen To-do-Liste geworden war und sich zu einer bereits ähnlich langen Liste von Anforderungen gesellte, die Beruf und Alltag an mich stellten: Zubereitung organischer Babynahrung, handgeschriebene Geburtstagskarten, sofortige Beantwortung aller Posts, die ich erhielt, die erste Million und – nicht zu vergessen: mein Beitrag zur Rettung des Planeten vor der globalen Erwärmung.

Als mir klar wurde, dass ich an einem höchst unangenehmen Punkt angelangt war – dem Konflikt zwischen ernsthaften spirituellen Bemühungen und dem Zwang, mich immer noch zu steigern, immer besser zu werden –, ging mir ein bisschen die Puste aus (und zwar nicht nur beim Ein-, sondern auch beim Ausatmen).

Ich war müde. Wollte mein Wissen zwar immer noch mit großer Hingabe erweitern. War aber vor allem k.o.

Die Suche hinterfragen

Eines Abends lag ich in der Badewanne und meditierte. Ich hatte den Tag schon mit dem Gefühl begonnen, im Rückstand zu sein, weil ich noch etwas länger im Bett geblieben war, statt zu meditieren, bevor ich meinen Sohn weckte, um ihn für die Schule fertig zu machen. Zu der Zeit hatte ich gerade angefangen, mit Mantras zu arbeiten, speziell zur Überwindung von Hindernissen. Om Gam Ganapateyei Namaha. Deshalb lief an jenem Morgen in der Küche meine Mantra-Playlist (oder gibt es etwa jemanden, der keine Mantra-Playlist für die Morgenstunden hat?) in voller Lautstärke, während ich für den Jungen ein paar Eier in die Pfanne haute. Für mich kein Frühstück, ich machte gerade eine Saftkur. Mami, der Sound ist ja voll gruselig. Hast du keinen Bruno Mars? Iss deine Eier.

Sobald mein Sohn auf dem Weg zur Schule war, hatte ich eine kurze Therapiesitzung per Smartphone. Anschließend ein Meeting mit dem Anwalt meiner Firma, gefolgt von einem Interview für eine Zeitschrift, deren Redakteurin fünf einfache Tipps für die sofortige Erleuchtung von mir wollte (»Also echte Quickies für jedermann«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken). Zwischendurch habe ich mit einer meiner besten Freundinnen über die krassen Ergebnisse meiner morgendlichen Therapiesitzung gesimst:

Ich: Super-Session! Ich zu ihm so: Ich habe immer die Brosamen und versucht, einen Kuchen daraus zu machen. Der Therapeut daraufhin: Brosamen machen dich aber nicht satt, Danielle. Davon kannst du nur verhungern. Bam, ich sag dir, das hat gesessen!

Chela: Scheiß-Brosamen.

Ich: VERHUNGERN.

Chela: Puh!

Ich: Jetzt krieg ich direkt schon richtig Hunger.

Chela: Ich auch.

Aber zurück in meine Badewanne.

Am Ende des Tages liege ich also in einer heißen Komposition aus ätherischem Lavendelöl (zwölf Tropfen), rosa Himalajasalz (drei Tassen, Bittersalz geht aber auch) und naturtrübem Apfelessig (eine Tasse). Ein Klassiker zur Vertreibung und Neutralisierung negativer Energien. Ich dachte über Vergebung nach, übte mich in Lichtatmung und bat nicht nur meine Engel, sondern auch alle Göttinnen, die gerade Dienst schoben, mir bei der Linderung meiner Schmerzen zu helfen, insbesondere derer, die mit meiner Scheidung zusammenhingen. Bitte, befreit mich doch von diesen Qualen. Ich habe es so satt, dass die einfach immer, immer wiederkommen. Ich tue auch alles, was dafür nötig ist.

Geheult, geschrien und mit den Zähnen geklappert habe ich. Ihr kennt das ja bestimmt auch: Wenn man sich schließlich so verausgabt, dass man quasi in der Tiefe der eigenen Seele ankommt. In einer Art heiliger Leere und … Aber hey, schau doch nur! Was wartet dort auf dich? Deine Freude! Immer geduldig und voll verlässlich lächelt sie dich an und nickt dir zu. »Gut gemacht. Du hast es geschafft.« So ein Weinen war das.

Als ich, noch in Wasserdampf gehüllt, aus der Wanne stieg, überdachte ich alles, was ich an dem Tag, in jener Woche – ach was, alles, was ich in den letzten zwei Jahrzehnten – getan hatte, um seelisch in Form zu bleiben. Ich dachte an die Einträge in meinem Tagesplaner: Proteinpulver besorgen. Hütte für Schreib-Klausur buchen. Daneben weitere Termine für Energiearbeit und Yoga-Kurse. (Wann immer ich es da mal hinschaffte, malte ich ein Smiley neben den Eintrag.)

Und dann betrachtete ich mich im Badezimmerspiegel. Nackt, still, stumm beugte ich mich ein wenig vor, und in meinen Augen stand die Frage:

»Aber fühlst du dich auch frei?«

Denn nur darum ging – und geht – es doch: um Freiheit. Mystiker aller Zeiten stimmen darin überein, dass spirituelles Streben nur den einen Grund hat: Befreiung und nichts als Befreiung. Von Ängsten, restriktiven Ideologien, Selbsttäuschungen und Leiden. Befreiung von der Not, nicht dem eigenen wahren Selbst entsprechend leben zu können.

Die Freiheit.

Spürst du sie?

Führt denn all das, was du tust, um gesund und frei zu sein, auch tatsächlich dazu, dass du dich gesund und frei fühlst? Denn solange Befreiung eine lästige Pflicht ist, kannst du ja noch nicht wirklich frei sein, oder?

Auf dem Weg in die Eigenständigkeit musst du keine Zustimmung einholen. Freiheit ist nichts, was du dir verdienen musst. Freude kommt nicht von einer Checkliste.

Ich musste mir meine Lebensfreude hart erkämpfen. Zwar habe ich sie mir auch erliebt und erlacht und ganz eigene Wege gefunden, sie zu erlangen. Trotzdem beißt die Maus da keinen Faden ab: Dieses ganze Niederreißen von Hindernissen, das Abfackeln von Illusionen, das ewige Trauern – all das war übelst harte Arbeit. Extrem anstrengend.

Wenn ich nur daran denke, was ich alles angestellt habe, um mich mit der Dualität von Liebe und Berechnung, Licht und Dunkelheit, Verwirrung und Klarheit vertraut zu machen. Ich habe diese Portale auf die kampfbereite, menschliche Weise durchschritten, halt so, wie wir Sterblichen unsere Verbundenheit mit dem Kosmos nun einmal entdecken: in Lachflashs am Telefon mit Freundinnen und allein auf dem Küchenfußboden heulend. Durch eine Hausgeburt. Eine Scheidung. Dadurch, dass ich mir Wort für Wort eine Karriere erschrieben, auf der Bühne alles gegeben habe. Ich habe bei Hellsehern um Antworten gebettelt und Gurus bedrängt, mir praktische Tipps zu geben. Habe täglich gebetet: für Licht, zum Licht, mit dem Licht.

Und jetzt, in diesem Moment, bin ich die Lebensfreude, für die ich so hart gekämpft habe.

Jetzt, da ich so weit gekommen bin und unmittelbaren Kontakt mit meiner Seele habe, frage ich mich, ob dieses ganze harte »An-mir-Arbeiten« nicht vielleicht von vornherein ein völlig untauglicher Weg zur Erleuchtung war. Hätte ich mich womöglich viel früher akzeptieren und dabei auch noch eine Stange Geld für Therapien sparen können? Kann sein. Wahrscheinlich aber eher nicht. Die Wahrheit ist eine Reise.

Du musst dich selbst in Fülle lieben.

Im Tal der Fragen

Die Leute wollen sich für gut halten. Und ihr Leiden rührt allein daher, dass sie andere umso unterlegener finden, je »besser« sie sich selbst einschätzen. Wenn man sich aber für allzu gut hält, stagniert alles. Befreien wird euch nicht eure Güte … sondern die Fröhlichkeit eures Wesens.

SADHGURU

Hinter all unserer Selbsthilfe kann sich ein enormer Selbsthass verbergen. Als Ersatz für alte Süchte schaffen wir uns neue Obsessionen. Natürlich ist ein grüner Smoothie bedeutend gesünder als eine Limo. Die Nebenwirkungen von Sport und Meditation sind bedeutend erfreulicher als die von Antidepressiva. Die Praxis der liebenden Güte ist wundervoll. Oft aber und allemal häufiger, als wir es uns eingestehen wollen, bleiben wir in einer Endlosschleife der Selbst- und Lebenshilfe hängen. »Momentan bin ich noch nicht gut genug. Aber das wird schon. Ich werde immer besser darin, mich zu verbessern. Findest du nicht?« Und wieder von vorn …

Wir tun so viel Gutes, Ausgewogenes, um zu wachsen und uns weiterzuentwickeln – aber vielleicht sind die Gründe für unsere Versuche, immer besser zu werden, nicht die gesündesten.

Was steht eigentlich hinter diesem zwanghaften Drang zur Verbesserung? Selbstkritik. Glaub mir, ich weiß das. Denn für eine Autorin zum Thema Selbstverbesserung bin ich über alle Maßen selbstkritisch. Diese kritische Beurteilung der eigenen Person entsteht bereits in der Erziehung, so gut die Kommentare der Familie auch gemeint sein mögen. In ihr drückt sich das Trauma eines früheren Lebens aus, in dem wir als allzu naseweis auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Das alte Patriarchat spielt immer noch mit unserem Selbstwertgefühl. Es versickert mit jedem photogeshoppten Bild, das uns sagt, dass wir dünner, kurviger (allerdings nur an den richtigen Stellen), blasser, gebräunter, perfekt frisiert und immer total positiv sein sollten, während wir Sport treiben, die Karriere vorantreiben und unseren artigen Kinderchen garantiert kein genetisch verändertes Essen vorsetzen – und wenn wir das nicht alles unter einen Hut bringen, nun … dann haben wir es wahrscheinlich nicht entschieden genug gewollt. Und sollten dringend einen weiteren Workshop besuchen, um unsere Leidenschaft neu zu entfachen.

Viel dieser angenommenen Kritik zieht eine Menge an Bemühungen um Verbesserung nach sich. Unermüdliche Bemühungen. Gnadenlose Bemühungen. Rücksichtslose Bemühungen.

Was passiert, wenn alle Tipps für die Balance des Lebens nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen? (Dass dieses ganze »Balance«-Gedöns ein totaler Mythos ist, weißt du aber schon, ja? Das ist der größte Selbsthilfe-Schwindel aller Zeiten.) Oder wenn wir unser Ziel zwar erreichen, anschließend aber nur so etwas wie Leere empfinden? Klar, dann fällt unsere Selbstkritik eben noch unerbittlicher aus.

Wenn spirituelle Leidenschaft nicht aus der Fülle unserer Seele kommt, sondern aus einem Mangelempfinden unserer Psyche, kann sie ausgesprochen strapaziös werden. Zwischen Streben und Fülle klafft ein Tal voller köstlicher Fragen. Und je mehr Fragen wir stellen, desto mehr geistige Nahrung führen wir uns – aber auch einander – zu.

Als Samsara bezeichnen die Buddhisten das »Durchwandern des Kreislaufs von Werden und Vergehen«. Wobei es auf das »Wandern« ankommt, im Sinne von: Wir schleppen uns von einem Leben ins nächste, regen uns über Kleinigkeiten auf und sind blind für das größere Ganze. Die ganze Evolution dreht sich darum aufzuwachen, vom Rad des Leidens – dem Samsara – abzuspringen, um in der prallen Gegenwart zu landen, die sich als innerer Frieden erweist. Nach der Lehre von Buddha verlassen wir diesen verrückten Trip, wenn wir uns nicht länger danach sehnen, dass die Dinge anders sind, als sie sind. Sobald wir die Vorstellung von Trennung und Unvollkommenheit beenden, können wir das Tal, in dem wir uns befinden, genießen.

Kannst du dir vorstellen, dich nicht danach zu sehnen, anders zu sein, als du es gerade bist?

Atme mal tief durch.

Nur ganz kurz … kannst du mal einen Augenblick lang aufhören, anders sein zu wollen, als du gerade bist?

Denn hier ist es, das heilige Paradoxon: Jede Veränderung beginnt mit dem radikalen Annehmen dessen, was ist.

Nette Ablenkungen

Das eine Problem ist, dass der Wunsch nach Veränderung grundsätzlich eine Form der Aggression gegen sich selbst darstellt. Das andere Problem besteht darin, dass unsere Komplexe leider oder glücklicherweise auch unseren ganzen Reichtum, unsere Fülle enthalten. Unsere Neurose und unsere Weisheit bestehen aus demselben Material. Wenn du deine Neurose wegwirfst, wirfst du auch deine Weisheit weg.

PEMA CHÖDRÖN

Ich begann zu analysieren, was mir Liebe und spirituelle Hingabe wirklich bedeuteten, nahm meine Glaubenssätze auseinander und hinterfragte alles. Ich betrachtete jede Art von Beziehung, die ich hatte: in welchen Situationen ich großzügig war, in welchen ich mich zurückhielt, wann ich Dinge akzeptierte und wann ich anfing herumzuschreien. Bis ich zu der Erkenntnis gelangte, dass meine persönlichen Grenzen ziemlich durchlässig waren, dauerte es eine ganze Weile.

Auch fiel mir auf, dass sich viele der Frauen in meinem Umfeld, die dieselben Bücher lasen wie ich und sich Online-Seminare zu Gemüte führten über Themen wie »Unendliche Göttinnenkraft & bedingungslose harmonische Liebe zwecks Entfaltung des Universums in Zeiten des Wandels für die moderne Frau«, schier Kopfstände machten, um auch ja das spirituell »Richtige« zu tun – um liebevoller, flexibler, verantwortungsbewusster, versöhnlicher und freigiebiger zu werden. Ganz ordentliches Potenzial, was? Allerdings bestand ein deutlicher Unterschied zwischen der Toleranz und dem Spielraum, die sie anderen gewährten (viel zu viel), und der Vergebung und dem Mitgefühl sich selbst gegenüber (viel zu wenig). Sie ließen sich einfach viel zu viel gefallen.

»Wir versuchen es jetzt mal mit bewusstem Auseinandergehen, du weißt schon, eine friedliche Trennung. Ich hab uns schon das Hörbuch dazu runtergeladen«, verriet mir eine Freundin über sich und ihren zukünftigen Exmann. Ich widersprach nicht direkt, gab ihr jedoch zu bedenken: »Nur dass du ihn ja gerade verlässt, weil er so unbewusst ist. Deshalb brauchst du jetzt wenigstens eine bewusste Anwältin

Bei manchen Frauen auf dem »Weg« versteckten sich unter all den geleiteten Fantasiereisen und Schmerz-Plattitüden ernsthafter Zorn und bittere Trauer.

Die Spiritualität (in Anführungszeichen) diente nur dazu, die Landung auf dem Boden der Realität hinauszuzögern.

Der Psychologe John Welwood prägte den Ausdruck spirituelle Vermeidung. Und definierte sie als das »Einsetzen spiritueller Praktiken und Überzeugungen, um der Beschäftigung mit schmerzlichen Gefühlen, unverheilten Wunden und entwicklungsmäßigen Bedürfnissen auszuweichen«. Brillant, nicht wahr? Die Verhaltensweisen, die auf eine spirituelle Vermeidung hinweisen, fasst der ebenso brillante Psychologe Robert Augustus Masters (dessen Bücher du einfach alle lesen solltest) so zusammen:

»… übertriebene Distanziertheit, emotionale Erstarrung und Unterdrückung der Gefühle, exzessive Betonung des Positiven, beinahe schon krankhafte Angst vor Zorn, blindes beziehungsweise allzu nachsichtiges Mitgefühl, schwach entwickelte persönliche Grenzen, eine einseitige Entwicklung, sich hinderlich auswirkende Verurteilung der eigenen Schattenseiten, Geringschätzung des Persönlichen im Vergleich zum Spirituellen sowie die Illusion, eine höhere Daseinsebene erreicht zu haben.«

Klingelt’s da bei irgendjemandem? Ja, hab ich mir schon gedacht. Bei mir auch.

Kurz gesagt: Der ganze Ego-Kram hält uns davon ab, uns mit unserem persönlichen Mist zu befassen.

Statt uns mit Marlboros und Martinis zu behandeln, könnten wir es mit Metaphysik und Makrobiotik versuchen. Und im Gegensatz zu Alkoholexzessen, um unseren Schmerz zu ertränken, sind die Nebenwirkungen von neurotischem Psychoanalysieren oder erzwungener Flexibilität nur sehr schwer zu erkennen. Zu viel Meditation und Therapie bringen uns nicht in eine Entzugsklinik – sondern höchstens in weitere Kurse, Seminare und Workshops. Oder denk an diese Freundin von dir, die eine alles andere als liebevolle Einstellung zu ihrem Körper hat, der aber trotzdem alle zujubeln, weil sie sich so »gesund« ernährt und positiv über ihren Körper spricht, weil sie stark sein will. Dabei ist ihre Motivation in Wirklichkeit selbstzerstörerisch, und die ganzheitliche Wohlfühl-Nummer, die sie vor sich herträgt, kaschiert eine leichte Form der Essstörung. An der Oberfläche präsentieren sich positives Denken und Wohlfühl-Aktivitäten als ein so hübsches Pärchen, dass es kaum auffällt, wenn gesunde Verhaltensweisen mit ungesundem Ehrgeiz einhergehen.

Wie eigentlich alles, mit dem wir es übertreiben, kann uns also auch der spirituelle Umweg blind und taub machen für unsere innere Wahrheit – die aber die heilenden Antworten für uns bereithält.

Wachstum

Natürlich ist nicht jede Suche eine Form der Ablenkung. Nicht jeder Mensch, der sich auf das Licht fokussiert, versucht, seiner dunklen Seite auszuweichen. Bei sehr vielen von uns entspringt die spirituelle Hingabe einem reinen Herzen und kommt aus voller Seele. Wir laufen vor nichts davon oder drücken uns vor irgendwas. Wir nutzen unsere Spiritualität, um uns direkt mit allen Aspekten unseres Lebens auseinanderzusetzen – mit dem Schmerzhaften, der glückseligen Güte und allem Geheimnisvollen dazwischen. Wir tanzen mit dem Göttlichen, weil es uns für das Leben begeistert. Das ist so heiß!

Ein paar Fehleinschätzungen und Anfälle von Naivität habe ich mir auf dem Parkett der Selbst- und Lebenshilfe schon geleistet. Trotzdem halte ich keine einzige Minute und keinen Dollar für verschwendet. (Abgesehen von meiner Ouija-Brett-Phase mit Anfang zwanzig. Die hätte ich mir echt sparen können. Genau wie das Aura-Spray, das negative Energien vertreiben sollte – der reine Nepp.) Doch falsche Entscheidungen schulen das Urteilsvermögen. Das heißt, wir experimentieren, nähern uns unserer Wahrheit an, wachsen. Wir schauen, inwiefern uns die Zehn Gebote oder Buddhas Edler Achtfacher Pfad weiterbringen. Kosten ein wenig vom Hinduismus, sehen uns auch bei den Ungläubigen um. Wir sind spirituell promiskuitiv oder total zugeknöpft, bis uns die genau richtige Sorte von Wahrheit über den Weg läuft, der wir dann unsere Liebe erklären und auf die wir uns festlegen.

Doch in der Zwischenzeit prüfen wir uns und beuten uns aus. Mordsmäßig. Und zwar nicht, weil wir etwa schwach oder unvollkommen wären, sondern weil es eben genau das ist, was die SchülerInnen des Leben tun: Sie lernen.

Wir geben unsere Kraft aus der Hand, um dann zu erleben, wie unglaublich stark wir sind, wenn wir sie zurückerobern. Das hat nichts damit zu tun, dass weniger weit entwickelte Menschen versagen. Die Rückeroberung der eigenen Kraft ist eine Initiation für die besonders Tapferen.

Würden wir noch in traditionellen Stammesverbänden leben, würden wir unsere innere Stärke durch mehrere Initiationsrituale aufbauen. Heutzutage sind die Initiationen für die meisten von uns aber weniger formell und rituell. So konfrontiert uns das Leben möglicherweise mit verschiedenen dominanten Chefs oder Chefinnen, die uns lehren, Täuschungen wahrzunehmen und abzuwehren – wodurch wir im Dunkeln sehen lernen. Oder wir erhalten eine Krebsdiagnose, die uns dazu anspornt, in mehrfache Dimensionen und Behandlungsformen vorzudringen, um die Krankheit zu heilen – wir werden zu AlchemistInnen. Vielleicht tritt auch ein Kind mit »besonderen Bedürfnissen« in unser Leben und weckt die in uns schlummernden telepathischen Fähigkeiten. Unsere heutigen Initiationen mögen uns zufälliger und sachlicher erscheinen, aber sie sind genauso göttlich inspiriert und wirksam wie die Rituale, die von Mönchen oder Medizinfrauen durchgeführt wurden.

Sinnlos oder nützlich?

Zum Erwachsensein (ein relativer Begriff) gehört auch, dass wir wissen, was gut für uns ist. Beim Experimentieren mit Ideen, Programmen und Substanzen schärfen wir unsere »Was-funktioniert?«-Sensoren. Ein paar Jahre lang war für dich vielleicht die Gestalttherapie das Größte, inzwischen aber magst du nicht mehr darüber reden. Bibelstudium, Hot Yoga, Blütenessenzen, Rasta, schamanische Trommelreisen: Einiges begleitet uns durch das ganze Leben, aus anderem wachsen wir ganz natürlich heraus. Und manchmal wachen wir auf und fragen uns – vor allem, wenn das Interesse nur gefakt war, um cool zu wirken –: Was habe ich mir denn dabei nur gedacht?

Es war in einem buddhistischen Wochenendseminar in einer theologischen Hochschule. Ein paar Yoga-Matten links von mir saß ein Typ in einer schlabbrigen lila Jogginghose, mit dem unvermeidlichen Batik-T-Shirt und Mokassins. Er lieferte sich eine wilde Redeschlacht mit dem Lama, der den Kurs leitete, über die Frage, warum der Himmel blau ist. Also jetzt nicht physikalisch, sondern warum wir Menschen kollektiv darin »übereinstimmen«, die Farbe des Himmels als Blau wahrzunehmen. Der Grundgedanke: In der Tiefe unseres Bewusstseins schwingen wir im Einklang mit den bewegten Molekülen der sinnlich erfassbaren Welt … Ich bin nicht mal annähernd in der Lage, mich um so intellektuelle Abstraktionen zu kümmern. Die sind mir so was von Jacke wie Hose, aber so was von. Weeeeeil …

Weil ich an dem Wochenende nämlich dachte: Ich habe gerade eine echt mistige Zeit, und dabei helfen mir diese Infos nicht die Bohne. Könnten wir vielleicht bitte lieber darüber sprechen, wie ich meinem Sohn das mit der Pornografie erkläre – im Rahmen des buddhistischen rechten Handelns? Und wie ich jetzt, da mein Bekanntheitsgrad ständig wächst, mein Ego noch transzendieren kann? Und über das, was meinem verwundeten Herzen gerade am wichtigsten ist, nämlich über die karmischen Folgen einer Rachehandlung, die mir angebracht erscheint? Weil mir mein Ex nämlich gerade versehentlich eine sehr spezielle Textmessage geschickt hat, die eigentlich für seine neue Freundin war, und ich jetzt mit dem Gedanken spiele, heute Abend auf dem Heimweg die Frontscheinwerfer seines Wagens einzuschmeißen. Aber hey, macht ruhig weiter und schwafelt über das Blau des Himmels. In der Welt der empfindenden Lebewesen gibt es bestimmt jemanden, der etwas damit anfangen kann, weil er sonst keine Sorgen oder Interessen hat … vielleicht ja sogar jemanden in diesem Raum … mit einer lila Jogginghose und Mokassins.

Nicht nützlich. Gar nicht nützlich.

Ich brauche eine Wahrheit, mit der ich arbeiten kann. Wünsche mir eine Spiritualität, die ich auf meine alltägliche, ehrgeizige, sehr private, mitunter auch öffentliche, krasse, kleine, große, chaotische, wahnsinnige, begehrliche, bedeutsame, normale Existenz anwenden kann. Ich brauche eine »Präsenz«, die mein gesamtes Leben berücksichtigt.

Lug und Trug

Etwa zur selben Zeit begann mir zu dämmern, dass nicht alle spirituellen LehrerInnen sich auch an das hielten, was sie predigten. Ich hatte mich mit einem Mönch zum Essen verabredet, um mit ihm eine globale Meditationskampagne zu besprechen, und er war so unhöflich zu der Kellnerin, dass ich mich zur Entschuldigung bemüßigt fühlte, ihr ein Trinkgeld von fünfzig Prozent des Rechnungsbetrags zu geben. Ein andermal schleppte ich eine Freundin mit zu einem Vortrag über das »Transzendieren des Egos« eines sehr populären Beinahe-Gurus aus den Staaten. Es war wenige Wochen nach 9/11, dem Terroranschlag in den USA. Nachdem ein Mann aus dem Publikum lange vor dem Saalmikrofon angestanden und gewartet hatte, fragte er den Experten, wie man denn mit dem Trauma jener Ereignisse umgehen solle. Von der Bühne maulte ihn Mr. Kein-Ego in seinen Designerschuhen an: »Ich bin hier, um über das Ego zu sprechen und nicht über irgendwelche Medienevents.« Ohhhkaaay. Das Unbehagen im Publikum war immens. Der Mann, der die Frage gestellt hatte, stammelte noch »Na ja, ich hielt das für wichtig« und schlich zu seinem Platz zurück. Fassungslos schauten meine Freundin und ich uns an. Ich zog mein bestes Scheiße-was-war-das-denn-Gesicht, und sie tuschelte mir »Was für ein Arschloch!« zu. Was natürlich einen so unfassbaren Lachflash bei uns beiden auslöste, dass wir den Walk-of-Shame antraten und kichernd den Saal verließen.

Als ehemalige PR-Frau in der Branche »Persönliches Wachstum« sind mir viele Geschichten über nichtsnutzige Chefs von Kommunen und durchgeknallte Kirtan-Sänger zu Ohren gekommen oder über Bestsellerautoren von Beziehungsratgebern, die in schmutzige Scheidungen verwickelt waren. Wenn Politiker bei einem Seitensprung erwischt werden, scheint das in unserer Kultur niemanden groß zu überraschen. Für mehr Aufruhr – und bessere Unterhaltung – sorgt es dann schon, wenn rauskommt, dass das zerbrechliche Engelsmedium wilde Orgien feiert. (New-Age-Klatsch ist einfach der beste.) Mit Nachsicht denke ich an meine Gutgläubigkeit von damals zurück. Kaum zu glauben: Ich dachte doch allen Ernstes, dass das Verhalten dieser »Experten« mit ihren Botschaften übereinstimmen würde – nur weil ihre Workshops immer ausgebucht waren oder sie in Indien studiert hatten. Aber wie sich herausstellte, kannst du alles verkaufen, solange du nur einen guten PR-Manager hast.

Dreckig, chaotisch, spirituell

Wir wünschen uns einen Pfad, der nicht im Gegensatz zu unserem Leben steht, und ein Leben, das nicht entgegen unseres Pfades ausgerichtet ist. Wir wollen Fülle erlangen, ohne das herrliche Sprudeln des Lebens zu verleugnen; wir wollen eine leichte und uns antreibende Freude, die uns die Realität intensiver und umfassender erfahren lässt.

DANIEL ODIER, DÉSIRS, PASSIONS & SPIRITUALITÉ

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Ich sehnte mich nach anderen Zielen, nach einer umfassender gelebten Spiritualität. Ich wollte das Leben von Grund auf auskosten, bewusst und ohne schlechtes Gewissen. Ich wollte mich ausdrücken, rücksichtsvoll, aber ungefiltert. Ich wünschte mir eine Reinheit der Seele, die jedoch nicht puritanisch sein durfte. Ich wünschte mir intensive Erfahrungen, wollte tief eintauchen und gleichzeitig an Leichtigkeit hinzugewinnen.

Unseren Weg finden

Ich bin in der Mach-dein-Leben-besser-Branche. Und das ist wirklich ein eigener Wirtschaftszweig. Meine Abonnenten und Follower sind der Motor meines Geschäfts. Meine Social-Media-Feeds bestehen hauptsächlich aus #Truthbombs und praktischen Tipps. Und gelegentlich kann ich es selbst kaum mehr ertragen, ständig aller Welt erklären zu wollen, was zu tun und zu lassen ist.

So viele Bücher und Blogs und Kommentare. So viele Ansichten darüber, wie du dein Charisma aufpolierst und deine Psyche reinigst. Ich frage mich, ob mich das ganze über WLAN eingeschleuste Motivations-Chichi nicht schon abgestumpft hat; gleichzeitig ziehen viele wahrhaft meisterliche spirituelle LehrerInnen unserer Zeit nicht einmal mehr einen Verlagsvertrag an Land, weil sie auf Facebook nicht genügend Likes bekommen. Die Selbst- und Lebenshilfeszene ist schon längst zu reinem Entertainment verkommen: Wer am lautesten schreit, hat das größte Publikum. Mit der Folge, dass viele KonsumentInnen Lautstärke mit Weisheit verwechseln.

Andererseits … ist lautstarker Jubel auch nichts nur Schlechtes. Auch wenn er oberflächlich ist, wirkt er ermutigend und erhellt Wanderern den Weg. Es ist ein Schritt auf der Suche nach mehr Sinn.

Wir finden unseren Weg schon. Stoppeln ihn uns irgendwie zusammen. Weil wir mehr wollen für unser Leben, nutzen wir die Errungenschaften des Informationszeitalters. Und er ist mit Sicherheit schräg und inspirierend gleichzeitig. Aber zur Weisheit führt nun einmal kein gerader Weg. Wenn du glaubst, etwas Hilfreiches beitragen zu können, starte einen Blog oder lass dir bei der nächsten Teambesprechung fünf Minuten Redezeit geben und leg los. Denn deine Wahrheit könnte genau das Licht sein, das jemand anderem den Tag erhellt. Wir brauchen deine Stimme. Wir müssen die Ideen hören, die deinen Sehnsüchten und deiner Zuversicht entspringen.

Dir ist bewusst, dass sowohl die Menschheit als auch unser Ökosystem in großen Schwierigkeiten sind. Durch unseren gedankenlosen Konsum machen wir uns und der Erde den Garaus. Bald gibt es keine Seesterne mehr. Es wird gefährlich, Wasser zu trinken. Menschen betreiben Menschenhandel, vergewaltigen und werden vergewaltigt. Wir machen Kinder zu Killern. Viele von uns sind abgestumpft, unersättlich und gierig.

Wir leiden. Spüren den Schmerz unseres Hungerns nach Wahrheit, Licht und Vertrauen. Wir lernen, für das zu leben, was wirklich zählt – aus Notwendigkeit, aber auch durch den angeborenen Drang nach Weiterentwicklung. Wir erwachen zu tieferem Wissen und außergewöhnlicher Wissenschaft. Wir reinigen unsere Städte und öffnen mehr Grenzen, als neue zu errichten. Wir ändern Gesetze und Richtlinien, um sie liebevoller zu machen. Aus Müll erzeugen wir Treibstoff und arbeiten daran, soziale Lösungen rentabel zu machen – finanziell und spirituell. Wir kommunizieren massenhaft miteinander. Wir schaffen und konsumieren eine Menge inspirierender und wichtiger Nachrichten über unsere Potenzialentfaltung. Zunehmend hören wir mehr auf die Intelligenz unserer Herzen – und handeln entsprechend. Und das ist Spiritualität: ein Ausdruck der Liebe.

Nachdem ich nun schon fast mein gesamtes Leben lang auf der Suche nach Erleuchtung bin, spekuliere ich jetzt nicht mehr, ob sich dieses »Spiritualitäts-Ding« vielleicht irgendwann einmal auszahlen könnte. Ich bin fest davon überzeugt. Ich giere nach dem Licht. Bin auf der Welt, um von Nutzen zu sein, und werde zu diesem Zweck wahrscheinlich auch noch ein paarmal wiederkommen. Ich spreche immer noch jeden Tag mit den Engeln. Mein Kurkuma-Tonikum trinke ich gläserweise. Ich bete voller Inbrunst. Im Beirat meines Unternehmens sitzt eine Energiearbeiterin, und niemals würde ich ein Projekt bei rückläufigem Merkur starten. Nie!

Einige von uns werden sich künftig an ihren Geistführern orientieren, an der Kabbala oder an Poesie. Einige werden Spinning-Kurse besuchen, die heiligen Schriften studieren, grüne Smoothies trinken, Liebe oder ihre erste Million machen, werden Marathon laufen, Mutter sein, tanzen oder sich ihren Weg zur höheren Liebe mit der Feueratmung bahnen.

Unsere Erfüllung ergibt sich aus unseren individuellen Motiven. Denn letztlich geht es nicht um die Frage, wie wir uns spirituell weiterentwickeln möchten, sondern um das Warum.

Mögest auch du dich auf die Suche nach deinem Licht begeben.