Kasey Michaels, Helen Dickson
HISTORICAL LORDS & LADIES BAND 65
IMPRESSUM
HISTORICAL LORDS & LADIES erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: kundenservice@cora.de |
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Produktion: | Jennifer Galka |
Grafik: | Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto) |
© Neuauflage in der Reihe HISTORICAL LORDS & LADIES
Band 65 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
© 2002 by Kathryn Seidick
Originaltitel: „The Beleaguered Lord Bourne“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Elisabeth Tappehorn
Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe HISTORICAL MYLADY,, Band 441
© 2009 by Helen Dickson
Originaltitel: „Seducing Miss Lockwood“
erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Vera Möbius
Deutsche Erstausgabe 2012 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe HISTORICAL MYLADY, Band 542
Abbildungen: Harlequin Books S.A., flotsom / GettyImages, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 1/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733779870
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Klack!
Eine Vogelschar, die eben noch fröhlich zwitschernd in den Zweigen gesessen hatte, flatterte bei dem lauten, misstönenden Geräusch plötzlich laut schimpfend und mit den Flügeln schlagend in die Luft.
Die junge Frau unter dem Baum hingegen rührte sich nicht und unternahm keinen Versuch, der Tierfalle, die ihren Rocksaum wie in einem Schraubstock gefangen hielt, zu entkommen. Doch ihr Herz klopfte vor Furcht, als wollte es zerspringen. Ihre Muskeln taten vor lauter Anspannung weh und schienen ihr zuzurufen: „Lauf!“
Aber auch wenn Körper und Geist willig waren, so konnte sie doch nicht fort, solange ihr gelbes Musselinkleid in dem schweren, äußerst sperrigen Fangeisen festsaß.
Als sie ihre Fähigkeit zu sprechen, die ihr vorübergehend abhanden gekommen war, wiedererlangte, gab sie dem überwältigenden Zorn nach, der in ihr hochstieg. „Eine Falle im Heimatwald!“, empörte sie sich. „Niemals … niemals zuvor hat es das hier gegeben. Was für ein Ungeheuer würde ein kleines Kaninchen mit so einem riesigen Ding umbringen? Das ist genau so, als wollte man Fledermäuse mit Kanonen jagen, ja, ganz genau so!“
Sie beugte sich hinab und versuchte vergeblich, ihre Röcke aus der gemeinen Vorrichtung zu befreien. Das Kleid wies bereits an verschiedenen Stellen gezackte Risse auf, die selbst der geschicktesten Näherin die Tränen in die Augen treiben würden, also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Knie fallen zu lassen und im Unterholz nach dem Pflock zu suchen, der die Falle im Boden festhielt.
Nachdem sie ihn gefunden hatte, musste sie ihn mit bloßen Händen ausgraben und mindestens ein Dutzend Mal kräftig an ihm ziehen, da er gut einen Fuß tief in der schwarzen Erde steckte. Eine schweißtreibende Arbeit, bei der sie ihr Kleid völlig ruinierte, ihre Wangen beschmutzte und in eine solche Wut geriet, dass sie auch der Gedanke an ihr reichlich derangiertes Aussehen nicht davon abhielt, sich, sobald sie sich befreit hatte, schnurstracks auf den Weg nach Bourne Manor zu machen, wobei sie das schwere Fangeisen samt Kette und Pflock wohl oder übel hinter sich herzog.
Die großen Sprossenfenstertüren im Morgenzimmer boten eine hübsche Aussicht auf den rückwärtigen Teil des Parks von Bourne Manor. Lord Bourne stand, mit dem Weinglas in der Hand, davor und überlegte, welche Vorzüge es hätte, sich das Mittagsmahl auf der Terrasse servieren zu lassen.
Christopher Wilde, von seinen Freunden Chris genannt und nun der achte Earls of Bourne, befand sich erst seit fünf Tagen in seinem neuen Zuhause, doch er fühlte sich dort bereits vollkommen heimisch. Renfrew, der langjährige Majordomus des verstorbenen Earl, hatte sich bereits als unschätzbare Perle erwiesen, da er jedes Bedürfnis seines Herrn schon im Voraus erahnte und Seiner Lordschaft geschickt den Weg wies, bis er sich in dem großen Gebäude auskannte, und ihn außerdem in trügerisch beiläufiger Art, jedoch erstaunlich gründlich, unterwies, welche Verpflichtungen mit seinem neuen Titel einhergingen.
Nach Einschätzung Lord Bournes war die Dienerschaft beinahe ebenso zahlreich wie Wellingtons größte Division, dennoch schienen alle zu wissen, was sie zu tun hatten. Das Herrenhaus war ein Musterbeispiel an Organisation, und die Dienstboten waren stolz darauf, die Bedürfnisse und die Bequemlichkeit ihres Herrn wichtiger zu nehmen als Putzen und Aufräumen. Unangenehme Erinnerungen an Hausmädchen, die mit Besen bewaffnet in sein Zimmer eindrangen, während er noch zu Bett lag, und an wichtige Papiere, die von übereifrigen Bediensteten verlegt worden waren, um Ordnung zu schaffen, erhöhten noch seine gute Meinung vom Personal seines Onkels.
Leon, der bereits seit sechs Jahren Christophers Kammerdiener war, war ganz seiner Meinung und stellte in der ihm eigenen unverblümten Redeweise fest, dass Bourne Manor beinahe so vollkommen war wie ein Mensch, wenn er abkratzte und eins dieser Wesen mit Flügeln wurde – wenn man einmal vom wenig gepflegten Zustand des Heimatwaldes absah. Aber dieses Problem hatten sie bereits besprochen, und es waren auch umgehend Schritte eingeleitet worden, indem Seine Lordschaft dem getreuen Kammerdiener die Verantwortung für entsprechende Maßnahmen übertragen hatte.
Nun betrachtete der Earl die friedvolle Landschaft, die sich vor seinen Augen erstreckte. Der sanft hügelige Rasenteppich, die in scheinbar zufälligen Gruppen gepflanzten Blumen verschiedenster Arten, Ziersträucher und kleine Bäume waren in goldenes Sonnenlicht gebadet, das die Farben zum Leuchten brachte. Christopher kam zu der Überzeugung, dass er in einem Paradies gelandet war.
Nur schwer bezwang er den Drang, sich wieder einmal zu seinem Glück zu gratulieren, dass er den Verletzungen nicht erlegen war, die er in der Schlacht erlitten hatte, und somit noch lebte, um diesen wirklich wundervollen Tag zu genießen – ganz davon zu schweigen, dass er sein englisches Vaterland als einfacher Major verlassen hatte, um als gestandener Earl dorthin zurückzukehren.
Er war gerade im Begriff, nach Renfrew zu klingeln, als ihm in der Ferne eine Bewegung auffiel.
Er trat näher ans Fenster und beobachtete angestrengt den gelben Fleck, der sich soeben mit der Eleganz eines x-beinigen Dickhäuters den sanften Hügel hinaufbemühte.
Als der Fleck langsam näher kam, entpuppte er sich als gemusterter Stoff, offensichtlich das Morgenkleid einer Dame, das jedoch überhaupt keinen Stil besaß, soweit er es beurteilen konnte – und blonde Locken, die den Kopf einer Frau wie ein verunglückter Heiligenschein umgaben, bis weit über ihre Schultern hinabfielen und recht ungepflegt wirkten.
Aber was ist das? fragte der Earl sich, als ihm auffiel, dass die Röcke der Frau seltsam zur Seite gezogen wurden und er gelegentlich einen Blick auf ein dunkles, schweres Ding erhaschen konnte, das an den Säumen hing.
Er stellte sein Glas ab und öffnete die Glastür. Dann ging er auf die Terrasse hinaus und schirmte seine Augen mit einer Hand ab, während er die merkwürdige Erscheinung eingehend begutachtete. Plötzlich stieß er einen kurzen, treffenden Fluch aus, eilte immer zwei Stufen auf einmal nehmend die breite Steintreppe hinunter und rannte den Grashügel hinab. Erst als er die Frau erreicht hatte, blieb er stehen.
„Wie zur Hölle sind Sie nur in eine Tierfalle geraten, Sie dummes Ding?“, fragte er in einem verärgerten, verächtlichen Tonfall. „Dieses Fangeisen hätte Ihnen das Bein abreißen können. Guter Gott, haben Sie keinen Verstand? Können Sie denn nicht aufpassen, wo Sie hintreten, wenn Sie durch den Wald spazieren?“
Sobald die Adressatin seiner Tirade sich von ihrem Schock erholt hatte, entgegnete sie: „Ich bin an dieses verabscheuenswürdige Folter- und Mordinstrument gefesselt, weil irgendein schwachsinniges Scheusal, dem es gefällt, arme, wehrlose Kaninchen und niedliche kleine Eichhörnchen und ähnlich wilde, gefährliche Tiere umzubringen, Fallen im Heimatwald aufgestellt hat. Und was mein Bein betrifft, das Sie unschicklicherweise erwähnt haben, es ist sich bewusst, wie knapp es der Katastrophe entronnen ist, daher werde ich mich jetzt nach Bourne Manor begeben, damit ich Lord Bourne mit den Folgen seines unüberlegten Handelns konfrontieren kann.“
„Ich bin Lord Bourne, Madam“, warf der Earl an dieser Stelle mit einer Verbeugung ein, die der reinste Hohn war, da er weder seine streitlustige Haltung noch seinen drohenden Gesichtsausdruck änderte. „Die Fangeisen sind aufgestellt worden, um die Population von Schädlingen im Heimatwald zu verringern, die auf Grund fehlender vernünftiger Eindämmungsmaßnahmen im Wald überhand nimmt. Dass die Gebietsgrenzen nicht ausgewiesen wurden, lässt sich vielleicht so erklären, dass die Bewohner von Bourne Manor pflichtgemäß auf die Fallen aufmerksam gemacht wurden, während unbefugte Eindringlinge darauf gefasst sein müssen, die Demütigung eines uneingeladenen Gastes zu erleiden.“
„Also, Sie …“, begann die junge Frau hitzig, doch dann änderte sie ihre Taktik. „Ich bin daran gewöhnt, die dauerhafte Einladung des vorherigen Lord Bourne, mich im Heimatwald ganz wie zu Hause zu fühlen, nach meinem Belieben zu nutzen, und daher war mir nicht bewusst, dass mein ehemals friedvoller Zufluchtsort sich über Nacht in ein Terrain verwandelt hat, in dem es vor zuschnappenden Eisendrachen nur so wimmelt. Fehlt nur noch, dass sie Feuer spucken!“
„Ich nehme Ihre Entschuldigung zur Kenntnis und akzeptiere sie“, erwiderte der Earl herzlich. Sein anfänglicher Ärger hatte sich beim Anblick dieser blonden, grünäugigen Zankteufelin gelegt, die es wagte, mit ihm wie eine Gleichgestellte zu streiten, während ihre Wangen erdverkrustet waren und ihr Kleid im Maul eines Eisendrachens festsaß.
Der jungen Frau stand vor Erstaunen der Mund offen. „Entschuldigung? Welche Entschuldigung? Ich habe mich nicht entschuldigt! Ich bestehe darauf, dass Sie Ihre Fangeisen unverzüglich entfernen! Sie sind unmenschlich!“
„Sie sind ja auch nicht für Menschen bestimmt“, machte der Earl geltend. „Aber mir scheint, Leon war ein wenig übereifrig. Ich werde daher meinen Befehl dahingehend ändern, die Fallen durch menschlichere Vorrichtungen ersetzen zu lassen, die ein Tier fangen, statt es zu zermalmen. Das Resultat ist natürlich dasselbe“, meinte er mit einem zufriedenen Grinsen. „Kaninchen in der Speisekammer und die Population von Schädlingen auf beherrschbare Zahlen verkleinert. Schließlich will ich sie ja nicht völlig ausrotten.“
„Und meine Anwesenheit im Heimatwald?“ Betteln war ihr zuwider, aber dennoch musste sie einfach danach fragen. „Muss ich meine Spaziergänge jetzt einstellen?“
Der Earl sah in ihr Gesicht hinab, das trotz der Schmutzspuren höchst anziehend war. Ihre grünen Augen weiteten sich ungekünstelt, und das feste, kleine Kinn, das sie stolz erhoben hielt, zitterte unwillkürlich, während sie auf seine Antwort wartete.
„Es liegt mir fern, Kinder von ihren Vergnügungen abzuhalten. Aber verzichten Sie in den nächsten Tagen bitte noch auf Ihre Besuche, bis Leon seine kleinen Spielzeuge eingesammelt hat.“
Da es nichts weiter zu sagen gab, wollte die junge Frau sich nun wieder auf den Weg machen, aber da ihr Kleid immer noch in dem Fangeisen festsaß, wurde schon eine einfache Bewegung wie sich umzudrehen zu einer Geschicklichkeitsprüfung. Der geblümte Musselin, der bereits erheblich gelitten hatte, zeigte sich der zusätzlichen Misshandlung nicht gewachsen, und ein weiterer Riss entstand, sodass ein weißer Petticoat darunter sichtbar wurde.
Vor Ärger und – zwar verspäteter, doch äußerst heftiger – Verlegenheit stiegen ihr die Tränen in die Augen, während nun Lord Bourne in die Hocke ging und an dem Stoff zerrte, um ihn schließlich aus dem Fangeisen zu befreien.
„Ich fürchte, ich musste Ihr Kleid noch weiter zerreißen“, sagte er entschuldigend, hob den Kopf und lächelte sie tröstend an. „Obwohl es ohnehin kein großer Verlust mehr ist.“
Es war schon erstaunlich, wie schnell die Tränen weiblicher Wesen trocknen konnten. Stattdessen erschien in den Augen der jungen Frau ein Funkeln, das an züngelnde Flammen erinnerte. „Sie sind mir für dieses Kleid etwas schuldig“, verkündete sie entschieden. „Es war mein absolutes Lieblingskleid!“, schwor sie leidenschaftlich, und der Wunsch nach Vergeltung verlieh ihrer Lüge einen Anstrich von Wahrheit.
Ein heftiges Verlangen nach seinem Mittagessen, gepaart mit dem Bedürfnis, den unfreundlichen Eindringling loszuwerden, veranlasste Lord Bourne, sich aufzurichten, sein Portefeuille aus der Rocktasche zu nehmen und die erstaunlich genau geschätzte Summe der Kosten des Kleides in ihre ausgestreckte Hand zu zählen.
Da lächelte die junge Frau, eine einfache Bewegung ihrer Muskeln, die die missmutig herabhängenden Mundwinkel hob und ihre beschmutzten Gesichtszüge auf einmal derart entzückend wirken ließ, dass der Earl blinzeln musste, bevor er sich sicher war, dass ihm die Sonne keinen Streich gespielt hatte.
„Wie heißt du, Kleine?“, hörte er sich mit sanfter Stimme fragen, während er seine Augen nicht von ihrem Gesicht wenden konnte.
Das Lächeln verschwand kurz, dann war es plötzlich wieder da. „Jennie, Mylord“, erwiderte sie frech, neigte den Kopf und zwinkerte ihm unverschämt zu. „Ich lebe mit meinem Vater am anderen Ende des Heimatwaldes.“
„Kein Zuname, Jennie?“, fragte Seine Lordschaft weiter. Angesichts dieser unerwartet reizenden Wendung der Situation hatte er seinen Hunger ganz vergessen. Er kam zu dem Schluss, dass das Mädchen sicher viel besser aussehen würde, wenn es sauber wäre; und eine Liaison mit einer hübschen Maid, die so günstig in der Nähe wohnte, könnte sein ohnehin schon angenehmes Leben nur noch verbessern.
Sie sei das einzige Kind ihres verwitweten Vaters, der Lehrer sei, erzählte Jennie im Plauderton, daher hätte sie von ihrem Papa ausführlichen Unterricht erhalten – eine kleine Notlüge, die ihre gebildete Sprechweise erklären sollte. Sie sei sehr belesen, obwohl sie sich nie weiter als fünfzehn Meilen von ihrem Geburtsort entfernt habe; und obwohl sie ein Einsiedlerleben führe, sei sie mit ihrem Schicksal sehr zufrieden.
Während sie in schnellen Worten weiterplapperte, fuhr sie sich mit den Fingern durch ihre zerzausten blonden Locken und strich ihr zerrissenes Kleid glatt, wobei sie sich überhaupt nicht bewusst war, wie provozierend ihre Hände ihre Figur nachzeichneten.
Der Earl hatte seit fast einem Monat mit keiner Frau mehr das Bett geteilt, eine lange Zeit der Abstinenz für jemanden mit seinem gesunden Appetit, und diese Tatsache erhöhte die Attraktion des Mädchens für ihn noch um ein Vielfaches. Jennies Geplauder, das wie ein leises Summen in seinen Ohren klang, wurde zum süßen Gesang einer Sirene, und Lord Bournes anständige Seite leistete keinen Widerstand, als die unmoralische Seite in ihm die schlanke Gestalt in seine starken Arme zog.
„Lass mich deinen Liebreiz kosten, Süße“, flüsterte er und presste seinen Mund mit geschlossenen Augen auf die Lippen der schockierten Jennie.
Christopher Wilde war jemand, der stets großen Wert darauf legte, in allem, was er tat, sehr gut zu sein, und er war mit Recht stolz auf seine gründlich erlernten und sorgfältig angewandten Kenntnisse in der Liebeskunst.
Vielleicht war es eine Schande, dass Jennie Christophers Fertigkeiten nicht mit jener geringerer Sterblicher vergleichen konnte, aber ihr erster Kuss setzte einen Maßstab, von dem nur wenige Tollkühne glauben konnten, ihn zu übertreffen.
Da sie vor Verblüffung vorübergehend nicht in der Lage war, sich zu bewegen, gelang es dem Earl, sie so fest in die Arme zu nehmen, dass ihre verzweifelten Versuche, sich zu befreien, erfolglos blieben, sobald aus ihrer Überraschung Entrüstung und dann eine sehr reale Angst wurde, als sein forschender Mund eine Reihe von heftigen, kleinen Explosionen in ihrem Körper auslöste.
Lord Bourne war sich all dessen nicht bewusst. Er stand mit leicht gespreizten Beinen da und hatte ein Knie unverschämt zwischen ihre schlanken Schenkel geschoben. Er wühlte mit den Händen durch ihre zerzausten Locken und streichelte ihren Rücken, während er seine Lippen und seine Zunge so vorteilhaft wie möglich einsetzte.
Jennie hielt die ganze Zeit unwillkürlich die Luft an, ihr war ein wenig schwindelig, und ihr Blick war verschleiert, bis dem Earl bewusst wurde, dass sie aus den zahlreichen Fenstern des Herrenhauses ohne weiteres gesehen werden konnten. Zögernd beendete er das kleine Zwischenspiel, das sich als äußerst angenehm, wenn auch etwas beunruhigend erwiesen hatte.
Zum ersten Mal betrachtete Jennie den neuen Lord Bourne richtig, und ihr fiel auf, dass er ein äußerst gut aussehender Gentleman war, nicht älter als achtundzwanzig Jahre wahrscheinlich. Seine Kleidung war von dezenter Eleganz und betonte seine hoch gewachsene, muskulöse Figur vorteilhaft.
Und wie sie auch nur für einen Moment diese leuchtend blauen Augen oder das kräftige, dichte mitternachtsschwarze Haar hatte übersehen können, war ihr ein Rätsel. Dazu sein schmales, makelloses Gesicht, das beinahe zu perfekt gemeißelte kantige Kinn und der breite volllippige Mund. Beim Anblick dieses beeindruckenden Prachtexemplars von einem Mann konnte selbst das stärkste Herz stehen bleiben.
Wie hatte sie nur ihrem Zorn gestatten können, sie für die Gefahr blind zu machen, die von jeder Pore dieses Herrn ausging? Und was noch schlimmer war, welche kurzsichtige Arroganz hatte sie glauben lassen, sie könnte es wagen, mit einem Mann von Welt wie ihm zu flirten?
Jennie erkannte, dass es ihre eigene Schuld war, weil sie den Earl glauben lassen hatte, sie wäre dreist, und das hielt sie davon ab, ihm eine Ohrfeige zu geben oder in mädchenhafte Tränen auszubrechen – wie es jede anständig erzogene junge Dame getan hätte. Zumindest jede, die nicht Zuflucht in einer Ohnmacht gesucht hätte.
Keiner von beiden sagte ein Wort. Sie standen sich einfach nur gegenüber und starrten sich an, jeder von ihnen mit seinen eigenen verwirrenden Gedanken beschäftigt.
Christopher war gerade im Begriff, den Vorschlag zu machen, sie sollten ihre Bekanntschaft an diesem Abend in abgeschiedener Atmosphäre vertiefen, wobei er ein gemütliches Dinner bei Kerzenlicht gefolgt von einer beiderseits zufrieden stellenden Entdeckungsreise auf dem großen Prachtschiff von Bett in seinem Schlafgemach im Sinn hatte, als Jennie ihn überraschte, indem sie herumwirbelte, ihre zerrissenen Röcke raffte und Hals über Kopf Richtung Heimatwald davonrannte.
„Warte“, rief der Earl ihr nach, während er der entschwindenden Gestalt erstaunt hinterher sah, die rasch von den Schatten des dichten Waldes verborgen wurde. „Jennie, du törichtes Kind. Warte!“
Es hatte wenig Sinn, ihr nachzulaufen, da das Mädchen wahrscheinlich jeden Baum und jedes Versteck kannte und ihm beinahe mühelos entwischen konnte. Auch könnte sie, falls er sie verfolgte, unvorsichtig werden, um schneller voranzukommen, und so in eine weitere von Leons gefährlichen Fallen geraten.
Also gut, dachte er achselzuckend, es ist ja nicht so, dass sie für immer aus meinem Leben verschwindet. Er musste nur den einfallsreichen Renfrew fragen, wo eine blonde Miss namens Jennie wohnte, und schon wäre die Sache geritzt. Sobald er sie ausfindig gemacht hätte, würde es ihn nicht mehr als ein paar tröstende Worte kosten – und vielleicht ein oder zwei Stücke wertlosen Tand –, um die schöne Maid in sein Bett zu locken.
Christopher war sich seiner Einschätzung von Jennies Charakter und der Anziehungskraft seines Titels und Vermögens sicher. Beides musste jemanden verführen, der in so bescheidenen Verhältnissen lebte, daher kehrte er zum Herrenhaus zurück, verzehrte ein stärkendes Mittagsmahl und verschwand anschließend in der Bibliothek, wo er Sir Cedric Maitland eine Nachricht schrieb, mit der er dessen Einladung zum Dinner am folgenden Abend akzeptierte.
Miss Jane, wenn Se jetzt nich aufhörn rumzuquieken wie ’n eingepferchtes Schwein, dann krieg’ ich diese Zottel nie raus, und Miss Bundy, die alte Giftschlange, wird meinen Kopp auf ’nem Tablett servier’n, wenn Se heut Abend zu spät zu Tisch komm’. Kann schon den Gedanken daran, wie Miss Bundy mir zusetzt, kaum ertragen.“
Goldie bekräftigte ihre Klage mit einem energischen Ruck der Bürste, mit der sie eine der zerzausten Locken bearbeitete, was Miss Jane Maitland vor Schmerz die Tränen in die Augen trieb. Daher sank sie gehorsam auf ihren Stuhl und gestattete der Zofe, ihr Haar zu einem lockeren Knoten auf ihrem Kopf festzudrehen. „Verzeih mir, Goldie, meine Liebe“, sagte sie. „Es liegt mir fern, meiner lieben Gesellschafterin einen Grund zu geben, dich zu schelten.“
„Wie gut“, seufzte Goldie, die der Frisur ihrer Herrin gerade den letzten Schliff gab. „Die Frau hat ’ne so scharfe Zunge, damit könnte man glatt ’ne Hecke stutzen.“
„Ganz zu schweigen von ihren Ohren, die dein törichtes Gerede leider schon aus weiter Ferne wahrnehmen können“, erklärte Miss Ernestine Bundy, die unbemerkt hereingekommen war.
„Auf und davon!“, kicherte Jane, als Goldie hastig ihre Röcke hob und trotz ihres stattlichen Umfangs zu der kleinen Tür an der Rückseite des geräumigen Schlafgemachs eilte, wild entschlossen, der Strafpredigt zu entrinnen, die Miss Bundy ihr sonst sicher halten würde.
Miss Bundy kam in ihrer ganzen Würde ins Zimmer gesegelt. „Diese dumme Frau“, bemerkte sie. „Wie man mit einer solch jämmerlichen Ausgabe von einer Zofe zurechtkommen kann, geht über meinen beschränkten Verstand, wie ich bestimmt schon tausend Mal gesagt habe. Wirklich, Jane, manchmal sehe ich mich gezwungen, Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre großartigen Gesten der Wohltätigkeit die beklagenswerte Neigung haben, höchst enttäuschende Folgen zu zeitigen.“
„Aber, Bundy“, schalt Jane sie, erhob sich von ihrem Stuhl vor dem Spiegel und strich die Röcke ihres blassblauen Kleides glatt. „Was Goldie an Geschick fehlt, macht sie mit ihrem guten Herzen mehr als wett.“ Sie drehte sich so, dass sie sich über die Schulter hinweg von hinten betrachten konnte, und fuhr beiläufig fort: „Außerdem war die Ärmste ein so trauriger Fehlschlag in der Molkerei.“
„Und in der Küche auch, und als Hausmädchen und als Näherin und …“
„Genug, Bundy, lass uns gehen, sonst werden Papas Dinnergäste noch mich willkommen heißen, statt umgekehrt.“
Ernestine Bundy, einst Gouvernante und nun Gesellschafterin von Miss Maitland, hatte miterlebt, wie ihre reizende, hübsche Schutzbefohlene zu einer schwierigen, mageren Jugendlichen herangewachsen war, die dann in dem Jahr nach ihrem achtzehnten Geburtstag zu der jungen Frau erblüht war, die nun die breiten Stufen vor ihr hinunterschritt: ein erstaunlich schönes Geschöpf, sehr intelligent und geistreich, das gerne und oft lächelte und eine bezaubernde Art an sich hatte, die sogar eine Maus aus ihrem Loch locken konnte.
Und wenn sie auch ein wenig eigenwillig war, so war das von dem einzigen, abgöttisch geliebten Kind nicht anders zu erwarten, und sicher würde Jane wegen ihrer Großherzigkeit und ihrer Neigung, nur das Gute in Menschen zu sehen, nicht zu Schaden kommen, solange ihr höchst fürsorglicher Vater und Miss Bundy zugegen waren, um sie vor einigen der abscheulicheren Realitäten des Lebens zu schützen.
Miss Bundy war stolz auf ihren nicht geringen Einfluss auf die Entwicklung dieses exquisiten Geschöpfes, das sie nun am Fuße der Treppe erwartete. Sie konnte ja nicht ahnen, dass eine dieser Realitäten bereits im Schatten lauerte – genauer gesagt, im Salon der Maitlands selbst –, bereit, zuzuschlagen.
Lord Bourne befand sich erst seit wenigen Minuten bei den Maitlands – gerade so lange, dass er seinem Gastgeber und dem anderen Dinnergast vorgestellt worden war. Man hatte wissen wollen, welche Erfrischung er gerne hätte, und man hatte ihn nach seinem Vorleben und seiner persönlichen Lebensgeschichte ausgefragt – all das auf eine äußerst höfliche Art und Weise, jedoch derart gründlich, dass es einen spanischen Inquisitor neidisch gemacht hätte.
Miss Abigail Latchwood, eine Jungfer unbestimmbaren Alters, und, wie Lord Bourne annahm, ein häufiger Gast der Maitlands, war die lauteste Person, der er je begegnet war, dabei hatte er eine ganze Reihe Menschen kennen gelernt. Offensichtlich wollte Sir Cedric durch ihre Anwesenheit an diesem Abend sichergehen, dass die Neuigkeit, dass er der Erste in seinen Kreisen war, der den neuen Earl in seinem Haus begrüßen konnte, auch die entlegensten Winkel der Umgegend so rasch wie möglich erreichen würde.
Christopher langweilte sich unglaublich und suchte schon nach einer plausiblen Entschuldigung, wie er sich von Sir Cedric und seinem wissbegierigen Gast unmittelbar nach dem Weinbrand und den Zigarren verabschieden konnte. Er war noch so sehr Soldat, dass es ihm schwer fiel, die langweiligen Pflichten, die mit seinem neuen Titel verbunden waren, mit einigem Anstand zu ertragen.
Wenn wenigstens der schätzenswerte Renfrew hilfreicher gewesen wäre, was diese Sache mit Jennie, der Lehrertochter, anging – doch der sonst so nützliche Mann hatte beteuert, seinem Wissen nach seien weder der Vater noch dessen Nachkömmling in der Nachbarschaft ansässig. Es gebe zwei Jessies im Dorf, und der Hufschmied habe eine Nichte namens Jackie – obwohl dieses Fräulein pechschwarzes Haar habe –, aber von einer blonden Maid namens Jennie sei ihm nichts bekannt.
Was soll’s, dachte der Earl und lächelte höflich, während Sir Cedric seinen letzten Triumph bei der Jagd in allen Einzelheiten schilderte. Vor Ende der kommenden Woche würde er ohnehin nach London aufbrechen und Jennies ländliche Schönheit bald vergessen haben.
Lord Bourne gestattete sich ein leichtes Lächeln, das seine Züge weicher wirken ließ. Sein Glas schwenkend, machte er sich seine eigenen Gedanken. Langweilige Dinnerabende und ein nicht vorhandenes Gesellschaftsleben waren ein geringer Preis für die Möglichkeit, Bourne Manor sein Eigen nennen zu dürfen. Mit Sicherheit war es besser, als sich in Ciudad Rodrigo im Schlamm zu wälzen – und der Rang eines Earls brachte Vorteile mit sich, von denen ein einfacher Major nur träumen konnte.
Während die ältliche Miss Latchwood sich entzückt in Pose setzte, der stolze Sir Cedric berichtete, auf welch brillante Weise er einen unglückseligen Fuchs ausmanövriert hatte, und Lord Bourne selbstgefällig überlegte, wie er sich in den Lasterhöhlen von London die Zeit vertreiben würde, stand Miss Jane Maitland vor der Tür zum Salon und ließ es über sich ergehen, dass Miss Bundy ein allerletztes Mal ihre perfekt sitzenden Röcke zurechtzupfte.
„Papa wird fragen, weshalb ich so spät komme, Bundy“, warnte Jane ihre Gesellschafterin. „Er wird eine Erklärung von mir verlangen, und ich werde gezwungen sein, ihm zu gestehen, dass du mein Erscheinen um fünfzehn Minuten verzögert hast, weil du nicht vorhandene Mängel an meiner Toilette suchtest.“ Jane zuckte seufzend die Schultern. „Und dann wird Papa toben und schimpfen, und dann wirst du postwendend raus in den Schnee geworfen …“
„Es hat in Bourne schon seit drei Jahren nicht mehr geschneit“, konnte Miss Bundy nicht umhin einzuwerfen. Sie wies Jane an, sich langsam um die eigene Achse zu drehen, und betrachtete sie prüfend. „Sie werden mit dem neuen Earl of Bourne dinieren, Missy“, fuhr sie fort, ohne zu bemerken, dass Jane plötzlich scharf Luft holte, „und ich habe die strikte Anweisung, dass Sie für den Gentleman so gut wie möglich aussehen müssen. Wenn Sie mich fragen, hat Ihr Papa sein Ziel sehr hoch gesteckt, aber ich muss zugeben, dass Lord Bourne weit und breit keine so schöne Countess wie Sie finden wird, meine Liebe!“ Miss Bundy strich noch einmal unnötigerweise über Janes Frisur, dann trat sie zurück, betrachtete ihr Werk und rief aus: „Na bitte! Was will ein Mann mehr erwarten!“
Jane rümpfte angewidert die Nase. „Bist du sicher, Bundy? Was meinst du, liebste Ernestine, reicht meine Mitgift für den Ehevertrag aus, oder wird Papa noch Mamas Diamanten in die Waagschale werfen, um ihm die Sache schmackhafter zu machen?“
Miss Bundy bekam angesichts der Unverfrorenheit ihrer Schutzbefohlenen nicht sofort einen Anfall. Tatsächlich blinzelte die duldsame Angestellte nicht einmal. Sie kniff lediglich in Janes Wangen, um ihnen mehr Farbe zu verleihen, trat zurück und gab dem kichernden Lakaien ein Zeichen, der Gesellschaft seine Herrin anzukündigen. Dann zog die Gesellschafterin sich nach oben zurück zu der kleinen braunen Flasche, die sie hinter ihrem Strickzeug verborgen hielt. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich das Leben bei den Maitlands am besten ertragen ließ, wenn man die Taktik des klugen Rückzugs beherrschte. Jane würde sich später bei ihr entschuldigen, wie sie es immer tat, wenn die Zunge mit ihr durchgegangen war, dabei hatte das arme Mädchen Grund genug, empört zu sein – schließlich wurde sie dem neuen Earl wie ein prachtvolles Stück Vieh vorgeführt –, und Miss Bundy würde sich von Janes netten Bitten um Verzeihung besänftigen lassen.
Jane wartete ab, bis Miss Bundy im oberen Stockwerk verschwunden war, dann holte sie tief Luft, hob ihr sanft gerundetes Kinn und sandte rasch ein Stoßgebet zum Himmel, dass Lord Bourne kein furchtbarer Narr sein möge, und ließ sich ankündigen.
Als sie den Raum betrat, sah sie im Kerzenlicht als Erste Miss Latchwood. Aha, dachte sie, Papa überlässt nichts dem Zufall. Wenn mich der arme Earl auch nur anlächelt, wird die alte Schachtel die ganze Nachbarschaft glauben lassen, wir hätten schon das Aufgebot bestellt.
Sie nickte der älteren Frau, die ihr verschwörerisch zublinzelte, freundlich zu und wandte sich dann an ihren Vater. „Guten Abend, Papa“, äußerte sie mit süßer Stimme und knickste. „Bitte verzeih mir meine Verspätung, die Zeit schien mir wegzulaufen.“
Sir Cedric sah die Wiedergeburt seiner geliebten verstorbenen Frau vor sich stehen und ließ sich davon so bezaubern, dass er Jane verzieh, ihn von seinem Dinner abgehalten zu haben. Er ergriff ihre zierliche Hand mit seiner riesigen Pranke und wandte sich an seinen Ehrengast, um ihm sein Ein und Alles vorzustellen.
„Lord Bourne“, hob der stolze Vater an, „gestatten Sie mir, Ihnen meine Tochter …“
„Du!“, rief der Earl laut. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, und auf einmal schien die Luft zwischen ihm und der jungen Frau, die vor ihm stand, zu knistern.
„So viel zu Gebeten“, murmelte Jane trocken und betrachtete den modisch gekleideten Gentleman, der sie gerade mit offenem Mund anstarrte.
Abigail Latchwood beugte sich vor. Eine Eingebung sagte ihr, dass sie einen Logenplatz bei einem Schauspiel ergattert hatte, das sich als höchst pikant zu erweisen versprach.
„Ich wäre höchst erfreut, mir anzuhören, was Sie zur Lösung unseres Problems vorzuschlagen haben, Mylord, aber ich wünsche keine weitere trostlose Wiederholung des Problems an sich. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Sie wünschen keine trostlose Wiederholung? Verdammt noch mal, hier geht es um meine Gefühle, die ich jetzt gezwungen sein werde, vollkommen außer Acht zu lassen. Aber ich sehe mich nicht genötigt, auch noch um der Höflichkeit willen mit Ihren armseligen Empfindungen meine Zeit zu vertrödeln.“
Jane dachte einen Augenblick über Lord Bournes Worte nach und kam zu dem Schluss, dass sie ihn womöglich falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht war er nicht ihr Feind. Dann war sie gerade dabei, ihren einzigen Verbündeten zu schelten – da ihr Vater, Bundy und sogar Goldie zu ihren strengen Widersachern in dieser Sache gehörten.
„Sie sind gegen Papas Heiratspläne?“, fragte Jane den Earl, der nun im Kräutergarten, in den man sich zu dieser Unterredung begeben hatte, vor ihr stand. Sein ebenholzschwarzes Haar schimmerte im hellen Sonnenlicht.
Er nickte zustimmend. „Aber weshalb“, fragte sie plötzlich wieder hitzig, „haben Sie Papa dann gestern Abend nicht berichtigt, als er davon gesprochen hat? Sie scheinen mir normalerweise kein Mann zu sein, der um Worte verlegen ist.“
Lord Bourne schüttelte ungläubig den Kopf. „Bitte, Sie sind doch wohl kein solcher Dummkopf. Nach Ihrem hysterischen Ausbruch, als wir einander vorgestellt wurden, gab es verdammt wenig, das ich hätte tun können, um die Situation zu retten.“
„Mein Ausbruch?“ Jane rümpfte undamenhaft die Nase. „Mir ist nur eine kleine Bemerkung entschlüpft, die Ihr unhöflicher Ausruf verursacht hat, Mylord“, verbesserte sie ihn.
Lord Bourne räumte gnädigerweise ein, dass ihm ein kleiner Fauxpas widerfahren war, zweifellos infolge der Überraschung, seine wilde Jennie in Gestalt der hochanständigen Miss Maitland wieder zu sehen. „Aber ich war es nicht, der anschließend jede noch so kleine Einzelheit unserer Begegnung in Bourne Manor gestanden hat – bis hin zu dieser wirklich unerträglich albernen Schilderung dessen, was eigentlich nicht mehr als ein gestohlener Kuss gewesen ist. Miss Latchwood wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.“
„Nein, das wäre sie nicht, denn dann hätte sie womöglich eine höchst interessante Klatschgeschichte verpasst. Gott!“ Jane erschauerte bei der Erinnerung. „Ich war sehr in Versuchung, ihr mein Taschentuch anzubieten, als sie so geiferte.“
„Also haben Sie sie lieber auf den Gedanken gebracht, die arme unschuldige Miss Jane Maitland wäre von dem üblen Lord Bourne kompromittiert worden“, spottete der Earl. „Gott!“, ahmte er Jane nach. „Sie hätten ebenso gut glockenläutend durch die Gegend laufen können und rufen: ‚Christopher Wilde hat mich geküsst! Christopher Wilde hat mich …‘“
„Nicht!“, flehte Jane und legte die Hände über ihre Ohren. „Papa hat es versäumt, mir die Namen unserer Gäste zu nennen, verstehen Sie. Erst im letzten Augenblick, bevor ich angekündigt wurde, erfuhr ich, dass Sie anwesend sein werden. Unter diesen Umständen habe ich mein Bestes getan, glaube ich …“
Der Earl zupfte einen verirrten Faden von seinem Ärmel und unterbrach sie gelangweilt: „Ihr Bestes? Wie traurig. Bitte, Miss Maitland, nehmen Sie davon Abstand, mich auf Ihre Schwächen aufmerksam zu machen. Ich bin ohnehin schon deprimiert genug, ohne dass …“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Lord Bourne“, warf Jane hitzig ein, „wenn Sie von Ihrer beklagenswerten Neigung absehen würden, mich zu unterbrechen, wenn ich etwas sage!“
Mit immer noch gesenktem Kopf zog Christopher die Brauen hoch und blickte seine Widersacherin an. „Da ist sie ja wieder, meine kleine Tigerkatze. Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauert, bis sie ihre Krallen ausfährt.“ Es steht ihr wirklich gut, wenn sie wütend ist, dachte er bei sich und betrachtete wohlgefällig Jennies gerötete Wangen und die Art, wie die sanfte Brise ihre blonden Löckchen um ihr Gesicht tanzen ließ.
Jane sah ihn abweisend an. Sie hatte am Morgen um dieses Treffen mit ihm gebeten in der Hoffnung, dass sie gemeinsam einen Ausweg aus dem Schlamassel finden würden, in den sie am vorherigen Abend geraten waren. Aber nun war es offensichtlich, dass sie sich die Mühe ebenso gut hätte sparen können, ihrer Gouvernante zu entwischen und sich auf ein weiteres „Stelldichein“ einzulassen, wie diese überaus respektable Dame es nennen würde.
„Wenn Sie damit fertig sind, Ihr verletztes Ich auf meine Kosten zu salben, dann schlage ich vor, wir stecken die Köpfe zusammen und finden einen Ausweg aus diesen merkwürdigen Verwicklungen, oder wir beenden dieses Gespräch, und Sie kehren nach Bourne Manor zurück, um sich hinter verschlossenen Türen vor Papas Zorn zu verbarrikadieren.“
Wenn Christopher nicht mehr zu fürchten gehabt hätte als Sir Cedrics Zorn, dann wäre er sehr wohl in der Lage gewesen, rasch damit fertig zu werden. Aber nein. Nachdem Jennie – er weigerte sich, sie Jane zu nennen – von der hochanständigen, entrüsteten Miss Bundy zu ihrem Zimmer geleitet und Miss Latchwood mit einer halben Karaffe ihres bevorzugten Kirschweinbrands im Morgenzimmer untergebracht worden war, hatte Sir Cedric Lord Bourne gestanden, er leide an einem „schwachen Herzen“, und jeder Skandal, der sein geliebtes Kind betreffe, würde ihn ebenso sicher ins Grab bringen wie eine Kugel im Kopf.
Lord Bourne wunderte sich laut, wie es möglich sein sollte, dass ein so wohl aussehender Mensch, der mit solcher Tatkraft zur Jagd ritt, bei schlechter Gesundheit sein könne. Das erwies sich als taktischer Fehler, denn Sir Cedric wankte prompt zum nächsten Sessel, griff sich an die Brust und rief schwach nach seinem Kammerdiener. Immer noch skeptisch, sah der Earl zu, wie Sir Cedrics besorgter Diener dem zappelnden Gentleman einen Trank verabreichte und ihn dann mit Hilfe zweier kräftiger Lakaien in seinem Sessel zu seinem Bett tragen ließ. Dieser Schachzug machte jede Hoffnung auf ein vernünftiges Gespräch wirksam zunichte.
Der Earl war daraufhin ohne das versprochene Dinner nach Hause geritten, hatte den erstaunten Renfrew angebrüllt, man möge ihm zu essen und zu trinken servieren, nur um dann, als man ihm eine Platte mit saftigem Kaninchen mit Frühlingszwiebeln brachte, höchst grob zu reagieren, indem er den Braten mitsamt der Anrichteschüssel gegen die nächste Wand schleuderte.
Stunden später, unmittelbar bevor der viele Portwein, den er inzwischen getrunken hatte, Seine Lordschaft in einen tiefen Schlaf fallen ließ, hörte Renfrew ihn betrübt verkünden: „Kaninchen sind die Wurzel allen Übels auf dieser Welt. Wenn ich König wäre, würde es auf der ganzen verdammten Insel nicht ein einziges dieser stummelschwänzigen Biester mehr geben.“
Als er am nächsten Morgen erwachte, konnte der Earl sich an diese tiefsinnige Bemerkung nicht mehr erinnern, ein strafender Kater war das einzige Souvenir eines Abends, den er gerne vergessen wollte. Doch Jennies Nachricht führte ihm sein Dilemma wieder deutlich vor Augen, und er hatte sich inzwischen so weit erholt, dass er dem Treffen zustimmen konnte, das nun im Kräutergarten der Maitlands stattfand. In seinem Kopf hämmerte es immer noch, als befände sich ein Hufschmied darin, und seine Ohren klangen von Jennies Anschuldigungen, dennoch kam Christopher zögernd zu der Erkenntnis, dass er die ihm verbleibenden Tage als sorgloser Junggeselle an einer Hand abzählen konnte. Es gab keinen Rückzug für einen Ehrenmann, keinen Fluchtweg, ohne sich für immer von seinem guten Namen zu verabschieden.
Die kindlich offenherzige Jennie und ihr entschlossener Papa hatten ihn geschickt in die Ehefalle gelockt. Alles, was ihm jetzt noch zu tun übrig blieb, war, seine „Zukünftige“ davon zu überzeugen, wie sinnlos es war, sich gegen das Unvermeidliche zu sträuben.
„Nun?“, fragte Jennie in seine Gedanken hinein. „Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?“
„Ich muss zwar zugeben, dass ich im Moment nicht ganz auf der Höhe bin“, erwiderte der Earl in bitterer Selbstironie, „aber ich werde Ihnen nicht den Gefallen tun, völlig zu verblöden, denn wenn ich auch gezwungen bin, Sie zu heiraten, meine liebe Jennie, so werde ich bestimmt nicht vergessen, dass ich ein Wilde bin, und als solcher stehe ich über jeglichen feigen Ausweichmanövern. Nicht dass der Gedanke nichts für sich hätte, wohlgemerkt.“
„Dann wollen Sie also einfach klein beigeben und eine Frau heiraten, die Sie offensichtlich verabscheuen – uns beide infolgedessen vollkommen unglücklich machen –, statt auch nur die leiseste Anstrengung zu unternehmen, die Angelegenheit auf andere Weise zu regeln?“ Jennie starrte ihn mit ihren großen Augen ungläubig an.
„Welche andere Weise schlagen Sie vor?“, fragte Christopher höflich, nahm Jennies Hand und legte sie auf seinen Arm. Dann spazierte er mit ihr gemächlich den Gartenweg entlang.
Jennie runzelte die Stirn und zermarterte sich das Hirn in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Traurigerweise wollte ihr nichts einfallen, und als sie das Tor am Ende des Pfades erreichten und sie seinen Arm losließ, musste sie zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, was ihre Rettung sein könnte.
„Ich bin geneigt, Ihnen vorzuschlagen, ein Gebet zu sprechen“, sagte Lord Bourne scherzhaft, „aber ich glaube nicht, dass der Herrgott Ihr Flehen erhört, wenn es etwas damit zu tun hat, Earls auf die dunkle Seite des Mondes zu verfrachten.“ Er drehte sich so, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, bevor er feierlich die schicksalhaften Worte sprach. „Miss Maitland, ich habe Sie schon seit unserer ersten Begegnung bewundert, und ich kann nur hoffen, dass Sie meine Wertschätzung zumindest ein wenig erwidern. Bitte, Miss Maitland, erweisen Sie mir die Ehre, mich zum glücklichsten Mann der Welt zu machen, und willigen Sie ein, meine Braut zu werden.“
Sein Heiratsantrag ließ nichts zu wünschen übrig, obwohl so mancher Verurteilte sicher froher geklungen hatte, wenn er auf dem Weg zum Schafott seine letzten Worte sprach.
Und da sie ihm keine absichtliche Zweideutigkeit bei der Erwähnung ihrer ersten Begegnung unterstellen wollte, nahm Jennie an, dass seine Reaktion das Beste war, was sie unter diesen Umständen erwarten konnte. Natürlich entbehrte seine Erklärung all der Romantik, von der sie immer geträumt hatte, seit sie ihren ersten Minerva-Liebesroman gelesen hatte.
Jennie blickte forschend in Lord Bournes blaue Augen und suchte vergebens nach einem humorvollen Funkeln, das ihr gesagt hätte, er habe nur im Scherz gesprochen. Da war keines. Es war ihm ernst, vollkommen ernst. Earls durften Töchtern eines Baronets keinen Kuss stehlen, selbst wenn sie im Glauben waren, sie würden sich nur mit einem kleinen Niemand einen Spaß ohne Folgen erlauben. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, und wer dagegen verstieß, büßte entweder seine Ehre oder seine Freiheit ein.
Lord Bourne hatte seine Wahl getroffen. Er würde sie heiraten, um den Konventionen Genüge zu tun. Und um ihren guten Ruf zu retten, erinnerte sie sich gehässig, das durfte sie nicht vergessen – aber dafür würde Bundy schon sorgen.
„Nun ja“, sagte sie endlich, gerade als Christopher anfing zu glauben, sie würde ihn rundweg zurückweisen, und beunruhigt überlegte, weshalb ihm das so viel ausmachte. „Wenigstens sind Sie nicht fett.“
Ein schwerer Stein fiel ihm vom Herzen, und er grinste breit, als er ihre Hände ergriff. „Ich bin auch kein schlechter Mensch“, erklärte er ihr fröhlich, amüsiert über ihre jugendliche Offenheit.
Jennie erwiderte sein Lächeln. „Oder ein kratzbürstiger, ständig klagender Greis, der an der Gicht leidet.“
„Oder einer, der stinkt oder lauter Warzen hat, oder ein Witwer mit sechs schreienden Bälgern, die Sie bemuttern sollen, oder ein Schwerhöriger oder einer, der kaum noch Zähne im Mund hat.“
„Oder ein leidenschaftlicher Spieler?“
„Ich bin nicht einmal flüchtig mit Wucherern bekannt. Ich spiele zum Vergnügen, aber nie sehr hoch.“
„Oder dem Schnaps zu sehr ergeben?“
„Man muss Maß halten – bei allen Dingen, das ist mein Motto!“, beteuerte er, ungeachtet seines übermäßigen Alkoholgenusses am vorherigen Abend.
„Nun, dann wäre ein Mädchen ja unerlaubt töricht, wenn es sich einen so offensichtlich guten Fang wie Sie, Mylord, entgehen lassen würde, nicht wahr?“, erklärte Jennie immer noch lächelnd.
Endlich entdeckte sie das humorvolle Funkeln in Lord Bournes Augen, als er ihr zuzwinkerte. „In der Tat sehr töricht, Miss Maitland“, versicherte er und drückte ihre Hände.
„Dann … dann nehme ich Ihren freundlichen Antrag dankend an, Sir.“ Nun, da sie die schicksalhaften Worte gesprochen hatte, verschwand Jennies Lächeln, und sie senkte den Kopf. Sie konnte dem allwissenden Blick des Earls nicht länger begegnen und tat ihr Bestes, nicht zu zittern und ihm ihre innere Unruhe zu verraten.
Da legte er einen Zeigefinger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht. Er neigte den Kopf. „Eine Verlobung muss mit einem Kuss besiegelt werden“, flüsterte er ernst und ergriff mit der samtenen Wärme seines Mundes Besitz von Jennies Lippen.
Er erinnerte sich an ihren ersten Kuss –, und er küsste sie nun zärtlich, vorsichtig forschend, statt wie damals zu erobern und seine beachtlichen Verführungskünste einzusetzen. Jennie reagierte darauf, indem sie ihre weichen Lippen auf höchst angenehme, sanfte Art an seine schmiegte.
Er wollte Jennie nicht heiraten. Er wollte überhaupt nicht heiraten. Er wollte noch mindestens ein halbes Dutzend Jahre seinem Junggesellenleben in Saus und Braus frönen. Es missfiel ihm, sozusagen mit vorgehaltener Waffe zur Ehe gezwungen zu werden, und das mit einem Mädchen, das gerade erst das Schulzimmer verlassen hatte.
Jennie Maitland war das genaue Gegenteil der Sorte Frauen, mit denen er sich in London zu umgeben hoffte. Sie war viel zu jung und außerdem beklagenswert unerfahren – sie besaß nicht jene spröde Kultiviertheit, die vonnöten war, um im haut ton zu überleben. Und um allem die Krone aufzusetzen, dachte er betrübt, wird man mich für ihr Wohlergehen und ihr Verhalten verantwortlich machen.
Christopher hatte zwei Jahre zermürbenden freiwilligen Dienst in Spanien hinter sich, und er hatte bis auf weiteres genug von Verantwortung – er hatte sie getragen für die Männer, die unter ihm gekämpft hatten und gestorben waren; für die ständigen täglichen Entscheidungen, die das Kommando mit sich brachte. Seine Verwundung und seine lange währende Genesung hatten seine Geduld auf eine harte Probe gestellt, und nur die Aussicht auf die Festlichkeiten der bevorstehenden Londoner Saison vermochte seine Ungeduld zu zügeln, bis er sich seinen Freunden anschließen konnte, um sich in einen Rausch ausschweifender Gelage zu stürzen, der die Hauptstadt in Aufregung versetzen würde.
Eine Ehefrau stellte daher ein ernsthaftes Hindernis für seine Pläne dar. Ehemänner besaßen nicht die Freiheiten eines Junggesellen, insbesondere wenn es sich um frisch verheiratete handelte, von denen man annahm, dass sie sich in den Flitterwochen befanden. Er würde das Mädchen heiraten und sie die Saison über in Bourne Manor zurücklassen, wenn er könnte, aber sein schlechtes Gewissen machte ihm einen Strich durch diese Rechnung. Außerdem war sich Sir Cedric sicher nicht zu schade, ein weiteres Mal theatralisch seinen schlechten Gesundheitszustand zu demonstrieren, um seinem Schwiegersohn seinen Willen aufzuzwingen, und das könnte er nicht ertragen. Aber in London mit einer Gattin behaftet zu sein, war verdammt schwierig, fast so, als hätte er einen Klotz am Bein – oder sollte er sagen ein weibliches Fangeisen?
Und doch … und doch, dachte er, als Jennie ihm gestattete, sie fester in die Arme zu nehmen, die Kleine besitzt eine gewisse Anziehungskraft. Wenn sie den richtigen Privatunterricht erhielte, seinen Unterricht, würde sie wohl eine mehr als erträgliche Bettgenossin werden.
Plötzlich schwand sein Verlangen nach Romantik. Schließlich war er in diesen grässlichen Schlamassel geraten, weil Jennie eine so begehrenswerte Maid war!