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Tin Pohl:
Die Einfachheit des Seins
ISBN: 978-3-03830-366-4
Buchsatz: Danny Lee Lewis, Berlin: dannyleelewis@gmail.com
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Erscheinungsort: Zug
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ieses Buch ist meinem Bruder Alexander gewidmet, welcher bereits mit 7½ Monaten starb und seinen Weg auf Erden nicht lange gehen konnte und meiner Tochter, die jetzt 16 Jahre alt ist und ihren eigenen Weg möglichst ohne große Hindernisse gehen soll und darf, sowie für alle Menschen die ihren eigenen Weg gehen wollen.
Prolog
Gibt es noch Hilfsbereitschaft unter den Menschen?
Wer ist Gott?
Hat der Mensch die Evolution besiegt?
Was verbindet seelische und körperliche Liebe?
Kannman dem Schicksal entgehen?
Braucht der Mensch Zeit?
Gibt es Zufälle?
Was oder wer kann Gedanken übertragen?
Wie funktioniert der Austausch unter Seelen?
Was ist Freiheit?
Lohnt es sich auf die Stimme des Herzens zu hören?
Welche Energien ziehen Menschen gegenseitig an?
Ist gegenseitiges Verstehen möglich?
Was macht einsam?
Was haben alle Drogen gemeinsam?
Erfüllen sich Prophezeiungen?
Sorgt das Leben für den Mensch?
Können wir Menschen selbst entscheiden?
Was ist gesellschaftliches Überbewusstsein?
Was ist ein Geschenk an einen wirklichen Freund?
Warum schlägt unser Puls?
Was ist Sehnsucht?
Kehrt das was wir loslasen zu uns zurück?
Verdirbt das Geld den Menschen?
Was ist Balance im Leben?
Lohnt sich Optimismus im Leben?
Epilog
Danksagung
1986, in tiefsten DDR-Zeiten habe ich nach der Lehre als Automechaniker begonnen mein Abitur in der Abendschule nachzuholen. Ich hatte mit dem Betriebsdirektor und dem Kaderleiter (Personalleiter) einen Qualifizierungsvertrag abgeschlossen. Durch diesen hätte ich die große Ehre gehabt, meinen Weg zu gehen, verbunden mit dem Privileg einen ausgewählten Studiengang zum Kfz-Ingenieur und Lehrpädagogen zu absolvieren.
Doch es kam anders! Leider wollte man dann, dass ich in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, kurz SED genannt, als spätere Vorbildwirkung im Lehrauftrag, eintrete. Außerdem sollte ich auch noch bei der Staatssicherheit mitmischen.Was für ein Tausch, mein Weg gegen Selbstverrat, und das größte Schnitzel für den Spitzel sollte der Lohn sein!
Jung wie ich war, trotzte ich, schmiss mein Abi hin und beantragte gleich am nächsten Tag einen Ausreiseantrag in die BRD. Damit waren einerseits meine Träume vom Studium sowie einer Studienreise, bei der ich mal ganz allein unterwegs sein wollte, so zusagen nur mit mir, hin.
Mit dem Ausreiseantrag wurde ich dann auch gleich im Berufsleben benachteiligt. War ich etwa, nur weil ich meine eigenen Vorstellungen umsetzen wollte, Staatsfeind geworden?
Zeitgleich mit der Wende wurde auch meinem Ausreisantrag stattgegeben. Ich landete in der Nähe von Augsburg. Dort arbeitete ich als Mechaniker in verschiedenen Unternehmen und stieg in den kaufmännischen Bereich auf.
Gleichzeitig wurde ich als Ostdeutscher im Westen vollkommen verblendet und verblödete immer mehr im Konsumrausch. Ich hatte ja auch seit meiner Geburt (1967) ganz schön was entbehren müssen in der DDR! Es musste plötzlich alles sein, Urlaub am Meer, Auto, Motorrad und Levis 501, gewaschen mit Persil.
Die Räder drehten sich immer schneller, die Gesellschaft veränderte sich, die Informationsüberflutung breitete sich aus, die Medien suggerierten nur noch Idealbilder, jeder wollte der Beste, Schönste, Erfolgreichste sein, ich natürlich mittendrin. So kam es, dass ich weiter aufstieg – Karriere und noch einen Berufsabschluss machte, sowie noch zwei Studiengänge nach Feierabend absolvierte. Aber statt das ich mich füllte, ich meine hier mit Zufriedenheit, wurde ich immer leerer. Ich machte natürlich immer weiter, leitete dann irgendwann ein Autohaus, übernahm dann die Leitung eines Bildungsunternehmens, war Marketingmanager und ganz zum Schluss fiel ich auf die Schnauze – arbeitslos.
Nun hatte ich ja ganz gut verdient und fiel weich in die soziale Hängematte. Aber damit konnte ich mich nicht abgeben und versuchte mein Glück als selbständiger Unternehmensberater. In der Hoffnung, den Menschen in den klein- und mittelständigen Unternehmen in Deutschland Wissen und
Erfahrungen zu bringen, merkte ich ganz schnell, dass die meisten Firmen Klimmziehen am Brotkasten bei den Banken machten, sowie große Angst vor Veränderungen hatten. Ja, die meisten waren wirklich bei allen Umbrüchen und Bewegungen in der Wirtschaft regelrecht erstarrt.
Nun fragte ich mich, wo stehst du? Wie verblödet und manipuliert bist du selbst schon? Was ist dir denn überhaupt wichtig? Was ist dein Ziel? Unglaublicher Weise wusste ich, obwohl ich so viel wusste, nichts mehr! Das Einzige, was ich noch wusste, ich wollte schon immer meinen eigenen Weg gehen, ich wusste nur nicht mehr, welcher das war.
Ich dachte, dann gehst du eben als erstes den Weg, den du allein schon einmal für dich in einem Sommer irgendwann während des Studiums in der DDR gehen wolltest. Dieser Weg wäre damals sowieso eingegrenzt gewesen, schließlich war die Deutsche Demokratische Republik nicht so groß. Jetzt aber hatte ich zum Glück durch die große Freiheit viel größere Möglichkeiten, denn ich konnte je nach Finanzlage die ganze Welt bereisen. Wie früher auch schon einmal, nur der Rucksack und du. So kam es, dass ich von Lugano in der Schweiz nach Genua in Italien laufen wollte. Ca. 550 km über die Berge und durch die Täler bis hin ans Mittelmeer.
Doch es kam wieder anders! Eine Freundin von mir, ihres Zeichens Buchhändlerin, brachte mir Paulo Coehlos »Jakobsweg – Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela« mit. Das Buch riss mich förmlich vom Hocker und ich sah ein Licht am Ende des Tunnels. Der Beginn des Tunnels hier und das Licht in Santiago. Innerhalb von zwei Tagen hatte ich alle Informationen über den Weg bis hin zur Packliste eingeholt, buchte Flüge und wartete auf den 16. August 2006.
16. August 2006 Dresden – Mallorca – Bilbao – Burgos (3.000 km)
Die ganze Nacht hatte ich nicht geschlafen, weil ich so aufgeregt war einmal allein loszuziehen und wegen meiner tierischen Flugangst. Ich bin zwar schon geflogen, aber da war immer jemand dabei, so dass ich nicht allein hätte sterben müssen. Naja, dies war wahrscheinlich die Angst vor dem Loslassen. Und heute wird man ja auch geprägt, dass immer alles perfekt sein soll und somit immer kontrolliert werden muss, sowie dass man ständig kontrolliert wird. Da ist es sicher kein Wunder, dass man auch ein Kontrollfreak wird und Angst hat einmal loszulassen.
Mein sorgenvoller Papa holte mich gegen 8:00 Uhr morgens ab und brachte mich nach Dresden auf den Flughafen. Nach einem kurzen und schnellen Abschied checkte ich ein, nahm noch einen Kaffee und eine Angstzigarette in der Wartehalle mit, und wankte zum Sterben bereit in die Boing 747-800 von Air-Berlin. Beim Start krampfte ich mich ganz schön am Sitz fest und während des Fluges streichelte ich ca. aller 20 Minuten das Flugzeug mit meinen verschwitzten Händen an der Innenseite, wo ich saß. Bei der Landung in Mallorca verstärkte ich meine Bemühungen um die Boing und klopfte immer leicht beruhigend von innen gegen die Bordwand bis sie aufsetzte.
Geschafft, hurra ich lebe noch, genauso habe ich mich gefühlt, als ich aus der Maschine stieg. Aber sofort musste ich mir eingestehen, dass ich in knapp 2 Stunden wieder Angst haben durfte, dann ging es weiter mit Air-Berlin nach Bilbao. Dieser Flug lief ähnlich ab, nur dass es ein Airbus A320 war und die Landung in Bilbao über dem Baskenland mit extremen Seitenwinden verbunden war, so dass ich dachte, jetzt ist es soweit. Aber ich kam wieder heil runter und schlenderte aus dem Flugplatz mit meinem Rucksack zur Mietwagenstation von AVIS. Mittlerweile war es 17:30 Uhr.
Als ich dann meinen Mietwagen kurz und bündig übernommen hatte, fuhr ich in Richtung Burgos davon. Knapp 180 km lagen vor mir und die Station zur Abgabe des Wagens war irgendwo mitten in Burgos, also in einer für mich fremden und großen Stadt. Als ich gegen 19:45 Uhr dort aufschlug, war ich total überrascht wie groß die Stadt wirklich war. Ich schätz einmal 15 km lang und 4 km breit und in der Mitte entspringt kein Fluss, sondern er fließt dahin. Nachdem ich nun mehrmals durch die ganze Stadt gegondelt war und keine Station zur Abgabe des Wagens finden konnte, hielt ich vor einer kleinen Kirche an. Dort stand ein typischer älterer Spanier im braunen Anzug da, mit der Hand im Jackett wie Napoleon. Da ich kein Spanisch konnte und er weder Englisch noch Deutsch verstand und ich ihm immer wieder meine Mietwagenbuchung mit der Abgabeadresse unter die Nase hielt, stieg er einfach mit in mein Auto und lotste mich an das andere Ende der Stadt. Unglaublich, da hatte ich plötzlich einen wildfremden Scout in einer fremden Stadt in meinem Wagen und der zeigte mir den Weg genau zur Abgabestation. Dort gegen 20:30 Uhr angekommen war ich überglücklich und ich drückte erst einmal meinen fremden Führer. Ich bedankte mich und wollte ihm wenigstens den Bus oder das Taxi zurück bezahlen. Aber er wollte nichts von mir! Im Gegenteil er drückte mir mit Händen und Füßen aus, dass es ihm eine Ehre war einem Pilger zu helfen und ich sollte für ihn in Santiago de Compostela ein Gebet sprechen. Ich kam mir vor wie ein Heiliger und war sehr verwundert über die Hilfsbereitschaft, welche ich von zu Hause nicht so gewöhnt war. Aber es sollte noch verrückter werden.
Nach dem ich die Unterlagen und den Schlüssel in den Briefkasten von AVIS gesteckt hatte, machte ich mich mit meinen 8,3 kg (mein Rucksack) auf die Socken. Ich wusste, dass die von mir ausgesuchte Herberge »El Paral« gegen 22:00 Uhr schließt und am Ende der Stadt lag. Leider lief ich genau in die falsche Richtung auf der Calla Vitoria. Ich lief nicht in Richtung Santiago, sondern genau in die Gegenrichtung. Als ich so ziemlich an dem einem Ende der Stadt war, hatte ich das Gefühl nicht richtig zu sein. Es ähnelte überhaupt nicht mehr der Beschreibung in meinem schlauen Reiseführer und ich war langsam so ziemlich fertig und war ja auch noch knapp 4 km durch die Stadt gelaufen. So ging ich ins Polizeirevier auf der anderen Straßenseite.
Wieder ein älterer Mann, welcher weder Englisch noch Deutsch verstand. Aber er hatte viele Sterne auf seiner Uniform und hieß Ferdino und war so was wie der Chef der Polizeistation. Ich übersetzte ihm mit meinem kleinen Reisewörterbuch ins Spanische, dass ich Peregrino (Pilger) bin und die Albergue (Herberge) »El Paral« suche. Da wir uns nur sehr schwer verständigen konnten, ging Ferdino einfach mit auf die Straße und hielt den Bus an. Er erklärte dem Busfahrer, welchen er offensichtlich kannte, wo ich hin will. Ich war wieder einmal gerührt und fing fast an zu weinen, als ein junger Spanier auch noch einen Busfahrschein für mich löste und ihn bezahlte. Fünf Stationen weiter schrieb mir die gute Busfahrerseele einen Zettel für den nächsten Bus, mit den Notizen für die nächsten 5 Stationen und einer kurzen Wegbeschreibung von der letzten Station zu Fuß zur Herberge.
Da stand ich also an der Bushaltestelle und wartete auf meinen nächsten Bus, welcher mich 5 Stationen weiter bringen sollte. Nun war es auch schon 21:30 Uhr und ich hatte kaum eine Chance die Herberge vor Schließung noch zu erreichen. Es fing an zu regnen und es wurde auch langsam kalt. Zu meinem Entsetzen hielt dann plötzlich ein Polizeiauto vor der Bushaltestelle und zwei Beamte stiegen aus und kamen direkt auf mich zu. Ich dachte »Scheiße jetzt wirst du auch noch verhaftet«.
Doch es kam wieder anders. Der jüngere Polizist sprach mich auf Englisch an und fragte »You Tin from Germany?« Ich antwortete mit »Yes«. Er erklärte mir dann in Englisch, dass ihn Ferdino, sein Chef, schickt und ich nun mit dem Polizeiwagen zur Herberge gebracht werde. Daraufhin liefen mir dann ein paar dicke Kullertränen die Wangen herunter, ich war vollkommen überfordert mit dem was hier auf dem Jakobsweg, auf dem ich mich gerade noch nicht wissend befand, so alles passiert. Gefasst stieg ich dann hinten in den Polizeiwagen ein, zu meiner Belustigung waren die Sitze aus Hartplaste, die Scheibe im Innenraum nach vorn war vergittert und es gab keine Hebel oder Kurbeln, um die Seitenscheiben, noch die Türen, von innen zu betätigen.
Fast vor der Herberge setzten mich meine beiden Polizeiengel ab und wir machten noch einen kleinen englischen Plausch. Nach einem herzlichen Abschied lief ich noch über die Straße und 150 Meter in einen Park direkt an die Herberge »El Paral«, es war genau 22:00 Uhr. In der Herberge wartete man bereits auf mich, denn Ferdino hatte auch noch angerufen, falls es später bei mir werden würde. Dies wurde mir gleich von der Herbergsleitung verkündet.
Leider war die Herberge voll und ich musste mit ca. 50–60 anderen Pilgern in der Turnhalle des Sportcenters auf der anderen Straßenseite schlafen. Mir war das aber völlig egal, weil ich fix und fertig von den Strapazen des Tages war. Ich trank noch etwas Leitungswasser, aß drei leckere aber trockene Müsliriegel, rollte meine Isomatte und meinen Schlafsack auf dem Turnhallenfußboden aus und versuchte zu schlafen. Zu meinem Leid regnete es sehr stark und das gewölbte Plexiglasdach machte solche starken Geräusche, dass ich im Resonanzraum (Turnhalle) unmöglich auch nur ansatzweise schlafen konnte. Ich denke dies ging dort meinen Pilgerkollegen ebenso und so lagen wir eben alle bis kurz vor Sonnenaufgang wach.
17. August 2006 Burgos – Tardajos – Rabe de las Calzades – Hornillos del Camino (19,5 km)
6:30 Uhr ein Raunen, Murren und Kratzen – die Pilger, falls Einer, darunter war, welcher überhaupt in der Turnhalle geschlafen hatte, erwachten. Unter Ihnen erwachte auch ich, obwohl ich ja nicht munter werden brauchte, denn ich hatte nicht geschlafen. Nach einem Schluck aus der Wasserleitung und einem Corny-Riegel, packte ich meine Sachen und ging hinaus ins dunkle Nichts.
Auf den menschenleeren Straßen suchte ich nach einem Cafe oder einer kleinen Bar und landete schließlich an der Tankstelle zum Frühstück. Dort kaufte ich mir ein Baguette, eine Packung eingeschweißten Schinken und holte mir einen Automaten-Kaffee. Ich muss wirklich wie einer vom Mond ausgesehen haben, denn die beiden Verkäuferinnen schauten mich misstrauisch an. Mir war das aber vollkommen Schnuppe, denn ich hatte ja nun seit dem Flug Dresden – Mallorca nichts mehr gegessen außer leckeren Cornys.
Gestärkt und höchst motiviert machte ich mich auf den Weg. Ja, wo war denn der Weg gleich noch einmal? Ich dachte, am besten kommst du, wenn du zur Kathedrale läufst. Ab da wird dann der Weg, wie im Reiseführer beschrieben, ausgewiesen sein. Bis zur Kathedrale lief ich ca. eine halbe Stunde, wieder einmal unbewusst in die entgegengesetzte Richtung. Die Straßen waren vollkommen leergefegt und nirgendwo war auch nur ein Lebewesen zu sehen, denn ganz Burgos schlief noch. Mit aufgehender Sonne stand ich vor der von Nebel verhüllten riesigen Kathedrale und war erfüllt voller Zuversicht und Optimismus für meinen weiteren Weg.
300 Meter entfernt entdeckte ich schließlich mein erstes Zeichen. Ein wunderbarer fast golden glänzender gelber Pfeil auf einer Sandsteinsäule an der Straße – ich hatte Gänsehaut. Ein Stück weiter fand ich auch noch Muscheln aus Messing auf dem gepflasterten Weg, welche mir den Weg bis wieder hinunter zur Tankstelle am Fluss wiesen, wo ich vorher gefrühstückt hatte. Von da aus wusste ich dann wie ich zurück zur Herberge kam, an welcher der Jakobsweg aus der Stadt führte. Vorbei an der altertümlichen Universität von Burgos und an einem Pilgerdenkmal führten mich die gelben Pfeile und Muschelzeichen aus der Stadt, bis ich schließlich im freien Feld auf einer schier nie endenden gelben und steinigen Piste stand. So sah er also aus, der Jakobsweg, öde kahl und ewig lang. Ich musste von Sinnen gewesen sein, als ich mir vornahm hier rund 500 km entlang zu laufen. Naja was soll’s dachte ich, wo du nun einmal da bist, dann machst du das Beste daraus und lief los.
So lief ich und lief ich, ohne auch nur eine andere Pilgerseele zu treffen. Ich hielt öfters an und schaute dann nach vorn und zurück, niemand. Plötzlich fühlte ich mich vollkommen allein und verlassen, ja ich hatte richtig Angst. Ein ziemlich ungewohntes Gefühl, da es einem in der heutigen Gesellschaft nie passiert, wirklich richtig allein zu sein. Immer waren andere Menschen bei einem, welche in irgendeiner Form, schon allein durch ihre Anwesenheit, Einfluss auf die eigene Person ausübten und man war immer bestrebt sich danach zu richten. Auf der einen Art war es befreiend, sich nicht anpassen und ausrichten zu müssen, auf der anderen Art machte es eine unvorstellbare Angst. Angst, dass niemand bei einem war, denn es könnte ja was passieren und niemand wäre da der einem zur Seite stand. Dies empfand ich auf einmal als Abhängigkeit vom sozialen Umfeld. Ich fragte mich, wo sind denn die Pilger alle, welche laut Reiseberichten auf diesem Weg in manchen Jahren über 100.000 sind?
Jedenfalls war ich überfordert mit der Einsamkeit und sagte mir, Gott wird schon über mich wachen. Im selben Atemzug stellte ich mir die Frage, wer ist eigentlich Gott für mich? Als konfessionsloser ehemaliger Staatsbürger der DDR glaubte ich nicht an Dinge fernab von Rationalismus. Aber irgendwie wusste ich, dass Gott die Stimme in mir, also die Stimme meines Herzens sein muss und nicht eine physisch vorhandene Gestalt. Nämlich die Stimme, welche mal laut, mal leise oder aus Überlagerung durch andere Stimmen nicht von mir zu hören ist. Die Stimme, welche das Gegenstück zu meinem sogenannten Dämon, welcher immer von rechts auf meiner Schulter sitzend zu mir spricht.
Als kleines Kind ist man frei von einem Dämon. Erst mit der Erziehung und der damit verbunden Moral sowie den Lebenserfahrungen wächst ein Dämon bei jedem in uns, je nach Ablauf des Lebens, in verschiedenen Größen heran. Er ist zuständig für die Angst, welche aus negativen Erfahrungen herrührt und er hält die Menschen damit von der Erfüllung vieler Herzenswünsche ab. Auch für das Regelwerk eines menschlichen Lebens in der Gesellschaft ist er zuständig. Er kennt die Paragraphen ganz genau, wenn er zu dir spricht. Er sagt dir immer wieder: »sei so, sei perfekt, verhalte dich so, mach dies nicht und das nicht, das kannst du jetzt doch nicht machen, nimm Rücksicht!«. Der Dämon ist aber auch ein notwendiger Beschützer für Recht und Ordnung im menschlichen Zusammenleben. Nur muss man genau lernen die Stimme des Herzens, Gottes Stimme, und die des Dämons in Einklang mit seiner Selbst zu bringen und versuchen einen gesunden Mittelweg zu gehen.
Doch dann traf ich endlich meine ersten Pilgerkollegen auf dem Weg nach Santiago. Nach einer qualvollen Stunde des auf sich allein gestellt seins, saßen plötzlich kurz vor einer dieser alten römischen Brücken zwei Pilger. Sie grüßten mit »Buen Camino« (Guten Weg) und ich murmelte als Erwiderung etwas vor mich hin. Aus anfänglichen Berührungsängsten ging ich erst einmal ein Stück weiter und setzte mich zum Vespern auf die Brücke. Dort verzehrte ich den Rest meines Tankstellenschinkens mit dem Baguette. Die zwei Pilger kamen auf mich zu, lächelten mich an und gingen aber weiter. Ich dachte noch, was ist das für ein Pärchen. Alle beide mindestens doppelt so dick wie ich, was sicher bei meinem Kampfgewicht von 74 kg auf 1,82m ja nicht so schwer ist. Und ich dachte wieder, die beiden müssen dann doch dreimal so dick sein wie du und hatten sich da ja ganz schön was vorgenommen mit ihrem Handicap des Übergewichtes bis nach Santiago laufen zu wollen.
In Tardaios, einem kleinen idyllischen Dorf am Weg traf ich die beiden dann wieder. Isadora und Ernesto aus Mexico. Was für eine Anreise dachte ich. Aber Isadora wohnt und arbeitet in Madrid und wollte auf dem Jakobsweg endlich den Mann fürs Leben kennen lernen. Ihr Bruder Ernesto, ein Weltenbummler zu Besuch bei seiner Schwester, wollte den Weg nutzen um etwas abzunehmen. Was für erstaunliche Gründe für eine Pilgerreise! Zu uns gesellte sich dann noch Pablo aus Spanien, welcher nie sprach. Ich denke, er hatte seine Gründe, weil ich festgestellt hatte, dass er sprechen konnte.
Nachdem wir uns dann etwas in Englisch verständigt und unsere Wasserflaschen am Brunnen gefüllt hatten, gingen wir gemeinsam auf die Piste. Wieder gelber Weg, graubraune Stoppelfelder und über uns nur der blaue Himmel.
Ich lief mit Ernesto und er erzählte mir von seiner Schwester und fragte mich, ob ich sie nicht heiraten möchte, denn sie suchte dringend einen Mann, da bei ihr die biologische Uhr tickte und sich der Wunsch nach Familie und einem Endversorger (Mann) breit machte. Er nannte Isadora immer Prinzess. Da ich leidenschaftlicher Spitznamengeber bin, taufte ich Isadora insgeheim auf den Namen »Prinzess of Camino«.
Nun war der Himmel plötzlich nicht mehr so blau, er verfärbte sich schwarz und ein wahnsinniger Platzregen ging auf uns nieder. Geschwind zogen wir unsere Regenbekleidung an, zumindest das was jeder hatte. Ich als Deutscher war natürlich super in Gore-Tex eingehüllt, während Ernesto und Isadora nur leichte dünne Regenjacken hatten, welche ihnen bei diesen Wasserfluten nichts nützten. Ernesto selbst baute sich mit einer kleinen schwarzen Plastiktüte eine Gesichtsmaske, bei welcher er die Augen, die Nase und den Mund mit den Fingern heraus stocherte. So sah er aus wie ein Sex-Sadist, solche die sonst für gewöhnlich schwarze Ledermasken beim Sex tragen. Dies brachte ihm wiederrum den Spitznamen »Monster of Camino« bei mir ein. Als ich ihm das sagte, war er sichtlich stolz darauf und freute sich.
Nun kamen immer mehr Pilger, vor allem Radfahrer, an uns vorbei und grüßten alle mit »Buen Camino« und wir grüßten immer alle zurück. In manchen Sequenzen des restlichen Tages war es dann doch etwas viel, als die Dichte der Pilger zu nahm. »Buen Camino, Buen Camino, Buen Camino« und man hatte fast das Gefühl vom vielen Grüßen Fusseln am Mund zu bekommen.
In Rabe de las Calzadas machten wir noch eine kleine Rast und gelangten schließlich nach Hornillos del Camino, was unsere letzte Station des Tages sein sollte. Hier gab es eine wunderschöne Herberge, gleich neben einer kleinen Kirche, wo wir eincheckten. Für nur 5 Euro durfte man duschen, schlafen und seine Sachen in einem Waschtrog waschen, natürlich nur gegen Vorlage des Pilgerpasses, welcher dann auch gleich abgestempelt wurde. Das Waschen tätigen die Pilger täglich, da jeder im Schnitt nur drei T-Shirts, Schlüpfer und Strümpfe mit sich trägt. Hier gab es sogar einen Masseur, welcher für 1 Euro Fußmassagen für die leid geplagten Pilger anbot. Isadora und Ernesto nahmen das Angebot wahr. Dabei sah ich Isadoras Füße. Es war eine Katastrophe, denn sie hatte sich die kompletten Füße wegen der vielen Blasen mit Wundpflastern umhüllt. Mein Gott dachte ich, was musste das täglich für eine Qual sein, die ungeübten Märsche bei dem Körpergewicht und der schlechten Kondition. Aber sie trieb ja täglich die Motivation ihren Prinzen zu finden weiter, sozusagen die Kraft von innen heraus.
Nach Massage, Körperreinigung und Pflege sowie Wäschewaschen gingen wir in das gegenüberliegende Restaurant wo es das »Menu de Peregrino« (Pilgermenü) gab. Reichlich Trinken (Wein und Wasser) und Essen (3-Gänge) für 8,50 Euro pro Person. Mit schwerem Bauch, welcher dann noch reichlich mit Wein gefüllt wurde, gingen wir schließlich gegen 22:00 Uhr zu Bett. Isadora hatte sich im Doppelstockbett oben gleich neben mich platziert. Zum Schutz vor der Prinzenjägerin stattete ich mich mit Augenbinde und Ohrstöpsel aus, zog meinen Schlafsack fest zu und schlief augenblicklich ein.
18. August 2006 Hornillos del Camino – Hontanas – Castrojeriz (20,5 km)
Um 7:00 Uhr wurde das Licht angeknipst und wir mussten aufstehen. Ich war ganz schön fertig, die letzten Tage wirkten physisch und psychisch nach und ich denke, der billige Wein des vorangegangen Abend trug auch dazu bei. Ich hatte irgendwie überhaupt keine Lust zum Aufstehen und hätte wahrscheinlich zu Hause, was ich sehr selten mache, einen Extrem-Couch-Tag eingelegt. So mit herum liegen, Fernsehen, Lesen, Schokolade essen und so wenig wie möglich Bewegung. Bald wäre ich noch in diesem Trance aus dem Bett gefallen, denn ich hatte ja vergessen, dass ich nun seit 26 Jahren nach dem letzten Ferienlager im zarten Alter von 13 wieder einmal oben in einem Doppelstockbett gelegen hatte. Geschockt durch den fast erfolgten Absturz, war ich auf einmal erwacht. Also ging es ab ins Bad, die Morgentoilette erledigen, anziehen und dann etwas frühstücken.