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Für Renate Kreckel
Der Philosoph und Soziologe José Ortega y Gasset (1883-1955), ein typischer europäischer Intellektueller,verstand sich auch im politischen Sinne als Erzieher. Über den Parteien stehend, fand er Schülerin allen politischen Gruppen, die seine Gedankenaufgriffen und weiterentwickelten.
Einleitung
NACH DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION und den jeweiligen Besatzungszeiten unter Napoleon überkam sämtliche Völker Europas eine große Unsicherheit. Die »alte Welt«, aus der sie kamen, war unwiederbringlich verschwunden, und hinsichtlich der neuen, im Werden begriffenen gab es einander widersprechende Hoffnungen oder Befürchtungen. Sämtliche Völker Europas versuchten nach 1815, sich schlecht und recht in die neuen Verhältnisse zu schicken. Dieser Prozess war überall mit Schwierigkeiten verbunden. Nirgendwo vollzog sich jedoch der allgemeine Umbruch so dramatisch wie in Spanien. Denn diese erste tatsächliche Weltmacht in der Geschichte, die noch um 1780 als solche galt und sich zum Verdruss der Briten auch eindrucksvoll bemerkbar machte, hatte vier Jahrzehnte später bis auf einige Überbleibsel ihr Reich verloren. Die spanischen Amerikaner begannen in den verworrenen Zeiten während der französischen Okkupation der Iberischen Halbinsel, sich um ihre Selbstständigkeit zu bemühen, schließlich um ihre vollständige Unabhängigkeit. Die USA und die Briten unterstützten die für sie vorteilhaften »Freiheitsbewegungen« nachdrücklich und brachten sie bald unter ihre politische und ökonomische Kontrolle.
Der Aufbruch in die allerneueste Neuzeit war für die Spanier mit dem Zusammenbruch »ihrer« Welt verbunden, die politisch, sozial, wirtschaftlich und kulturell eine Welt für sich bildete, als großartige Erweiterung Spaniens. Kein Volk nach den Römern hat Räume umgestaltend und kultivierend zu einem Großraum so zusammengefasst oder zusammenfassen wollen wie diese einzigen Erben der weltverwandelnden Römer. Der Verlust des Reiches stürzte die Spanier in eine unausgesetzte Beschäftigung mit einer Vergangenheit, die in den vollständigen Ruin mündete: Davon waren viele beunruhigte Intellektuelle spätestens 1898 überzeugt, als nach dem Krieg mit den USA auch die letzten imperialen Überreste – Kuba, Puerto Rico und die Philippinen – aufgegeben werden mussten. Alles Werden hat seinen Grund im Gewordenen. Die nationale Geschichte erschien vielen in diesem Sinne als ein seit Jahrhunderten verfehlter Sonderweg, der unweigerlich in die Katastrophe führen musste. Eine Erneuerung Spaniens hing für diese Intellektuellen, die an Spaniens Vergangenheit verzweifelten, von einer möglichst umfassenden, konsequenten Umerziehung aller Spanier zu Europäern ab oder zu dem, was sie sich – meist als Liberale – darunter vorstellten.
Ihre Absichten trafen auf lebhaften Widerspruch bei moderaten Konservativen oder Traditionalisten, die ganz andere Geschichtsbilder entwarfen. Die Geschichte wurde von allen politischen Richtungen Spaniens bemüht, um sich die fatale Gegenwart erklären und Auswege hin zu einer besseren Zukunft formulieren zu können. In ganz Europa verhielten sich Parteien oder gesellschaftliche Gruppen nicht anders. Aber die historisch begründeten politischen Gegensätze lösten unter den verschiedenen, nationalisierten Europäern um 1900 nie die Gewissheit auf, zu einer jeweils großen Nation zu gehören, die es herrlich weit gebracht habe und zu noch Größerem berufen sei.
Die Spanier hingegen analysierten ihre Widersprüche und Eigenheiten erbittert. Die heftigen und unversöhnlichen Debatten beschleunigten die allgemeine Dekomposition des öffentlichen Lebens; die Spanier büßten darüber die Fähigkeit ein, sich über die Gegenwart und deren Forderungen verständigen zu können. Eine Nation, die sich nicht auf einige wenige Grundüberzeugungen einigen kann, die aus der Geschichte in die Gegenwart hineinreichen, widerlegt sich selber. Denn sie regeneriert sich, wie Ernest Renan sagte, im täglichen Plebiszit, im Willen, trotz einzelner, sehr heftiger Differenzen das, was alle angeht, gemeinsam zu ordnen und in Ordnung zu halten. Auf diese Art lassen sich Vergangenheiten als Übergänge zu immer neuen Lebensformen verstehen.
José Ortega y Gasset, der europäische unter den spanischen Philosophen, erinnerte immer wieder an die vigencias colectivas, an die Grundprinzipien, die unauffällig und unmerklich Gemeinsamkeiten erhalten, die das Zusammenleben ermöglichen. Wird über sie nur noch diskutiert, oder gibt es Kämpfe, solche vigencias colectivas verbindlich zu machen, dann ist dieser Streit ein Symptom dafür, dass sie ihre selbstverständliche Macht eingebüßt haben und eine Gesellschaft auseinander fällt. Ortega y Gasset hatte 1930 Hoffnungen auf die Republik gesetzt, gerade in der Erwartung, diese werde die Spanier dazu befähigen, Goethes Rat zu folgen, unnützes Erinnern und fruchtlosen Streit zu lassen, um die Gegenwart mit Glück zu nutzen. Sehr bald schon, während der Verfassungsdiskussionen im Herbst 1931, notierte er als Abgeordneter verdrossen, dass der große Moment ein kleines Geschlecht gefunden habe: ein kleines Geschlecht verbissener Rechthaber, die vornehmlich damit beschäftigt seien, die Vergangenheit zu bewältigen, nicht zuletzt die jüngste Vergangenheit ihrer politischen Gegner, und darüber die Gegenwart und die Zukunft aus den Augen verlören.
Was ihn damals in und an Spanien irritierte, hielt er allerdings für ein mittlerweile allgemein europäisches Phänomen. Mit Ausnahme Englands sei in ganz Europa die Überzeugungskraft der Grundvoraussetzungen bürgerlichen Zusammenlebens verschwunden und der latente Bürgerkrieg zum Normalzustand geworden. Die autoritären Systeme, die sich überall durchsetzten, seien ein Merkmal, nicht der Verursacher, dieser aus den Fugen geratenen, chaotischen Welt. Dennoch zwang er sich in Anlehnung an Goethes Werdelust zum Optimismus, wenn er 1938 Europa desocializada, dieses sich desintegrierende Europa, als notwendigen Übergang zu künftiger Einigung und Verständigung über »Glaubenstatsachen« gemeinsamen Zusammenlebens in den Nationen und zwischen ihnen beurteilte.
José Ortega y Gasset, einer der Gründungsväter der Republik, der von ihr sehr rasch enttäuscht war, 1937 vor revolutionärem Druck flüchtete und 1951 in das Spanien Francos zurückkehrte, blieb für alle Spanier eine Autorität. Auch wenn sie im Umbruch zur Republik 1931 nicht auf ihn hörten, gab er allen Spaniern Empfehlungen, die sie später desto gründlicher beachteten: nicht jeweils an sich und ihre Parteiinteressen zu denken, sondern an das, quod ommnes tangit, was – in altspanischer Tradition – alle angeht, und auf diesem Weg erträgliche Formen des Zusammenlebens zu finden. Denn Leben vollzieht sich im Zusammenleben des Einzelnen mit den Anderen. Insofern darf Ortega y Gasset durchaus als der Philosoph des Übergangs gewürdigt werden, des gleitenden Übergangs nach Francos Tod im November 1975 zur monarchischen Republik.
Die transición, der Übergang aus dem Gewordenen zu neuem Werden, konnte sich so erfolgreich und unaufgeregt vollziehen, weil die Spanier sich zu Gleichgültigkeit gegenüber dem Gewesenen entschlossen und den Gespenstern aus der Vergangenheit keine Herrschaft über sich zugestanden, um bittere Streitigkeiten erst gar nicht aufkommen zu lassen, die sie vom rechten Weg hätten ablenken können. Ein vollständiger Bruch mit dem früheren Regime wurde sorgsam vermieden. Denn die Macht lag bei den Institutionen des alten Regimes.
Ein undramatischer Wandel zur parlamentarischen Monarchie konnte nur gelingen, wenn die reformwilligen Kräfte innerhalb des etablierten Systems unter Anleitung des Königs nicht in ihrer Absicht gestört wurden, die Institutionen zur Selbstauflösung zu überreden und von Francos Staatsgrundgesetzen ausgehend zu einer neuen, demokratischen Verfassungsordnung zu gelangen. Das autoritäre System hob sich selber auf. Dessen Repräsentanten, angefangen beim König, konnten erfolgreich Vertrauen unter früher diskriminierten Oppositionellen bis hin zu den Kommunisten gewinnen und allen Gruppen eine Idee der Zusammenarbeit vermitteln.
Jede Untersuchung über Verantwortlichkeiten während der Diktatur oder polemische Aufarbeitung der Geschichte hätte das empfindliche Gleichgewicht gestört. Die Fehler bei der Gründung der Zweiten Republik 1931, die Unversöhnlichkeit der Parteien und die Schrecken des Bürgerkrieges waren allen am Wandel Beteiligten im Gedächtnis, und zwar als schreckliche Erfahrung und als Warnung, sich beim nächsten Mal klüger zu verhalten. So wurde der nicht übereilte Übergang zu demokratischen Formen zu einem Werk sämtlicher Spanier und ihrer vernünftigen Kompromisspolitik. Sie nutzten diesmal die Gegenwart mit Glück, weil sie bewusst eine fürchterliche Vergangenheit auf sich beruhen ließen und sich der gemeinsamen Zukunft zuwandten. Die Vergangenheit kann man sich oft nur vom Hals schaffen, indem man sie ignoriert. Das war der praktische Rat Ortega y Gassets, es den Toten zu überlassen, die Toten zu begraben und sich stattdessen um die Grundlagen des Zusammenlebens im Hier und Jetzt zu kümmern.
Die Vergangenheit wurde mit einer solchen Haltung nicht verleugnet. Die Spuren, das Erbe der Francozeit waren »aufgehoben« im kontinuierlichen Wandel, repräsentiert durch Beamte, Militärs, Politiker, Professoren oder Journalisten, die Franco gedient hatten, den Systemwechsel gelegentlich sehr energisch vorantrieben und dann halfen, den neuen königlichen Staat der Demokratie einzurichten. Der Verzicht – auch seitens der Opfer – darauf, untereinander erst einmal abzurechnen, stabilisierte den inneren Frieden. Franco war es nie gelungen, die Gegner aus den Zeiten des Bürgerkrieges auszusöhnen. Daher hatte er nie die Furcht vor neuen inneren Feinden und damit ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Meinungen verloren, die mit seinen Überzeugungen unvereinbar waren.
Der innere Ausgleich konnte sich auch auswirken, weil die Historiker längst darüber ermattet waren, den Bürgerkrieg weiterhin mit den Kategorien der Kontroverstheologie zu behandeln. Die Polemiken der beiden Lager, der »beiden Spanien«, erwiesen sich als immer unergiebiger, je deutlicher zu Tage trat, dass es keine zwei festen Lager gab, sondern dass die Lager aus Bündnissen der verschiedensten Gruppen bestanden, die untereinander oft nur eine lockere Übereinstimmung wahrten und häufig in Widerspruch zueinander gerieten. Es gab keine zwei Spanien, sondern viele, die den Zusammenhang untereinander verloren hatten, einen Zusammenhang, den sowohl die Volksfront als auch die »Nationalen« Francos nur mit Zwang hatten herstellen können.
Die Dinge zu verstehen heißt, sie zu komplizieren. Links und rechts, republikanisch oder frankistisch büßten dabei ihren eindeutigen Charakter ein: Die Ursachen des Bürgerkrieges ließen sich nicht mehr mit der gewohnten, holzschnittartigen »Linientreue« festlegen. Die Geschichtsbilder wurden diffuser und ermöglichten auf einmal Übergänge, die einem umfassenderen Verständnis der gesamten spanischen Vergangenheit den Weg ebneten. Die pauschalen Kriterien »des Antifaschismus« in Bezug auf den Faschismus konnten deshalb in Spanien kaum noch überzeugen.
Schon vor Francos Tod hatte man sich unter Historikern darüber verständigt, dass es in Spanien keine kräftige faschistische Bewegung gegeben habe. Franco wurde demgemäß nicht mehr als faschistischer Diktator betrachtet, sondern vielmehr als Chef eines autoritären Systems, das anderen nationalkonservativen Regimen dieser Art glich, sich aber vom deutschen Nationalsozialismus oder dem italienischen Faschismus unterschied. Autoritäre Systeme – wie der Franco-Gegner Juan Linz sorgfältig analysierte – duldeten im Gegensatz zu den totalitären einen partiellen Pluralismus. Das autoritäre Spanien Francos kannte jedoch durchaus innere Diskussionen, die Franco sogar brauchte und suchte, um seine Vorherrschaft zu festigen.
Die Diktatur Francos entsprach damit nicht mehr dem Idealtyp einer faschistischen Diktatur. Die vielen Forschungen zur spanischen Republik verwischten allerdings auch deren frühere idealtypische Konturen. Die Missverständnisse, die Streitigkeiten der Republikaner untereinander, die je auf ihre Art eine andere Republik oder gleich den Übergang zur Revolution wünschten, verdeutlichten, wie zerbrechlich und gefährdet diese Republik von vornherein war – wegen der Uneinigkeit in den eigenen Reihen, aber auch wegen der fehlenden Bereitschaft, der Republik durch Einbeziehung der »rechten Mitte« ein stabiles Fundament zu verschaffen. Es gab viele Gründe, ehemalige Vorurteile aufzugeben oder abzuschwächen.
Indem die Historiker begannen, die Klischees ihrer Antagonismen bei der Beschäftigung mit dem Bürgerkrieg zu hinterfragen, fanden sie erstaunlicherweise auch zu einem ruhigeren Umgang mit der angeblich verfehlten Geschichte spanischer Sonderwege. Indem Spanier sich untereinander versöhnten, versöhnten sie sich auch mit ihrer Geschichte. Philipp II., für viele noch vor drei Jahrzehnten der Inbegriff des finsteren Spanien, ein Vorläufer Francos, wird jetzt in Ausstellungen und Büchern als der gewürdigt, der er war: als Inbegriff des modernen Monarchen in der so genannten Neuzeit. Die Spanier machen sich seit gut drei Jahrzehnten unbefangen mit ihrer Geschichte vertraut, einer Geschichte, die, bei allen Besonderheiten, bestätigt, wie europäisch Spanien schon immer war, und zugleich veranschaulicht, wie sehr die übrigen Europäer zuweilen unter spanischem Einfluss standen.
Die verquält-verworrenen Selbstbespiegelungen früherer Zeiten haben ein Ende gefunden. Da sich die Demokratie und der Wechsel der Parteien stabilisiert haben, machen sich gelegentlich Tendenzen bemerkbar, diese gekrönte Demokratie mit der besiegten Republik in Verbindung zu setzen, gleichsam republikanische Traditionen für den jetzigen Staat zu revitalisieren. Spanien verfügt seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert über beachtliche liberale und freiheitliche Überlieferungen: Der Begriff liberal drang von Spanien aus nach Europa. Die Republik von 1931 knüpfte an diese Traditionen an; mit ihr verbanden sich während der Krise des Liberalismus aber auch revolutionäre Erwartungen, die auf die Republik nur als Übergangsstadium in den zu verwirklichenden Sozialismus setzten.
Die Republik war an ihren Gegensätzen gescheitert, bevor sich Franco, Militärs, die »Nationalen« im Juli 1936 erhoben. Das gaben republikanische Historiker wie Manuel Tunón de Lara nur ungern zu. Für umsichtige Historiker frankistischer Provenienz wie Ricardo de la Cierva lag es auf der Hand, dass die inneren Unausgewogenheiten zu den revolutionären Unruhen führten, die eine gegenrevolutionäre Antwort erheischten. Da sich Spanien Ende Juli 1936 mitten in der Revolution und im Bürgerkrieg befand, ist es ein müßiger Streit zu entscheiden, wer nun zuallererst revolutionär oder gegenrevolutionär gewesen sei. Als orthodoxe Republikaner verstanden sich selbst in der Republik nur die allerwenigsten.
Pío Moa, vor dreißig Jahren noch ein radikaler Kommunist, der gegen den Übergang in die Demokratie gekämpft hatte, vertritt heute am entschiedensten die Position, dass sich die Republik aus Schwäche selbst erledigt habe und es daher wenig sinnvoll sei, sich ihrer mit besonderer Anteilnahme zu erinnern. Denn sie habe als zerfallende Welt von gestern nichts mit dem Heute zu tun. Sein Buch »Mitos de la guerra civil« ist seit dem Frühjahr 2003 ein ungemeiner Erfolg in Spanien. Pío Moa wendet sich dagegen, dass Erinnerungen an eine chaotische Vergangenheit – an den Zerfallsprozess des liberalen Spanien – der Gegenwart irgendetwas nützen können. Wer in Spanien vorzugsweise in den Medien und in dem weitverzweigten Ausstellungsbetrieb die Vergangenheit »aufarbeitet«, sucht dennoch nach einer erweiterten Legitimität des jetzigen Spanien – mit Rückgriffen auf die Geschichte, mit Hinweisen auf Gestalten aus der Republik.
Es schadet dabei nicht, an einen republikanischen Dogmatiker wie Manuel Azaña zu erinnern. Aber es ist zweifelhaft, ob sich damit die historische Legitimierung des jetzigen Spanien vertiefen lässt. Manuel Azaña war ein Intellektueller, der als Ministerpräsident und Staatspräsident sehr maliziös die Schwächen, die Torheiten, die Dummheiten aller Republikaner im Tagebuch festhielt und die hilflose Republik der Lächerlichkeit preisgab. Es gibt eine Bewegung, Manuel Azaña als einen Vater des heutigen Spanien anzuerkennen. Sie wird vor allem von ehemaligen Frankisten gefördert, die ihre Liberalität und Großzügigkeit beweisen wollen. Linke Liberale wie Santiago Alba verurteilen Azaña dagegen als einen Totengräber der Republik. Wie mit Azaña geht es mit fast allen Politikern der Republik. Sie sind umstritten, nicht zuletzt weil sie sich untereinander nicht mochten und sich nach der Niederlage gegenseitig der Inkompetenz und fataler Fehlentscheidungen beschuldigten, die den Ruin der Republik bewirkt hätten.
Es mag ideologisch strenge Spanier irritieren, dass sich die demokratische Monarchie peinlicherweise aus Francos Regime heraus entwickelte. Aber alle Bemühungen, ihr auch eine republikanische Legitimierung zu verschaffen, führen nur zu Missverständnissen. Abgesehen davon, dass sich die Republik als Befreiung von der Monarchie konstituierte, und zwar für alle Zeiten, ist die Republik ein unzuverlässiger Bezugspunkt. Denn die untereinander uneinigen Republikaner verdunkeln gerade das Bild einer möglichen Republik. Die Spanier fanden nach 1975 zu ihrer regeneración, von der seit Generationen geredet wurde, weil sie sich dazu entschlossen, die Herausforderungen und Möglichkeiten der Gegenwart ernster zu nehmen als die Belastung oder Belästigung mit unterschiedlich gedeuteten Vergangenheiten. Sie handelten im Sinne Ortega y Gassets und seines Goethes, der es als unersprießlich erachtete, aus der Geschichte nur Schlangen und Gift zu reichen und bittere Streitigkeiten aufzuwecken. Das betrachteten weder Ortega noch Goethe als Hilfe, weil der Mensch sich schon schwer genug damit tue, ein schreckliches Gestern durch ein tüchtig-tätiges Heute umzugestalten. In Spanien ist diese Umgestaltung gelungen.
Nach dem kurzen und erfolgreichen Krieg gegen Spanien im Sommer 1898 waren die USA endgültig als Weltmacht anerkannt. Für Spanien, die erste Weltmacht überhaupt, bedeutete diese Niederlage das endgültigeAus als politische Macht.
»Wir sind anders!«
1898 oder Ein spanischer Sonderweg in die Katastrophe?
DER RAUM IST DAS BILD DER MACHT. In ihm breiten sich die großen Reiche aus. Die Zeit ist das Bild der Ohnmacht. Denn in ihr findet alles ein Ende. Alle Völker, die herrisch in die Welt ausgreifen, müssen wieder zu den Hütten ihrer Vorfahren zurückkehren, um in Armut und Dürftigkeit dort weiter zu leben, von wo sie einst aufbrachen. Das gaben nicht ohne Ironie einst besiegte Griechen ihren neuen Herren, den Römern, zu bedenken. So ging es den Babyloniern, den Persern und schließlich den Makedoniern. So wird es auch den Römern ergehen. Den jüngeren Scipio Africanus überwältigte in Übereinstimmung mit solchen Lehren auf den Trümmern Karthagos 146 v. Chr. eine Vorahnung vom unvermeidlichen Untergang Roms, das sich gerade anschickte, Herrin der Welt zu werden. Sechs Jahrhunderte später fügte sich resignierend der Römer und Kirchenvater Augustinus unter dem Eindruck des zerfallenden Reiches in die für ihn dennoch erschütternde Erkenntnis: Die Reiche in dieser Welt sind ständigen Wandlungen unterworfen.
Sie wandern alten Vorstellungen zufolge von Osten nach Westen. Spanien, im äußersten Westen Europas gelegen, schuf sich im sechzehnten Jahrhundert ein Weltreich, das tatsächlich, Meere und Kontinente umgreifend, als erstes so verstanden werden durfte. Seither gab es überhaupt erst ein Weltbild, das dieses Namens würdig ist, und einen vollständigen Begriff der Menschheit. Die biblische Fülle der Zeit, das Ende der Geschichte, schien in der »Universalmonarchie« der Spanier abermals erreicht, zumindest für sie. In ihrem Reich ging die Sonne nicht unter. Den Spaniern traute man damals alles zu, selbst die Landung auf dem Mond, sollte ihnen die Erde zu eng für ihren Ehrgeiz werden. Doch ein der spanischen Krone verpflichteter Humanist, Justus Lipsius, ließ sich nicht irremachen. Er sah 1605 für die Zukunft eine ganz andere »Reichssonne« aufgehen: ein Weltreich, gegründet im fernen Westen, in der Neuen Welt, in Amerika, das die Alte Welt als veraltet beiseite schieben werde. Die Europäer hatten Amerika kaum als äußersten Westen in ihre Geschichtsspekulationen mit einbezogen. Höchstens einige religiöse Dissidenten aus England – die dem tyrannischen Gewissenszwang entflohen, um frei auf der anderen, glückverheißenden Insel zu leben – verkündeten, dass nicht nur die Reiche, sondern mit ihnen auch die Freiheit westwärts wandere. Erst in Amerika gelange sie an ihr vorbestimmtes Ziel und finde dort zu frischem Leben, unbehelligt von den Lastern des vergreisenden Europa.
Es gab bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gelegentliche Hinweise darauf, Amerika, jetzt als Synonym für die Vereinigten Staaten gebraucht, könne sich einmal zur Weltherrschaft anschicken und Europa nicht viel anderes lassen als die Erinnerung an das, was es einmal gewesen war. Aber solche Vorahnungen waren meist mit der Vermutung verknüpft, dass neben den USA auch Russland vor einer großen imperialen Zukunft stehe. Der Druck und Gegendruck beider Mächte gewähre dann eine gewisse Balance, die es Europa gestatte, sich dennoch zu behaupten. Als Spanien 1898 in einem kurzen Krieg gegen die USA Kuba, Puerto Rico und die Philippinen verlor, die letzten Überbleibsel seines Reiches, wurde zum ersten Mal eine europäische Macht gleichsam aus der Welt verdrängt. Bezeichnenderweise gerade die Macht, die als erste die gesamte Welt zueinander in Beziehung gesetzt und die vielen Welten zu einer verbunden hatte.
Die europäischen Zeitgenossen sahen sich zu keiner besonderen Anteilnahme veranlasst. Sie mochten die Missgeschicke Spaniens keineswegs als Vorzeichen auf Katastrophen deuten, die auch sie unweigerlich ereilen würden. Wie die Götter Wagners, des Tragöden ihrer Welt, fühlten sie sich in ihren herrlichen Schutz- und Trutzburgen »sicher vor Bang und Grau’n«. Loge, der listige, der wendige Amerikaner, bereit, »sie aufzuzehren, / die einst mich gezähmt«, wusste es besser: »Ihrem Ende eilen sie zu,/die so stark im Bestehen sich wähnen.« Solche Kommentare, von Kritikern der bürgerlichen Kultur längst popularisiert, wollten die Staatsmänner nicht hören. Schließlich war Spanien »eine sterbende Nation«, wie bei Ausbruch des Krieges der britische Premierminister, Lord Salisbury, kühl bemerkte. Wer taumelt, den soll man nicht stützen. Die Welt gehört den Starken, die prall ihre Lebenskraft bekunden. Die Vereinigten Staaten waren jung wie der kräftige Siegfried. Wenn er den Speer des altersschwachen Wotan zerbricht, bleibt nur die Resignation des ehemaligen Weltherrschers, dem keine Intrige mehr hilft: »Zieh hin, ich kann dich nicht halten.« Dass auch England, Europa insgesamt, bald in die Rolle Wotans geraten könne, nahm der alte Aristokrat nicht an.
Spanien galt schon seit langem als ein an den Küsten Europas gestrandeter Wal, der dort nach manchen Irrfahrten jämmerlich verenden musste. Aufgeklärte Geister hatten es von vornherein nur für ein Ungetüm gehalten, das, Wasser aufschäumend, kurzfristig beeindruckte, aber außer solchen vorübergehenden Spektakeln in der Geschichte gar nichts bewirkte. Die Europäer hatten sich längst daran gewöhnt, Spanien, wenn überhaupt, als Kuriosum oder als Skandal wahrzunehmen. Hinter den Pyrenäen vermuteten sie ein von Katholizismus und Absolutismus entnervtes Land des öffentlichen Leichtsinns und zeitvertreibender Militärputsche. Um 1898 nahm kein Europäer die Spanier mehr ernst. Was ihnen geschah, musste also keinen etwas angehen. Das war leichtsinnig. Knapp zwanzig Jahre später war das Schlagwort vom »Untergang des Abendlandes« jedermann in Europa vertraut. Nach weiteren zwanzig Jahren waren sich die Europäer einig, dass in Spanien um das Schicksal Europas gekämpft würde. Jetzt wurde Spanien ernst genommen. Es rückte noch einmal in den Mittelpunkt zumindest der europäischen Welt.
Seit die früheren spanischen Vizekönigreiche in Amerika 1824 ihre Unabhängigkeit ereicht hatten, bemühten sich die Vereinigten Staaten darum, Kuba, »die immer treue Insel«, die spanisch geblieben war, mit Druck oder Überredung zu erwerben. Für Spanier galt sie als Unterpfand dafür, in amerikanischen Verhältnissen weiterhin mitreden und mit entscheiden zu können. Missmutig hatten sie den »Abfall« ihrer Amerikaner hingenommen. Sie gaben die Hoffnung nie auf, dass die neuen und schwachen Staaten ihre Hilfe suchen müssten, um sich vor den USA zu schützen. Diese hatten nach und nach Neu-Mexico, Arizona, Texas, Kalifornien, alles ehedem spanische Besitzungen, ihrer unruhig ausgreifenden Union einverleibt. Jefferson, der Verächter europäischer Politik, versicherte einst, demokratische Republiken wären selbstgenügsam, höchstens davon beseelt, ihren sittlichen Postulaten möglichst breite Anerkennung zu verschaffen. Sein Gegenspieler Alexander Hamilton verwies hingegen auf die Attische Demokratie und die Römische Republik. Sittliche Postulate bedürfen der Macht, um ihren Geltungsraum auszudehnen und ihre Überzeugungskraft auch dem Widerstrebenden zu verdeutlichen. Beide waren allerdings davon durchdrungen, dass der Menschheit nutzt, was den USA – dem Dolmetscher allgemein-menschlicher Bedürfnisse und Wünsche – Vorteile gewährt.
Solche Beteuerungen überzeugten die Spanisch-Amerikaner nicht sonderlich. Sie misstrauten den USA, vertrauten aber nicht unbedingt Spanien. Daher hielten sie sich mit Unterstützung für Spanien zurück, als die Kubaner 1895 nach Selbstständigkeit verlangten. Schließlich waren sie ihrerseits einmal Rebellen gewesen und hatten nach Unabhängigkeit verlangt. Die Spanier selbst überschätzten vorerst den Aufstand nicht. Fünfzehn Jahre früher hatten sie eine ähnliche Rebellion erfolgreich niedergeworfen. Sie vermuteten, das werde ihnen abermals gelingen, zumal sie militärisch weit überlegen waren und sorgsam ihre Truppen verstärkten. Allerdings hatten sie aus den Auseinandersetzungen mit ihren Amerikanern siebzig Jahre zuvor und aus dem 1879 niedergeschlagenen Aufstand in Kuba nicht die richtige Lehre gezogen: dass nämlich das rechtzeitige Zugeständnis regionaler Autonomie und angemessener Vertretung im Parlament als einer »Reichsversammlung« vor dem Verlust von Provinzen bewahren. Sie waren höchstens bereit, sich nach einer Unterwerfung, ungenötigt, auf derartige Überlegungen einzulassen.
Diese Hartnäckigkeit zwang sie in einen für das zwanzigste Jahrhundert bald typischen Kolonialkrieg, in einen sehr schmutzigen, totalen Krieg, in dem zwischen Freund und Feind nicht mehr unterschieden wurde. Einen Krieg, in dem es nur noch um Vernichtung ging, auch wenn dabei die Lebensgrundlagen der Freunde gestört wurden. Seuchen zermürbten die Truppen, unzulängliche Ernährung und elende hygienische Bedingungen in den militärischen Unterkünften sorgten für deren Verbreitung. Am trostlosesten waren die Zustände in den Lagern, in denen die Bevölkerung aus dem Hinterland der Städte »konzentriert« wurde. Die Spanier griffen zu dieser Maßnahme, um die Rebellen zu isolieren und deren vertrautes Milieu zu zerschlagen. Die in den improvisierten »Konzentrationslagern« zusammengepferchten Massen lebten unter widrigsten Bedingungen, viele von ihnen fielen Epidemien und Unterernährung zum Opfer. Dass es ihren Wächtern nicht viel besser erging, konnte ihnen dabei kein Trost sein. Selbst wer es freundlich mit den Spaniern meinte, fühlte sich angesichts der Konzentrationslager auf Kuba in Dantes Inferno versetzt.
Die Lager wurden zumindest in den USA zu einem humanitären Skandal. Die Regierung hielt sich indes klug zurück. Die öffentliche Meinung, angeheizt von den Pressemagnaten William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer, forderte hingegen immer stürmischer einen Krieg gegen die Macht des Bösen. Der Präsident der Vereinigten Staaten, William McKinley, beteuerte ununterbrochen, er wolle Spanien nicht in Verlegenheit bringen, könne dem Verlangen nach Unabhängigkeit auf Kuba aber auch nicht teilnahmslos zusehen. Insgeheim schlug er jedoch in Madrid vor, die Insel an die USA zu verkaufen. So demoralisiert, wie die Amerikaner die Spanier einschätzten, waren diese freilich nicht. Einen rechtmäßigen Besitz auf diese Art aufzugeben erschien ihnen schlichtweg als unehrenhafte Zumutung. Zumal die Rebellen nach ihrer Unabhängigkeit, nicht nach ihrer »Amerikanisierung« verlangten. Die US-Amerikaner wünschten, ins Geschäft zu kommen, die Spanier wollten den peinlichen Eindruck vermeiden, Provinzen wie eine beliebige Handelsware zu betrachten. Sie waren im Frühjahr 1898 zu allen möglichen Zugeständnissen bereit, um einen Krieg mit den USA zu vermeiden. Sie verzichteten darauf, weiterhin Konzentrationslager zu unterhalten. Ihr Angebot, Kuba in die Selbstständigkeit zu entlassen, konnte die Amerikaner allerdings nicht mehr beruhigen. Denn mittlerweile war es den Spaniern gelungen, einen Aufstand auf den Philippinen erfolgreich zu beenden. Weit weg von Amerika.
Der Pazifik war längst zum aufregendsten Raum geworden. Dort spekulierte damals jeder, der sich in ihm bewegte, auf eine andere »sterbende Nation«, auf China. Schon 1854, wirklich nicht verfrüht, sah der greise Metternich die Vereinigten Staaten als Herren des Pazifischen Ozeans, »und binnen kurzem wird Kuba verloren sein«. Er warf es dem zerstrittenen Europa vor, beides unbedacht zuzulassen und gar nicht wahrnehmen zu wollen, wie »die Vereinigten Staaten von Amerika an Macht und Eroberungslust wachsen«. Der ehemalige österreichische Staatskanzler fürchtete, dass den Europäern die Austarierung des Gleichgewichts entgleite, sobald sie jene Macht im Hintergrund nicht sorgsam genug beachteten, die am Ufer saß und auf günstigen Wind wartete. 1897/98 war der Wind für die USA günstig. Die Zugeständnisse Spaniens in der kubanischen Frage kamen höchst ungelegen. Damit verloren die Amerikaner jeden Grund zum Krieg – den sie aber brauchten, um die Philippinen in die Hand zu bekommen.
Den Anlass zur Kriegserklärung bot den USA eine Explosion auf dem amerikanischen Schiff »Maine« am 15. Februar 1898 im Hafen von Havanna. Rund 250 Matrosen kamen dabei um. Amerikanische Journalisten behaupteten sofort, dass spanische Minen den Unfall verursacht hätten. Tatsächlich kam es zu der Explosion – nicht ungewöhnlich für damalige Verhältnisse – auf Grund übergroßer Hitze in den Maschinenräumen, in deren Nähe leicht entzündliches Material lagerte. Der »Terroranschlag« auf das Leben amerikanischer Bürger erlaubte es endlich, Spanien in einen Krieg zu verwickeln, den es gar nicht führen wollte.
Die Amerikaner besiegten die Spanier kurz und schmerzlos. Nach langen Verhandlungen kam es am 10. Dezember 1898 in Paris zum Abschluss des Friedensvertrages. Kuba erhielt seine Unabhängigkeit. Die USA behielten sich allerdings vor einzugreifen, wann immer die Kubaner ihre Freiheit falsch verstanden; sie wurden gleichsam zum Interpreten kubanischer
Freiheit. Puerto Rico geriet ohne besondere Befreiungsrhetorik unter amerikanische Vormundschaft. Die Philippinen wechselten ebenfalls ihren Herrn. Statt der Spanier verwalteten von nun an die Amerikaner diese Inselgruppe. Von Autonomie oder Selbstständigkeit war nicht die Rede. Die zuvor von den Spaniern unterworfenen Freiheitskämpfer rebellierten sofort gegen die Besatzungstruppen. Die Amerikaner setzten sich rasch durch, wobei sie ohne Bedenken Konzentrationslager einrichteten, weil solche militärischen Maßnahmen, wie es jetzt hieß, unumgänglich seien, damit endlich der Friede wiederhergestellt werden könne.
Die europäischen Mächte mussten diese Annexion hinnehmen. Da die Engländer den USA angedeutet hatten, keine Einwände zu erheben, scheuten Russen, Franzosen, Japaner oder Deutsche einen Konflikt, bei dem auch mit englischem Widerstand zu rechnen war. Die Amerikaner, die zugleich Hawaii besetzten, konnten sich als wichtigste Macht im Pazifik einrichten, den Ozean gleichsam als amerikanisches Meer, als mare nostrum, kontrollierend. Den Engländern war es recht. Ihnen fiel es immer schwerer, auf allen Meeren ihre Überlegenheit zu wahren. Sie betrachteten die US-Amerikaner in dieser Zone als willkommene Gefährten für eine Interessengemeinschaft, die sie entlastete. Zur Verwunderung traditioneller Amerikaner waren die Vereinigten Staaten zur Kolonialmacht geworden. Sie ließen sich rasch damit beruhigen, dass sich die USA nicht der Aufgabe entziehen dürften, die dem weißen Manne nun einmal auferlegt sei: die Welt zu christianisieren, zu zivilisieren und zu erziehen. Dass die Philippinen während der vergangenen vierhundert Jahre zumindest nach spanischen Vorstellungen schon christianisiert und kultiviert worden waren, konnte dabei keine besondere Rolle spielen.
Die Vereinigten Staaten kämpften nicht um Kuba; sie strebten vielmehr erstmals offen danach, die Welt nicht mehr den Europäern allein zu überlassen. Kuba war ein Vorwand. Die Kontrolle über diesen wichtigsten Zuckerproduzenten der Erde war gewiss ein lohnendes Ziel. Wichtiger aber war, dass von dieser Insel keine Gefahr für den geplanten Panamakanal ausgehen konnte. Als »amerikanischer« Kanal bildete er alsbald den Übergang vom Atlantik in den Pazifik und eröffnete den USA von dieser Mitte der Welt überraschende Aussichten als Schiedsrichter im weltumspannenden Verkehr und bei weltumgreifenden Ambitionen.
Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen Spanien galt allein dem Zweck, in das System der Mächte einzudringen, in ein europäisches System, das sich im siebzehnten Jahrhundert gegen die damals einzige Weltmacht Spanien gebildet hatte. Die europäischen Großmächte gewährten den USA bedenkenlos Einlass in ihren exklusiven Club. Dass diese in der Alten Welt mit all ihren Übereinkünften nicht beheimatet waren, konnte die unter sich zerstrittene europäische Staatenwelt nicht irritieren. Sie nahm es gelassen hin, dass aus Amerika Ansprüche erhoben wurden, das europäische Staatensystem zu einem Weltstaatensystem zu erweitern. Theodore Roosevelt, von 1901 bis 1909 Präsident, ein großer Imperialist, der immer ganz pragmatisch bedachte, dass unpraktischer Idealismus den Idealen schade, nahm die Vorstellung eines Weltstaatensystems beim Wort. Er wollte die Vereinigten Staaten dazu befähigen, mit ihrem Imperium das Gleichgewicht in der Welt zu erhalten, und zugleich diese daran gewöhnen, dass ohne die Zustimmung der USA nichts mehr entschieden werden könne.
Er schlichtete 1905 den russisch-japanischen Krieg. Der Friede von Boston veranschaulichte, dass Europa, vollständig mit sich selbst beschäftigt, gar nicht mehr in der Lage war, Frieden zu stiften, die Welt nach seinen Überlegungen zu ordnen oder in Ordnung zu halten. Die Waage der Welt war, wie sich 1898 schon angedeutet hatte, seinen Händen endgültig entglitten. Die USA brauchten sie nur aufzuheben. Ein aufmerksamer Engländer, W. T. Stead, benannte 1902 als Trend des zwanzigsten Jahrhunderts die Amerikanisierung der Welt. Er begrüßte diese Entwicklung, weil sie England nicht unbedingt schaden werde, denn:
Englische Ideale werden mit Hilfe der Amerikaner den Planeten durchdringen. Der Auftrag wird erfüllt, den die Vorsehung den Angelsachsen insgesamt zugewiesen hat: Frieden und Freiheit in der Welt zu sichern. Viele Europäer schreckt noch die Amerikanisierung ihrer Lebens- und Denkgewohnheiten. Aber sie können dem Lauf der Geschichte nicht entrinnen, der sich unaufhaltsam diesem Ziel nähert. Manche Kontinentaleuropäer flüchten sich zwar aus Angst vor den Vereinigten Staaten in paneuropäische Fantasien, doch auch ein vereintes Europa wird sich nicht aus seiner Abhängigkeit von den USA lösen können. Russland gilt W. T. Stead nur als Wurmfortsatz des mürbe gewordenen alten Europa. Und den Südamerikanern riet dieser Prophet welterlösenden Angelsachsentums, sich einer Oberherrschaft der Vereinigten Staaten ebenfalls zu fügen, lieber freiwillig als gezwungenermaßen.
W. T. Stead entwarf als nahezu heilsgeschichtlichen Vorgang eine Zukunft, die alles einschloss, was spanische Amerikaner seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert entsetzte und Spanier ohnehin. Das erstaunlichste Ergebnis der spanischen Katastrophe von 1898 war, dass die Iberoamerikaner, als Spanien ganz auf sich selbst zurückgeworfen war, auf einmal ihre hispanidad erkannten und sich wieder als »Spanier« begriffen. Trotz gelegentlicher Bekundungen eines Panhispanismus waren die Beziehungen der spanischen Amerikaner zur früheren madre patria während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts ungemein kühl geblieben. Ungeachtet des gemeinsamen Misstrauens gegenüber den ruhelosen USA hegten die Iberoamerikaner immer den Verdacht, Spanien verfolge sehr eigennützige Absichten, wenn es um sie warb: die Führung in einer hispanischen Gemeinschaft als Ersatz für das verlorene Reich. Sie fürchteten zwar, zu Kolonien des »germanischen Kolosses« im Norden zu werden, wollten aber auch nicht zum Mündel der »lateinischen« Verwandten werden. Spanier hatten ihren amerikanischen »Brüdern« als Rettung vor »angelsächsischer« Übermacht immer wieder eine Panhispanische Union empfohlen, noch bevor die Russen den Panslawismus und die »Alldeutschen« den Pangermanismus entdeckten.
Die Iberoamerikaner überhörten solche Anregungen keineswegs. Denn gemäß den biologischen Anschauungen, die im neunzehnten Jahrhundert zunehmend den Gang der Weltgeschichte »wissenschaftlich« erklären sollten, sprach man auch im ehemals spanischen Amerika immer häufiger von einem »Rassenkrieg«, den die Angelsachsen vorbereiteten, um die »lateinische Rasse« und die »Latinität« endgültig um ihre Bedeutung zu bringen. Allerdings beriefen sich Spanier nur ungern auf die Latinität, ein französisches Konzept, das mit den Bemühungen unter Napoleon III. zusammenhing, französischen Einfluss – ebenfalls gegen die drohende Übermacht von Germanen aller Art – in der Welt zu stabilisieren. Den französischen Begriff »Lateinamerika« gebrauchten Spanier deshalb kaum, weil er die genuin spanische Leistung der »Latinisierung« Amerikas verdunkele. Aber Latinität enthielt ein universalhistorisches Prinzip, das der Menschheit galt und insofern den Spaniern nicht ungelegen kam.
Dieses Schlagwort fasste alles zusammen, was der Menschheit Würde verlieh: vornehmen Stil, Ritterlichkeit, Poesie, hohe Ideale, Freiheit, Fantasie und Veredelung des Menschengeschlechtes in einer vom Geist erfüllten Kultur. Die lateinische Welt kämpft für die Kultur, um sie vor zivilisatorischer Verflachung zu schützen, während die Angelsachsen kaltherzig nur an Komfort, an Nützlichkeit und Bequemlichkeit denken, um mit praktischer Wertschöpfung die ganze schöne Welt mit ihrer öden Zivilisation zu überziehen und sich ihr anzugleichen. Eine Habanera aus Kuba, dem Temperament entsprungen, ist allen Maschinen und Apparaten weit überlegen, wie der Spanier Ángel Ganivet 1897 trotzig verkündete. Sie kündet von dem beseelten Menschen mit seinem unendlichen inneren Reichtum. Der Mensch ist nicht nur Verbraucher oder Verkehrsteilnehmer. Er will zuerst einmal sich selbst vervollkommnen und mit sich die Idee ausdrücken, die er von sich selber hat. Deswegen kann Amerika, wenn es der Menschheit dienen will, nur spanisch bleiben – sobald es der Sogkraft des materialistischen Angelsachsentums erliegt, muss es zu Grunde gehen.
Spanien begriff sich 1898 wie der heilige Georg: kämpfend gegen den Drachen zivilisatorischer Bequemlichkeit mit weltdurchdringenden Eroberungsgelüsten. In patriotischen Bildern tötete dessen Lanze nicht ein Ungeheuer, sondern ein fettes Schwein, ein Sparschwein, das Geld spuckt, weil es keinen anderen Inhalt hat. Der spanische Löwe und das amerikanische Schwein standen einander gegenüber, das Hohe und das Niedrige, das Schöne und das Hässliche, das Starke und das Schwache. Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert gaben aufgeklärte Europäer gerne kund, dass gerade in Nordamerika jedes Lebewesen degenerieren muss mit Ausnahme des Schweines. Der deutsche Dichter Nikolaus Lenau, der um 1830 zeitweise in den USA lebte, prägte die suggestive Formel von den vereinten als den verschweinten Staaten von Amerika.
Die Iberoamerikaner waren mit solchen polemischen Einschätzungen vertraut. Dennoch hatten sie anfänglich keinen Anlass gesehen, Spanien moralische Unterstützung zu gewähren, solange es um die Niederschlagung der Rebellion in Kuba ging. Doch kaum hatten die Vereinigten Staaten Spanien den Krieg erklärt, deuteten sie die Auseinandersetzung als eine Kriegserklärung der angelsächsischen Rasse an die gesamte spanische, lateinische Welt und als Demütigung. Spanien, das sich einsam und verlassen wähnte, erfuhr wie nie zuvor, dass es Mitglied einer großen Gemeinschaft war. Die iberoamerikanischen Beteuerungen, gemeinsam die hispanidad verteidigen zu müssen, versetzten manche Spanier – wie Joaquín Costa, den die Niederlage fast sprachlos gemacht hatte – in übersprudelnde Erregung. Die Menschheit brauche eine durch Eintracht mächtige spanische »Rasse«, um gegen die Angelsachsen ein moralisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, rief er begeistert. Den »Sachsen« Sancho Pansa, den reinen Materialisten, vermöge nur ein großherziger Don Quijote im Zaum zu halten. Don Quijote, mit seinem für Angelsachsen verrückten Glauben an die Kraft des Geistes, sorge dafür, dass die Welt nicht zur Fabrik und zum Handelsplatz wird. Nicht getrieben von eitler Ruhmsucht, vielmehr in Verantwortung gegenüber der Menschheit sind dennoch alle Spanier dieser Erde aufgerufen, am Wachstum der spanischen Rasse mitzuwirken in der dauernden Nachahmung Don Quijotes, des edlen, uneigennützigen Ritters.
Rasse verstand Costa als geistiges, durch die Sprache bestimmtes Phänomen. Die Sprache ist das Blut des Geistes. Die Sprache muss rein erhalten werden. Sie ist das große Archiv der Erinnerungen. Sie formt jeden, der spanisch spricht, zum Spanier, weil alle, die sich in dieser Sprache ausdrücken, im gleichen Geist reden und mit dem gleichen Herzen fühlen. Deshalb bedarf es unentwegter Sorgfalt, wie der Argentinier Ernesto Queseda mahnte, regionale Besonderheiten möglichst zu vermeiden. Bleibt die eine und reine Sprache verbindlich, dann macht sie »unsere Rasse unbesiegbar«. Eine spanische Gemeinschaft in solchem Verständnis, die jedem als Ausdruck spanischen Geistes Gleichberechtigung zugestand, fand die fast stürmische Zustimmung der Iberoamerikaner. Im Herbst 1900 versammelten sich Vertreter aller »Spanier« in Madrid, um ihre Eintracht in Prunkreden mit sämtlichem Zierrat zu feiern, den die Schatzkammer ihrer Sprache für solche Gelegenheiten bereithält.
Einige Politiker wie Joaquín Sánchez de Toca oder Francisco Silvela waren so überwältigt von dem Austausch der Gefühle, dass sie schon wieder von einer großen transatlantischen Gemeinschaft träumten, unter dem Schutz der spanischen Flotte, die gerade vernichtet worden war. Ohne eine feste Bindung an ihr Ursprungsland würden die spanisch-amerikanischen Staaten allzu leicht zur Beute des amerikanischen Imperialismus und Materialismus. Sie sahen Spanier schon als allein berechtigte Vertreter südamerikanischer Interessen in Europa, als die Stimme ihres Amerikas in Europa. Diese Art der Gängelung missfiel den Iberoamerikanern zwar, aber sie erhoben keinen Einspruch, um die festliche Stimmung nicht zu verderben. Denn Spanien brauchte moralische Unterstützung.
Es war unter dem Eindruck der Niederlage, trotz aller Beschwörungen der hispanidad, an sich und seiner Geschichte endgültig irregeworden. Es war in Europa offensichtlich die einzige und einzigartige Geschichte eines Volkes, das schlichtweg kein Glück hat. Belgier, Holländer, Italiener oder Deutsche, alle einstmals abhängig von Spanien, haben Karriere gemacht in Europa und der Welt. Spanien hingegen geriet erst an den Rand Europas und schließlich an den der Welt. Dafür musste es Gründe geben, weit zurückliegende. »Vergangenheitsbewältigung« wurde zur wichtigsten Beschäftigung beunruhigter Spanier, die auf eine regeneración, eine nationale Wiedergeburt, hofften, auf einen Aufstieg aus Dekadenz und Erstarrung. Europeización war die andere magische Formel. Da sich Spanien jahrhundertelang von Europa entfernt habe und darüber seinen nationalen Verfall bewirkte, schien nur eine entschlossene Öffnung nach Europa, eine bewusste Eingliederung in dessen Zivilisation einen Ausweg zu bieten, um dem vollständigen Zusammenbruch zu entkommen.
Das setzte aber voraus, die Geschichte des spanischen Sonder- und Irrwegs schonungslos zu überprüfen, um auf den richtigen, den europäischen Weg zu gelangen. Paradoxerweise isolierten diese Patrioten Spanien als einen Sonderfall in Europa. Spanien ist anders, hieß es ununterbrochen in pädagogischer Absicht, eben um diese Andersartigkeit endlich zu beheben. Protestanten und aufgeklärte philosophes hatten die Andersartigkeit Spaniens in einem erstaunlichen »Kulturkampf« seit dem sechzehnten Jahrhundert immer wieder hervorgehoben: Fanatischer Katholizismus, repräsentiert durch die Inquisition, bedrohte nicht nur die Freiheit des Einzelnen in Spanien. Er strebte im Bündnis mit den habsburgischen Monarchen, den Katholischen, also allumfassenden, nach Weltherrschaft, um die Freiheit der Staaten in Europa zu ersticken. Die Casa de Austria, die spanischen Habsburger, sind der radikale Feind von Gewissensfreiheit, Geistesfreiheit und politischer Bewegungsfreiheit. Das wurde in allen Tonlagen seit dem sechzehnten Jahrhundert in der so genannten Schwarzen Legende unermüdlich variiert. Vor allem: Spanier begingen den ersten Völkermord, in Amerika. Sie sind Feinde des Menschengeschlechtes, das ihnen nichts verdankt. In Spanien singt man die Messe und tötet anschließend die Menschen, wie Voltaire spottete.
Die protestantischen und aufgeklärten Europäer waren es, die eine verbindliche Vorstellung von Europa entwarfen und Spanien von vornherein daraus ausgliederten. Es gab zuweilen bemerkenswerte Gegenbewegungen zu diesen polemischen Klischees, ausgerechnet von Berlin aus in den letzten Jahren Friedrichs des Großen, wo eine Spanienbegeisterung unter den Deutschen nicht zuletzt deshalb ihren Ausgang nahm, um sich der geistigen Vorherrschaft der Franzosen zu entziehen. »Somos hermanos«, wir sind Brüder, Brüder im Kampf gegen Frankreich, riefen deutsche Romantiker den Spaniern zu, sie also durchaus als Europäer anerkennend. Auch Franzosen, an der Latinität als großer Gemeinschaft bastelnd, suchten bald in Spanien einen Bundesgenossen für ein lateinisches Europa zum Ausgleich eines germanischen, englisch-deutschen Übergewichtes. Der zählebigen »Schwarzen Legende« taten solche Gegenströmungen jedoch keinen Abbruch.
Wer nach europeización im späten neunzehnten Jahrhundert strebte, resignierte vor dem europäischen Spanienbild – das durch eine elende Gegenwart jedoch bestätigt wurde. Schließlich war es unübersehbar, dass Spanien nur unzulänglich mit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation vertraut war, die den übrigen Europäern zu ihren Erfolgen verhalf. Außerdem entsprach das Bild einer geisttötenden, die Freiheiten lähmenden Kirche weit verbreitetem Ärger unter solchen Spaniern, die ihre Universitäten als »Veranstaltung ägyptischer Mumien« erlebten. Ein Aufbruch nach Europa schien dringend geboten. Doch wer ihn forderte, lenkte paradoxerweise den Blick erst einmal zurück und verwies die Spanier auf eine unausgesetzte Selbstbeobachtung und Selbstbeschäftigung, die sie von Europa wiederum ablenkte.
Überwältigt von ihrem Unglück, behandelten sie ihren Fall, losgelöst von allen europäischen Verquickungen, als die einzigartige und unvergleichliche Geschichte einer grotesken Missbildung, eines Geschwüres. Ihre sozio-klinische Pathographie bekam darüber einen provinziellen Charakter, der die Europäer mehr ermüdete als anzog. Die Spanier konnten sich den Europäern nicht als Europäer verständlich machen, verquält mit sich selbst beschäftigt, mit einer trostlosen Andersartigkeit, die andererseits auch wieder Trost gewähren sollte. Denn eine Genesung konnte sich erst einstellen, wie es hieß, sobald die Spanier wieder zur wahren hispanidad vordrangen, aus dem ewigen Vorrat der »spanischen Seele« die Substanzen schöpften, die sie aus erstarrten in lebendige Spanier verwandelten und damit zu gleichberechtigten Europäern machten. In diesem Sinne wählten sie sich Don Quijote als Wegweiser: ein edler Mensch, großherziger Freund der Schwachen und ritterlicher Streiter gegen jede Art von Ungerechtigkeit, also ein wahrer Europäer und zugleich der Inbegriff von Spanien, wie es sein soll und sein wird, wenn es in dessen Geist sich erneuert.