Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Quo vadis?
Wo gehst du hin? Das ist eine Frage, die sich jedes SPD-Mitglied und darüber hinaus jeder sozial Denkende heute stellen muss. Auch ich habe sie mir gestellt und habe mir die Antwort darauf gewiss nicht leicht gemacht. Inzwischen allerdings bin ich der festen Überzeugung: Wer Sozialdemokrat bleiben will – und der war ich Zeit meines Lebens -, muss die SPD verlassen.
Die SPD, in die ich 1969 eingetreten bin, vertrat bereits eine »rechte« Sozialdemokratie – jedenfalls gemessen an den kulturrevolutionären Ansprüchen der linken Studentenbewegung. Sie war überaltert und erstarrt, sie hatte es sich abgewöhnt über das System hinaus zu denken, in dem sie sich behaglich eingerichtet hatte. Aber sie hatte eine soziale Basis, in der sie verankert war, hatte Grundwerte und Grund-überzeugungen. Sie repräsentierte die massentaugliche linke Variante jenes rheinischen Kapitalismus, auf den sich die pro-kapitalistischen Kräfte und die SPD aus Angst vor dem Kommunismus geeinigt hatten – letztere allerdings unter Aufgabe ihrer ursprünglichen Utopien. Diese SPD war aber immerhin stark genug, um eine fundamentale Wende in der deutschen Außenpolitik durchzusetzen und vielen aus dem klassischen Arbeitnehmermilieu zum sozialen Aufstieg zu verhelfen. Es ist eine wirkliche Ironie der Geschichte, dass gerade den Begabtesten und Machthungrigsten unter diesen Aufsteigern das »Verdienst« zukommt, jene Partei, die ihren Aufstieg ermöglicht hat, zugrunde gerichtet zu haben.
Auf dem Bundeskongress der Jungsozialisten in Wiesbaden Anfang der 70er Jahre kam es – welche Ironie aus heutiger Sicht – zum Machtkampf zwischen der »linken« Fraktion unter Führung von Bennetter und Schröder und den »rechten« Reformsozialisten mit Wieczorek-Zeul, Schreiner und anderen. Ich selbst war damals im Präsidium des Kongresses und zählte mich zu den »rechten«. Es gelang uns mit Hilfe einer geschickten Regie einen Pyrrhussieg über Schröder und Bennetter zu erringen. Ein Jahr später wurde Schröder allerdings zum Bundesvorsitzenden der Jusos gewählt. Ein geschickter Schachzug verhalf ihm zu diesem Erfolg: Um das Zünglein an der Waage spielen zu können hatte er einfach seinen eigenen Verein, die so genannten Antirevisionisten erfunden. Deren Anhänger vertraten die Theorie eines staatsmonopolistischen Kapitalismus (»Stamokapfraktion«).
Wenige Zeit später war Schröder Bundestagsabgeordneter und der vormals einflussreichste linke politische Jugendverband bedeutungslos. Man sieht an dieser Geschichte: Ein aufmerksamer Beobachter konnte schon damals sowohl Schröders persönlichen Macht- und Karriereanspruch als auch sein Zerstörungspotential erkennen. Bei einigen der damals Beteiligten haben sich diese Vorgänge tief im Gedächtnis eingeprägt, und sie haben Gerhard Schröder seither nie mehr vollständig vertraut. Leider gehörte Oskar Lafontaine nicht dazu. Er war im Juso-Verband kaum aktiv gewesen und seinen eigenen Weg als linker Saarländer und Oberbürgermeister von Saarbrücken gegangen.
Diejenigen, die Schröders Handlungsweise damals sorgfältig studiert haben, wussten seither, dass sein Verhältnis zur Partei und ihren Organisationen immer nur taktisch und instrumentell war. Sie haben in den 80er und 90er Jahren vieles unternommen, um die SPD nicht in die Hand des heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden und Medienberaters fallen zu lassen. Das ging so weit, dass der linke Parteiflügel 1993 bei der von Gerhard Schröder mit gewaltiger Medienunterstützung betriebenen Urwahl zum Parteivorsitzenden Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Kandidatur neben Rudolf Scharping und Schröder bewegte, um Schröder zu verhindern. Auch ich habe mich damals in diesem Sinne engagiert. Wie man weiß, gewann Scharping, aber auch das war nur ein Pyrrhussieg, denn nur sechs Jahre später riss der damals frisch zum Bundeskanzler gewählte Schröder nach dem Rücktritt Lafontaines von allen Ämtern den Parteivorsitz an sich.
Die Tatsache, dass Schröder 1993 gegen Scharping zweite Wahl blieb und auch sein enttäuschendes Abschneiden bei der Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden 1995 (auf dem Mannheimer Parteitag, der Lafontaine zum Vorsitzenden machte) belegen immerhin, dass der forsche Niedersachse lange Zeit nicht von der Sympathie der Parteimehrheit getragen wurde. Die erste Wahl war Schröder natürlich schon lange für die deutschen Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände sowie für die von wirtschaftsliberalem Gedankengut dominierte deutsche Medienindustrie gewesen, die den telegenen, garantiert ideologiefreien Vorzeigesozi zum neuen Star der Sozialdemokratie aufbaute. Schröder war zugleich der Wegbereiter für jene neoliberalen Aufsteiger, die sich selbst als Netzwerker bezeichnen und nun sein Erbe angetreten haben. Die scheinsozialdemokratische Gruppierung um den heutigen Umweltminister Sigmar Gabriel hat mit ihrem Lehrmeister die Forderung nach immer neuen »Reformen« (Abbau des Sozialstaats, mehr »Eigenverantwortung«) gemeinsam. Außerdem teilen sie mit ihm seine nahezu uneingeschränkte weltanschauliche Biegsamkeit, wenn es um die Eroberung politischer Macht geht. Die Fähigkeit sich links zu geben, um rechts oben zu landen, ist zu einer Kunstform geworden, die in den letzten Jahren immer mehr verfeinert wurde. In einem Fall bin ich sogar selbst darauf hereingefallen.
Auch Schröder und seine Epigoninnen und Epigonen sind aber nur Teil eines umfassenderen gesellschaftlichen Prozesses. Die von der SPD selbst hervorgebrachten Aufsteigerschichten haben unter der kulturellen Hegemonie des Neoliberalismus und unterstützt von der deutschen Medienlandschaft einen gesellschaftlichen Spaltungsprozess bewirkt, dem die SPD nun selbst zum Opfer fällt. Hatten Schröder und die Seinen die Arbeitslosen und die arbeitenden einkommensschwächeren Schichten doch über Jahre konsequent ausgegrenzt. Bis zur Bundestagswahl 2005, als sich aus PDS und WASG eine linke Wahlalternative gründete, waren diese Bevölkerungsteile ohne politische Vertretung.
Die Vorstellung, man könne eine im Wesentlichen nihilistische Aufsteigerschicht auf der einen Seite und die »Working Poor« sowie die sozial Bedürftigen (also klassisches sozialdemokratisches Klientel) auf der anderen Seite langfristig in einer Partei zusammenhalten, ist eine Illusion. Schon gar unter den Bedingungen einer anhaltenden und sich verschärfenden ökonomischen Krise. Beinahe amüsiert habe ich einigen deutschen Gazetten der jüngsten Zeit entnommen, dass der neue Vorsitzende Kurt Beck als Person nun die Versöhnung der beiden Lager bewirken könne, weil er ja aus einfachen Verhältnissen stamme. Ein guter Witz, wenn man bedenkt, dass Schröder aus noch einfacheren Verhältnissen kam. Nein: Die Spaltung der SPD ist unvermeidbar, und sie ist längst dabei, sich zu vollziehen, nicht als einmaliges eruptives Ereignis, sondern als Prozess. Immerhin haben bereits 140 000 Mitglieder die Partei verlassen. Diese allmähliche, aber deutlich zu erkennende Entwicklung wird in die Neuformierung der demokratischen Linken in Deutschland münden, denn die realen gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse finden unter den Bedingungen eines nicht diktatorischen Staatswesens zwingend ihren Ausdruck in den politischen Organisationen.
Der Niedergang der deutschen Sozialdemokratie ist nur eine der Folgen der alle Lebensbereiche umfassenden Dominanz des Neoliberalismus, die in keinem Land der Welt so wirkungsvoll etabliert wurde wie in Deutschland. Die deutsche Bevölkerung macht seit einigen Jahren die Erfahrung, dass die Herrschaft der transkontinentalen Konzerne und der Finanzmärkte auch ihre vermeintlich sicher geglaubten sozialen Errungenschaften untergräbt. Kinderarmut und Massenarbeitslosigkeit, sinkende Reallöhne, drastische Reduzierung der Renten, zunehmende Chancenlosigkeit der Jugendlichen und zerrüttete Familienstrukturen (weil viele Familienmitglieder den Anforderungen der Wirtschaft an Flexibilität nicht mehr gewachsen sind) markieren auch in Deutschland den Beginn des Niedergangs. Die Botschaft des neoliberalen Systems ist eindeutig: Jeder ist seines Glückes Schmied, und am Ende rette sich wer kann. Mehr denn je hat ein Spruch Gültigkeit, den ich auf der Fassade eines Abbruchhauses in Berlin gelesen habe: »Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.«
Dieses Herrschaftssystem anzugreifen, ist eine Verpflichtung für alle, denen Werte und Menschlichkeit etwas bedeuten. Deshalb ist dieses Buch ein Signal zum Angriff und es ist ein Buch für Idealisten. Wir leben nicht in einer Zeit, in der wir uns Zaudern und Halbherzigkeit leisten könnten. Die Existenzbedingungen der Eiszeit, in der wir leben, sind so empörend, dass kein Raum mehr ist für die ausgefeilte Kunst der Relativierung. Die Herrschenden sind so zynisch und arrogant geworden, dass man mit differenzierter Kritik schon lange nichts mehr bei ihnen ausrichten kann. Auf ihr zerstörerisches und schändliches Regime sind Zorn und Aufruhr die richtige Antwort.
Das Relativieren überlasse ich lieber jenen, die ein Interesse daran haben, sogar die Grenzen zwischen Gut und Böse bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen zu lassen. Dabei sind wir gerade jetzt Zeuge, wie aus dem Nebel verlogener und weichgespülter Phrasen die Fratze der bösen und destruktiven Kräfte unseres Planeten unverhüllt hervortritt. Dies ist ein Buch für alle, die inmitten der geistigen Wüste einer visionslosen »Realpolitik« die Kunst des politischen Träumens nicht verlernt haben. Ein Buch für die Freundinnen und Freunde der Farbe, die nicht glauben wollen, dass die Welt nur aus Nuancen von Grautönen besteht. Ein Buch für jene, die wissen, dass die Geschichte nicht erst mit der Erstellung des deutschen Aktienindex begonnen hat. Ein Buch für alle, die unsere Mächtigen aus Politik und Wirtschaft nicht mehr ertragen können und bereit sind, auf die Macht der Ohnmächtigen zu setzen. Nicht zuletzt ist es eine Aufforderung an verständige Mächtige, die Seite zu wechseln.
Eiszeit
Nur wenige Jahre, bevor die Stadt Rom, glanzvolles Haupt der Welt, die über Jahrhunderte keinen Feind gesehen hatte, durch Alarich und seine Westgoten erobert wurde, hatte ein anderes Barbarenheer die Alpen überschritten. Die Menschen der Stadt strömten in Scharen in die Kirchen, beklagten den bevorstehenden Untergang, und manche fragten sogar nach ihrem eigenen Anteil daran. Nachdem der weströmische Oberbefehlshaber den Feind in einer Doppelschlacht bei Verona und Polentia vernichtend geschlagen hatte, kehrte allerdings der Optimismus zurück, und es wurde ein Jahr lang gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt bestand eigentlich schon seit einigen Jahrzehnten kein wirklicher Grund mehr zur Zuversicht. Das Imperium war militärisch und politisch überdehnt. Die auf dem Import von Sklaven beruhende Ökonomie befand sich schon seit 200 Jahren in einem schleichenden Prozess des Niedergangs. Die Staatsidee, auf die man Rom einmal gegründet hatte, war längst ausgehöhlt und bis zur Unkenntlichkeit pervertiert, die staatstragenden Mittelschichten waren dezimiert und die Staatsfinanzen ruiniert. Die Bürger Roms lebten in einem Polizeistaat, der die Megareichen vor dem Zorn der Landarbeiter und Erwerbslosen schützte, die Philosophen und Theologen beklagten schon seit langem den Verfall aller Werte und die allgemeine Sittenlosigkeit.
Auch heute sind wir wieder Zeitzeugen des Untergangs eines Imperiums. Die Menschen spüren dumpf, dass die von den USA dominierte selbsternannte »Erste Welt« ihren Zenit überschritten hat. Volkes Stimme ist verräterisch: Der Satz »Es kann so nicht weitergehen!« bringt auf die kürzeste Formel, wie viele Menschen seit Jahren die Situation von Staat und Gesellschaft empfinden. Die Machteliten setzen diesem Gefühl ihre kurzatmigen Optimismuskampagnen entgegen: »Das Glas ist halbvoll!« oder »Du bist Deutschland!«, aber sie vermögen nicht die Massen zu begeistern. Zu unübersehbar sind die Zeichen des Niedergangs, zu eisig ist die von der Mehrheit der Menschen gefühlte Betriebstemperatur unserer Wirtschaftsmaschinerie. Zu offensichtlich ist es, dass die Herrschenden zu einer wahrheitsgemäßen Beschreibung der Lage und zur Umkehr nicht bereit sind.
Zeitzeugen wissen nicht, an welchem Punkt eines historischen Prozesses sie sich befinden, sie können nur die Richtung und Dimension dessen, was geschieht, erahnen. Aber da Entwicklungen nie absolut vorhersehbar sind, gibt es auch immer die Möglichkeit zur freudigen Selbsttäuschung – vergleichbar der Partystimmung, die im Römischen Reich wenige Jahre vor dessen Untergang herrschte. Doch gerade angesichts der Ungewissheit über Tendenz und Tempo des Niedergangs müssen wir eine genaue Positionsbestimmung versuchen und uns der verbliebenen Chancen zur Umkehr vergewissern.
Wir müssen uns fragen, ob das American Empire – der Nachfolger des Römischen Weltreiches – seine politische und militärische Machtausübung überdehnt hat. Wir müssen uns fragen, ob der für das Imperium essentielle Zugriff auf die Rohstoffe, vor allem auf das Öl, noch garantiert werden kann. Wir müssen uns fragen, ob das Imperium noch auf einer Staatsidee basiert, die von der Mehrheit seiner Bevölkerung geteilt wird. Wir müssen uns fragen, ob der auf immerwährendes Wachstum und ebenso permanente Ausbeutung von Menschen angewiesene Kapitalismus über die nötige Integrität oder auch nur über ausreichende Funktionstüchtigkeit verfügt, um noch länger die Geschicke unseres Planeten zu bestimmen. Wir müssen uns fragen, ob wir uns länger einem System anvertrauen wollen, das die Kapitalkonzentration in den Händen von immer weniger Superreichen und die Enteignung, Verarmung und Entrechtung immer größerer Bevölkerungsschichten nicht nur duldet, sondern vorantreibt. Einem System, das die Erosion aller Werte und Bindungen fördert, die bislang unsere Gesellschaft zusammengehalten haben.
Nur wenn wir uns diese Fragen stellen und wenn wir versuchen, sie ehrlich und selbstkritisch zu beantworten, können wir wieder Hoffnung schöpfen und realistische Chancen auf Besserung erkennen und ergreifen. Keine Hoffnung liegt dagegen in der Aufrechterhaltung eines Weltherrschaftssystems, in dem die Regierungen eines Siebtels der Menschheit den ganzen Rest dazu zwingen, sich kulturell und politisch zu unterwerfen und ökonomisch ausbeuten zu lassen. Nichts ist ewig auf unserem Planeten, schon gar nicht Weltreiche. Auch der Untergang des US-amerikanisch dominierten neoliberalen Weltreichs wird kommen, ob wir ihn herbeisehnen oder ihn zu verhindern suchen. Wir haben als Menschheit lediglich die Wahl, wie sich dieser Prozess vollziehen wird: als Katastrophe oder als geordneter Übergang zu einer neuen Epoche.
Im Land des gefrorenen Lächelns
Sie sind überall. Sie sitzen in den Stabsabteilungen der Konzerne. Sie sitzen bei den Verbänden. Sie organisieren sich in den Parteien CDU, SPD, FDP und Grüne. Sie fühlen sich in Banken und Beraterfirmen wie McKinsey oder Roland Berger zu Hause. Sie makeln Finanzprodukte und sie durchforschen die Unternehmen nach Kostensenkungsmöglichkeiten. Sie arbeiten intensiv und sind stolz auf ihre 10- bis 12-Stunden-Tage. Vor allem lächeln sie unentwegt.
Sie lächeln auch dann, wenn sie konsternierten Betriebsräten erklären, warum 8000 Mitarbeiter der betreffenden Firma entlassen werden müssen. Sie lächeln, wenn sie einem um seine Existenz kämpfenden mittelständischen Zulieferer erklären, dass seine Preise um 20 Prozent gesenkt werden müssen. Sie lächeln, wenn sie Mieter zum Verlassen ihrer Wohnung auffordern. Sie lächeln, wenn sie einer älteren Dame eine Geldanlage verkauft haben, die sie nicht braucht. Sie sind so wohlerzogen, höflich und korrekt, dass sie sogar dann lächeln, wenn sie gerade selbst gefeuert worden sind.
Sie treffen sich in den immer gleichen Bars und Cafés, wo sie über ihren Geschäftserfolg und den Rotwein des Monats sprechen. Sie haben die Umschlagseiten der angesagtesten Buchveröffentlichungen gelesen. Sie verfügen über gute Tischmanieren. Sie haben Medientraining und Mentaltraining absolviert. Sie sind dezent, geräuschlos, wohlriechend, und sie sind immer gut drauf. Sie haben eine eigene Sprache entwickelt, die sich aus Versatzstücken des Deutschen und des Englischen zusammensetzt. Sie haben neue Begriffe erfunden: Wenn sie zum Beispiel Menschen entlassen, dann nennen sie das »freisetzen«, und wenn sie Betriebe zertrümmern, nennen sie das »restrukturieren«. Sie haben gelernt, dass sich drittklassige Vorschläge besser verkaufen, wenn man sie mit »Masterplan« überschreibt. Sie sind tolerant und gegenüber Fremden aufgeschlossen, solange diese nützlich sind – und auch Fremde, die für ein Überangebot von Arbeitskräften sorgen, sind nützlich. Sie sind in vielen Dingen überaus liberal und sorgen dafür, dass jeder tun und lassen kann, was er will – solange er es sich leisten kann. Ohnehin glauben sie, dass jeder aufgrund der ehernen Gesetze des Marktes genau das bekommt, was er verdient.
Sie sind garantiert ideologiefrei und in der Regel kinderlos. Soziologen haben deswegen sogar schon einen neuen Namen für sie erfunden: DINKs, eine Abkürzung für »Double Income No Kids«. Sie versuchen gar nicht erst, von einer besseren Welt zu träumen, und laufen somit auch nie Gefahr, enttäuscht zu werden. Sie vermeiden den Kontakt mit idealistischen »Spinnern«. Zu gute Menschen sind ihnen verdächtig, und sie haben es sogar geschafft, den Begriff des guten Menschen zu einem Schimpfwort zu machen. Als »Gutmenschen« bezeichnet man ja heute solche Personen, die sich mit den von den Neoliberalen geschaffenen Realitäten nicht abfinden wollen und sich erdreisten, deren Kreise zu stören.
Sie meiden die Begegnung mit Krankheit, Schmerz und Tod, solche Vorkommnisse sind unangenehm. Selbst Leidenschaft ist in ihren Augen viel zu sehr mit Leid (und vielleicht sogar mit Mitleid) verbunden, als dass man sich ihr aussetzen sollte. Sie glauben selten an Gott: Ihr Gott ist der Markt, ihm allein dienen sie, er allein ist es, der sie erhöht oder zu Boden wirft, der sie erlöst oder der Verdammnis ausliefert und der ihnen die Gesetze ihres Handelns vorschreibt. Sie sind uniform und angepasst, halten sich aber selbst gern für kreativ und originell. Man erkennt sie neben ihrem Lächeln daran, dass sie dieselben Anzüge aus denselben Designer Factory Outlets tragen, oder daran, dass sie aussehen wie ihre eigenen persönlichen Referenten.
Im Normalfall sind sie Einzelkämpfer, aber sie können durchaus zusammenhalten, so lange dies für sie von Nutzen ist. Sie würden es weit von sich weisen, wenn man dergleichen als »Kumpanei« oder »Seilschaft« bezeichnet. Vielmehr handelt es sich um »Netzwerke«. Sie sind so schwer zu fassen, dass man so phantasievolle Begriffe wie »Generation Golf« oder »Neue Mitte« erfunden hat, um ein Phänomen zu beschreiben, das sich jeder herkömmlichen ideologischen Zuordnung entzieht.
»Generation Golf«
Im Jahr 2000 erschuf der FAZ-Redakteur Florian Illies einen Namen für die charakteristischen Bewohner des Landes des gefrorenen Lächelns: »Die Generation Golf« nannte er seine Altersgenossen, die nach der Angabe im Klappentext seines gleichnamigen Buches zwischen 1965 und 1975 geboren wurden (wobei wohl 1960-1975 passender wäre). Illies beschreibt recht eindrucksvoll die Gedankenwelt, in der er und seinesgleichen sich bewegen: »Die Generation vor uns trieb der Gedanke an eine bessere Zukunft um, und sie versuchte mit viel Energie die Gesellschaft zu verändern (…) Man glaubte an das Gute im Menschen (…) An lauter Sachen eben, die davon ausgingen, dass sich die Welt verändern lasse. Die Generation Golf hat früh gelernt, dass das zu anstrengend ist. Sie sagt sich: Ich will so bleiben, wie ich bin.«1 Das Bekenntnis zur Egozentrik ist von gnadenloser Offenheit, und besonders bemerkenswert ist, dass der Autor seine Charakterisierungen offensichtlich als positiv empfindet: »Die Freiheit nehm ich mir – das ist als Spruch für unsere Generation mindestens genauso wichtig, wie das, weil ich es mir wert bin (…) Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.«2 Bei den Eiszeit-Bewohnern bestimmt offenbar das Design das Bewusstsein: »Der Marsch durch die Institutionen hat endlich auch die Fischers und Schröders zum Herrenausstatter geführt. Es war ja auch nicht mehr länger mit anzusehen (...)«3
Drei Jahre später legte Illies ein Fortsetzungsbuch vor. »Die Generation Golf muss zum TÜV«, konstatierte er. »Wir sind ins Schlingern geraten – durch die Wirtschaftskrise, den II. September, die ersten Kinder und die ersten Falten.«4 Ein Anflug von Katzenjammer streift den früheren Yuppie: »Alles ist vorbei. Die New Economy. Die Spaßgesellschaft. Die Popliteratur.«5 Doch am Ende setzt sich wieder der pausbäckige Optimismus durch: »Das Buch stimmt nicht ein in das ewige Krisengejammer (…) Wir suchen leicht verkatert, aber trotzig zuversichtlich nach einem neuen Lebensgefühl, und bis wir es gefunden haben, erklären wir erst einmal: ›Ich könnte mir vorstellen, auch mal was ganz anderes zu machen.‹«6
Dieses »ganz andere« schließt – im Unterschied zur Zeit vor dem II. September – Ansätze politischen Engagements mit ein, allerdings in seiner pervertiertesten Form: als Kampfansage der jüngeren an die ältere Generation, die angeblich zu sehr am Sozialstaat hängt. »Wir wissen, dass wir den Wohlstandszenit überschritten haben. Doch die Älteren müssen das erst noch kapieren. Und das (…) ist unwahrscheinlich, weil die Politik zurzeit ausschließlich von Menschen verantwortet wird, die gewohnt sind, Besitzstände fortzuschreiben und mehr zu verteilen, als eigentlich da ist.« Bezeichnend ist, wie sorglos und unreflektiert Herr Illies neoliberal eingefärbte Halbwahrheiten nachplappert. Der Wohlstandszenit ist überschritten? – In einer Volkswirtschaft, die auch in der jetzigen Krise konstant weiterwächst und als Exportweltmeister fungiert, in einem Land, in dem das Privatvermögen sich in den letzten zehn Jahren auf vier Billionen Euro verdoppelt hat, kann man zumindest feststellen, dass die großen Kapitalvermögen ihren Zenit noch längst nicht erreicht haben (vgl. Seite 50f.). Vielmehr schießen sie weiter scheinbar unbegrenzt nach oben – und die Zeche zahlen die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, in der Regel die eigentlichen Leistungsträger der Gesellschaft, deren Lebensstandard auf tatsächlicher Wertschöpfung beruht.
Zustimmend zitiert Illies seinen Altersgenossen Hans Martin Bury, einen von Gerhard Schröder zum Staatsminister beförderten Ex-Juso: »Wenn die Jungen von heute den ergrauten Achtundsechzigern nicht ebenso Druck machen, wie es die Achtundsechziger ihrerseits vermochten, sind sie selbst schuld.«7 Druckmachen müssen Illies, Bury und ihre Mitstreiter freilich erst noch lernen. »Es gibt nur eine einzige Protestform, die unsere Generation mit Leidenschaft herausgebildet hat: Kandidaten per Telefon aus dem Big-Brother-Container herauszuwählen.«8 Drei Demonstrationsformen kann sich der smarte Jungautor immerhin vorstellen: eine gegen die Telekom wegen sinnlosem Herumhängen in ihren Warteschleifen, eine gegen die Kartenautomaten der Bahn und die dritte »gegen die deutschen Gewerkschaften«. Besonders nervt den Feingeist »das ästhetisch unterirdische Niveau der deutschen Streikenden«: »immer nur frierende Grauhaarige mit Klobrillen, die von Mutti watt Warmet auffen Streik jebracht kriegen. Im Medienzeitalter törnt das echt ab.« Manche finden so etwas lustig. Ich finde es eher traurig – und fühle mich erinnert an eine Analyse von Theodor W. Adorno: »Welch einen Zustand muss das herrschende Bewusstsein erreicht haben, dass die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens erhoben wird.«9
Die Mutation der Christdemokratie
Angesichts der Wertelosigkeit und des Zynismus der »Generation Golf« ist man beinahe geneigt, den Zeiten konservativer Herrschaft nachzutrauern. Hatten die nicht wenigstens ein paar soziale Prinzipien? Doch die Konservativen sind längst zu Strukturkonservativen degeneriert. Sieht man von gelegentlichen Sonntagsreden über das christliche Menschenbild ab, findet man sie allenfalls noch in kirchlichen Institutionen und Bewegungen. Die CDU ist eine so sehr dem Kapitalismus verpflichtete Partei geworden, dass sie selbst angesichts der Zerstörung ihrer Kernwerte durch das System keinerlei politische Regung zeigt.
Norbert Blüm, einer der letzten Vertreter der alten CDU, klagt, dass seine Partei »von der neoliberalen Epidemie infiziert« sei: »Die CDU war einst deshalb zur großen Volkspartei erstarkt, weil sie konservative, liberale und christlich-soziale Ideen zu einer produktiven Synthese vereint hatte. Von den Christlich-Sozialen sind nur noch nostalgische Relikte übrig geblieben.« Und weiter: »Die christlich-soziale Bewegung ist heimatlos geworden. Von der SPD fühlt sie sich nicht angezogen, von der CDU im Stich gelassen. Die großen liberalen Ideen sind zu einem Wirtschaftsrezept verkümmert. Kopfpauschale und Einheitssteuer widersprechen elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen der christlichen Soziallehre. Sie sind Schablonen, mit deren Hilfe alles über einen Kamm geschoren werden soll. ›Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln‹ ist der Kern des uralten Gerechtigkeitsgedankens. Das Gerechtigkeitsprinzip ist das Prinzip der Differenzierung – und nicht der Nivellierung.«10
Verfolgt man die Geschichte der Unionsparteien bis in ihre Ursprünge zurück, mag man kaum glauben, dass es sich um ein und dieselbe Partei handelt. In ihrem Ahlener Programm vom Februar 1947 hatte die gerade gegründete CDU postuliert: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein (…) Die neue Struktur der deutschen Wirtschaft muss davon ausgehen, dass die Zeit der unumschränkten Herrschaft des privaten Kapitalismus vorbei ist.«11 Wären die Verfasser dieses Programms heute noch politisch aktiv, könnte man sie gut und gern als Mitglieder einer neu aufgestellten vereinigten Linken begrüßen. Ganz offensichtlich ist der Verrat an fundamentalen Werten, die in den Anfängen die Identität und die Daseinsberechtigung einer Partei konstituierten, nicht allein eine Spezialität von SPD und Grünen. Alle diese Parteien waren auf ihrem »Marsch durch die Institutionen« einem Prozess der gnadenlosen Systemanpassung unterworfen, in deren Verlauf sie eher zu Attrappen und schlechten Parodien dessen mutiert sind, was sie früher einmal waren.
Gerade eines der zentralen Leitbilder der CDU, die Familie, landet derzeit in atemberaubendem Tempo auf dem Schutthaufen des Systems. Denn der moderne Kapitalismus kann weiß Gott nichts weniger gebrauchen als ortsfeste, in tragende Familienstrukturen eingebundene, der Verantwortung für Familie und Gemeinde verpflichtete Väter. Vor allem nicht solche, die auch noch so viel verdienen wollen, dass es für Haus, Frau und mindestens zwei Kinder reicht. Der entfesselte Kapitalismus braucht flexible, zu jedem Ortswechsel jederzeit bereite und möglichst unfruchtbare Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Kinder sind teuer und machen unbeweglich. Auch Blüm sieht den ökonomischen Hintergrund der Krise der Familie: »Das sozialrechtlich geschützte Arbeitsverhältnis wird klammheimlich zum atypischen Arbeitsverhältnis. Jeder vierte Arbeitnehmer unter 25 Jahren arbeitet bereits in einem Arbeitsverhältnis ohne Kündigungsschutz. Das befristete Arbeitsverhältnis wird zum Normalarbeitsverhältnis. Der Prototyp des flexiblen Arbeitnehmers ist der Tagelöhner. Vergangenheit wird wieder Zukunft. Wie sollen unter diesen Bedingungen ein junger Mann oder eine junge Frau eine Ehe schließen? Noch nicht einmal bei einer Sparkasse erhalten die beiden Kredit. Ihre Einkommensverhältnisse sind unbeständig.«12
Eine im eigentlichen Wortsinn »christliche« Partei ist im kapitalistischen System nicht vorgesehen, sie wäre den Herrschenden aus Banken, Kapitalgesellschaften und Wirtschaftsverbänden eher ein Dorn im Auge. Man stelle sich einen Politiker vor, der mit der biblischen Aussage, man solle nicht dem Mammon, sondern dem Herrn dienen, ernst machen würde! Einen Politiker, der sich konsequent für die Bewahrung der Schöpfung, für die Achtung der religiösen Feiertage, für intakte dörfliche Gemeinschaften und ein selbstbestimmtes Bauerntum einsetzen würde? Der Kapitalismus ist nicht interessiert an der Bewahrung der Schöpfung, das ist ein viel zu langfristiges Ziel. Vielmehr kommt es ihm auf die Realisierung alles wissenschaftlich Machbaren an, sofern es Gewinn verspricht. Die Würde der embryonalen Zellen als werdendes menschliches Leben ist keine betriebswirtschaftliche Kategorie. Kirchliche Feiertage und Sonntage sind ihm ein Gräuel, denn sie verhindern die vollständige Auslastung der Kapazitäten. Auch selbständige Bauern und ihre dörflichen Kulturinseln sind unter den Bedingungen einer »fortschrittlichen« Agrarindustrie unnütz. Wer von den Landwirten sich gegen gentechnisch veränderte Pflanzen wendet, weil er sich auch auf diesem Gebiet nicht anmaßen will, Gott zu spielen, gilt als rückschrittlicher Spinner. Und nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden die Hirtenworte der Bischöfe, die die Werte der katholischen Sozial-lehre anmahnten, von Vertretern »christlicher« Parteien so achtlos beiseite geschoben wie heute. Nein, für die Konservativen unserer Zeit gilt: »Macht schlägt Werte.«
Ein Politiker, der, wie Blüm, nicht in dem Verdacht steht, der Linkspartei nahe zu stehen, ist Heiner Geißler. Er stellt der neuen Generation der Unions-Politiker, die sich in ihrer einträglichen Existenz als »Christdemokraten« von christlichen Werten keinesfalls stören lassen wollen, ein beschämendes Zeugnis aus: »Jeden Sonntag oder zumindest an den großen Feiertagen feierlich in die Kirche gehen, als politische Schausteller sozusagen ›ihre Gebetsriemen breit und ihre Quasten groß zu machen‹ (Mt 23, 5), aber gleichzeitig tiefe Einschnitte ins soziale Netz, die Kürzung der Sozialhilfe zu verlangen, den Kündigungsschutz abzuschaffen, Lohndumping als Wettbewerbselement zuzulassen, statt einer Bürgerversicherung das Risiko von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu privatisieren und auf den Kapitalmarkt zu verfrachten, ist nicht nur ökonomisch falsch, sondern führt wie in den USA zu einer Spaltung der Gesellschaft und ist mit der Botschaft der Evangelien nicht zu vereinbaren.«13
Unter der Überschrift‚ »Dürfen Kapitalisten sich Christen nennen« wettert Geißler: »Wer bei Firmenzusammenschlüssen die Synergieeffekte nutzt, um die Kapitalrendite und die Dividenden zu erhöhen, aber gleichzeitig Arbeitsplätze abbaut und die wirtschaftliche Existenz von Menschen vernichtet, muss mit einiger Wahrscheinlichkeit den heiligen Zorn fürchten, zu dem Jesus fähig war, wenn er mit Ungerechtigkeit konfrontiert wurde (…) Wer den Börsenwert und den Aktienkurs eines Unternehmens verabsolutiert und nur noch die Kapitalinteressen ökonomisch gelten lässt, gehört zu den Menschen, die, wie Jesus sagt, viel Geld besitzen und für die es schwer sein wird, in das Reich Gottes zu kommen.«14 Offenbar ist das Ausscheiden aus der aktiven Politik für einige mit einem erstaunlichen Erkenntnisschub verbunden.
Wie weit sich die Christdemokraten einem Ökonomismus unterworfen haben, der den Menschen zur Ware und ihre Gesundheit zu einem Kostenfaktor degradiert, zeigt das Beispiel von Philipp Mißfelder. Der Bundesvorsitzende der Jungen Union schlug im August 2003 vor, Krankenkassenleistungen wie künstliche Hüften und Zahnprothesen für über 85-Jährige zu streichen. Die »Spitzenversorgung der Alten« sei mit dafür verantwortlich, dass die Beitragssätze bei Rente und Gesundheit in den vergangenen Jahren kräftig nach oben geklettert seien«, erklärte der JU-Chef.15 Nach Kritik von mehreren Seiten meinte er: »Nein, ich habe nichts falsch gemacht. Ich wollte keine Gefühle verletzen.« Er bekomme neben der Kritik auch viel Zuspruch. »Gerade Jüngere unterstützen meine Position.«16 Die Journaille vergaß den Vorfall bald wieder. Nur wenige registrierten, was für einen ungeheuren Tabubruch mit vielleicht weit reichenden Folgen dieser Vorstoß des forschen Jungpolitikers darstellte. Menschenwürde und optimale Gesundheitsversorgung wurden nicht mehr als unveräußerliches Recht angesehen, sondern unter Finanzierungsvorbehalt gestellt. Unter Missachtung des Gleichheitsgrundsatzes in unserer Verfassung soll ein Bevölkerungsteil, der in unserer Gesellschaft ohnehin als »unnütz« gilt, von Leistungen ausgeschlossen werden, die der Verfasser für sich selbstverständlich in Anspruch nimmt. Allein die Gnade der späten Geburt qualifiziert den Unions-Jüngling zum Patienten erster Klasse. Wenn dem in diesem Vorstoß erkennbaren Trend nicht konsequent Einhalt geboten wird, läuft es auf eine passive Euthanasie durch gezielt unterlassene Hilfeleistung für betriebswirtschaftlich nicht verwertbare Bevölkerungsgruppen hinaus.
Unter diesen Umständen kann man die Parteinamen »CDU« und »CSU« kaum mehr ohne die umrahmenden Anführungszeichen verwenden. So wie gerade konservative Westdeutsche zu Lebzeiten der DDR von der »so genannten DDR« sprachen, um zu signalisieren, dass sie an den demokratischen Charakter des totalitären Ein-Parteien-Staates nicht so recht glauben wollten, müsste man heute konsequenterweise »so genannte CDU« sagen. Allerdings könnte man dann – und ich sage das als alter Sozialdemokrat gewiss nicht gern – auch von der »so genannten SPD« sprechen, denn die heute dort tonangebenden Akteure kann man gemessen an den ursprünglichen Werten der Partei August Bebels eigentlich nur noch als »Sozialdemokraten-Darsteller« bezeichnen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, dass nicht nur die Unionsparteien durch den Anpassungsdruck des Systems eine fatale Entwicklung durchgemacht haben.
Rebellendämmerung – das Erbe der Achtundsechziger
Die Kälte in unserer Gesellschaft ist jedoch nicht nur das Resultat des Werteverfalls im traditionell konservativen Lager. Die »Generation Golf« bewegt sich mindestens im selben Maß in den Fußspuren jener Rebellen, die einmal gegen dieses Establishment aufgestanden sind. Auf den ersten Blick wirken die heutigen Protagonisten des »Ice Age« wie das vollkommene Gegenteil der langhaarigen, verrückten und idealistischen Weltverbesserer, die in den späten 60er Jahren das Straßenbild dominierten. Trotzdem sind viele ihrer geistigen Mentoren dem Zynismus verfallene Alt-Achtundsechziger, deren Ego sie über gescheiterte radikale Träume hinweg in die Regierungsetagen und Chefsessel der Medienindustrie geführt hat. »Die Achtundsechziger haben gesiegt; das heißt aber auch, dass sie weder sich noch die Linke verraten haben, wie es etwa Jutta Ditfurth in ihrer Abrechnung mit den Grünen vertritt. Vielmehr haben sie sich zur Kenntlichkeit entstellt«, schreibt der Grünen-Kritiker Jürgen Elsässer.17 Immerhin war ihr persönliches Ego so stark, dass sie den Bankrott ihrer Ideen erfolgreich überlebt haben.
Sucht man nach den Ursachen des ideellen Vakuums, von dem heute das geistige und politische Leben in Deutschland geprägt ist, so trifft man auf die Schutthalden tatsächlich und vermeintlich gescheiterter Träume. Denn sowohl der wertorientierte Konservatismus als auch der radikale gesellschaftliche Veränderungsanspruch von links, der in der Achtundsechziger-Bewegung formuliert wurde, sind vor der vermeintlichen Allmacht des globalisierten Marktmodells in die Knie gegangen. So durchschlagend die kulturrevolutionäre Wirkung der Achtundsechziger bei der Offenlegung der verlogenen Strukturen des postfaschistischen Wirtschaftswunders in Deutschland war, so unfähig erwies sich diese Bewegung in ihrem Versuch, die ökonomischen Machtverhältnisse des Landes in Frage zu stellen oder gar zu verändern.
So ist es nicht erstaunlich, dass gerade diejenigen Exponenten der Achtundsechziger, die sich seinerzeit durch eine besondere Radikalität des Veränderungsanspruches hervorgetan haben, heute ihr eigenes Scheitern mit Hilfe der Ideologie der angeblichen Alternativlosigkeit des neoliberalen Systems kompensieren. Niemand hat dafür so treffende Zitate geliefert wie Gerhard Schröder, der einmal sagte: »Es gibt keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur eine richtige oder falsche.« Und noch ehrlicher der Satz: »Zum Regieren brauche ich nur die Bildzeitung und die Glotze.« Diese Geisteshaltung könnte man als pragmatischen Nihilismus bezeichnen, oder, wie es der französische Soziologe Emmanuel Todd formulierte, als »Nulldenken«, das die politische Klasse und ihre intellektuellen Hofschranzen befallen hat. Todd definiert: »Der wesentliche und einigende Wesenszug des Nulldenkens ist seine Glorifizierung der Machtlosigkeit, sein aktives Zelebrieren der Passivität...«18
Mittlerweile haben die Netzwerkerinnen und Netzwerker des Nulldenkens alle relevanten Führungsbereiche in Wirtschaft und Politik durchdrungen. Dass dies gelingen konnte, ist nur erklärbar vor dem Hintergrund eines enormen intellektuellen Vakuums, sowohl im deutschen Konservatismus, als auch auf Seiten der Linken. Bezeichnenderweise verzichtet auch der moderne Kapitalismus, jedenfalls in Europa, auf jeden Versuch, das herrschende ökonomische System durch einen irgendwie gearteten Moralitäts- oder Werteanspruch zu untermauern. Man begnügt sich mit dem lapidaren Hinweis, dass das freie Schalten und Walten der Marktkräfte quasi naturgesetzlich ein Optimum an gesellschaftlichem Wohl hervorbrächte. Somit wird die Maximierung des Profits per definitionem zur moralischen Großtat. Der Publizist Richard Herzinger beispielsweise schilt die »Tyrannei des Gemeinsinns« und fordert ein »Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft«. In der Eiseskälte, die heute in der Ruinenlandschaft des Sozialstaates herrscht, fühlen sich Menschen seines Schlages offenbar so geborgen wie andere im tropischen Treibhausklima.19 Auf den ersten Blick ist erstaunlich, dass derartige Plattheit mittlerweile nicht nur die Wirtschafts-presse dominiert, sondern sogar von Organen wie der »Zeit«, für die Herzinger regelmäßig schreibt, oder dem »Spiegel« zur neuen Doktrin für das deutsche Bildungsmilieu erklärt wurde.
Emmanuel Todd hat für dieses Phänomen eine Erklärung gefunden: Der Grad der Unterwerfung unter das Nulldenken hängt für ihn von der ökonomischen Stellung ab, die jemand innehat. Die Journalisten gehören beispielsweise – neben den Lehrern – zu den Berufsgruppen, die unter den Folgen dieses Nulldenkens, also der als alternativlos akzeptierten Globalisierung, nicht zu leiden haben. Beide sind vor der Billiglohnkonkurrenz des Weltmarktes geschützt, die in der übrigen Wirtschaft die Arbeitsplätze vernichtet: die Lehrer, weil sie Beamte sind, und die Journalisten, weil mangelnde Kenntnis der Landessprache »Journalisten anderer Nationalität den Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt wirkungsvoll versperrt«. 20 So findet der Neoliberalismus die Unterstützung von zwei wichtigen Berufsgruppen, die für die Meinungsbildung in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der SPD wie bei den Grünen im Besonderen von großer Bedeutung sind.
Das neue Bündnis
So treffen sie sich heute wieder in den Zentralen der Macht – wertelose Konservative und zynisch gewordene ehemalige Linke. Nichts trennt sie mehr: keine Wasserwerfer und keine Bereitschaftspolizei. Allenfalls die Notwendigkeit, als Angehörige konkurrierender Parteien in den Wahlkämpfen auf Unterschieden herumzureiten, die gar nicht existieren.
Ende September 2004 spendeten 62 Intellektuelle und Manager jeweils 606,45 Euro für einen – in ihrem Sinne – guten Zweck: Sie buchten für schlappe 37 600 Euro eine ganze Anzeigenseite in der Samstag-Ausgabe der »Süddeutschen Zeitung« (Auflage 442 297), um für Hartz IV zu werben. Unter der Schlagzeile »Auch wir sind das Volk« hetzten sie gegen Hartz-IV-Kritiker als »Demagogen, die ihre Zukunft hinter sich haben«. Weiter hieß es: »Die unter dem Angst machenden und abschreckenden Schlagwort Hartz IV beschlossenen Änderungen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind überlebenswichtig für den Standort Deutschland. Der ist gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen. Totengräber sind in allen Parteien zu Hause. Umso schmerzlicher ist nun die Stunde der Wahrheit. Jetzt hilft nur noch ein radikaler Kurswechsel. Solche Einschnitte tun weh wie alle schweren Operationen, aber aus Furcht vor Schmerzen nichts zu tun, wäre verantwortungslos.«