Inhaltsverzeichnis
Ein Fall für TKKG
Jetzt im Internet:
TIM
heißt eigentlich Peter Carsten. Aber tolle Typen haben auch immer einen Spitznamen. Früher wurde Tim von seinen Freunden Tarzan genannt, doch mit dem will er nicht mehr verglichen werden, nachdem er diesen »halbfertigen Bodybuilder« in einem Film gesehen hat. – Tim ist der Anführer der TKKG-Bande, die so bezeichnet wird nach den Anfangsbuchstaben ihrer Vor- oder Spitznamen. Tim ist 14, aber seinem Alter geistig und körperlich weit voraus. Ein braun gebrannter Athlet, besonders veranlagt für Kampfsport und Volleyball. Seit zwei Jahren wohnt er in der berühmten Internatsschule, ist Schüler der 9b. Sein Vater, ein Ingenieur, kam bei einem Unfall ums Leben. Tims Mutter, eine Buchhalterin, müht sich sehr, um das teure Schulgeld für ihren Sohn aufzubringen. Tim ist der geborene Abenteurer, hasst Ungerechtigkeit, mischt sich ein und riskiert immer wieder opf und Kragen.
KARL, DER COMPUTER
sitzt im Unterricht neben Tim, wohnt aber nicht im Internat, sondern bei seinen Eltern in der nahen Großstadt. Karl Viersteins Vater ist Professor für Mathe und Physik an der Universität; und wahrscheinlich von ihm hat Karl das tolle Gedächtnis geerbt – aus dem man alles abrufen kann wie aus einem Computer. Karl ist lang aufgeschossen und sieht magersüchtig aus, weshalb körperlicher Einsatz nicht seine Sache ist. Er kämpft lieber mit geistigen Keulen und fühlt sich bei den TKKG-Aktionen zuständig für technische und wissenschaftliche Probleme. Wenn ihn was aufregt, putzt er sofort die Gläser seiner Nickelbrille – und das manchmal so heftig, dass er alle paar Monate eine neue braucht.
KLÖSSCHEN
wird so genannt, weil er so aussieht; und für sein Aussehen gibt es einen Grund: Willi Sauerlich nascht und nascht und nascht. Schokolade ist für ihn Kraftnahrung, auch wenn er davon immer runder wird. Zusammen mit Tim ewohnt er im Internat die Bude ADLERNEST. Klößchens Vater ist Schokoladenfabrikant, und der Sohnemann versteht sich bestens mit seinen Eltern, die im feinsten Viertel der en Großstadt leben. Auch als Fahrschüler könnte Klößchen die Internatsschule besuchen, aber zu Hause in der pompösen Villa hat er sich immer nur gelangweilt; deshalb ist er jetzt hier – und wird von Tim mitgerissen in die vielen haarsträubenden Abenteuer, das Markenzeichen der TKKG-Bande.
GABY, DIE PFOTE
muss sich als einziges Mädchen gegen drei Jungs behaupten. Aber alle Trümpfe sind auf ihrer Seite: goldblondes Haar, blaue Augen mit dunklen Wimpern, Anmut, Intelligenz und wenn nötig eine kesse Lippe. Für Tim ist seine Freundin das schönste Mädchen der Welt, und er fühlt sich als ihr Beschützer – vor allem dann, wenn es gefährlich zugeht: ein sehr häufig wiederkehrender Zustand. Gabriele Glockner wohnt bei ihren Eltern in der Stadt und besucht die 9b der Internatsschule als Fahrschülerin. Gabys Vater ist Kriminalkommissar und ein väterlicher Freund der Jungs. Gabys Mutter – von Tim, Karl und Klößchen hochverehrt – betreibt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Gaby liebt Tiere und lässt sich von Hunden gern die Pfote geben, was zu dem Spitznamen PFOTE geführt hat. Oskar, ein schwarz-weißer Cockerspaniel, schläft auf ihrem Bettvorleger.
1. Während des Urknalls
Kaum fing der Nachmittag an, hatte Gaby im Supermarkt alles eingekauft. Karl spielte Packesel bzw. Lastenträger und trottete neben ihr her.
Er hatte Schlimmes befürchtet und mit Kreuzschmerzen gerechnet. Aber die Einkaufstüte, die Gaby ihm dann übergab, hielt er locker mit zwei Fingern.
»Einmal Zahncreme, ein kleines Toastbrot, Butter und Teebeutel«, erklärte sie. »Mehr stand nicht auf seinem Einkaufszettel. Ich glaube, er ist nicht sehr anspruchsvoll.«
»Das sind Pauker nie«, nickte Karl, »höchstens in geistiger Hinsicht. Bei Lattmann betrifft das vor allem musische Kultur. Wie sagt der immer? Für einen Nachmittag im Louvre (Pariser Kunstmuseum) könnte ich ein halbes Jahr hungern.«
»Klößchen könnte das nicht«, lachte sie.
Sie verließen den Supermarkt.
Draußen umschmeichelte sie die weiche Luft des Spätsommers.
Gaby machte einen Schmollmund und pustete aufwärts gegen ihren Goldpony. Karl hängte die Tüte an seinen Fahrradlenker.
Dann fuhren sie zu Lattmann – zu Dr. Friedrich Lattmann, dem beliebten Kunsterzieher und Zeichenlehrer der Internatsschule.
Er war mit der Kunst verheiratet, hatte also weder Frau noch Familie, was ihm anscheinend behagte, denn seine gute Laune gehört zu ihm wie der verklärte Blick, wenn er von Pablo Picasso (spanischer Maler und Graphiker) redete. Das hatte ihm den Spitznamen »Picasso« eingetragen.
Als Pauker fiel »Picasso« seit einer Woche aus. Er war das Opfer eines unbekannten Verkehrsrowdys geworden und sein linkes Bein steckte bis zur Hüfte in Gips. Gestern hatte man ihn aus dem Krankenhaus entlassen. Nun saß er in seinem winzigen Häuschen und war angewiesen auf fremde Hilfe.
Die TKKG-Bande, der selbst ärgste Feinde nicht unterstellen würden, dass sie bei Paukern schleimt – die TKKG-Bande hatte sich erboten, dieses und jenes für Lattmann – Picasso – zu erledigen.
Tim und Klößchen waren zur Stunde verhindert. Aber Gaby und Karl ließen Lattmann nicht hängen. Sicherlich lechzte er schon nach seinem Nachmittagstee; und wer wusste, wann er sich zum letzten Mal die Zähne geputzt hatte.
Er wohnte im Stadtteil Maisinghausen. Vor Zeiten war das ein Dorf gewesen, außerhalb der Riesenstadt. Aber diese Selbstständigkeit lag lange zurück. Städte wachsen nun mal; und sobald die letzte Wiese zwischen Stadt und Dorf mit Beton vollgeklotzt ist, wird eingemeindet, und das Dorf ist ein Stadtteil.
In Maisinghausen freilich überwiegen die Gärten. Die Häuser sind klein. Manchmal riecht es nach Landluft, und die meisten Bewohner kennen ihre Nachbarn so gut wie sich selbst – was aber nicht immer erwünscht ist.
Gaby und Karl stiegen ab, lehnten ihre Tretmühlen an den Zaun und brachten die Kabelschlösser an, denn Vorsicht ist bekanntlich der Feind der Fahrraddiebe.
Lattmanns Häuschen badete im Sonnenlicht. Im Garten wuchsen Obstbäume. Das Unkraut gedieh. Lattmann, der richtigerweise nicht einsah, wieso Unkraut bekämpft wird, hatte es zu nützlichen Pflanzen ernannt. Kein Wunder, dass der Anblick seines naturbelassenen Gartens geradezu prächtig war.
Karl schlenkerte mit der Einkaufstüte.
Gaby nahm den Hausschlüssel aus dem Blumentopf neben der Eingangstür und schloss auf.
»Herr Dr. Lattmann, wir sind’s!«, rief sie die schmale Treppe hinauf.
Picassos Krankenzimmer war im Obergeschoss.
»Schön, dass ihr kommt!«, antwortete er.
Sie stiegen die Holzstufen hinauf. Durch ein kleines Fenster fiel Sonnenlicht in schräger Bahn.
Ziemlich viel Staub lag herum, wie Gaby feststellte. Aber dazu hatte Lattmann sicherlich dieselbe Einstellung wie zum Unkraut.
Sein Atelier, wie er den Raum nannte, befand sich an der Schmalseite des Häuschens. Durch ein Panoramafenster im schrägen Dach drang Tageslicht in überwältigender Fülle herein. Und nicht nur das. Die Bäume schienen hereinzuwachsen.
Weit reichte der Blick wegen der Obstbäume nicht. Aber an einem kränkelnden Apfelbaum hatte Lattmann, bzw. der Friedhofsgärtner – mit dem er befreundet war -, einige Äste ausgelichtet.
Ungewollt ergab sich dadurch ein Durchblick zum Nachbarhaus, was später noch von erheblicher Bedeutung sein sollte.
»Riesig nett, wie ihr euch um mich kümmert!«, strahlte Lattmann. »Gaby, du bist ja wie eine Mutter zu mir.«
»Wenn ich Ihre Mutter wäre«, lachte sie, »müssten Sie sich besser ernähren. Oder haben Sie noch genug im Eisschrank?«
Picasso bestätigte, er habe.
Mit Blick zum Fenster hatte er sich in einen bequemen Sessel niedergelassen. Und das Gipsbein auf einem Hocker ausgestreckt. Krücken und Telefon standen bereit. Neben Lattmanns Sessel stapelten sich Kunstbildbände.
Der Kunsterzieher war schmächtig und unsportlich. Seit seiner Kindheit hatte er keinen Ball mehr angefasst und keine Turnschuhe getragen. Er neigte zu schlechter Haltung und wog nur 64 Kilo bei einer Größe von 188 cm. Kummer bereitete ihm das nicht. Selbst mit dem Schwinden seiner Künstlermähne hatte sich sein sonniges Gemüt abgefunden. Er neigte nämlich zum Haarausfall und die Stirn dehnte sich aus. Da ihm die Haare hinten bis auf die Schultern hingen, bot er einen komischen Anblick.
»Wenn du uns Tee machst, Gaby«, meinte er, »trinken wir alle ein Tässchen.«
»Den Tee brüht Karl«, bestimmte sie. »Ich muss mit Ihnen abrechnen.«
Also stakte Karl in die Küche hinunter – und tröstete sich damit, dass Jungen und Mädchen heutzutage gleichberechtigt sind, also auch die gleichen Pflichten erfüllen dürfen.
Gaby zeigte Lattmann den Kassenzettel, den er gar nicht sehen wollte, weil er vollstes Vertrauen hatte. Doch sie bestand darauf und zählte dann das überschüssige Geld ab.
»Leg’s doch bitte auf den Schreibtisch«, bat er. Im nächsten Moment schrie er: »Nein, nicht auf das Bild.«
Gabys Hand voller Münzen erstarrte in der Luft.
Stirnrunzelnd blickte sie auf ein Blatt im DIN-A4-Format, das auf dem Schreibtisch lag. Jemand hatte es offensichtlich benutzt, um seine Farbpinsel daran abzuwischen. Ein buntes Geschmiere war entstanden.
»Hier ist kein Bild«, sagte sie.
»Aber ja. Das ist sogar ein Original (vom Künstler eigenhändig geschaffenes Werk). Deshalb bitte nichts drauflegen. Es heißt: Während des Urknalls (Entstehung des Weltalls). Ich kenne den Maler persönlich. Detlef Blassmüller ist ein Hiesiger und gibt Anlass zu großen Hoffnungen. Ich bin mit ihm befreundet und stolz darauf. Das Gemälde dort ist auch von ihm.«
Gabys Blick folgte Lattmanns ausgestrecktem Arm.
An der Wand hing ein großes Foto. Es zeigte eine Zirkusnummer, die der Fotograf festgehalten hatte: einen Schimpansen, der auf einer Geige spielte und von fünf kleinen Schimpansen umgeben war. Sie lauschten ihm andächtig.
»Ich sehe kein Gemälde«, sagte Gaby.
»Dort, dort! Der Schimpansen-Menuhin (Menuhin = berühmter Geigenspieler).«
»Das ist doch ein Foto.«
»Eben nicht. Ein Gemälde.«
Gaby trat näher. Jetzt sah sie, dass es sich um Ölfarbe handelte und nicht um Zelluloid.
»Toll! Total naturgetreu.«
»Ja, das kann Blassmüller auch. Er kann so malen und so malen. Ein Genie. Nur zurzeit befindet er sich in einer schwachen Periode. Er hängt gemütsmäßig völlig durch. Eine reine Selbstsuchtsphase.«
»Aha!«, nickte Gaby. »Und wie äußert sich diese Selbstsuchtsphase?«
»Er malt nur sich selbst. Nur Porträts (Brustbilder) von Detlef Blassmüller. An die 50 hat er fertig. Aber er verkauft keine. Sie hängen alle draußen in seinem Haus in Grünauken.«
»In Grünauken? Tim und Willi sind jetzt dort. Bei Gernot Panczek und seinen Eltern. Tim verkauft sein altes Rennrad, weil er seit gestern ein neues hat.«
»Ein neues?«, fragte Lattmann geistesabwesend. Rennräder interessierten ihn überhaupt nicht – höchstens gemalte.
»Ja. Zu den Porträts würde ich gern wissen: Sind die naturgetreu oder in diesem wüsten Kraut-und-Rüben-Stil wie der Urknall?«
Lattmann lächelte. »Naturgetreu. Wie fotografiert. Detlef meint, dass er als Motiv zu unbedeutend sei, um die zerbrochene Form – den Kraut-und-Rüben-Stil, wie du es nennst – anzuwenden. Das behält er sich vor für erhabene Themen.«
»Wie den Urknall?«
»Wie den Urknall«, bestätigte Lattmann.
In diesem Moment gab es einen gewaltigen Knall vor der Tür auf der Treppe.
2. Nette Nachbarn?
Sie hörten, wie Karl fluchte.
Bevor Gaby die Tür erreichte, kam er herein.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Aber als Kellner bin ich letzte Wahl. Eine Tasse und eine Untertasse sind nur noch Scherben.«
»Das macht doch nichts«, rief Lattmann fröhlich, »Scherben bringen Glück. Welche ist es denn?«
»Deutsche Bundesbahn – stand drauf.«
»Schade! Die Tasse stammt aus meiner Studentenzeit.« Gaby nahm Karl das Tablett ab, bevor ein weiteres Unglück passierte.
Vom Geschirr passte nichts zusammen. Die Kanne bestand aus dickwandiger Keramik. Eine Tasse gehörte zum Geschirrbestand des Hotels GOLDENER SCHWAN, die andere war eine Schnabeltasse, die eigentlich nur in Krankenhäusern üblich ist, wo bettlägerigen Patienten Flüssiges damit eingeflößt wird.
»Eine Tasse muss noch unten sein«, sagte Lattmann. »Ich hatte vier. Das weiß ich genau. Mir bitte die Schnabeltasse, Gaby. Die will ich euch nicht zumuten.«
Gaby goss den Tee ein.
Karl lief abermals hinunter und holte die vierte und letzte Tasse, die keinen Henkel mehr hatte.
Er lebt tatsächlich genügsam, dachte Gaby. Auch die Möblierung ist bescheiden. Wie viele Hemden er wohl hat? Aber Kunstbildbände, wohin man sieht. Picasso weiß genau, wofür er sein Gehalt ausgibt.
Lattmann rückte sein Gipsbein zurecht.
»Zweimal gebrochen«, erklärte er. »Der Knochen ist genagelt.«
»Tut es noch weh?«, fragte Gaby.
»Das nicht. Aber wenn der Gips runterkommt, werde ich lange humpeln.«
»Wie war das eigentlich?«, fragte Karl. »Wir hörten, der Täter sei bis heute nicht ermittelt worden.«
»Bis heute nicht«, nickte Lattmann. »Ich stand an der Ecke Bornheimer Straße, als dieser Wahnsinnige anpreschte. Auf seinem Motorrad. Er hat die Kurve nicht geschafft und mich buchstäblich über den Haufen gefahren.«
»Schrecklich!« Gaby nippte an ihrem Tee. Er war sehr bitter. Lattmann hatte keinen Zucker im Haus.
»Ich kann von Glück sagen, dass es nicht schlimmer kam«, erzählte Lattmann. »Ich lag da mit gebrochenem Bein und der Kerl ist weitergerast.«
»Also Fahrerflucht!«, stellte Karl fest.
»Ein Krimineller. Und so sah er auch aus. Das heißt, vom Gesicht und so habe ich nichts gesehen. Auch leider das Nummernschild nicht. Aber seine Aufmachung verriet viel.«
Lattmann blickte zum Fenster hinaus.
Auch Gaby konnte durch den ausgelichteten Baum zu den Nachbarn hinübersehen.
Das Haus dort war etwas größer und moderner.
Eine hohe Hecke grenzte zur Straße hin ab.
Sehen konnte Gaby das nicht. Aber sie wusste es – vom mehrfachen Vorbeifahren.
Eben öffnete sich die Eingangstür. Sie war an der Schmalseite und hatte ein kleines Fenster in Kopfhöhe. Es war in vier Scheiben unterteilt. Über der Tür, im Obergeschoss, gab es ein Fenster. Neben der Tür wuchs eine mannshohe Kentiapalme im großen Terrakottakübel.
Eine junge Frau schob den Kopf ins Freie und blickte zur Straße. Dann schloss sie die Tür wieder.
»Wie war er denn aufgemacht?«, fragte Karl, dem der Tee nicht schmeckte.
Gaby merkte es an den winzigen Schlucken, die er nahm. »Irre!«, murmelte Lattmann. Er schloss die Augen, um das Bild aus der Erinnerung hervorzuholen. »Eine knallrote, schwere Maschine. Knallrot und silbrig. Der Fahrer trug einen weißen Motorradanzug.Vermutlich Leder. Dazu einen schwarzen Sturzhelm. Auf dem war vorn ein weißer Totenkopf aufgemalt. Daran erinnere ich mich genau. Zwar habe ich ihn von vorn nur Sekundenbruchteile gesehen. Aber so was vergisst man nicht.«
Drüben wurde wieder die Tür geöffnet.
Diesmal drängte sich ein kleines, höchstens fünfjähriges Mädchen neben die Frau. Es war allerliebst. So einen Fratz hätte Gaby sich als kleine Schwester gewünscht.
Lattmann bemerkte Gabys Blick.
»Das ist Helga Dröselhoff«, erklärte er unaufgefordert. »Mit ihrem Sabinchen. Die sind erst vor einem halben Jahr dort eingezogen.«
»Nette Nachbarn?«, fragte Gaby. Übermäßig bestimmt nicht, dachte sie im selben Moment. Sonst hätte die Dröselhoff den bewegungslahmen Lattmann ein bisschen versorgt. Mit Einkäufen. Und kochen hätte sie ihm ruhig auch mal was können.
»Sehr nett«, antwortete Lattmann. »Aber die wissen noch gar nicht, dass ich den Unfall hatte. Seitdem haben wir uns nicht gesehen. Und ich möchte nicht, dass Helga auf die Idee kommt, mir jeden Mittag was Warmes rüberzubringen. Ihr Mann ist Konstrukteur. Arbeitet bei WBCB.«
Karl pfiff durch die Zähne. »Das ist eine gute Adresse. WBCB ist weltweit führend im Computer-Bau. Die haben schon im Griff, was andere noch gar nicht denken.«
»Ist das der große Betonbau an der Achenfelder Allee?«, fragte Gaby.
Karl bestätigte und fügte hinzu. »Weißt du, wie Willi WBCB ins Englische übersetzt? World Biggest Computer Building (weltgrößtes Computer-Gebäude). Aber ich bin sicher, es heißt anders.«
Fragend sah er Lattmann an.
Der hob die Achseln. »Eine zu trockene Materie für mich, Karl. Sicherlich ein bedeutender Konzern. Aber ich wette, die haben nicht ein einziges nennenswertes Gemälde in ihrem Hauptquartier.«
»Vielleicht«, lachte Gaby, »wäre das eine Chance für den Blassmüller. Stellen Sie sich vor, der Computer-Konzern kauft alle Selbstporträts, und Blassmüller hängt in jedem Büro, jedem Raum, jeder Kantine. Die Angestellten würden denken, er sei der Big Boss.«
»Ausgerechnet Blassmüller«, lächelte Lattmann.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
3. Tim verkauft sein Rennrad
»Hallo?«, meldete sich der Kunsterzieher.
Über sein mageres Gesicht huschte Verblüffung wie ein Spotlight (Punkt-Scheinwerfer).
»Du, Detlef?«, rief er. »Das ist ja wie Telepathie (Gedankenübertragung). Gerade habe ich von dir gesprochen und deine Bilder gelobt. Du... Was?«
Er lauschte. Jetzt wirkte er bestürzt. »Hm. Ich weiß auch nicht, Detlef, was da zu tun ist. Vielleicht hast du dich getäuscht … der wird doch nicht bei dir eindringen. Das wagt der nicht. Nee! Ja, natürlich, du wohnst einsam. Trotzdem... Du, warte mal! Gaby und Karl wollen mir was sagen. Nein, die kennst du nicht. Das ist quicker Nachwuchs. Moment, Moment!«
Er ließ den Hörer sinken. »Scheint, als braucht Ihr Malgenie Hilfe«, sagte Gaby.
»Vielleicht«, nickte Lattmann. »Da war nämlich Folgendes: Detlef kam dieser Tage hinzu, als ein Mann – der noch dazu behindert ist, nämlich ein steifes Bein hat -, als der zusammengeschlagen wurde. Der Schläger ist abgehauen. Er rief Detlef zu, dass er sich raushalten soll. Aber Detlef hat die Polizei verständigt und sich um den Verletzten gekümmert. Noch am Tatort hat er dann den Täter beschrieben. Das muss der beobachtet haben. Am nächsten Tag rief er an. Er bedrohte Detlef. Der werde demnächst was erleben.«
Lattmann fröstelte. Sein Unfall schien ihm einzufallen – und die damit verbundene, knochenbrechende Gewalt. Er fröstelte abermals und strich über die Gipshülle.
»Und?«, fragte Gaby. »Was ist jetzt?«
»Ach so. Jetzt schleicht der Kerl bei Detlef rum. Sein Haus steht am Waldrand. Er hat den Schlägertypen unter den Bäumen entdeckt.«
Gaby und Karl tauschten einen Blick. Sie hatten die gleiche Idee.
»Wir versuchen, Tim zu erreichen«, sagte Karl. »Er ist in Grünauken. Und kann schneller bei dem Kunstmaler sein als die Polizei.«
Lattmann nahm den Hörer ans Ohr. »Hast du mitgehört, Detlef? Gut! Ja, so machen wir’s. Wer dieser Tim ist? Ein Schüler natürlich. Ein Abiturient? Nein, Tim ist noch keine 15. Er... Was? Ob ich blöd bin, dir einen Dreikäsehoch zu schicken. Du wirst dich wundern. Tim sieht aus wie 17 und hat meines Wissens noch keine Saalschlacht verloren. Auch noch keine Straßenschlacht. Er ist der Anführer der TKKG-Bande, falls du von der schon gehört hast. So, ich lege jetzt auf. Und du riegelst dich ein. Bis später.«
Karl hatte bereits das ziegelsteindicke Telefonbuch in der Hand.
Grünauken gehört zum Telefonnetz der Großstadt, ist ein südöstlicher Vorort – aber so weit von der Innenstadt entfernt, dass die U-Bahn eine Dreiviertelstunde braucht. Grünauken ist Endstation.
»Panczek, Gustav«, las Karl vor, »Wiesrain 31. Müsste es sein, wie? Jedenfalls ist kein anderer Panczek vorhanden. Also, Gaby … 5 50 44 74.«
Mit zartem Zeigefinger, dem linken, tippte sie auf die Wähltasten.
Dass sie dieses Gespräch führte, war selbstverständlich. Denn wer kann Tim schneller auf Trab bringen als seine Freundin?
Gustav Panczek war Abteilungsleiter bei der Stadtverwaltung, also ein viel beschäftigter Beamter, den nachts Albträume heimsuchten, dergestalt, dass Berge unerledigter Akten ihn erdrückten.
Er befand sich, da heute ein normaler Wochentag anlag, nicht zu Hause. Stattdessen hatte sich Clothilde Panczek, Gernots Mutter, von Tim überzeugen lassen, das Rennrad sei weit mehr als 300 Mark wert – unter Brüdern. Aber einem Klassenkameraden überlasse er, Tim, diesen einwandfreien Flitzer für runde 200.
»Ehrlich, Frau Panczek«, sagte Klößchen soeben, »das ist das Geschäft Ihres Lebens. Tim kehrt die Selbstlosigkeit raus, dass es mir als künftigem Fabrikanten und Großkaufmann auf dem Sektor Süßwaren graust. Er verschenkt sein prächtiges Rennross, an dem kein Rostfleckchen ist. Nicht mal Staub. Außerdem hat das Rad die wildesten Abenteuer mitgemacht – und überstanden.«
»Schon gut, Willi!«, sagte Tim.
Clothilde lächelte.
Gernots Augen leuchteten.
Für Tims Rennrad hätte er mehr gegeben als ein Rock’n’-Roll-Fan für die Lauseharke, mit der Elvis nachweislich seine Schmalztolle onduliert hat.
Sie saßen im Wohnzimmer des Hauses Panczek.
Tim hatte sofort erfasst, wie es hier zuging.
Die Teppichfransen lagen nebeneinander wie aufgereihte Streichhölzer. Man wagte kaum, sich mit einer schon getragenen Hose auf die Sessel zu setzen.
Gernots Mutter war blond und sehr nett, würde aber nie erlauben, dass jemand mit verschmutzten Schuhen ihr Haus betrat.
»200 Mark«, sagte sie, »sind wirklich nicht viel – für ein so teures Rennrad. Aber ist denn Luft in den Reifen?«
»Mutter!«, sagte Gernot.
»Ich meine doch nur. Bei Autohändlern ist das eine beliebte Unsitte, sagt Vater immer. Sie stellen einem den verkauften Wagen vor die Haustür und im Tank ist kein Benzin.«
»Die Reifen sind wohlgefüllt«, sagte Tim.
Klößchen grinste. Ein Mundwinkel war dunkelbraun. Er kaute Schokolade, war aber mit dem letzten Stück – zu seinem Leidwesen – fast fertig.
Clothilde stand auf, ging zu einem Eckschrank, den sie aufschloss. Einem Fach entnahm sie einen Schlüssel. Der passte zu einem nachgebauten Biedermeier-Sekretär. In einer Schublade befand sich eine Geldkassette. Der Schlüssel dazu lag in einem Geheimfach, das verspielte Tischler in manche Sekretäre einbauen. Es ist so angebracht, dass ernsthafte Diebe sofort darauf stoßen.
Sie schloss die Kassette auf, nahm ein Bündel 20-Mark-Scheine heraus und zählte zehn ab. Sie zählte noch zweimal durch, bevor sie Tim das Geld gab.
»Bitte, zähl nach, Tim!«
»Nicht nötig, Frau Panczek.«
Feierlich überreichte er Gernot den Schlüssel für das Speichensteckschloss. Und den Fahrradpass, in den die Drahtesel-Daten eingetragen waren.
»Du kannst dich damit in die Kurve legen, Gernot – sooo«, er zeigte einen 40-Gradwinkel an. »Bei feuchtem Wetter manchmal leichtes Übersteuern. Aber das Hinterrad wedelt nicht. Und minimaler Luftverbrauch auf 100 Kilometer.«
Klößchen gab einen knirschenden Laut von sich. Er unterdrückte stummes Gelächter.
Auch Gernot hielt seine Heiterkeit unter Verschluss, weshalb sein Gesicht scharlachrot anlief.
»Mann!«, rief er. »Jetzt zische ich nur noch auf Reifen los. Keinen Schritt mehr zu Fuß.«
Viermal hatte in der Diele das Telefon geklingelt.
Ist Frau Panczek schwerhörig, überlegte Tim, oder nicht zu Hause?
Sie lächelte mild.
»Wenn es nach dem fünften Läuten aufhört«, erklärte sie, »ist es mein Mann. Das Signal bedeutet, dass er heute mindestens eine Stunde später aus dem Amt kommt. Auf diese Weise verständigen wir uns, ohne dass Telefonkosten entstehen. Denn die gingen ja in diesem Fall zu Lasten des Steuerzahlers, weil mein Mann sein Diensttelefon benutzt.«
»Vorbildliches Verantwortungsbewusstsein!«, sagte Tim. »Aber das war jetzt das siebte Läuten.«
»Prima, Vater kommt pünktlich«, sagte Gernot. »Er wird staunen über mein Rad.«
Seine Mutter war in der Diele und meldete sich.
»Ist für dich, Tim«, rief sie.
Nur Gaby und Karl wissen, dass wir hier sind, dachte er – und nahm den Hörer.
»Ja?«
»Tim«, sagte Gaby, »die Adresse ist Grünauken, Waldsaumweg 1. Dort wohnt der Kunstmaler Detlef Blassmüller. Der ist mit Dr. Lattmann befreundet und...«
»Weiß ich«, unterbrach er sie. »Hat Picasso mir erzählt. Blassmüller hat zurzeit seine bescheuerte Periode und malt nichts als sich selbst.«
»Er braucht Hilfe, möglicherweise. Ein Schlägertyp schleicht bei ihm rum. Denn eben...«
Sie berichtete rasch.
Tim sagte: »Bin schon unterwegs. Wenn was ist, rufen wir an. Wenn nichts ist, ruft Blassmüller an. Bis später, Pfote.«
Überhasteter Abschied. Dann stürmten er und Klößchen hinaus.
Der wusste noch nichts, nur dass es irgendwo brannte.
Tims neues Rennrad glich dem alten äußerlich aufs Haar. Für einen Moment musste er überlegen, um nicht aufs falsche zu springen.
Er war der bewährten Marke treu geblieben, machte sich aber den technischen Fortschritt zunutze. Der neue Renner war noch leichter, noch stabiler, noch schneller.
Freilich hatte er den Sattel noch nicht eingeritten, was auf Holperstrecken hart war.
»Zum Waldsaumweg«, sagte Tim, während sie abfuhren. Er erklärte, worum es ging. Dann machten sie Tempo.
»Vielleicht hat Blassmüller Halluzis (Halluzinationen = Sinnestäuschungen)«, schrie Klößchen ihm nach, denn er war bereits um 30 – jetzt 40 – Meter zurückgefallen. »Manche Maler sehen Gespenster, wo gar keine sind. Und du beeilst dich umsonst.«
»Immer mir nach!«, rief Tim und legte noch einen Zahn zu.
4. Das Foto im Klo
Ludwig Dröselhoff, Konstrukteur bei WBCB und Lattmanns Nachbar, spürte, wie Furcht in ihm aufstieg.
Sein Foto fehlte.
O ja, es fehlte.
Mittags war er im werkeigenen Ruheraum gewesen, um nach dem Kantinenmenü ein Zehn-Minuten-Nickerchen runterzupofen.
Da hatte er gesehen: Sein Foto hing nicht mehr an der Bildtafel.
Natürlich merkte das niemand außer ihm.
Das Foto zeigte nur ihn: Ludwig Dröselhoff, 36 Jahre, 181 cm – eigentlich nur 180,01 cm; aber da kann man ja mogeln -, mittelblond, mit höhensonnebraunem Gesicht und dem nach innen gekehrten Blick des technischen Tüftlers.
Er war eitel genug, sein Foto täglich mit einem Blick zu streifen.
Jetzt fühlte er sich beunruhigt, alarmiert, Angst war im Verzug.
Etwa 40 Fotos waren auf der Bildtafel mit Reißzwecken befestigt. Sie zeigten leitende Angestellte, gewichtige Führungskräfte von WBCB, dem weltbeherrschenden Computer-Hersteller.
Während des WBCB-Sommerfestes hatte ein Fotograf die Bilder geschossen. Und hier Muster zur Ansicht aufgehängt, wo sie nun immer noch hingen. Weil sich keiner dafür verantwortlich fühlte – außer dem Fotografen. Aber der hatte seinen Auftrag längst erledigt. Was danach war, interessierte ihn einen Dreck.
Dröselhoff schlurfte zweimal an der Bildtafel vorbei, holte dann eine Flasche Bier aus dem Automaten und spürte, wie sich seine gebräunte Haut verspannte.
Sofort – es konnte nicht anders sein – bewegten sich seine Gedanken in eine bestimmte Richtung.
Rödermeyer! Ottmar-Jürgen Rödermeyer! Ging der diesmal aufs Ganze?
Argwöhnisch sah Ludwig sich um.
Nur eine ältliche Chefsekretärin war anwesend. Zum Entspannen hatte sie sich auf einer Liege ausgestreckt. Natürlich schlief sie sofort ein und jetzt gurgelten Schnarchlaute aus dem halb geöffneten Mund.
Ludwig nahm sein Bier – und allen Mut zusammen. Eilig tigerte er in sein Büro zurück.
Rödermeyer! 44 Jahre hatte der auf dem Speckbuckel. Er war Junggeselle, Golfspieler und – Chefingenieur.
Nach außen hin verkörperte er ein beneidenswertes Dasein, denn an Freundinnen fehlte es ihm nicht.
Aber Ludwig hatte den Typ in der Hand. Wie eine gefangene Fliege hielt er ihn in der geschlossenen Faust.
Und die Erpressung ging jetzt bereits in den vierten Monat. Von seinem Gehalt – und das konnte sich sehen lassen – musste Rödermeyer ein volles Drittel bei Ludwig Dröselhoff abliefern. Heimlich selbstverständlich.
Einem Zufall verdankte Ludwig dieses Zubrot.
Denn zufällig hatte er beobachtet, wie Rödermeyer sich mit Jacques Perrigon, genannt Chippy – was von Chip (Halbleiterplättchen in der Mikroelektronik) abgeleitet war -, wie Rödermeyer sich mit Perrigon traf.
Das Vertrackte daran war, dass es sich bei dem Franzosen Perrigon um den Chefkonstrukteur von Ashburn-Centre, Computer-Bau, handelte – dem zweitgrößten Konzern und schärfsten Konkurrenten von WBCB.
Rödermeyer hatte Chippy geheime Pläne ausgehändigt.
Dröselhoff, der fast immer seine winzige Pocketkamera bei sich trug, hielt die Szene fest.
Ein lupenreiner Fall von Verrat im Zuge der Industriespionage.
Anfangs war Ludwig empört gewesen. Entlarven wollte er den miesen Typ – ihn an allerhöchster Konzernstelle zum Abschuss freigeben. Aber dann meldete sich plötzlich die Versuchung in Ludwigs Gemüt. Der Teufel Geldgier flüsterte ihm einen Plan ein; und statt den Verrat aufzudecken, wurde Ludwig zum Erpresser.
Rödermeyer, dem Golfspieler, blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen.
Anfangs schwitzte er blutigen Angstschweiß. Aber dann fing er seine galoppierenden Nerven wieder ein und nahm die Sache nicht ohne Gegenwehr hin.
Am Freitagabend vor vier Wochen hatte ein Muskelmann auf Ludwig Dröselhoff im Parkhaus gelauert. Nur ganz knapp war Ludwig entkommen.
Rödermeyer bestritt zwar, dass er damit was zu tun habe. Und der Vorfall wiederholte sich nicht, aber Dröselhoff war auf der Hut.
Von den Fotos, die Rödermeyer und Perrigon zeigten, besaß er mehrere Abzüge. Einige verwahrte er zu Hause, einige an einem geheimen Ort, einige in der Brieftasche.
15.30 Uhr. Dienstschluss.
Wegen gleitender Arbeitszeit war das möglich. Jedenfalls für Ludwig. Für Rödermeyer sowieso.
Im Allgemeinen blieb Ludwig zwar länger. Immer so, dass alle es sahen, denn er war der geborene Streber.
Aber heute hastete er mit hängender Zunge zum Parkplatz. Es war warm. Ein milder Spätsommertag. In langen Reihen warteten die Wagen der WBCB-Angestellten.
Ludwig fand seinen Renault, glitt hinters Lenkrad und machte sich klein.
Er wartete. Durch die Scheiben von fünf Fahrzeugen konnte er Rödermeyers Mercedes sehen.
Da! Jetzt kam der Chefkonstrukteur. Er trug immer teure Anzüge und hatte mindestens 40 Seidenkrawatten. Auf seiner Brille spiegelte sich Sonnenlicht.
Er schloss den Mercedes auf, warf den Aktenkoffer auf den Rücksitz und stieg ein.
Ludwig sah, wie er sich eine schlanke Zigarre anzündete und am Rückspiegel fummelte. Dann fuhr er ab.
Ludwig folgte ihm in die Innenstadt, hielt Abstand, ließ immer drei oder vier Wagen zwischen sich und dem Mercedes, hatte keine Mühe dabei und kam zu dem Schluss, dass Spione und Geheimagenten ein faules Leben haben.
Rödermeyer parkte vor dem Hauptbahnhof.
Ludwig musste aufrücken, als der Chefingenieur ins Untergeschoss eilte.
Tosender Lärm erfüllte den Hauptbahnhof. Reisende eilten, Penner lungerten, Taschendiebe spähten, Gastarbeiter schwatzten.
Ludwig sah gerade noch, wie Rödermeyer in der Herrentoilette verschwand.
Aha!, dachte er. Jeder muss müssen. Aber das könnte er auch woanders. Der Grund für sein Herkommen ist das nicht. Trifft er hier wen? Logo! Und zwar einen neuen Muskelmann, nachdem der alte versagt hat. Und der neue soll mich durch die Mangel drehen, damit ich aufgebe.
Vorsichtig schob er die Tür auf. Spaltweit nur – aus Sorge, Rödermeyer und sein Schläger könnten ihn bemerken.
Er erwischte den richtigen Moment.
Eben verzog sich der Chefingenieur in die fünfte, nein, sechste Klokabine. Schnapp! riegelte er sich ein.
Zu zweit sind sie dort nicht, dachte Ludwig. Also kein Treffen, sondern …
»Darf ich mal vorbei?«, fragte jemand hinter ihm.
Ein dicker Typ hatte es eilig, öffnete bereits den Gürtel und hatte einen gequälten Ausdruck auf dem Teiggesicht.
Ludwig ließ ihn vorbei, lief zu Kabine fünf und riegelte sich ein.
Rödermeyer neben ihm betätigte bereits die Spülung und schob ab.
Toter Briefkasten im WC, dachte Ludwig. Ahnte ich’s doch.
Er hinterlässt dort eine Nachricht. Das bedeutet, er trifft seinen Muskelmann-Schlägertyp nicht, unterhält keinen direkten Kontakt zu ihm, kennt ihn vielleicht gar nicht persönlich – was er wegen seiner Position tunlichst vermeiden sollte -, hat also nur telefonisch den Auftrag abgesprochen: Worum es geht und die Höhe der Entlohnung.
Ludwig schlüpfte in Kabine sechs, die sauberer war als die erste, und brauchte nicht lange zu suchen.
Als einziges Versteck bot sich der Spülkasten an.
Der Briefumschlag steckte dahinter.
Ludwig riss ihn auf.
Als er sein Foto in der Hand hielt, überlief es ihn kalt.
Außerdem enthielt der Umschlag ein Bündel Hunderter – zehn insgesamt.
Auf der Rückseite des Fotos war in Druckbuchstaben Ludwigs Adresse vermerkt.
»Verdammt!«, murmelte er. »Hund, verfluchter! Na, warte!«
»Was ist?«, fragte jemand aus Kabine sieben.
»Nichts. Ich … äh... führe ein Selbstgespräch. Hab an meinen Chef gedacht.«
»Jaja«, kam die Antwort. »Diese Gedanken verfolgen einen. Sogar bis hierher.«
Ludwig rannte in die Halle hinauf.
In einem Schreibwarenladen kaufte er eine 50er-Packung Briefumschläge. Er brauchte nur einen. Aber der Verkäufer lehnte es ab, deshalb eine Packung anzubrechen.
Ludwig suchte sich eine ruhige Ecke – gleich hinter dem Milchmix-Ausschank, wo nur ein altes Mütterchen einen Bananen-Drink zuzelte.
Er nahm eins der von ihm geknipsten Rödermeyer-Fotos aus der Brieftasche und knickte es in der Mitte.
Die rechte Hälfte, die den Franzosen Perrigon zeigte, trennte er ab. Auf die Rückseite der anderen Hälfte schrieb er Rödermeyers Adresse.
Er schob Foto und Geld ins Kuvert und brachte es in das Versteck zurück.
Ich kann davon ausgehen, dachte er, dass der Schlägertyp auch Rödermeyer noch nie gesehen hat. Sonst wäre diese Art der Abwicklung nicht nötig. Wenn ich recht habe – hahah! -, wird Rödermeyer sich wundern.
5. Ein blonder Gorilla
Der Waldsaumweg führte am Waldsaum entlang. Vermutlich hatte er daher seinen Namen.
Der Wald lag außerhalb von Grünauken.
Über den Lenker seines neuen Rennrades gebeugt, preschte Tim über die unbefestigte Straße. Bei Regen war das sicherlich eine Schlammpampa. Aber geregnet hatte es seit Ende Juli nicht mehr. Das Gras auf der großen Kuhweide zu seiner Rechten war schon mehr gelb als grün; und die Kühe kauten so langsam, als wäre ihnen übel von den knacktrocknen Halmen.
Beim Wasserwagen, an dessen Saufvorrichtung mit Klappe sich die Rindviecher selbst bedienen konnten, herrschte Gedränge. Die Kühe standen sozusagen Schlange.
Tim blickte über die Schulter zurück.
Erst jetzt bog Klößchen von der Grünaukener Dorfstraße ab, nahm die sandige Strecke unter die Reifen und ließ sich Zeit.
Tim erreichte den Waldsaumweg.
Blassmüllers Adresse gab keine Rätsel auf.
Hier stand nur ein einziges Gebäude: ein flacher, ziemlich großer Bau – halb Bungalow, halb Baracke.
Auf der Ostseite hatte es große Fenster. Blassmüller brauchte Licht, wenn er seine Porträts malte.
Der Garten hatte keinen Zaun, denn es gab ja keinen Nachbarn, gegen den man sich verteidigen musste.
Ein Feld von Nachtschattengewächsen wogte im Sommerwind. Lila, blassrot und weiß waren die Blüten. Riesige Sonnenblumen standen in einer Reihe.
Beim Haus rührte sich nichts.
Tim sprang vom Rad, lehnte es an einen Pfosten und sah sich um.
Weit und breit keine Menschenseele. Nur Schmetterlinge flatterten umher. Kühe hatten sich träge auf die Weide gestreckt. Bienen summten über den Blüten.
Er lief zur Tür.
Nach einer Klingel sah er sich vergeblich um. Aber ein kupferner Löwenkopf, dem ein beweglicher Ring aus dem Rachen hing, war am Eingang angebracht. Mit dem Ring konnte man ans Holz hämmern.
Tim hämmerte vernehmlich.
Es dauerte eine Weile, bis hinter der Tür sich etwas rührte.
»Ja? Wer ist da?«, fragte eine Männerstimme.
»Peter Carsten. Tim genannt. Dr. Lattmann hat mich angekündigt wegen der verdächtigen Person, die hier rumschleicht. Aber ich sehe niemanden. Ist der Kerl weg?«
»Moment.«
Detlef Blassmüller öffnete.
Den habe ich mir anders vorgestellt, dachte Tim. Sieht aus, als könnte er sich selbst seiner Haut wehren. Aber weiß man’s? Ist ja oft so, dass in den klotzigsten Brocken ein Hasenherz schlägt.
Der Kunstmaler war nicht viel über mittelgroß, aber gebaut wie ein Freistilringer. Er trug ein knapp sitzendes Polohemd und abgewetzte Cordjeans. Auf dem starken Hals saß ein runder Schädel mit kleinen Augen. Das flachsblonde Haar war höchstens sechs Millimeter lang, aber dicht wie ein Kaninchenpelz.
Beim Lächeln zeigte er vier oder fünf Goldkronen.
»Tag, Tim.«
»Tag, Herr Blassmüller. Alles in Ordnung?«
»In bester Ordnung.«
»Aber es war der Typ, der Sie bedroht hat?«
»Ich bin sicher, er war’s. Aber er hat sich im Wald verkrümelt.«
Tim drehte den Kopf zur Seite. Über das Nachtschattenfeld konnte er in den Wald sehen. Die Sonne zeichnete ein schräges Gitter zwischen die Fichten. Sie sahen noch leidlich gesund aus. Aber wie es tatsächlich um sie stand, erkannte nur der Fachmann. Wie allerorten griff auch hier das Waldsterben um sich.
»Wollen Sie die Polizei verständigen, falls er zurückkommt?«
»Das wird wohl nicht nötig sein«, meinte Blassmüller.
Tim hörte Klößchen.
Sein dicker Freund keuchte, hielt, stellte sein Rad ab und stolperte heran. Er grüßte und machte sich bekannt.
»War falscher Alarm«, sagte Tim. »Wir können wieder abrauschen.«
»Puh!«, meinte Klößchen. »Mir klebt die Zunge am Gaumensegel. Oder wie sagt man? So ein Durst! So ein Durst!«
Blassmüller zögerte ziemlich lange. Gastfreundschaft war offenbar nicht sein Bier.
»Wenn du ein Glas Wasser willst?«, meinte er schließlich ohne Herzlichkeit.
»Das wäre die Rettung«, rief Klößchen, »kalter Kakao zwar noch besser, aber wer hat den schon! Will ich also nicht unbescheiden sein.«
»Außerdem habe ich versprochen, Gaby anzurufen«, sagte Tim. »Kann ich mal Ihr Telefon benutzen, Herr Blassmüller?«
»Gern.«
Er ging voran.
In der Eingangsdiele hingen sieben oder acht Gemälde.
Die Selbstporträts!, dachte Tim.
Die Selbstporträts?
»Dort ist die Küche«, sagte Blassmüller. »Nimm dir ein Glas, Willi.«
Durch eine offene Tür konnte man in ein großes Atelier sehen, wo Staffeleien aufgestellt waren und ein Halbdutzend unfertiger Selbstporträts herumstanden.
Das Telefon stand im Wohnraum. Der war mit alten Polstermöbeln ausgestopft wie eine Weihnachtsgans mit Äpfeln.
Blassmüller marschierte zum weit geöffneten Fenster. »Besser, ich schließe das, wie?« Er lachte.
Klößchen kam mit einem großen Glas aus der Küche. Er hatte das Wasser ablaufen lassen, bis es kühl wurde. Das Glas beschlug, das Wasser perlte, als wäre es mit Kohlensäure versetzt. Klößchen schlürfte geräuschvoll.
Falls ich mich irre, dachte Tim, werde ich mich mit meiner Entschuldigung schwertun.
Ein gepolsteter Lederhocker stand im Weg.
Tim hob ihn hoch, trat hinter Blassmüller und schlug ihm das Sitzmöbel über den Schädel.
»Ähhhhh...«, ächzte der Kerl.
Ihm knickten die Knie ein. Aber er war wie aus Eisen. Er wollte sich umdrehen. Tim musste die Kopfnuss wiederholen.
Der Getroffene grunzte. Vor dem Fenster streckte er sich der Länge nach aus. Mit verdrehten Augen und Atmung auf Sparflamme.
Klirrend zerschellte Klößchens Glas auf dem Boden.
»Tim!«, schrie er. »Bist du... bist du... Was...« Er stotterte, hatte vor Schreck runde Augen und geblähte Nüstern.
Tim stellte den Hocker ab.
»Wir brauchen was, womit wir ihn fesseln können, Willi. Schnell!«
Er rannte an seinem dicken Freund vorbei in die Diele. Von dort ins Atelier.
»Du solltest dem Maler helfen«, quäkte Klößchen, »nicht ihn... ihn k.o. schlagen. Was ist los?«
Im Atelier sah Tim sich um.
Hier gab es Malutensilien wie Flach-, Haar-, Rund- und Grundierpinsel, Tuben mit Ölfarbe zuhauf, Firnis, ein Palettenmesser, Malspachtel und Keilrahmen. Malleinen – noch ohne Rahmen – war gestapelt. Neben den Atelierstaffeleien stand eine Feldstaffelei.
Aber er sah kein Stück Strippe, keinen Bindfaden, kein Seil, keinen Riemen.
»Begreifst du denn nicht?«, sagte Tim. »Das ist nicht Blassmüller, sondern der Schlägertyp. Der hat nur gleich gecheckt, dass ich den Maler nicht kenne, und mit uns sein Spielchen versucht, weil er Minderjährige nicht für voll nimmt. Klar?«
Klößchen kam herein und ließ immer noch den Mund offen.
»Aber wieso denn? Du kennst doch beide nicht.«
»Gib mal das Beil, das da liegt. Hinter dir! Auf der Kiste. Ich muss mich bewaffnen.«
Klößchen, der davor stand, aber Verwirrung im Blick hatte, fand das Beil nicht sofort. Tim musste sich selbst bemühen.
»Du hast recht«, erklärte er. »Ich kenne weder Blassmüller noch den Schläger. Aber von dem Maler weiß ich, dass er zurzeit nur Selbstporträts malt. Sie hängen überall. Da! Da! Da! Da! Na, ist das vielleicht der blonde Gorilla?«
Klößchen glotzte die Bilder an.
Sie zeigten einen hageren, finster blickenden, dämonischen Wuschelkopf, in dessen nachtschwarzem Kräuselbart für 100 Motten Platz war.
»Hab mich schon gewundert«, murmelte Klößchen. »Dachte, so viele Verwandte kann der doch nicht haben. Zumal die sich alle so ähnlich sind.«
»Das ist Blassmüller. Immer wieder Blassmüller. Und jetzt wollen wir den Gorilla mal fragen, was er mit Meister Klecksel gemacht hat.«
Tim lief zum Wohnraum, packte das Beil fest am Stiel und war überzeugt, dass es als Drohung genügte.
Auf der Schwelle stoppte er.
Scheibenkleister!, dachte er ärgerlich.
Klößchen stolperte hinter ihm her, bremste zu spät und stieß ihn ins Kreuz.
Der Gorilla war verschwunden.
Bevor ihn die erste Kopfnuss traf, hatte er einen Fensterflügel geschlossen. Jetzt war auch der weit geöffnet, als hätte der Typ viel Platz gebraucht bei seiner Flucht. Die Geranien im Blumenkasten waren abgeknickt, teilweise. Durch das Nachtschattenfeld, das auch an der Rückfront wuchs, führte ein getrampelter Pfad bis unter die Bäume.
Tim beugte sich hinaus. »Er ist nicht mehr zu sehen«, berichtete er. »Muss der einen harten Schädel haben! Natürlich habe ich nur mit halber Kraft hingelangt. Ich wollte ja nicht seine graue Masse aus der Bahn werfen oder ihn auf Spätschäden programmieren. Wie bei Nante, dem Stehauf-Tiger. Nach 101 Niederschlägen in seiner langen Boxerlaufbahn hatte er zum Schluss das Buchstabieren verlernt.«
»Vielleicht hätte er beim 99. Niederschlag aufhören sollen«, grinste Klößchen. »Wo ist denn nun Blassmüller?«
Sie fanden ihn im Keller.
Er war gefesselt und geknebelt, hatte einen Liter Angstschweiß verloren und nicht nur mit seiner schwachen, selbstsüchtigen Periode abgeschlossen, sondern auch mit dem Leben.
Auf Tim und Klößchen gestützt, schleppte er sich die Kellertreppe hinauf. Im Wohnraum sank er aufs Sofa. Mit schwacher Stimme verlangte er Wein. Klößchen fand zwei Flaschen in der Küche. Den weißen lehnte Blassmüller ab. Wegen der nichtssagenden, ausdruckslosen Farbe – wie er schwer atmend begründete. Der rote, der wie Kirschsaft aussah, beglückte sein Malerauge und tat seinem Kreislauf gut.
Bei einem Maler läuft alles übers Auge, dachte Tim. Das muss man sich merken. Ein Komponist (Tondichter) schließt vermutlich die Augen und hört sich an, wie der Wein ins Glas gluckert, bevor er sich entscheidet.
»Es war zu dumm von mir«, berichtete Blassmüller. »Als ich telefonierte, habe ich die Fensterflügel zugeschoben, aber vergessen, den Griff einzurasten. Bin dann in die Küche gelaufen, um mein Beil zu holen. Aber ich fand’s nicht und fand’s nicht. Schon dachte ich, es liege vielleicht noch auf dem Nachttisch. Da war der Kerl hinter mir. Er ist durchs Fenster eingestiegen. Niedergeboxt hat er mich, gefesselt, getreten. Und in den Keller geschleift. Ich sollte einen Denkzettel kriegen – dafür, dass ich ihn bei der Polizei angeschwärzt habe. Dieser Verrückte! Als wäre das was Persönliches. Ich habe lediglich seine Personenbeschreibung geliefert. Aber für so einen Wahnsinnigen ist das offenbar Grund genug, sich zu rächen. Offenbar wusste er noch nicht, wie der Denkzettel aussehen soll. Auf und ab gelaufen ist er. Hat immer gemurmelt: Was mache ich mit ihm? Was mache ich mit ihm?«
»Das hätte er sich vorher überlegen sollen, der Trollkopf«, meinte Klößchen. »Dann hätte er nicht so viel Zeit verloren, und Sie wären... ach so! Was für ein Glück, dass der Gorilla so fantasiearm im Kopf ist. Denn vor dem Denkzettel hat’s ja geklingelt – an der Tür, meine ich – und das waren wir.«
»Wofür ich euch unendlich dankbar bin«, nickte Blassmüller. »Was ist denn gewesen?«
Tim berichtete.
»Also nicht auf dem Nachttisch«, murmelte Blassmüller. »Im Atelier war das Beil. Ich werde mir ein zweites kaufen, das dann immer auf dem Nachttisch liegt. Als Waffe. Wenn man so einsam wohnt, fühlt man sich nachts nicht sicher.«
Er schenkte sich noch einen Schluck Wein ein und sein dämonischer Blick wurde milder.
»Jetzt weiß ich«, rief er, »wie ich euch danken kann. Ich werde euch malen.«
»Das können wir nicht annehmen«, meinte Tim. »Denn zwei Gemälde – von Willi und von mir – wären wirklich zu viel für unsere selbstverständliche Hilfe. Auf ein Bild passen wir nicht – wegen Willis Übergewicht. Und deshalb hätte ich einen anderen Vorschlag als Bitte. Dein Einverständnis vorausgesetzt, Willi.«
»Lass hören!«, meinte Klößchen.
»Wir wünschen uns ein Gemälde von Gaby – und hängen es im Adlernest auf. Eventuell über meinem Bett. Aber ansehen kannst du’s ja genauso wie ich. Gaby«, wandte er sich erklärend an Blassmüller, »ist meine Freundin – und wirklich irrsinnig hübsch.«
»Es soll mir ein Vergnügen sein«, lächelte Blassmüller, »die junge Dame zu porträtieren. Aber jetzt müssen wir die Polizei anrufen, wie?«
»Kommissar Glockner«, nickte Tim. »Er ist Gabys Vater.«
6. Rödermeyers Gesicht
Entgegen seiner Gewohnheit fuhr Ludwig Dröselhoff nicht nach Hause.
In einem Café trank er zwei Portionen Kaffee. Er aß Apfeltorte mit Sahne, starrte durchs Fenster auf die Straße hinaus und fragte sich, wie der Schläger wohl aussehe.
Nach etwa einer Stunde fuhr er wieder zum Bahnhof, suchte die Herrentoilette auf und sah nach in Kabine sechs.
Der Briefumschlag war noch da.
Ludwig rief zu Hause an. Seine Frau meldete sich.
»Helga, ich muss heute etwas länger bleiben. Habe noch zu tun. Mach dir keine Sorgen. Hast du den Fleck aus dem Teppich rausgekriegt? Oder müssen wir einen neuen kaufen?«
»Der Fleck ist fast raus. Ich glaube, es geht so. Hätte nie gedacht, dass Tomatensoße so festsitzt.«
»Gib Sabine ein Bussi. Bis später.«
Im Bahnhofskino sah er sich einen Western an. Es war der letzte Schwachsinn.
Gegen 19.30 Uhr stieg er im Hauptbahnhof wieder die Stufen zur Herrentoilette hinab.
Ein Typ von etwa 19 Jahren kam ihm entgegen. Er war bekleidet mit schwarzem Leder und Stahlnieten. Er hatte Schlägermanschetten an den Handgelenken und eine nachpubertäre Akne (Pickelkrankheit) im Gesicht.
Ludwig wurde von ihm angerempelt, erschrak, sagte aber nichts, ballte nur die Faust in der Tasche und strebte treppab.
An der Toilettentür stieß er mit einem vierschrötigen Burschen zusammen, der einen runden Schädel und kleine Blinzelaugen hatte. Die Frisur war ein mausefellkurzer Stoppelschnitt, blond. Der Typ hielt den Kopf etwas schief, als schmerze sein Genick, und bewegte sich schwerfällig.
Er drängte sich an Ludwig vorbei, ohne ihn anzusehen.
In der Herrentoilette roch es beißend nach Desinfektionsmitteln.
Ein Penner stützte sich an die Wand. Es war einer der Typen, die ständig vor dem Bahnhof herumlungern und mit Leichenbittermiene schmalmachen (betteln).
Noch ein Betrunkener, dachte Ludwig. War hier’ne Party?
Die Tür von Kabine sechs lehnte am Rahmen.
Er machte sich nicht die Mühe, dachte Ludwig, hinter sich abzuriegeln, sah nur rasch ins Versteck.
Der Umschlag war weg.
Für einen Moment stellten sich seine Nackenhaare auf.
Jetzt waren die Würfel gefallen. Wie ging es weiter?
Er fuhr nach Hause.
Helga hatte Sabinchen schon ins Bett gebracht. Auf Maisinghausen senkte sich ein warmer Sommerabend. Die Gärten dufteten nach voller Frucht und Blüten. Verhältnismäßig wenig Mücken schwirrten und überall in diesem Viertel saßen die Leute auf Balkon oder Terrasse. Die ersten Windlichter wurden angezündet, als die Dämmerung anbrach. Hier und dort klirrten Bierflaschen. Nur bei Dr. Lattmann drüben, wie die Dröselhoffs sahen, war keine Freiluftveranstaltung, sondern lediglich Licht hinter seinem Fenster im Obergeschoss.
»Er ist eben ein Stubenhocker«, sagte Helga.
»Ein Steißtrommler«, stellte Dröselhoff fest – was auch immer er damit meinte.
Kein Wort von den Vorfällen erzählte er seiner Frau. Auch von der Erpressung ahnte sie nichts. Rödermeyers Geld hatte er in einem Bankschließfach versteckt. Er wusste nicht, wie Helga reagieren würde. Sie war kein Tugendschaf und schubste ihn bisweilen, damit er um Gehaltserhöhung nachsuchte. Sie hatte Ansprüche, die sich nur mit Geld erfüllen ließen. Aber würde sie eine Erpressung gutheißen?
Ich muss das mit mir allein abmachen, dachte er. Vorläufig jedenfalls.
Wider Erwarten schlief er gut in dieser Nacht.
Als er am nächsten Morgen zum WBCB fuhr, schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Hatte der Schläger seinen Job getan und – versehentlich – den Auftraggeber durchgebläut? Das wäre der Gag (Spaß).
Und Rödermeyer würde kapieren, dass man mit einem Ludwig Dröselhoff nicht gut Kirschen isst.
Ludwig nahm sich zusammen. Die erste Dienststunde verbrachte er am Schreibtisch. Aber die Arbeit blieb liegen und er beschäftigte sich mit dem Abbeißen der Fingernägel.