Inhaltsverzeichnis
Übersicht der Zeichnungen
Für Michael
Einführung
Sexualität und Massenmord, Sexualität und Geschichtsdeutung, Sexualität und Politik – wie greifen diese Themen ineinander? Ist angesichts der entsetzlichen NS-Verbrechen Sexualität als Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert nicht frivol und unangemessen? Was kann die Geschichte der Sexualität zur politischen Geschichte überhaupt beitragen?
Weit mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Die sorgfältige Betrachtung der Sexualgeschichte veranlasst uns beispielsweise dazu, die Periodisierung der deutschen Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu überdenken; die Brüche und Kontinuitäten entlang der konventionellen Scheidemarken 1918, 1933, 1945, 1968 und 1989 stellen sich im Bereich der Sexualität anders dar als in dem der Politik. Die Geschichte der Sexualität verschafft uns neue Einblicke in Gehalt und Ausmaß des Antisemitismus sowohl in der Weimarer Republik als auch in den ersten Jahren des Dritten Reiches. Sie eröffnet uns die Chance, die außerordentliche Anziehungskraft des Nationalsozialismus zu verstehen, sowohl auf jene Deutsche, die konservative Familienwerte wiederherstellen wollten, als auch auf jene, die sich Lockerung der konventionellen Sitten erhofften. Der Prozess der Säkularisierung erscheint ebenso wie der der religiösen Erneuerung in einem anderen Licht. Lässt man Auseinandersetzungen zur Sexualität außer Acht, läuft man Gefahr, den weit reichenden emotionalen Nachhall der militärischen und ideologischen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und dessen Auswirkungen insbesondere auf die deutschen Männer misszuverstehen. Und – vielleicht der überraschendste Aspekt – wer sexuelle Fragen als nebensächlich abtut, übersieht, wie die Nachkriegs-Bundesrepublik im Zuge des Kalten Krieges die Erinnerung an den Nationalsozialismus erfolgreich manipulierte und die moralische Debatte vom Problem der Komplizenschaft am Massenmord auf Fragen der Sexualität umlenkte.
Dieses Buch war ursprünglich als Studie zur westdeutschen 68er-Generation konzipiert. Als ich zu verstehen versuchte, wie der Nationalsozialismus und sein Vermächtnis in den sechziger Jahren insbesondere von der Studentenbewegung der Neuen Linken interpretiert wurden, fiel mir auf, dass das Dritte Reich überwiegend als eine ausgeprägt sexuell repressive Zeit gedeutet und sexuelle Freizügigkeit gleichsam zum antifaschistischen Gebot erhoben wurde. Unzählige Neue Linke vertraten offen die Ansicht, zwischen Sexualität und Politik bestehe ein Kausalzusammenhang. Und, auf den Faschismus bezogen: Sexuelle Repression sei nicht nur ein Charakteristikum dieser Bewegung, sondern ihre Ursache. So heißt es etwa bei Arno Plack 1967: »So wäre es kurzschlüssig zu meinen, alles das, was in Auschwitz geschah, sei typisch deutsch. Es ist typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt.«1 Noch prägnanter formulierte es Michael Rohrwasser, als er behauptete, dass sich in den Energien »der faschistischen Rebellion … gehemmte Sexualität zum Genozid formierte«.2 In den sechziger Jahren waren solche Ansichten weit verbreitet und lieferten die moralische Rechtfertigung für die Demontage des Sexualkonservatismus der fünfziger Jahre. Die sexuelle Befreiung, so glaubte man, würde dazu beitragen, die Bundesrepublik auch von den anhaltenden Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu befreien.
In der öffentlichen Debatte im wiedervereinigten Deutschland von heute – über fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus – ist es mittlerweile Usus, die Studentenrevolte, die APO und ihre Nachwehen wegen ihrer utopischen Romantik und ihres erbitterten Antikapitalismus zu verunglimpfen. Doch in dem historischen Augenblick, in dem sie stattfanden, waren diese Rebellionen – und nicht zuletzt ihr sexuelles Element – ungeheuer wichtig. Sie definierten letztlich die Beziehungen zwischen Mann und Frau, innerhalb der Familie und zwischen Sexualpartnern sowie alle Codes des gesellschaftlichen Miteinanders neu. Sie untergruben die Autorität der politisch und religiös Konservativen, die das politische Leben in Westdeutschland fast zwei Jahrzehnte lang beherrscht hatten, und sie lenkten den moralischen Diskurs in Deutschland erfolgreich auf globale Themen wie soziale Ungerechtigkeit, wirtschaftliche Ausbeutung und Krieg.
Im Verlauf meiner Nachforschungen fiel mir allerdings ein merkwürdiger Widerspruch auf: Während die Interpretation der Neuen Linken hinsichtlich der repressiven Sexualpolitik im Dritten Reich von der neueren Forschung zur NS-Zeit fast einmütig übernommen wurde, hatten die Zeitgenossen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein ganz anderes Bild gezeichnet. Sie vertraten die Ansicht, die Nationalsozialisten hätten im Gegenteil sexuelle Freizügigkeit gefördert und diese sexuelle »Unmoral« sei sogar untrennbar mit dem barbarischen Völkermord verbunden gewesen. Tatsächlich gehörten ihrer Meinung nach die Einschränkung dieser sexuellen Freiheiten und die Wiederherstellung von Ehe und Familie zu den wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft, die den Nationalsozialismus überwinden wollte. Es kristallisierte sich heraus, dass die sexualkonservative Nachkriegskultur nicht (wie die Neuen Linke glaubte) die verwässerte Fortführung eines sexuell repressiven Faschismus war, sondern dass sie sich zumindest teilweise als Gegenreaktion zum Nationalsozialismus entwickelt hatte.
Diese Beobachtung veranlasste mich, mein Forschungsfeld auszudehnen. Um das schmerzhaft intensive, allerdings höchst mittelbare Verhältnis der Neuen Linken zur NS-Vergangenheit zu erklären, musste ich meinen Blickwinkel erheblich erweitern. Die Debatten zur Sexualmoral während des Dritten Reiches galt es ebenso zu rekonstruieren (Kapitel 1) wie die Entwicklung, die die Deutungen des Nationalsozialismus nach dem Krieg genommen hatten (Kapitel 2). Auch eine Untersuchung der Sexualkultur in den beiden Nachkriegsjahrzehnten, zunächst in den Westzonen, dann in der Bundesrepublik (Kapitel 3), war vonnöten, um das Klima nachzuzeichnen, in dem die Generation von 1968 aufgewachsen war und gegen das sie ja anschließend rebellierte (Kapitel 4). Doch wie sah der Vergleichskontext in der sowjetischen Zone und anschließend in der Deutschen Demokratischen Republik aus? Entwickelte sich die postfaschistische Sexualität in Ostdeutschland anders als im Westen und wenn ja, warum (Kapitel 5)? Und schließlich galt es der Frage nachzugehen, wie die gesellschaftlichen Bemühungen der westdeutschen 68er-Generation nach 1968 und nach der deutschen Wiedervereinigung gesehen wurden und werden, was von den antikapitalistischen und sozialreformerischen Impulsen geblieben ist (Kapitel 6).
Wie wird über Sexualität geredet, was wird über Sexualität gesagt (und was nicht), und was wird noch alles verhandelt, wenn vordergründig über Sexualität gesprochen wird? Dass das Private politisch ist, haben nicht erst die Achtundsechziger erkannt. Blickt man durch die Linse des öffentlichen Gesprächs über Sexualität auf die deutsche Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert, wird deutlich, wie eng die zentralen Themen der deutschen Geschichte in diesem Zeitraum – Rassismus, Antisemitismus, Krieg und Völkermord, aber auch demokratischer Kapitalismus und Staatssozialismus – mit der Entwicklung der Sexualmoral und der Einflussnahme auf das Sexualverhalten verwoben sind. Und noch etwas anderes tritt zu Tage: In der öffentlichen Auseinandersetzung über Sexualität wird Erinnerung konstruiert. Warum gerade dieser Bereich für die Erinnerungskultur so zentral wurde, ist eine der Leitfragen dieser Untersuchung. Denn durchgängig zeigt sich – und jedes Kapitel enthüllt eine andere Dimension dieses Phänomens -, dass Erinnerungen nicht bewahrt und auf irgendeine reine, unverfälschte Art weitergegeben werden. Vielmehr wurden gerade »Erinnerungen« an das Dritte Reich im Nachhinein ständig gestaltet und wieder neu gestaltet, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass diese Erinnerungen – die viel mit der jeweiligen Gegenwart zu tun hatten – mehr Deutungsmacht bekamen als die tatsächliche, komplexe, ursprüngliche Realität. Das galt sowohl in politischen und sozialen Auseinandersetzungen als auch in der Psyche des Einzelnen. Die Art, wie die Nationalsozialisten Weimar oder wie ehemalige DDR-Bürger nach der Wiedervereinigung ihre Erfahrungen unter dem Kommunismus konstruierten oder wie die ehemalige Neue Linke Anfang des 21. Jahrhunderts die Bedeutung der Achtundsechziger umdeuteten, sind Ausführungen des gleichen Themas.
Die Literatur zur postfaschistischen Erinnerung in Deutschland ist umfangreich, doch wenn man die Funktionsweise der Erinnerung in Auseinandersetzungen über die Sexualität betrachtet, erkennt man darüber hinaus, wie Erinnerungen »geschichtet« werden: Jede politische oder soziale Gruppe nähert sich sowohl der unmittelbar zurückliegenden als auch der entfernteren Vergangenheit nur mittels der Interpretationen ihrer historischen Vorgänger, und sei es in Abgrenzung zu deren Deutungen.3 Das heißt: Die verschiedenen Phasen der deutschen Geschichte überlagern sich. Der Versuch, diese Überlagerung an einem bestimmten Ort – Deutschland – nachzuvollziehen, kann hoffentlich auch Perspektiven für die Erforschung von Erinnerungskulturen in anderen nationalen Kontexten eröffnen. Denn letztlich geht es darum, auf welche Art und Weise wichtige kulturelle Vereinbarungen getroffen werden – mit weit reichenden und ganz konkreten Folgen dafür, wie die Menschen ihr Leben leben. Es geht um die anhaltende Macht nicht nur realer, sondern auch fiktiver Erinnerungen.
KAPITEL 1
Sexualität im Dritten Reich
Erinnerung an den Nationalsozialismus
Für den Nationalsozialismus war Sexualität alles andere als eine Nebensächlichkeit. Sexualität in all ihren Aspekten zählte vielmehr das gesamte Dritte Reich hindurch zu seinen Hauptanliegen. Zwar geht es bei jeder Art von Rassismus notwendigerweise auch um Sexualität, für den Nationalsozialismus gilt dies jedoch in besonderem Maße.
Das Dritte Reich lässt sich als ein gewaltiges Unterfangen zur Steuerung der Fortpflanzung beschreiben: Es unterband (durch Sterilisation, Abtreibung und Mord) die Reproduktion jener, die es als »unerwünscht« klassifizierte, und förderte oder erzwang (durch Einschränkungen bei Verhütung und Abtreibung, durch finanzielle Anreize und propagandistische Lockungen) die Fortpflanzung jener, die es als gesunde heterosexuelle »Arier« pries. Aber das Regime griff noch weiter aus. Erstens gab es das offenkundige Bemühen, all die häufig widersprüchlichen psychologischen und physiologischen Reaktionen zu manipulieren, die Sexualität auslösen kann: Erregung und Hemmung, Verlangen und Befriedigung, Anziehung und Abstoßung, Langeweile und Neid, Ekstase und Sehnsucht. Durch gezielte Stimulation von Affekt und Gefühl suchte man die Menschen an sich zu binden und zugleich antisemitische und andere rassistische und eugenische Stimmungen zu mobilisieren. Zweitens war die Sexualpolitik in besonderem Maße geeignet, moralische Codes neu zu formulieren: Der Nationalsozialismus verwarf christliche Werte – und bemächtigte sich ihrer, indem er unablässig von der »Heiligkeit« der rassischen Reinheit sprach, von der »Erlösung« Deutschlands, von »Schuld« und »Sünde« gegen Rasse oder Volk. Darüber hinaus machte er sich tief sitzende (von der Kirche propagierte) Assoziationen zu Nutze, die Sexualität mit dem Bösen – und den Juden – in Verbindung brachten, um die Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas moralisch zu legitimieren.
Und drittens gab es den starken Wunsch, den Rätseln des menschlichen Organismus auf den Grund zu gehen, ein grimmiges »Wissenwollen«, wie Psyche und Körper funktionieren, das immer wieder die Grenze zur Gewalt überschritt.1 Vor allem Gefängnisinsassen und Häftlinge in Konzentrations- und Todeslagern, aber auch Patienten aus ganz normalen Arztpraxen dienten Gynäkologen, Urologen, Endokrinologen und Ärzten anderer Fachrichtungen als »Menschenmaterial« für eine breite Palette invasiver Untersuchungen zu sexueller Variabilität, zu Lust und Reaktion, zum Sexualtrieb und zu sexuellen Störungen. Die Widersprüchlichkeiten sind nur schwer zu erfassen: hier die entsetzliche Überheblichkeit und wissenschaftliche Nutzlosigkeit so vieler so genannter Fortpflanzungsversuche (zumal durch jene Ärzte, welche die Konzentrations- und Todeslager dazu benutzten, ihre Experimente an Hühnern, Kaninchen und Mäusen auf Menschen zu übertragen), dort die unübersehbar protopostmodernen »Erfolge« bei der künstlichen Scheidenbildung, dem Einsatz (neu entdeckter) Hormone für die Behandlung von Erektionsstörungen sowie bei sehr viel zweifelhafteren Unternehmungen wie der Behandlung abweichender sexueller Orientierung oder der Erforschung, wie sich der Orgasmus der Frau auf die Wahrscheinlichkeit einer Empfängnis auswirkt (indem man feststellt, wie weit die Spermien drei Minuten nach dem Koitus hinter den Gebärmutterhals gewandert sind).2
Dennoch: Die offenkundig brutalen Aspekte der NS-Sexualpolitik waren nicht in eine insgesamt sexualitätsfeindliche Haltung eingebettet. Vielmehr wurde die Mehrheit der Deutschen damals angespornt und ermuntert, sexuelles Vergnügen zu suchen und zu erfahren.
Diese Einschätzung entspricht nicht der gängigen Lehrmeinung. Denn nach bis heute vorherrschender Sichtweise war das Dritte Reich durchgängig sexuell repressiv und konservativ. Daneben tauchen von Zeit zu Zeit – in der Literatur, im Film, im Journalismus und in der Popkultur – Lesarten des Nationalsozialismus auf, die auf die eine oder andere Art die Betonung auf angeblich sexuell perverse Züge des Regimes legen. Dabei lassen sich grob fünf Stränge unterscheiden: Faschismus als dekadente Bewegung; Faschismus als im Wesentlichen homoerotische Bewegung; Faschismus als fehlgeleitete Weiblichkeit; Adolf Hitlers Spiel mit den Geschlechtergrenzen als Schlüssel zu seiner Fähigkeit, eine Nation zu verführen, und schließlich Faschismus (oder gar der Holocaust selbst) als erregende Kulisse für harte pornografische Fantasien. Mal erweitern diese Lesarten die »Repressionshypothese«, mal stützen sie sie, mal bilden sie einen Kontrapunkt.
Im Einzelnen: Der erste Strang hebt morbide Dekadenz und Sadomasochismus als Kennzeichen sowohl des italienischen als auch des deutschen Faschismus hervor. Tendenziell wird hier die Freude am Bösen verallgemeinert – indem beispielsweise jeder als möglicher Kollaborateur des Faschismus gilt -, was die Analyse jeglicher historischen Differenzierung beraubt; als Nebeneffekt wird eine Theorie der menschlichen Grausamkeit präsentiert, die diese auf sexuelle Abweichung und/oder Langeweile zurückführt und die Täter gleichzeitig häufig verherrlicht oder erotisiert. Klassische Beispiele dafür finden sich in italienischen Kunstfilmen der sechziger und siebziger Jahre. »Ich glaube, dass wir alle in uns eine gewisse Portion an Sadismus und Masochismus haben und damit auch einen gewissen Teil Nationalsozialismus«,3 formulierte beispielsweise so vollmundig wie inhaltsleer die italienische Regisseurin des Films Der Nachtportier (1974), der die schicksalhafte sadomasochistische Liebesaffäre zwischen einer KZ-Insassin und einem Aufseher beschreibt. Vergleichbares gab es aber auch im französischen und deutschen Kino.
Der zweite Strang entwickelte sich bereits in den dreißiger Jahren und gewann in den Jahrzehnten danach erheblich an Bedeutung. Vertreter dieses Ansatzes verweisen auf einen angeblichen (für gewöhnlich männlichen) homosexuellen Subtext im Nationalsozialismus, wobei sie sich jedoch zu der Frage, ob diese Homosexualität konkret/manifest oder verdrängt/latent war, durchaus widersprüchlich, ja zusammenhanglos äußern.4 Ausgangspunkt dieser Argumentation ist die Tatsache, dass Ernst Röhm, Stabschef der SA (Sturmabteilung) und enger Vertrauter Hitlers, bekanntermaßen homosexuell war. (Hitler ließ Röhm und weitere SA-Mitglieder sowie diverse politische Gegner im Juni 1934 ermorden, denn Röhms maßloser Ehrgeiz stand Hitlers Bestreben im Weg, sich bei der Reichswehrführung einzuschmeicheln. Röhms Homosexualität, die Hitler bis dahin nicht weiter gestört hatte, kam nun als Rechtfertigung für die Morde gerade recht.)5 Wie Dutzende Fachleute so verständlich wie sorgfältig dargelegt haben, lehrt uns der Fall Röhm zwar, dass Homosexualität in den höchsten Chargen der NSDAP eine Zeit lang geduldet wurde oder schlicht als politisch unwichtig galt (auch wenn Kommunisten und Sozialdemokraten in Deutschland und im Exil sowie britische und amerikanische NS-Gegner versucht haben, aus der Röhm-Affäre politisch Kapital zu schlagen). Aber von Röhm auf den gesamten Nationalsozialismus zu schließen, wäre nicht nur historisch unzutreffend, sondern diente vor allem zwei Zielen: Homosexualität zum einen generell mit Faschismus und Völkermord in einen Topf zu werfen und zum anderen von der um sich greifenden homophoben Verfolgung abzulenken, von Folter und Mord an Homosexuellen, die tatsächlich zu typischen Merkmalen des Nationalsozialismus wurden.6
Dennoch hat sich die volkstümliche Sichtweise vom Nationalsozialismus als Homosexuellenbewegung hartnäckig gehalten. Die Vermutung, Nationalsozialismus und Homosexualität hingen von Natur aus zusammen, wird – paradoxerweise – von der unbestreitbaren Erkenntnis gespeist, dass der Nationalsozialismus, wie der Historiker Geoffrey Giles es zutreffend formuliert, »die Panik vor Homosexuellen … institutionalisierte«.7 Mit anderen Worten: Elitäre Einrichtungen wie die SS (Schutzstaffel) waren einerseits auf gesteigerte Männlichkeit und den Zusammenhalt unter Männern angewiesen, andererseits durften die homoerotischen Elemente dieser Bindung sich keinesfalls zu Homosexualität entwickeln.8 Im von historischer Ignoranz ebenso wie von beharrlich anhaltender Homophobie geprägten Klima der jüngsten Jahrhundertwende – vor allem in den USA – war es eine wissenschaftlich schwierige und heikle Aufgabe, analytische Begriffe und Bezugssysteme zu entwickeln, die nicht nur die seitens der NS-Ideologie tödliche Abneigung gegen Homosexuelle erfassen, sondern auch die Faszination, die die NS-Bewegung anfangs auf einige homosexuelle Männer ausgeübt haben mag; die nicht nur den Schrecken sichtbar machen, der das Leben eines Homosexuellen im Dritten Reich prägte, sondern auch die Widersprüchlichkeit von Politik und staatlicher Kontrolle.9 Mittlerweile wird differenziert und nuanciert zu den Erfahrungen männlicher und weiblicher Homosexueller geforscht.10 (Lesbische Liebe war – anders als in Österreich während der gesamten NS-Zeit und danach – in Deutschland nicht verboten; allerdings wurden Lesben zunehmend überwacht und gelegentlich wegen »asozialen« Verhaltens und anderer angeblicher Straftaten in Konzentrationslagern inhaftiert.) Gleichwohl lassen sich noch immer einige Autoren auf der Basis eines vereinfachenden Freudianismus dazu verleiten, die im Dritten Reich und den Gebieten unter seiner Besatzung so verbreitete Lust an der Gewalt mit einer »Regression« auf die, wie es wenig hilfreich heißt, »anal-sadistische Phase« gleichzusetzen. Indem sie auf diese Weise an eine Sicht des Nationalsozialismus als dekadente Bewegung anknüpfen, verstärken Theorien, die den Faschismus als eine Art gehemmter Entwicklung begreifen, fast unvermeidlich homophobe Reflexe, die mit einer historischen Analyse nichts gemein haben.11
Der dritte wiederkehrende und hoch spekulative Argumentationsstrang macht den Faschismus zu einer weiblichen Angelegenheit. Dabei werden entweder die Punkte hervorgehoben, die den Nationalsozialismus angeblich für Frauen besonders attraktiv gemacht haben, oder man konzentriert sich auf legendäre, schöne und bösartige Täterinnen als Inkarnation des nationalsozialistischen Bösen, etwa Irma Grese, KZ-Wächterin in Auschwitz und Bergen-Belsen, oder Ilse Koch, die Ehefrau des Buchenwald-Kommandanten Karl Koch.12 Dass zu der Frage, warum sich viele deutsche Frauen offenbar so stark zum Nationalsozialismus hingezogen fühlten, häufig geforscht wird, liegt nicht zuletzt an dem Rätsel, warum eine Bewegung, die ihren Antifeminismus klar zum Ausdruck brachte und eine »Emanzipation von der Emanzipation« forderte, bei den Frauen dennoch Anklang fand. Eine Antwort mag in den Erkenntnissen neuerer Untersuchungen liegen, dass der Nationalsozialismus trotz der behaupteten Rückführung der Frauen zu Küche, Gebären und Kindererziehung in Wahrheit zahlreiche Tendenzen hin zu Emanzipation im Beruf, in den Familienbeziehungen und in der Sexualität aufwies.13 Dennoch bleibt die Herausforderung bestehen, einerseits der Behauptung zu widersprechen, deutsche Frauen hätten sich in stärkerem Maß irrational für Hitler begeistert als Männer (so die Kernaussage frauenfeindlicher Literatur, die zu widerlegen Feministinnen jahrzehntelange Arbeit kostete), andererseits aber anzuerkennen, dass es sich lohnt, die Kisten voller Liebesbriefe von Frauen aus ganz Deutschland an Hitler in die Analyse einzubeziehen, ebenso wie den Umstand, dass Frauen – und Männer – beim Anblick Hitlers ekstatisch jubelten und ihm magnetische Anziehungskraft bescheinigten.14
Der vierte Strang betont die sexuell abnormen Eigenschaften Adolf Hitlers und hebt die geradezu triebhafte Anziehungskraft hervor, geblich auf deutsche Frauen im Besonderen und auf die deutschen Massen im Allgemeinen ausübte. Zeitgenossen aus dem Ausland oder dem Exil versuchten auf verschiedenste Weise – und mit unbekümmerter Widersprüchlichkeit -, anhand sexueller Eigenarten zu erklären, warum Hitler ungeachtet seiner augenscheinlichen Banalität bei den Bürgern dermaßen gut ankam: Mal waren es seine offenkundig gestörten, bizarren romantischen Beziehungen zu einer Reihe von Frauen, mal seine angeblich perversen sexuellen Vorlieben, mal wird seine Neigung zu homosexuellen Waffenbrüdern verantwortlich gemacht, dann wieder seine vorgeblich »verweiblichte« Art, da er nicht eindeutig das Stereotyp einer maskulinen Identität erfülle. Journalisten haben damals wie heute übersehen, dass Hitlers anomale Persönlichkeit kaum die Ungeheuerlichkeit des Dritten Reiches als Ganzem zu erklären vermag; stattdessen haben sie die begehrliche öffentliche Faszination sowohl für die Perversion als auch für das Böse angestachelt und ständig das eine mit dem anderen vermengt.15
Und schließlich dient das Dritte Reich häufig als Kulisse für harte pornografische Filme – der fünfte Strang. Dieses Phänomen mag auf die gleiche Faszination für die Perversion und das Böse zurückgehen, die auch Hitlers exzentrische Art immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Vielleicht schlagen diese Filme auch einfach Kapital aus dem Schock, der sich erzielen lässt, wenn man Erotik und Grausamkeit zusammenbringt. Oder aber sie verstärken – wie die Soziologin Lynn Rapaport es deutet – eine generelle Funktion von Gewaltpornografie: Sie versetzen die Zuschauer in die Lage, in der Fantasie Dinge zu beherrschen, die sie ansonsten als zutiefst beunruhigend und bedrohlich empfänden. Außer Frage steht jedenfalls, dass sich im NS-Umfeld angesiedelte Pornografie gut verkauft und ein Massenpublikum findet.16 Mit doppeltem Effekt: Auf der einen Seite lässt die ständige Verknüpfung von Pornografie und Nationalsozialismus in der Literatur, im Film und in der volkstümlichen Vorstellung tatsächlich Rückschlüsse auf das Dritte Reich zu, die in wissenschaftlichen Untersuchungen allzu häufig unterdrückt werden. Es scheint, als fungierten diese kulturellen Phantasmen als ein Speicher intuitiver Erkenntnisse, die offenbar nicht in die akademische Forschung integriert werden können.17 Auf der anderen Seite trägt die Pornografisierung des Nationalsozialismus unbestreitbar zur Trivialisierung der NS-Gräuel bei und verhindert so eine ernsthafte Auseinandersetzung.
Trotz dieser zahlreichen Verbindungen zwischen Sexualität und Nationalsozialismus gilt der deutsche Faschismus in der Forschung noch immer als im Kern sexualitätsfeindlich. Diese Haltung ist so gängig, dass sie selten im Detail belegt wird. Der konventionellen Periodisierung zufolge lässt sich die Sexualpolitik des Dritten Reiches in erster Linie als reaktionäre Gegenreaktion auf die Freiheit und Offenheit der Weimarer Republik begreifen. In den achtziger und neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts beispielsweise, aber auch in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde das Dritte Reich für gewöhnlich auf die Kurzformel gebracht, es sei »sexualfeindlich«, ja »lust- und glücklos« gewesen und habe sich durch »rigide körperlich-sexuelle Verhaltensnormen« oder »offizielle Prüderie« ausgezeichnet.18 Die brutale Intensität des NS-Antisemitismus soll bei »unzähligen« Deutschen der Außenprojektion »einer von unterdrückten sexuellen Begierden ausgelösten, unbewussten Schuld« entsprungen sein;19 »Enthaltsamkeit bis zur Ehe lautete die oberste Parole«.20 »Was immer Weimar als Fortschritt gedacht und teilweise praktiziert hatte, war radikal geleugnet oder gestoppt worden«, und »wie [die Deutschen] Gleichsetzung und Ablenkung von Erotik und Sexualität hinnahmen«, lasse auf einen tief sitzenden und dauerhaften »politischen deutschen Masochismus« schließen, »eine freudige Subordination und permanente immanente Bereitschaft, auf eigene Gefühle zu verzichten«.21 Die »Angst der Nationalsozialisten vor Sexualität« sei unstrittig.22 Das gilt auch für die Vorstellung, dass im Dritten Reich »Sexualität und deren Darstellung … weitestgehend tabuisiert« gewesen seien.23 »Die Historiker, die sich mit der deutschen Gesellschaft und Kultur unter dem Nationalsozialismus beschäftigten«, sind laut dem Historiker Jeffrey Herf so vorgegangen, als sei »die Verbindung zwischen Nationalsozialismus und sexueller Unterdrückung« schlicht »intuitiv einleuchtend«.24
Als modellhaft können in dieser Hinsicht George Mosses bahnbrechende Studien gelten. In Werken wie Nationalism and Sexuality (1985) und Das Bild des Mannes (dt. 1997) nahm Mosse den Anspruch der Nationalsozialisten, ein sauberes und geordnetes Familienleben wiederherzustellen, wörtlich. Mosse machte einige wichtige Beobachtungen, etwa zur Spannung zwischen Kameradschaft und Homoerotik sowie zur widersprüchlichen Treueverpflichtung gegenüber dem Männerbund einerseits und dem heterosexuellen Familienleben andererseits. Doch alles in allem fand Mosse, dass die Nationalsozialisten »›ihre Ehrbarkeit‹ unter Beweis zu stellen« suchten. 25 Da er die Nationalsozialisten in erster Linie als Erben einer Kultur der bürgerlichen Enge betrachtete – und sie mit deren Kritikern gar nicht in Verbindung brachte -, ließ er sich ausführlich darüber aus, dass die allgegenwärtige Nacktheit im Dritten Reich in Wahrheit nichts Erotisches an sich gehabt habe; dem Nationalsozialismus sei es weit mehr um sexuellen Anstand gegangen als um sexuelle Befreiung.26
Nun war die Sexualpolitik des Dritten Reiches mit ihrer Verquickung von Sexualität und Rassismus sowie ihrer gesteigerten Homophobie zweifellos eine Gegenbewegung zur Fortschrittlichkeit und Toleranz, die zu Weimarer Zeiten möglich waren. Einem Großteil der Bevölkerung bescherte der Nationalsozialismus jedoch nicht nur eine Neudefinition, sondern auch eine Fortschreibung, Ausweitung und Intensivierung schon vorhandener liberalisierender Tendenzen. Zum Teil hatte diese Entwicklung mit den massiven Erschütterungen zu tun, die der Krieg, die Mobilisierung von Frauen für den Arbeitseinsatz, die Bevölkerungsverschiebungen und das allgemeine Klima moralischer Anarchie im Zuge der sich ausweitenden Massenmorde mit sich brachten. Zum Teil wurde die Liberalisierung der heterosexuellen Sitten seitens der NSDAP – und zwar bereits vor dem Zweiten Weltkrieg – aktiv vorangetrieben. Denn letztlich bot das Regime den breiten Teilen der Bevölkerung, die es nicht verfolgte, zahlreiche Anlässe und Anreize für vor- und außereheliche heterosexuelle Kontakte (nicht nur zum Zwecke der Fortpflanzung, sondern auch zum Vergnügen) sowie Anregungen, auch dem ehelichen Glück zu frönen. Tatsächlich lässt sich die Bejahung sexuellen Vergnügens inner- wie außerhalb der Ehe durchaus im Zusammenhang der umfassenderen Modernisierung der Konsumkultur betrachten, die der Nationalsozialismus förderte: von Coca-Cola bis hin zu den neuen Reisemöglichkeiten im Rahmen des Programms »Kraft durch Freude«.27
Häufig heißt es, dass die Umwälzungen des Ersten Weltkrieges – als Paare sich trennten, Frauen größere Unabhängigkeit erlangten, Tausende Männer verstümmelt wurden und Millionen fielen, als Deutschland gedemütigt, besiegt und von den Alliierten gezwungen wurde, eine Demokratie unter sozialdemokratischer Führung zu akzeptieren – die größeren sexuellen Freiheiten der Weimarer Republik eingeleitet hätten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten habe dann 1933 diese experimentierfreudige und auf Lustgewinn ausgerichtete Atmosphäre ein jähes Ende gefunden. Doch diese Periodisierung übersieht zwei wichtige Punkte. Erstens: Die Liberalisierung, die landläufig mit Weimar verbunden wird, setzte bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein. Autoren der dreißiger und vierziger Jahre beispielsweise datieren den Beginn der sexuellen Befreiung auf die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert.28 Auch geht aus zahllosen Ärzteberichten hervor, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen aller Schichten und der zunehmende Einsatz von Verhütungsmitteln (sowohl vor als auch während der Ehe) bereits vor 1914 üblich wurden.29 Ebenso bedeutsam ist der zweite Punkt: Noch während sich die freizügigeren Sitten in der Bevölkerung ausbreiteten, setzte bereits in den Weimarer Jahren eine konservative (und christlich geprägte) Gegenbewegung ein.30 Kurz: Die Nationalsozialisten kamen zu einer Zeit an die Macht, als die gegenläufigen Tendenzen von Liberalisierung und erneuter Beschränkung schon miteinander wetteiferten.
Eine weitere Lücke in der Geschichtsschreibung zum Dritten Reich betrifft Wechselwirkungen zwischen Sexualität und Religion. Nahezu ausnahmslos werden diese beiden Bereiche unabhängig voneinander behandelt. Vor allem die Beziehung zwischen sexuellen Belangen und der Wirkung, die der Nationalsozialismus auf Säkularisierungsprozesse ausübte, fand bislang kaum Beachtung. Will man die nationalsozialistische Sexualpolitik verstehen, muss man sie jedoch im Kontext der Religionsgeschichte betrachten. Es gilt nicht nur, die erbitterte Rivalität zwischen der NSDAP und den christlichen Kirchen zu erkennen, sondern auch die personellen Überschneidungen und die gemeinsamen Wertvorstellungen. Über die Kirchen im Dritten Reich ist viel geschrieben worden.31 Doch obgleich hin und wieder erwähnt wird, dass die Nationalsozialisten katholische Priester der Homosexualität bezichtigten, kommen andere sexuelle Themen kaum zur Sprache. Dies ist nicht zuletzt deshalb überraschend, weil die sexuelle Vision des NS-Regimes in allererster Linie im Spannungsfeld von Wettbewerb und Zusammenarbeit mit den Christen erarbeitet wurde.
Dabei steht außer Frage, dass die Nationalsozialisten in puncto Sexualmoral uneins waren; einige wollten zweifellos zu konservativeren Werten und Verhaltensweisen zurückkehren und griffen das Regime auch bedenkenlos direkt an, wenn sie das Gefühl hatten, dass traditionelle Normen untergraben wurden.32 Während des gesamten Dritten Reiches wurde in zahllosen regimefreundlichen Schriften die Ansicht vertreten, dass Rassereinheit und das Wiedererstarken der Nation von vorehelicher Keuschheit, der monogamen, kinderreichen Ehe und einem positiven Familienleben abhingen. Jungen Leuten riet man, nicht ihren Trieben nachzugeben.33 Sexuelle Entsagung vor der Ehe entspreche »Art und Rasse«; das Regime wurde gelobt, weil es die Jugend durch Sport von der »frühreifen Sexualisierung befreit« habe. Wiederholt wurde der bekannte Spruch des beliebten Schriftstellers Walter Flex zitiert: »Rein bleiben und reif werden – das ist die schönste und schwerste Lebenskunst.«34 Man wetterte gegen die »bolschewistische Verseuchung unserer Sexualmoral« und forderte eine größere »Fortpflanzungsfreudigkeit«.35 Man beschwerte sich über die Kultur der »freien Liebe« und betonte, es gebe »nur einen einzigen Zweck der Familie, der Ehe; das ist der, dem Volk gesunde Kinder zu schenken und sie zu gesunden, anständigen deutschen Frauen und Männern zu erziehen«.36 In Ratgebern für Jugendliche und Schriften selbst ernannter Fachleute auf dem Gebiet der »Rassenforschung« und der »politischen Biologie« wurde häufig das Ideal der sexuellen Zurückhaltung und Selbstkontrolle hochgehalten. 37 Konservative Wähler konnten ihre Anliegen also in entsprechenden Texten wiederfinden.
Viele andere Wortführer und NS-Autoren arbeiteten jedoch daran, die Assoziation emanzipatorischer Vorstöße mit »Marxismus« oder »Judentum« aufzulösen und die sexuelle Befreiung nunmehr als »germanisches« oder »arisches« Vorrecht neu zu definieren. Es stellt sich daher unter anderem die Aufgabe zu erklären, warum Antisemitismus und andere Formen des Rassismus sowohl mit sexualitätsfeindlichen als auch -freundlichen NS-Bestrebungen untrennbar verbunden sind. Denn auch wenn es keine in sich geschlossene Politik (sondern vielmehr eine Kakophonie häufig widersprüchlicher Verfügungen) im Hinblick auf Sexualität gab, zeichnete sich im Lauf der Zeit doch ein klarer Trend gegen die überkommene Moral ab.
Entgegen der häufig fälschlicherweise vorgebrachten Behauptung, im Dritten Reich sei unterschiedslos jeder sexuell unterdrückt worden, bestimmte der Nationalsozialismus in Wahrheit, wer mit wem Sex haben durfte. Die Verfolgung und Folterung Homosexueller lieferten beispielsweise den Hintergrund für die ständigen Empfehlungen, heterosexuellen Kontakten freudig nachzugehen. Die Misshandlung und Ermordung derjenigen, die wegen angeblich »erblicher« oder »rassischer« Merkmale als »lebensunwert« galten, bildeten die Folie, vor der man die »rassisch Überlegenen« ermunterte, ihre Rechte zu genießen.38 Legitimation des Terrors und Aufforderung zur Lust gingen Hand in Hand.
Sexualhistoriker wenden sich mittlerweile zunehmend vom Werk Sigmund Freuds ab und dem Michel Foucaults zu, auch wenn wir wahrscheinlich beide brauchen, um die besonderen Eigenschaften von Leben und Tod in dieser Diktatur zu überblicken und zu verstehen, die von Fragen sowohl der Reproduktion als auch der sexuellen Lust geradezu besessen war. Angesichts der besonderen Interpretationsprobleme, die das Thema Sexualität im Nationalsozialismus mit sich bringt, lohnt es sich jedoch vor allem, sich noch einmal mit der Arbeit eines häufig vernachlässigten Theoretikers zum Thema Sexualität und Macht zu beschäftigen: Herbert Marcuse. Wenige Begriffe erfassen die regulatorische Seite selbst emanzipatorischer Verfügungen so gut wie Marcuses berühmte »repressive Entsublimierung«. 39 Außerdem legte Marcuse als einer der Ersten dar, dass und auf welche Weise der überhebliche NS-Rassismus untrennbar mit dem Bemühen des Regimes verbunden war, das Sexualleben seiner Bürger neu zu organisieren; von welch zentraler Bedeutung die Politisierung des vormals eher privaten Bereichs der Sexualität für die politische Tagesordnung der Nationalsozialisten war und wie der sexuelle Stimulus zur gesellschaftlichen Manipulation genutzt werden konnte. Antisemitismus ist dafür ein hervorragendes Beispiel.
Sexualität und Antisemitismus
Sexuelle Dämonisierung von Juden war bereits in der Weimarer Republik ein gängiges Merkmal des Antisemitismus. Ausgehend von älteren Vorstellungen, die Juden mit Körperlichkeit und Christen mit Spiritualität in Verbindung brachten, beschwor die antisemitische Spielart des zwanzigsten Jahrhunderts die Bedrohung unschuldiger deutscher Frauen durch bestialische jüdische Vergewaltiger herauf. Ein frühes rechtsextremes Wahlkampfplakat aus dem Jahr 1920 zeigt beispielsweise einen unattraktiven jüdischen Mann mit einer schönen nichtjüdischen Frau neben einem Sarg mit der Aufschrift »Deutschland«.40 Aus der gleichen Zeit stammt eine Karikatur, in der ein jüdischer Mann in Gestalt eines widerwärtigen Kraken die Germania vergewaltigt.41 Der rassistische Romancier Artur Dinter, Autor des Bestsellers Die Sünde wider das Blut (1921) – der angeblich von anderthalb Millionen Deutschen gelesen wurde -, bediente nicht nur das antisemitische Klischee vom jüdischen Zuhälter, der die ihm ausgelieferten Mädchen vergewaltigt, sondern behauptete darüber hinaus, dass eine »arische« deutsche Frau durch nur einen Tropfen jüdischen Spermas auf immer verseucht sei. Selbst später mit einem nichtjüdischen Partner gezeugte Kinder würden durch die frühere Intimität mit einem Juden verunreinigt.42 Hitler machte sich Dinters Konzept der »Blutsünde« zu Eigen; in Mein Kampf (1925) fantasierte er in einer berühmten Passage: »Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt.«43 Julius Streichers 1923 gegründetes antisemitisches Hetzblatt Der Stürmer führte diese Themen in Dutzenden von Variationen aus und wetterte wenig abwechslungsreich gegen den angeblich zwanghaften Hang jüdischer Männer zu Sexualstraftaten (Vergewaltigung, Pädophilie, systematische Verleitung deutscher Mädchen zur Prostitution et cetera). In Stürmer-Illustrationen stürzte der jüdische Mann als vulgäre, animalische oder diabolische Figur die deutsche Weiblichkeit hundertfach in die Katastrophe.
Daneben stand jedoch eine gegenläufige Assoziation von Sexualität mit dem Judentum: die Wahrnehmung jüdischer Deutscher als Anführer diverser Kampagnen zur sexuellen Befreiung. Diese Vorstellung enthält durchaus einen wahren Kern. Tatsächlich standen jüdische Ärzte und Aktivisten an der Spitze zahlreicher Kampagnen zur Abschaffung der Paragrafen 218 und 175 (die Abtreibung und männliche Homosexualität unter Strafe stellten); oft bemühten sie sich, Informationen und Produkte zum Thema Verhütung bereitzustellen und (mittels Aufklärungsfilmen und Beratungszentren für Sexualität und Ehe) Paare nicht nur bei der Familienplanung zu unterstützen, sondern ihnen auch zu größerer sexueller Befriedigung zu verhelfen. Der bekannte Arzt Max Marcuse beispielsweise stellte die (damals radikale) Behauptung auf: »Zweck der Geschlechtsbetätigung ist Lustgewinnung. Nicht mehr und nicht weniger.« In seinem Hauptwerk Der Präventivverkehr (1931) erklärte er detailliert, wie Kondome für einen erneuten Gebrauch zu lagern seien (weil die meisten Arbeiter sie sich kaum leisten konnten), und riet auch zu Oral- und Analsex, um eine Empfängnis zu verhindern.44 Magnus Hirschfeld gründete 1919 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, das neben einem Sexualberatungszentrum die wichtigste sexualwissenschaftliche Bibliothek Deutschlands beherbergte. (Im Mai 1933 wurde sie auf dem Berliner Opernplatz öffentlich verbrannt.) Hirschfeld, ein entschiedener Streiter für die Rechte von Homosexuellen, der Hunderttausende hinter sich brachte, trat – wie Marcuse – außerdem für die Akzeptanz von vorehelichem Geschlechtsverkehr sowie von Verhütung vor und während der Ehe ein.45 Der Arzt Max Hodann verfasste einige der ersten Sexualberatungsschriften für die proletarische Jugend.46 Friedrich Wolf, einer der Vorreiter im Kampf gegen den Paragrafen 218 (der sich in den letzten Weimarer Jahren zur Massenbewegung ausweiten sollte), gab der Verzweiflung mittelloser Frauen über eine unerwünschte Schwangerschaft in dem Theaterstück Cyankali eine Stimme; die Aufführungen waren gut besucht, es folgte sogar eine Verfilmung.47
Doch trotz dieser und zahlreicher weiterer Beispiele war die Vorstellung, Juden seien die Hauptvertreter der sexuellen Befreiung, ein rassistisches Konstrukt der politischen Rechten. Entstanden und geformt bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik, rückte dieses Konstrukt nach 1933 allmählich ins Zentrum jeglicher NS-DARSTELLUNG der Weimarer Republik (). Die gesamte Ära Weimar wurde auf Sexualität reduziert. Alle Komplexitäten, alle gegensätzlichen politischen und sozialen Impulse, die zwischen 1919 und 1933 das Leben in Deutschland geprägt hatten, wurden verwischt und durch ein Bild Weimars als Treibhaus für Dekadenz und Promiskuität ersetzt, eine Zeit »größte[r] Aufreizung schwüler, dekadenter Erotik«.48 Weimar galt nun als »Judenrepublik«, in der unter anderem Zeitschriften für homosexuelle Männer und Frauen »wie Pilze nach dem Regen« aus dem Boden geschossen seien und die Juden das Recht auf Abtreibung verteidigt hätten, um »ihre Herrschaft gegenüber den arischen Völkern« aufrichten zu können.49 Da außerdem die Weimarer Republik von Sozialisten gegründet, viele Sexualberatungszentren damals von sozialistischen und kommunistischen Parteien ins Leben gerufen und für ihre überwiegend der Arbeiterklasse zugehörigen Mitglieder betrieben worden waren und viele der jüdischen Ärzte, die sich an den verschiedenen Kampagnen für sexuelle Befreiung beteiligten, ebenfalls politisch links standen, war es für christliche Konservative wie für Nationalsozialisten ein Leichtes, die Sexualreformbewegungen mit dem umfassenderen Trugbild eines bedrohlichen »jüdischen Bolschewismus« zu verquicken.
Selbst der Begründer der Psychoanalyse, der Österreicher Sigmund Freud, wahrhaftig kein Linker, wurde als Mitglied dieser üblen Verschwörung diffamiert. Dass Freud angeblich die allgegenwärtige Sexualität als Wurzel aller individuellen und sozialen Phänomene betrachtete (eine Deutung seines Werkes, die Freud selbst entschieden zurückwies), wurde bei NS-Autoren zum Dauerbrenner. Sie warfen Freud nicht nur vor, er habe eine »schmutzige Fantasie« und deute Sexualität »schon in die Kinderseele« hinein, sondern auch, er habe das Konzept des »Es« – der »unbewussten Macht« – nur ersonnen, »um die Stimme des Gewissens, die sich bei Onanie und außerehelichem Verkehr im nordischen Menschen regt, zu töten«. Freuds Lehren beraubten die Menschen beim Versuch, ihre Triebe zu beherrschen, aller ethischen Orientierung. Der Einzelne sei der »asiatischen Weltanschauung« der Juden ausgeliefert: »Genieße, denn morgen bist du tot!«50
Die nationalsozialistische Deutung der Weimarer Republik als Hort »verjudeter«, laizistischer Lasterhaftigkeit sollte weit über Weimar und das Dritte Reich hinaus die Erinnerung an die erste Republik auf deutschem Boden prägen. Dass die Nationalsozialisten ab 1933 zum Teil ganz ähnliche Ziele verfolgten wie die hier im Stürmer 1929 angeprangerten, änderte daran nichts.
Ein Kinderarzt beklagte, dass für den Freudianer »der Mensch nur noch aus einem Geschlechtsorgan besteht, um das herum der Körper vegetiert«.51 Psychoanalytiker und Ärzte – »meist jüdischer Abstammung« -, die für die Rechte von Homosexuellen eintraten, wurden als »Zuhälter unter wissenschaftlichem Deckmantel« bezeichnet, 52 von der Psychoanalyse beeinflusste Fachleute für Sexualerziehung zu »jüdischen Sexualverbrechern« erklärt.53 Als NS-Studentenorganisationen 1933 öffentliche Bücherverbrennungen durchführten, deklamierte ein Demonstrant (während Freuds Bücher in die Flammen geworfen wurden): »Gegen seelenzerfressende Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.«54 Noch im Jahr 1942 behauptete der Theologe Heinz Hunger (später im Nachkriegsdeutschland ein hoch angesehener Fachmann für Jugendsexualität), an der Psychoanalyse sei »nichts von Grund aus Neues« – wenn jemand etwas anderes behaupte, dann hieße das, »der Unproduktivität der jüdischen Rasse hier wie anderswo zuviel Ehre an[zu]tun«. »Die ganze Psychoanalyse«, so Hunger, sei »nichts anderes … als eine nationaljüdische Vergewaltigung der abendländischen Kultur«. Psychoanalyse habe eine »volksschädigende Wirkung«, da sie alles »unterhalb des Nabels« überbewerte.55 Die bis zum Ende des Dritten Reiches anhaltenden Attacken auf Freud hinderten regimefreundliche Psychotherapeuten und Ärzte übrigens nicht, sich seine Ideen anzueignen (auch wenn sie es leugneten).56
In ähnlicher Weise wurden Magnus Hirschfeld, der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, und Max Marcuse zur Zielscheibe gehässiger Kritik.57 Hirschfelds These, die sexuelle Orientierung sei biologisch angelegt, und seine viel beachteten und erfolgreichen Versuche, die deutsche Bevölkerung für die Abschaffung des Paragrafen 175 zu mobilisieren, galten seinen Gegnern als verabscheuungswürdig. Doch Hirschfeld brachte die Konservativen auch gegen sich auf, weil er für eine Ethik des Konsenses warb. Er wandte sich gegen die gängige christliche Sichtweise, dass vorehelicher Verkehr per definitionem eine Sünde sei, und erklärte, moralisch gelte als wichtigste Vorbedingung, dass bei sexuellen Begegnungen kein Zwang ausgeübt werden dürfe. Nichteheliche Liebesbeziehungen, die sich auf gegenseitigen Respekt und Zuneigung gründeten, seien ebenfalls ethisch legitim. NS-Autoren äußerten sich empört über diesen, wie sie meinten, heimtückischen Versuch, »einfache Begriffe von Recht und Unrecht mit wissenschaftlichen Phrasen zu vernebeln und die Grenzen zu verschieben«. In Ablehnung der angeblich jüdischen Verherrlichung von Sexualität als zentrale Kraft im Leben des Menschen verkündeten sie, sie hätten Deutschland »von diese[m] scheußliche[n] Spuk des Götzendienstes am Sex-Appeal« befreit.58
In dem Versuch, den Antisemitismus für sexualkonservative Zwecke einzuspannen, behaupteten sie, Juden würden Spiritualität und Liebe unter-, Sinnlichkeit und Körperkontakt hingegen überbewerten.59 Die Juden seien weit davon entfernt, sich für eine natürliche Sexualität einzusetzen, und frönten stattdessen einer »ekelhafte[n] Lüsternheit«.60 Oder: »Der Jude hat nun einmal eine andere Sexualität als der Germane.«61 Die Juden seien bestrebt, »die nordische Rasse an ihrem empfindlichsten Punkt, dem Geschlechtsleben, zu treffen«.62 Im Laufe des Jahres 1933 wurden sämtliche Sexualberatungsstellen der Linken geplündert und zerstört (in Düsseldorf steckten die SA-Männer die Verhütungsmittel für den eigenen Gebrauch ein). Jüdische Ärzte und Berater verloren ihre Arbeit und flohen ins Exil, oder sie wurden inhaftiert oder deportiert und später ermordet. Derweil florierten Eheberatungszentren, die streng »rassische« und »erbliche« Fragen in den Mittelpunkt stellten.63
Die Darstellung, der zufolge Juden Verhütungsmittel befürworteten und sexuelle Lust, Vielfalt und Perversität verherrlichten, blendete allerdings aus, dass sich Millionen nichtjüdischer Deutscher sehnlichst wünschten, was die Sexualreformer vertraten. Sichtbares Zeichen dafür war die Geburtenrate in Deutschland, die seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in allen Schichten gesunken war.64 Mehr noch: Obwohl der NS-Staat Geld und andere Anreize bot – Steuererleichterungen für Familien, Ehedarlehen (mit der Geburt eines jeden Kindes verringerte sich die Darlehensschuld), das Mutterkreuz für kinderreiche Frauen und anderes mehr -, war fast ein Drittel der Paare, die 1933 heirateten, auch fünf Jahre später noch kinderlos, ein weiteres Viertel hatte nur ein Kind.65 Dass die Geburtenrate in den ersten fünf oder sechs Jahren des Dritten Reiches überhaupt anstieg, lag an einer höheren Zahl von Eheschließungen, und nicht etwa daran, dass in den Familien mehr Kinder geboren wurden: »Alle Bemühungen, die Entwicklung zur Zwei-Kinder-Familie aufzuhalten, scheiterten.«66 Selbst gläubige Christen, so hieß es, hielten den Gebrauch von Verhütungsmitteln für vernünftig.67
Einige Zeitzeugen berichten, sie hätten im Dritten Reich nie ein Kondom zu Gesicht bekommen.68 Das in der NS-Zeit führende Handbuch für Sexualberatung empfahl jedoch ganz offen den Gebrauch von Kondomen.69 Und anderen Zeitzeugen zufolge waren Kondome im Dritten Reich »im Überfluss« zu haben, »in Verkaufsautomaten an U-Bahn- und Eisenbahnsteigen sowie in öffentlichen Toiletten«; dort hätten die Automaten auch Vaselinetuben enthalten. 70 (Erst in den fünfziger Jahren wurden viele dieser »klapprigen Automaten« entsorgt.)71 Bis Heinrich Himmler die Werbung und den Verkauf mechanischer und chemischer Verhütungsmittel 1941 verbot (Kondome ausgenommen), waren Diaphragmen, Portiokappen, Spermizidtabletten und -gele in Apotheken, Schönheitssalons und direkt bei den Herstellern erhältlich. Selbst nach 1941 fanden Bestellfirmen Mittel und Wege, das Verbot zu unterlaufen.72 Darüber hinaus waren Informationen über die erst Anfang der dreißiger Jahre entwickelte Kalendermethode auch während des Dritten Reiches erhältlich. 73 Weder verhinderten die in der NS-Zeit eingeführten härteren Strafen, dass in großem Umfang abgetrieben wurde, noch erreichte die Geburtenrate trotz »des staatlichen Drucks [erneut] den Stand der zweiten Hälfte der ›dekadenten‹ zwanziger Jahre«.74