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Irvin D. Yalom: In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Staring at the Sun. Overcoming the Terror of Death« bei Jossey-Bass, a Wiley Imprint, San Francisco.


Copyright © 2008 by Irvin D. Yalom

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: semper smile, München
unter Verwendung des Gemäldes
Die Hoffnung II (Hope II) 1907-08 (oil and gold paint on canvas),
Klimt, Gustav (1862-1918) / Fischer Fine Art Ltd., London, UK, /
© The Bridgeman Art Library

ISBN : 978-3-641-02543-4
V004


www.btb-verlag.de

Die Namen und Identitäten der Personen in diesem Buch wurden verändert, gelegentlich einige Fallgeschichten kombiniert. Die Essenz jeder Geschichte entspricht jedoch exakt und wahrheitsgemäß der Erfahrung des Autors. Alle Patienten, die beschrieben wurden, haben den Text des Verfassers gelesen, bei der Identitätsveränderung mitgewirkt und den vorliegenden Schilderungen zugestimmt.

Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder en face.

(Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken.)

FRANÇOIS DE LA ROCHEFOUCAULD,

Maxime 26

Meinen Mentoren gewidmet,

die durch mich in meinen Lesern fortwirken:

John Whitehorn, Jerome Frank, David Hamburg

und Rollo May

Vorwort und Dank
Dieses Buch ist und kann kein Kompendium von Gedanken über den Tod sein, da sich jeder ernsthafte Autor seit Jahrtausenden mit der menschlichen Sterblichkeit befasst hat.
Stattdessen ist es ein zutiefst persönliches Buch, das auf meine eigene Konfrontation mit dem Tod zurückgeht. Ich teile die Furcht vor dem Tod mit jedem menschlichen Wesen: Sie ist unser dunkler Schatten, der uns immer begleitet. Die folgenden Seiten enthalten das, was ich aus meiner eigenen Erfahrung über die Überwindung der Todesangst gelernt habe – aus der Arbeit mit meinen Patienten und aus den Gedanken jener Autoren, die für mein Werk entscheidend waren.
Ich habe vielen zu danken, die mir dabei geholfen haben. Meine Agentin, Sandy Dijkstra, und mein Lektor, Alan Rinzler, haben mir maßgeblich dabei geholfen, dieses Buch zu formen und klar auszurichten. Viele Freunde und Kollegen haben Teile des Manuskriptes gelesen und Vorschläge gemacht: David Spiegel, Herbert Kotz, Jean Rose, Ruthellen Josselson, Randy Weingarten, Neil Brast, Rick Van Rheenen, Alice Van Harten, Roger Walsh. Philippe Martial machte mich mit La Rouchefoucaulds Maxime bekannt, die ich im Titel des Buches aufgegriffen habe. Mein Dank gilt auch Van Harvey, Walter Sokel, Dagfin Follesdal, meinen lieben Freunden und langjährigen Tutoren in Geistesgeschichte. Phoebe Hoss und Michèle Jones leisteten großartige Redaktionsarbeit. Meine vier Kinder, Eve, Reid, Victor und Ben, waren unschätzbare Berater, und meine Frau Marilyn zwang mich, wie immer, besser zu schreiben.
Am meisten jedoch verdanke ich meinen eigentlichen Lehrern: meinen Patienten, die ungenannt bleiben müssen (doch sie wissen, wer gemeint ist). Sie haben mich mit ihren tiefsten Ängsten geehrt, mir die Erlaubnis gegeben, ihre Geschichten zu verwenden, mich dabei beraten, wie ihre Identität am besten verschleiert werden konnte, das Manuskript teilweise oder ganz gelesen, mir Ratschläge gegeben und sich an dem Gedanken erfreut, so ihre Erfahrung und Weisheit an meine Leser weiterzugeben.

Kapitel 1
Die Wunde der Sterblichkeit
Trauer ergreift mein Herz.

Ich fürchte mich vor dem Tod.
GILGAMESCH
 

 

 

 

Selbstbewusstheit ist eine hohe Gabe, ein Schatz, so wertvoll wie das Leben. Sie macht uns menschlich, doch hat sie einen hohen Preis: die Wunde der Sterblichkeit. Unsere Existenz ist für immer von dem Wissen überschattet, dass wir wachsen, gedeihen und unausweichlich welken und sterben werden.
Die Sterblichkeit hat uns seit Anbeginn der Geschichte verfolgt. Vor viertausend Jahren reflektierte der babylonische Held Gilgamesch den Tod seines Freundes Enkidu folgendermaßen: »Du bist dunkel geworden und kannst mich nicht hören. Werde ich nicht wie Enkidu sein, wenn ich sterbe? Trauer ergreift mein Herz. Ich fürchte mich vor dem Tod.«
Gilgamesch spricht für uns alle. Wie er den Tod fürchtete, so fürchten auch wir ihn – jeder Mann, jede Frau, jedes Kind. Für einige von uns manifestiert sich die Furcht vor dem Tod nur indirekt, entweder als allgemeine Beunruhigung oder als sonstiges psychologisches Symptom verkleidet; andere Menschen erleben die Angst vor dem Tod sehr deutlich und bewusst; und bei manchen von uns bricht sich die Furcht vor dem Tod Bahn in einer panischen Angst, die jedes Glück und jede Erfüllung zunichte macht.
Seit ewigen Zeiten haben grübelnde Philosophen versucht, die Wunde der Sterblichkeit zu bedecken und uns zu helfen, ein Leben in Harmonie und Frieden zu führen. Als Psychotherapeut, der viele Personen behandelt, die an Todesfurcht leiden, habe ich festgestellt, dass die alten Weisheitslehren, vor allem die der antiken griechischen Philosophen, heutzutage nach wie vor relevant sind.
Tatsächlich begreife ich in meiner Arbeit als Therapeut nicht so sehr die großen Psychiater und Psychologen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Pinel, Freud, Jung, Pawlow, Rorschach und Skinner – als meine intellektuellen Vorfahren, sondern eher die klassischen griechischen Philosophen, speziell Epikur. Je mehr ich über diesen außergewöhnlichen Athener Denker lerne, desto stärker erkenne ich in ihm den proto-existenziellen Psychotherapeuten, und ich werde mich im vorliegenden Werk seiner Gedanken bedienen.
Er wurde im Jahre 341 v. Chr., sechs Jahre nach Platos Tod, geboren und starb 270 v. Chr. Die meisten Leute sind mit seinem Namen durch das Wort Epikureer oder epikureisch vertraut, das eine Person bezeichnet, die sich verfeinertem Sinnengenuss verschrieben hat (speziell gutem Essen und Trinken). Doch in der historischen Wirklichkeit plädierte Epikur nicht für sinnenfreudiges Vergnügen – es ging ihm weitaus mehr um die Erlangung der Seelenruhe, der Ataraxie.
Epikur praktizierte »medizinische Philosophie« und beharrte darauf, dass der Philosoph, gleich dem Arzt, der den Körper behandelt, die Seele behandeln muss. In seinen Augen gab es nur ein wirkliches Ziel von Philosophie: das menschliche Leid zu lindern. Und die Grundwurzel des Elends? Epikur glaubte, dass es unsere allgegenwärtige Furcht vor dem Tod sei. Die erschreckende Vision des unausweichlichen Todes, so sagte er, störe die Lebensfreude und lasse keine Freude ungetrübt. Um die Furcht vor dem Tod zu lindern, entwickelte er einige wirksame Gedankenexperimente, die mir persönlich geholfen haben, mich mit der Todesfurcht auseinanderzusetzen, und die das Handwerkszeug liefern, das ich benutze, um meinen Patienten zu helfen. Im Folgenden beziehe ich mich häufig auf diese wertvollen Ideen.
Meine persönliche Erfahrung und meine klinische Arbeit haben mich gelehrt, dass die Furcht vor dem Sterben im Laufe des Lebenszyklus schwankt. Bereits im frühen Kindheitsalter können wir nicht umhin, die Anzeichen von Sterblichkeit zu bemerken, die uns umgeben – tote Blätter, Insekten und Haustiere, Großeltern, die verschwinden, trauernde Eltern, endlos große Friedhöfe mit Grabsteinen. Kinder mögen das einfach beobachten, sich fragen und, dem Beispiel ihrer Eltern folgend, Stillschweigen bewahren. Wenn sie ihrer Angst offen Ausdruck verleihen, ist das ihren Eltern spürbar unangenehm, und sie beeilen sich natürlich, Trost zu spenden. Manchmal versuchen die Erwachsenen, besänftigende Worte zu finden, die ganze Sache in eine ferne Zukunft zu transportieren oder die Angst des Kindes mit Geschichten von Wiederauferstehung, ewigem Leben und einem Wiedersehen im Himmel zu besänftigen, alles Dinge, die den Tod negieren.
Die Furcht vor dem Tod begibt sich normalerweise im Alter von sechs Jahren bis zur Pubertät in den Untergrund, es sind jene Jahre, die Freud die Periode der latenten Sexualität nannte. Danach, in der Jugend, bricht die Furcht vor dem Tod gewaltsam aus: Teenager sind oft extrem mit dem Tod beschäftigt, einige denken an Selbstmord. Viele Heranwachsende heute reagieren auf die Todesfurcht, indem sie sich in ihrem virtuellen Leben – in ihrem zweiten Leben -, etwa in gewalttätigen Videospielen, zu Meistern über den Tod machen. Andere trotzen dem Tod mit Galgenhumor und todesverachtenden Liedern oder indem sie Horrorfilme mit Freunden anschauen. In meiner frühen Jugend ging ich zweimal in der Woche in ein kleines Kino, das in der Nähe des Ladens meines Vaters lag, wo ich mich zusammen mit meinen Freunden durch Horrorfilme schrie und die endlosen Filme, die die Barbarei des Zweiten Weltkriegs darstellten, begaffte. Ich erinnere mich, wie ich still erschauerte angesichts des schieren Zufalls, 1931 geboren worden zu sein und nicht vier Jahre zuvor wie mein Cousin Harry, der dem Gemetzel bei der Invasion der Normandie zum Opfer fiel.
Manche Jugendliche trotzen dem Tod, indem sie waghalsige Risiken eingehen. Einer meiner männlichen Patienten – der mehrere Phobien und eine alles durchdringende Angst hatte, jeden Moment könne eine Katastrophe passieren – erzählte mir, dass er mit sechzehn mit dem Fallschirmspringen begonnen hatte und Dutzende Male abgesprungen war. Nun, mit Blick zurück, meinte er, dass es eine Form war, mit seiner anhaltenden Angst vor der eigenen Sterblichkeit umzugehen.
Im Laufe der Jahre werden die jugendlichen Todesängste von den zwei Hauptaufgaben des jungen Erwachsenenlebens beiseite geschoben: Karriere machen und eine Familie gründen. Drei Jahrzehnte später, wenn die Kinder das Haus verlassen und das Berufsleben sich seinem Ende zuneigt, ereilt uns die Midlife-Crisis, und die Furcht vor dem Tod bricht erneut mit aller Macht aus. Wenn wir den Gipfel des Lebens erreichen und den Pfad vor uns betrachten, begreifen wir, dass der Pfad nicht länger ansteigt, sondern nach unten geht und sich seinem Ende nähert. Von diesem Punkt an sind die Gedanken an den Tod niemals fern.
Es ist nicht leicht, jeden Augenblick in vollem Bewusstsein des Todes zu leben. Das ist so, als versuche man, der Sonne ins Gesicht zu schauen, was sich nur begrenzt aushalten lässt. Da wir vor Angst gelähmt nicht leben können, entwickeln wir Methoden, den Schrecken des Todes abzumildern. Wir projizieren uns durch unsere Kinder in die Zukunft; wir werden reich, berühmt, wachsen sogar an Umfang; wir entwickeln zwanghafte Schutzrituale oder machen uns einen unumstößlichen Glauben an den ultimativen Retter zu Eigen.
Manche Menschen – höchst überzeugt von ihrer Immunität – leben heldenhaft, oft ohne Rücksicht auf andere oder auf sich selbst. Andere sind bemüht, die schmerzhafte Isoliertheit des Todes durch Verschmelzung zu überwinden – mit einer geliebten Person, einer Sache, einer Gemeinschaft, einem göttlichen Wesen. Todesfurcht ist die Mutter aller Religionen, die auf die eine oder andere Weise versuchen, die Pein unserer Endlichkeit in Schranken zu halten. Gott, überkulturell formuliert, mildert häufig nicht nur den Schmerz der Sterblichkeit durch irgendeine Vision von ewigem Leben, sondern lindert auch die furchterregende Isolation durch die Option einer ewigen Präsenz und liefert einen klaren Plan für ein sinnvolles Leben.
Doch trotz der standhaftesten, ehrenwertesten Abwehrmaßnahmen können wir die Furcht vor dem Tod niemals völlig bändigen: Sie ist immer da und lauert in irgendeiner versteckten Spalte des Verstandes. Vielleicht können wir, wie Plato sagt, den tiefsten Teil unseres Selbst nicht belügen.
Wäre ich ein Bürger des alten Athen um 300 v. Chr. gewesen (oft das Goldene Zeitalter der Philosophie genannt) und von Todespanik oder einem Alptraum heimgesucht worden, an wen hätte ich mich gewandt, um meinen Geist aus dem Netz der Angst zu befreien? Höchstwahrscheinlich wäre ich zur Agora getrottet, einem Teil des antiken Athen, wo viele wichtige Philosophieschulen ihren Sitz hatten. Ich wäre an der Akademie vorbeigegangen, die, von Plato gegründet, nun von seinem Neffen Speusippos geleitet wurde, und auch am Lyzeum, der Schule des Aristoteles, einst Platos Schüler, doch philosophisch zu abweichend, um zu seinem Nachfolger ernannt zu werden. Ich hätte die Schulen der Stoiker und der Zyniker passiert und jeden Wanderphilosophen auf der Suche nach Schülern ignoriert. Schließlich hätte ich den Garten Epikurs erreicht, und dort, denke ich, hätte ich Hilfe gefunden.
Wohin wenden sich Menschen mit unkontrollierbarer Todesfurcht heutzutage? Manche suchen bei ihrer Familie und ihren Freunden Hilfe, andere wenden sich an ihre Kirche oder an Therapeuten, und wieder andere konsultieren vielleicht ein Buch wie dieses. Ich habe eine Vielzahl von Personen behandelt, die der Tod in Angst und Schrecken versetzte. Ich glaube, dass die Beobachtungen, Reflexionen und Maßnahmen, die ich in lebenslanger therapeutischer Arbeit entwickelt habe, denjenigen bedeutende Hilfe und Einblick geben können, die die Furcht vor dem Tod nicht selbst zu zerstreuen vermögen.
In diesem ersten Kapitel möchte ich betonen, dass die Angst vor dem Tod Probleme erzeugt, die zunächst nicht direkt mit der Sterblichkeit in Beziehung zu stehen scheinen. Der Tod hat einen langen Arm, sein Einfluss bleibt häufig verborgen. Obwohl die Angst vor dem Sterben manche Menschen vollkommen lähmen kann, ist sie oft versteckt und drückt sich durch Symptome aus, die nichts mit der eigenen Sterblichkeit zu tun zu haben scheinen.
Freud glaubte, dass viele psychopathologische Erscheinungen aus der unterdrückten Sexualität eines Menschen resultieren. Ich glaube, diese Sicht ist viel zu eng gefasst. In meiner klinischen Arbeit habe ich mittlerweile begriffen, dass man nicht nur seine Sexualität, sondern sein gesamtes kreatürliches Selbst und besonders dessen endliche Natur unterdrücken kann.
Im zweiten Kapitel erörtere ich Wege, versteckte Todesfurcht zu erkennen. Viele Menschen haben Angstgefühle, Depressionen oder andere Symptome, die sich aus der Furcht vor dem Tod speisen. In diesem Kapitel, wie in den folgenden, werde ich meine Argumente mit klinischen Fallgeschichten und Techniken aus meiner Praxis sowie Geschichten aus Film und Literatur illustrieren.
Im dritten Kapitel werde ich zeigen, dass eine Konfrontation mit dem Tod nicht in Verzweiflung ausarten muss, die einen jedes Lebenssinns beraubt. Im Gegenteil, es kann die Erweckung zu einem reicheren Leben sein. Die zentrale These dieses Kapitels ist: Obwohl uns die Physikalität des Todes zerstört, rettet uns die Idee des Todes.
Das vierte Kapitel beschreibt und diskutiert einige der großen Ideen, die von Philosophen, Therapeuten, Schriftstellern und Künstlern entwickelt wurden, um die Angst vor dem Tod zu überwinden. Ideen allein können es jedoch, wie im fünften Kapitel dargelegt, möglicherweise nicht mit dem Entsetzen aufnehmen, das den Tod umgibt. Es ist der Synergismus von Ideen und menschlicher Beziehung, der uns am meisten dabei hilft, den Tod niederzuringen, und ich schlage zahlreiche praktische Wege vor, diesen Synergieeffekt in unserem Alltagsleben wirksam werden zu lassen.
Dieses Buch präsentiert einen Standpunkt, der sich auf meine Beobachtungen der Menschen gründet, die bei mir Hilfe suchten. Da der Beobachter jedoch das, was beobachtet wird, stets beeinflusst, wende ich mich im sechsten Kapitel einer Untersuchung des Beobachters zu und biete eine Zusammenfassung meiner persönlichen Erfahrungen mit dem Tod und meiner Haltung zur Sterblichkeit an. Auch ich ringe mit der Sterblichkeit und möchte als professioneller Therapeut, der sein ganzes Berufsleben hindurch Todesfurcht behandelt hat und für den der Tod bedrohlich näher und näher rückt, offen und klar über meine eigenen Erfahrungen mit der Todesfurcht sprechen.
Das siebte Kapitel bietet Anleitung für Therapeuten. Therapeuten vermeiden es größtenteils, sich direkt mit der Furcht vor dem Tod zu befassen. Vielleicht rührt das daher, dass sie sich scheuen, sich ihrer eigenen Angst zu stellen. Weit wichtiger ist jedoch, dass professionelle Institutionen wenig oder überhaupt keine Ausbildung in einer existenziellen Herangehensweise bieten: Junge Therapeuten haben mir erzählt, dass sie sich nicht allzu eingehend mit der Todesfurcht beschäftigen, da sie nicht wissen, was sie mit den Antworten anfangen sollen, die sie erhalten. Um Patienten, die von Todesfurcht getrieben sind, eine Hilfe zu sein, brauchen Therapeuten ein neues Spektrum von Ideen sowie eine neue Art von Beziehung mit ihren Patienten. Obwohl ich mich mit diesem Kapitel an Therapeuten richte, bemühe ich mich, Fachjargon zu vermeiden, und ich hoffe, der Stil ist klar genug, dass alle Leser folgen können.
 

Wozu, werden Sie sich vielleicht fragen, soll man dieses unerquickliche, beängstigende Thema überhaupt aufgreifen? Warum in die Sonne schauen? Weshalb nicht den Rat des ehrwürdigen Dekans der amerikanischen Psychiatrie, Adolph Meyer, befolgen, der ein Jahrhundert zuvor die Psychiater warnte: »Kratzen Sie nicht, wo es nicht juckt«?1 Warum mit dem schrecklichsten, dunkelsten und unabänderlichsten Aspekt des Lebens ringen? In der Tat hat das Aufkommen von zunehmender Verwaltung im Gesundheitswesen, von Kurzzeittherapie, Symptomkontrolle und Versuchen, Denkmuster zu verändern, diesen engstirnigen Standpunkt nur verschärft.
Der Tod jedoch juckt sehr wohl. Er juckt die ganze Zeit – er ist immer bei uns, kratzt an einer inneren Tür, summt leise, kaum hörbar, direkt unter der Membran des Bewusstseins. Versteckt und getarnt, in einer Vielfalt von Symptomen durchsickernd, ist er der Quell zahlreicher Sorgen, Belastungen und Konflikte.2
Ich habe – als ein Mensch, der selbst in nicht allzu ferner Zukunft sterben wird, und als Psychiater, der Jahrzehnte damit verbracht hat, sich mit der Todesfurcht zu befassen – das deutliche Gefühl, dass uns die Konfrontation mit dem Tod erlaubt, statt eine giftige Büchse der Pandora zu öffnen, das Leben in reicherer, mitfühlenderer Form wieder aufzunehmen.
Daher ist dieses Buch ein optimistisches. Ich glaube, dass es Ihnen dabei helfen wird, dem Tod ins Auge zu blicken und, auf diese Weise, nicht nur den Schrecken zu mildern, sondern auch Ihr Leben zu bereichern.

Kapitel 2
Todesfurcht erkennen
Tod ist alles

und nichts.
 

 

Die Würmer kriechen hinein,

die Würmer kriechen heraus.
Jeder Mensch fürchtet den Tod auf seine eigene Weise. Für manche ist die Furcht vor dem Tod die Hintergrundmelodie ihres Lebens, und jede Handlung ruft den Gedanken wach, dass der bestimmte Augenblick nie wiederkommen wird. Sogar ein alter Film löst ein Gefühl der Wehmut bei jenen aus, die ständig daran denken müssen, dass all die Schauspieler inzwischen zu Staub zerfallen sind.
Für andere Menschen erklingt die Furcht lauter, unbeherrschbar, tendiert dazu, sie um drei Uhr morgens zu überfallen, dass sie nach Luft schnappen angesichts des Schreckgespenstes des Todes. Sie sind von dem Gedanken besessen, dass auch sie bald tot sein werden – so wie jeder ringsherum.
Andere wieder werden von einer spezifischen Fantasie des drohenden Todes gejagt: ein auf ihren Kopf gerichtetes Gewehr, ein Nazi-Erschießungskommando, eine auf sie zudonnernde Lokomotive, der Fall von einer Brücke oder von einem Wolkenkratzer.
Todesszenarien nehmen oft lebhafteste Formen an. Der eine ist in einem Sarg eingesperrt, die Nasenlöcher mit Erdreich verstopft, jedoch in vollem Bewusstsein dessen, dass er für immer und ewig in der Dunkelheit liegt. Ein anderer fürchtet, niemals mehr einen geliebten Menschen zu sehen, zu hören, zu berühren. Wieder andere fühlen den Schmerz, unter der Erde zu sein, während alle Freunde oben sind. Das Leben dort wird ohne sie weitergehen, ohne die Möglichkeit, jemals zu erfahren, was aus ihrer Familie, ihren Freunden oder der eigenen kleinen Welt wird.
Jeder von uns bekommt einen Vorgeschmack vom Tod, wenn er des Nachts in den Schlaf sinkt oder bei einer Narkose das Bewusstsein verliert. Tod und Schlaf, Thanatos und Hypnos im Griechischen, waren Zwillinge. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera weist darauf hin, dass wir auch durch den Akt des Vergessens einen Geschmack des Todes erhalten: Was am Tod am erschreckendsten sei, sei nicht der Verlust der Zukunft, sondern der Verlust der Vergangenheit. Tatsächlich sei der Akt des Vergessens eine Form von Tod, die im Leben stets gegenwärtig sei.1
Bei vielen Menschen ist die Todesfurcht, wie erschütternd auch immer, unverhüllt und leicht erkennbar. Bei anderen ist sie subtil, verdeckt, versteckt sich hinter anderen Symptomen und kann nur identifiziert werden, indem man sie erforscht, ja sogar ausgräbt.

Offene Todesfurcht

Viele von uns vermischen die Furcht vor dem Tod mit der Angst vor dem Bösen, vor dem Verlassenwerden oder der Auslöschung. Manchen raubt das Übermaß der Ewigkeit den Atem, tot zu sein für immer und ewig bis in alle Ewigkeit; andere sind nicht imstande, den Zustand des Nicht-Seins zu erfassen, und grübeln über die Frage, wo sie sein werden, wenn sie tot sind; einige kaprizieren sich auf das Entsetzen, dass ihre gesamte persönliche Welt verschwinden wird; andere wiederum ringen mit dem Problem der Unausweichlichkeit des Todes, wie es in der E-Mail einer zweiunddreißigjährigen Frau, die Anfälle von Todesfurcht hatte, zum Ausdruck kam:
Ich denke, die stärksten Gefühle rührten von der Erkenntnis her, dass ICH es sein würde, die sterben wird, nicht irgendein anderes Wesen wie ein Alte-Dame-Ich oder ein Unheilbar-krank-und-bereit-zu-sterben-Ich. Ich vermute, ich habe an den Tod immer indirekt gedacht, als etwas, das eher passieren könnte als würde. Nach einem heftigen Panikanfall dachte ich wochenlang an den Tod, gezielter als je zuvor, und jetzt weiß ich, es ist nicht mehr etwas, das passieren könnte. Ich hatte das Gefühl, mir einer schrecklichen Wahrheit bewusst geworden zu sein und niemals mehr zurückzukönnen.
Manche Menschen treibt ihre Angst zu einer unerträglichen Schlussfolgerung: dass weder ihre Welt noch irgendwelche Erinnerungen daran irgendwo existieren werden. Ihre Straße, ihre Welt der Familientreffen, Eltern, Kinder, Strandhaus, Highschool, bevorzugte Campingplätze – alles in Luft aufgelöst mit ihrem Tod. Nichts ist stabil, nichts von Dauer. Welchen potenziellen Sinn kann ein Leben von solcher Vergänglichkeit überhaupt haben? Die E-Mail ging folgendermaßen weiter:
Ich wurde mir schmerzlich der Bedeutungslosigkeit bewusst – wie alles, was wir tun, zum Vergessen verdammt scheint – und des letztendlichen Untergangs des Planeten. Ich stellte mir den Tod meiner Eltern, Schwestern, meines Freundes und meiner Bekannten vor. Ich denke oft daran, wie sich eines Tages MEIN Schädel und MEINE Knochen, kein hypothetischer oder imaginärer Satz von Schädel und Knochen, eher außerhalb als innerhalb meines Körpers befinden werden. Dieser Gedanke ist sehr verstörend. Die Idee, eine von meinem Körper getrennte Einheit zu sein, greift bei mir nicht wirklich, so dass ich mich nicht mit dem Gedanken an die unvergängliche Seele trösten kann.
Die Aussage dieser jungen Frau beinhaltet mehrere Hauptthemen: Der Tod ist für sie etwas Persönliches geworden, nicht länger etwas, das geschehen könnte oder nur anderen widerfährt; die Unausweichlichkeit des Todes macht alles Leben bedeutungslos. Sie hält die Idee einer unsterblichen Seele, getrennt von ihrem physischen Leib, für äußerst unwahrscheinlich und kann im Konzept eines Lebens nach dem Tod keinen Trost finden. Sie wirft auch die Frage auf, ob das nicht vorhandene Bewusstsein nach dem Tod das gleiche wie vor der Geburt ist (ein wichtiger Punkt, der in unserer Erörterung von Epikur wieder auftauchen wird).
Eine Patientin mit Todesangstattacken gab mir in unserer ersten Sitzung das folgende Gedicht:
Tod greift um sich.

Seine Gegenwart quält mich,

packt mich, treibt mich.

Ich schreie auf in Qual.

Ich mache weiter.
 

Jeden Tag droht Vernichtung.

Ich versuche, Spuren zu hinterlassen,

die vielleicht Bedeutung haben,

mich an der Gegenwart zu beteiligen.

Das Beste, was ich tun kann.
Doch Tod lauert direkt hinter

dieser schützenden Fassade,

an deren Trost ich mich klammere,

wie an eine Kindheitsdecke.

Die Decke ist löchrig

in der Stille der Nacht,

wenn das Entsetzen wiederkehrt.
 

Es wird kein Selbst mehr geben,

um in der Natur zu atmen,

die Fehler gutzumachen,

süße Traurigkeit zu fühlen.

Unerträglicher Verlust, obgleich

geboren ohne Bewusstheit.
 

Tod ist alles

und nichts.
Sie war besonders von dem Gedanken getrieben, der in ihren beiden letzten Zeilen zum Ausdruck kommt: Tod ist alles und nichts. Sie erklärte, dass die Vorstellung, nichts zu werden, sie verzehrte und alles wurde. Doch das Gedicht enthält zwei wichtige tröstliche Gedanken: dass ihr Leben, indem sie Spuren von sich hinterlässt, an Bedeutung gewinnt und dass das Beste, was sie tun kann, ist, den gegenwärtigen Augenblick anzunehmen.

Die Angst vor dem Sterben steht nicht für etwas anderes

Psychotherapeuten nehmen fälschlicherweise oft an, dass offene Todesfurcht keine Angst vor dem Tod, sondern die Tarnmaske für ein anderes Problem ist. Dies war der Fall bei Jennifer, einer neunundzwanzigjährigen Grundstücksmaklerin, deren lebenslangen nächtlichen Panikattacken aufgrund von Todesangst von den vorangegangenen Therapeuten kein Wert beigemessen wurde. Zeit ihres Lebens erwachte Jennifer häufig während der Nacht schweißüberströmt mit weit aufgerissenen Augen, zitternd angesichts ihrer eigenen Auslöschung. Sie sah sich verschwinden, für immer in die Finsternis stolpern, völlig vergessen von der Welt der Lebenden. Sie sagte sich, dass nichts wirklich etwas bedeute, wenn alles letztendlich zur absoluten Vernichtung bestimmt sei.
Solche Gedanken hatten sie seit ihrer frühen Kindheit gepeinigt. Sie erinnerte sich lebhaft an die erste Episode, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Als sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern rannte, am ganzen Leib zitternd vor Angst zu sterben, wurde sie von ihrer Mutter beruhigt, die ihr zwei Dinge sagte, die sie niemals vergaß:
Du hast noch ein sehr langes Leben vor dir, und es hat keinen Sinn, jetzt daran zu denken.
Wenn du sehr alt bist und dem Tod nahe, dann wirst du deinen Frieden haben oder sehr krank sein, und der Tod wird in jedem Fall nicht unwillkommen sein.
Jennifer hatte sich ihr ganzes Leben lang auf die tröstenden Worte ihrer Mutter verlassen, und sie hatte auch zusätzliche Strategien entwickelt, um die Attacken abzumildern. Sie erinnerte sich selbst daran, dass sie die Wahl hatte, an den Tod zu denken oder nicht. Oder sie versuchte, positive Erfahrungen aus ihrem Reservoir an Erinnerungen zu mobilisieren – Gelächter mit Kindheitsfreunden, Staunen über spiegelnde Seen und Wolkenformationen während einer Wanderung mit ihrem Mann in den Rockies, Küsse auf die sonnigen Gesichter ihrer Kinder.
Nichtsdestotrotz suchte ihre Angst vor dem Tod sie weiter heim und nahm ihr viel von ihrer Zufriedenheit im Leben. Sie hatte mehrere Therapeuten ohne viel Erfolg aufgesucht. Diverse Medikamente hatten die Intensität, jedoch nicht die Häufigkeit der Attacken verringert. Ihre Therapeuten konzentrierten sich nie auf ihre Angst vor dem Tod, da sie glaubten, der Tod stehe für eine andere Furcht. Ich beschloss, die Irrtümer meiner Vorgänger nicht zu wiederholen. Ich glaube, dass sie durch einen machtvollen, wiederkehrenden Traum in die Irre geführt worden waren, der Jennifer zum ersten Mal mit fünf Jahren heimsuchte:
Meine ganze Familie ist in der Küche. Eine Schüssel mit Regenwürmern steht auf dem Tisch, und mein Vater zwingt mich, eine Handvoll zu nehmen, sie zu zerquetschen und dann die Milch zu trinken, die aus ihnen herauskommt.
Für jeden Therapeuten, den sie konsultiert hatte, stellte die Symbolik des Würmerzerquetschens, um Milch zu erhalten, verständlicherweise Penis und Samen dar, und jeder forschte als Folge davon nach einem eventuellen sexuellen Missbrauch durch den Vater. Das war auch mein erster Gedanke gewesen, doch ich ließ ihn fallen, nachdem ich Jennifers Bericht gehört hatte, wie solche Fragen unausweichlich zu falschen Richtungen in der Therapie geführt hatten. Obwohl ihr Vater extrem furchteinflößend und verbal ausfallend gewesen war, erinnerten sich weder sie noch ihre Geschwister an irgendwelche Vorfälle sexuellen Missbrauchs.
Keiner ihrer früheren Therapeuten untersuchte die Heftigkeit und die Bedeutung ihrer allgegenwärtigen Angst vor dem Tod. Dieser geläufige Irrtum hat eine altehrwürdige Tradition, seine Wurzeln reichen zurück bis zur allerersten Publikation der Psychotherapie: Freuds und Breuers Studien über Hysterie (1895). Eine sorgfältige Lektüre dieses Textes offenbart, dass die Angst vor dem Tod das Leben von Freuds Patienten durchzieht.2 Sein Versagen, diese Ängste zu erforschen, wäre rätselhaft, würde nicht durch seine späteren Schriften erklärt, wie diese Theorie über die Ursprünge der Neurose auf der Annahme eines Konflikts zwischen verschiedenen unbewussten, primitiven, instinktiven Kräften beruhte. Der Tod könne in der Genesis der Neurose keine Rolle spielen, schrieb Freud, da er keine Symbolisierung im Unbewussten habe. Er führte zwei Gründe dafür an: erstens haben wir keinerlei persönliche Erfahrung des Todes, und zweitens ist es uns nicht möglich, unser Nichtsein zu betrachten.3
Obzwar Freud scharfsinnig und klug über den Tod in so kurzen, unsystematischen Aufsätzen wie »Unser Verhältnis zum Tod« nachdachte4, verfasst in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs, beeinflusste seine »Ent-Todifizierung« des Todes – wie es Robert Jay Lifton einmal formulierte5 – in der formalen psychoanalytischen Theorie Generationen von Therapeuten stark dahingehend, sich vom Tod weg auf das zuzubewegen, was der Tod ihrer Ansicht nach im Unbewussten repräsentierte, nämlich vor allem Verlassenwerden und Kastration. De facto könnte man argumentieren, dass die psychoanalytische Betonung auf der Vergangenheit ein Rückzug von der Zukunft und der Konfrontation mit dem Tod darstellt. 6
Bei meiner Behandlung von Jennifer verlegte ich mich gleich von Anfang an auf eine ausdrückliche Erforschung ihrer Ängste vor dem Tod. Es kam keinerlei Widerstand: Sie war darauf erpicht, daran zu arbeiten, und hatte mich ausgesucht, weil sie meine Existenzielle Psychotherapie gelesen hatte und sich mit den existenziellen Tatsachen des Lebens konfrontieren wollte. Unsere Therapiesitzungen konzentrierten sich auf ihre Todesgedanken, ihre Erinnerungen und Fantasien. Ich bat sie, sorgfältig Notizen von ihren Träumen und Gedanken während ihrer Panikattacken zu machen.
Sie musste nicht lange warten. Nur wenige Wochen später erlebte sie einen schweren Panikanfall, nachdem sie einen Film über die Nazizeit gesehen hatte. Sie war zutiefst geschockt von der kompletten Zufälligkeit des Lebens, wie sie in dem Film porträtiert wurde. Unschuldige Geiseln wurden willkürlich ausgewählt und willkürlich getötet. Überall Gefahr, nirgends war Sicherheit zu finden. Sie war stark getroffen von den Ähnlichkeiten mit ihrem Kindheitszuhause: die ständige Gefahr angesichts der unberechenbaren Wutausbrüche ihres Vaters, ihr Gefühl, kein Versteck zu haben und nur in der Unsichtbarkeit eine Zuflucht zu finden – das heißt, indem sie so wenig wie möglich sagte und verlangte.
Kurz danach besuchte sie das Haus ihrer Kindheit und meditierte am Grab ihrer Eltern, wie ich vorgeschlagen hatte. Einen Patienten zu bitten, an einem Grab zu meditieren, erscheint vielleicht radikal, doch 1895 beschrieb Freud, dass er einem Patienten eben diese Anweisung gab.7 Als Jennifer am Grabstein ihres Vaters stand, hatte sie plötzlich einen seltsamen Gedanken: »Wie kalt muss es ihm im Grab sein.«
Wir besprachen diese sonderbare Idee. Es war, als sei ihre kindliche Sicht des Todes mit ihren irrationalen Komponenten (zum Beispiel, dass die Toten noch Kälte spüren können) genauso präsent in ihrer Vorstellung wie ihre Erwachsenenvernunft.
Als sie von dieser Sitzung nach Hause fuhr, kam ihr ein Lied in den Sinn, das in ihrer Kindheit populär gewesen war, und sie begann zu singen, überrascht darüber, dass sie sich an die Strophen alle erinnern konnte.
Hast du je daran gedacht, wenn du einen Leichenwagen

siehst,

dass du der Nächste sein könntest, der dort drinnen

liegt?

Sie wickeln dich in ein großes weißes Laken ein,

graben dich metertief im Boden ein,

legen dich in eine große schwarze Kiste hinein

und decken dich mit Dreck und Steinen ein,

und alles geht gut, etwa eine Woche lang,

dann fängt der Sarg zu lecken an!
Die Würmer kriechen hinein, die Würmer kriechen

heraus,

die Würmer spielen in deiner Mundhöhle Katz und

Maus.

Sie fressen deine Augen, fressen deine Nasenspitze,

sie fressen zwischen deinen Zehen die ganze Grütze.

Ein fetter großer Wurm mit rollenden Augen,

kriecht in deinen Bauch und aus deinen Augen,

zu schleimgrüner Grütze wird dein Bauch,

und Eiter quillt wie Schlagrahm heraus.

Du schmierst das Ganze auf eine Scheibe Brot,

und das ist, was du isst, wenn du einst bist tot.
Während sie sang, krochen Erinnerungen in ihr hoch an ihre Schwestern (Jennifer war die Jüngste), wie sie sie erbarmungslos quälten, indem sie immer wieder dieses Lied sangen, ohne Rücksicht zu nehmen auf ihre ganz offensichtliche Verzweiflung.
Die Erinnerung an dieses Lied war eine Art Weckruf für Jennifer, denn es führte dazu, dass sie begriff, dass ihr wiederkehrender Traum von der Milch der Regenwürmer, die sie trinken sollte, nichts mit Sex zu tun hatte, sondern mit dem Tod, der Gefahr und der mangelnden Sicherheit, die sie als Kind erlebt hatte. Diese Einsicht – dass sie eine kindliche Sicht des Todes in suspendierter Lebendigkeit aufrechterhielt -, eröffnete ihr neue Ausblicke in der Therapie.

Versteckte Todesangst

Möglicherweise bedarf es detektivischen Spürsinns, um versteckte Todesfurcht ans Licht zu bringen, doch häufig kann man sie, ob in Therapie oder anderswo, durch Selbstreflexion aufdecken. Gedanken an den Tod können in die Träume einsickern und sie durchdringen, auch wenn sie im Bewusstsein keinen Platz haben. Jeder Alptraum ist ein Traum, in dem die Todesfurcht aus ihrer Koppel entwichen ist und den Träumer bedroht.
Alpträume wecken den Schläfer und stellen das Leben des Träumers in einer Gefahrensituation dar: Man rennt um sein Leben vor einem Mörder davon, fällt aus großer Höhe, versteckt sich vor einer tödlichen Bedrohung oder stirbt tatsächlich oder ist tot.
Der Tod erscheint in Träumen oft in symbolischer Form. Zum Beispiel träumte ein Mann in mittleren Jahren, der Magenprobleme hatte und hypochondrische Befürchtungen vor Magenkrebs, dass er mit seiner Familie im Flugzeug saß, unterwegs zu einem exotischen karibischen Urlaubsdomizil. Dann, in der nächsten Szene, fand er sich am Boden liegend, gekrümmt vor Magenschmerzen. Er wachte entsetzt auf und erkannte sofort die Bedeutung des Traums: Er war an Magenkrebs gestorben, und das Leben ging ohne ihn weiter.
Bestimmte Situationen im Leben schließlich beschwören stets Todesfurcht herauf: zum Beispiel eine ernsthafte Krankheit, der Tod eines nahe stehenden Menschen oder eine größere, unumstößliche Bedrohung der eigenen fundamentalen Sicherheit – wie eine Vergewaltigung, Scheidung, Entlassung oder ein Raubüberfall. Die Reflexion eines solchen Vorfalls resultiert im Allgemeinen im Auftauchen offener Ängste vor dem Tod.

Furcht vor nichts ist in Wirklichkeit Furcht vor dem Tod

Vor Jahren hat der Psychologe Rollo May scherzhaft geäußert, dass Furcht vor nichts immer versucht, Furcht vor etwas zu werden. Mit anderen Worten, die Furcht vor dem Nichts heftet sich schnell an ein greifbares Objekt. Susans Geschichte illustriert die Nützlichkeit dieses Konzepts, sobald eine Person unverhältnismäßig starke Angst vor irgendeinem Ereignis hat.
Susan, eine akkurate, effiziente, staatlich geprüfte Steuerberaterin in mittleren Jahren, hatte mich einmal wegen eines Konflikts mit ihrem Arbeitgeber konsultiert. Wir trafen uns einige Monate, und sie kündigte schließlich ihren Job und machte eine äußerst erfolgreiche Konkurrenzfirma auf.
Einige Jahre später, als sie mich anrief und dringend um einen Termin bat, erkannte ich ihre Stimme kaum wieder. Normalerweise fröhlich und selbstbeherrscht, klang Susan nun zitternd und panisch. Ich empfing sie noch am selben Tag und war alarmiert von ihrem Aussehen. Entgegen ihrem sonstigen Auftreten, zurückhaltend und modisch gekleidet, wirkte sie unordentlich und erregt, mit rotem Gesicht, vom Weinen geschwollenen Augen und einem leicht verschmutzten Verband um den Hals.
Stockend erzählte sie ihre Geschichte. George, ihr erwachsener Sohn, ein verantwortungsvoller junger Mann in guter Stellung, befand sich im Gefängnis aufgrund einer Drogengeschichte. Die Polizei hatte ihn wegen eines geringfügigen Verkehrsdelikts aufgehalten und Kokain in seinem Wagen gefunden. Der entsprechende Test war positiv ausgefallen, und da er wegen eines Alkoholvergehens am Steuer bereits an einem staatlichen Resozialisierungsprogramm teilnahm und dies seine dritte Straftat in Zusammenhang mit Drogen gewesen war, wurde er zu einem Monat Gefängnis und einer zwölfmonatigen Drogentherapie verurteilt.
Susan hatte seit vier Tagen ununterbrochen geweint. Sie konnte weder schlafen noch essen und war nicht imstande, zur Arbeit zu gehen (das erste Mal innerhalb von zwanzig Jahren). Während der Nacht folterten sie Horrorvisionen von ihrem Sohn: wie er aus einer Flasche in einer braunen Packpapiertüte schlürfte, wie er dreckig, mit fauligen Zähnen in der Gosse starb.
»Er überlebt das Gefängnis nicht«, sagte sie zu mir, und dann schilderte sie, wie erschöpft sie sei, nachdem sie an allen Drähten gezogen und jeden verfügbaren Weg genützt hatte, um seine Freilassung zu erwirken. Sie war am Boden zerstört, sobald sie Fotos von ihm als Kind betrachtete – engelsgleich, mit blond gelocktem Haar, seelenvollen Augen mit einer reichen, grenzenlos viel versprechenden Zukunft.
Susan hielt sich für äußerst einfallsreich. Sie war eine Frau, die trotz untauglicher, zügelloser Eltern aus sich selbst heraus etwas geschaffen und Erfolg errungen hatte. In dieser Situation jedoch fühlte sie sich absolut hilflos.
»Warum hat er mir das angetan?«, fragte sie. »Das ist Rebellion, eine vorsätzliche Sabotage meiner Pläne für ihn. Was könnte es sonst sein? Habe ich ihm nicht alles gegeben – jedes mögliche Instrument zum Erfolg -, die beste Erziehung, Tennis-, Klavier-, Reitunterricht? Und so zahlt er es mir zurück? Die Schande – stellen Sie sich vor, meine Freunde finden es heraus!« Susan brannte vor Neid, als sie an die erfolgreichen Kinder ihrer Freunde dachte.
Als Erstes erinnerte ich sie an Dinge, die sie bereits wusste. Ihre Vision von ihrem Sohn in der Gosse war irrational, sie sah eine Katastrophe, wo es keine gab. Ich wies darauf hin, dass er alles in allem ein gutes Stück vorangekommen sei: Er war in einem guten Reha-Programm und in Einzeltherapie bei einem exzellenten Berater. Suchtentwöhnung ist selten unkompliziert: Rückfälle, oft mehrmals, sind unvermeidlich. Das wusste Susan natürlich; sie war vor kurzem von einer ganzen Woche Familientherapie im Rahmen des Rehabilitationsprogramms ihres Sohnes zurückgekehrt. Überdies teilte ihr Mann ihre großen Sorgen um ihren Sohn keineswegs.
Sie wusste auch, dass ihre Frage: »Warum hat George mir das angetan?« irrational war, und sie nickte zustimmend, als ich sagte, dass sie sich aus diesem Bild herausnehmen müsse. Sein Rückfall hatte nichts mit ihr zu tun.
Jede Mutter wäre über einen Drogenrückfall ihres Sohnes bestürzt und würde sich Sorgen darüber machen, dass er im Gefängnis saß, doch Susans Reaktion schien überzogen. Bei mir stellte sich der Verdacht ein, dass viel von ihrer Angst eigentlich aus einer anderen Quelle stammte.
Besonders betroffen war ich von ihrem Gefühl tiefster Hilflosigkeit. Sie hatte sich immer als extrem einfallsreich angesehen, und nun war dieses Bild zunichte gemacht worden – es gab nichts, was sie für ihren Sohn tun konnte (außer, sich aus seinem Leben zu lösen).
Doch warum war George so immens zentral in ihrem Leben? Ja, er war ihr Sohn. Aber es war mehr als das. Er stand zu sehr im Mittelpunkt – als hinge ihr ganzes Leben von seinem Erfolg ab. Ich erörterte, dass Kinder für viele Eltern häufig ein »Unsterblichkeitsprojekt« darstellen. Dieser Gedanke weckte ihr Interesse. Sie erkannte, dass sie gehofft hatte, sich durch George fortzupflanzen, doch sie wusste nun, dass sie das hinter sich lassen musste.
»Er ist nicht stabil genug dafür«, sagte sie.
»Ist irgendein Kind jemals stabil genug dafür?«, fragte ich. »Und überdies hat sich George nie für diesen Job gemeldet – daher hat sein Verhalten, sein Rückfall nichts mit Ihnen zu tun.«
Als ich mich gegen Ende der Sitzung nach dem Verband an ihrem Hals erkundigte, erzählte sie mir, dass sie gerade eine kosmetische Operation zur Halsstraffung hinter sich habe. Als ich weiter nachfragte, wurde sie ungeduldig und wollte wieder auf ihren Sohn zurückkommen – der Grund, wie sie betonte, weshalb sie mich kontaktiert hätte.
Doch ich ließ nicht locker.
»Erzählen Sie mir mehr über Ihre Entscheidung, sich operieren zu lassen.«
»Na ja, ich hasse es, was das Altern aus meinem Körper macht – meine Brüste, mein Gesicht, vor allem mein schlaffer Hals. Die Operation ist ein Geburtstagsgeschenk an mich selbst.«
»Welcher Geburtstag?«
»Ein runder. Nummer sechs null. Letzte Woche.«
Sie sprach darüber, wie es war, sechzig zu sein und zu realisieren, dass die Zeit ablief (und ich sprach darüber, wie es war, siebzig zu sein). Dann fasste ich zusammen:
»Ich habe das sichere Gefühl, dass Ihre Angst überzogen ist, da ein Teil von Ihnen ganz genau weiß, dass Rückfälle in nahezu jedem Verlauf einer Suchtbehandlung vorkommen. Ich denke, dass Ihre Angst teilweise woanders herrührt und Sie das auf George übertragen.«
Unterstützt von Susans energischem Nicken, fuhr ich fort: »Ich denke, dass es bei einem großen Teil Ihrer Angst um Sie selbst und nicht um George geht. Es hängt mit Ihrem sechzigsten Geburtstag zusammen, Ihrem Bewusstsein zu altern und mit dem Tod. Mir scheint, dass Sie einige wichtige Fragen tiefgreifend überdenken müssen: Was werden Sie mit dem Rest Ihres Lebens anfangen? Welchen Sinn werden Sie ihm verleihen, besonders jetzt, da Sie erkennen, dass George diese Aufgabe nicht erfüllen wird?«
Susans Ungeduld hatte sich langsam in intensives Interesse verwandelt. »Ich habe mir nie viel Gedanken gemacht übers Altwerden und wie die Zeit verrinnt. Und in unserer letzten Therapie ist das Thema nie aufgetaucht. Aber ich verstehe, was Sie meinen.«
Am Ende der Stunde sah sie mich an: »Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie Ihre Ideen mir helfen sollen, aber eines möchte ich Ihnen sagen: In den letzten fünfzehn Minuten haben Sie meine Aufmerksamkeit gefesselt. Es war die längste Zeitspanne seit vier Tagen, in der mein Denken nicht völlig von George beherrscht wurde.«
Wir vereinbarten einen weiteren Termin für die nächste Woche am frühen Morgen. Sie wusste von unseren früheren Sitzungen her, dass meine Morgenstunden fürs Schreiben reserviert waren, und merkte an, dass ich mein Muster durchbrach. Ich sagte ihr, dass mein üblicher Plan ausgesetzt sei, da ich einen Teil der folgenden Woche verreisen würde, um an der Hochzeit meines Sohnes teilzunehmen.
Im Bestreben, noch etwas Hilfreiches beizusteuern, fügte ich hinzu, als sie ging: »Es ist die zweite Heirat meines Sohnes, Susan, und ich erinnere mich, dass ich eine schlimme Zeit durchmachte, als er sich scheiden ließ – es ist schrecklich, sich als Elternteil so hilflos zu fühlen. Ich weiß also aus Erfahrung, wie furchtbar Sie sich gefühlt haben. Der Wunsch, unseren Kindern zu helfen, ist in uns eingestanzt.«
In den folgenden zwei Wochen konzentrierten wir uns beträchtlich weniger auf George, dafür umso mehr auf ihr eigenes Leben. Ihre Angst um George verringerte sich drastisch. Sein Therapeut hatte den Vorschlag gemacht (dem ich beipflichtete), dass es sowohl für Susan als auch für George das Beste sei, wenn sie für einige Wochen den Kontakt abbrächen. Sie wollte mehr über die Angst vor dem Tod wissen und darüber, wie die meisten Leute damit umgehen, und ich teilte eine Reihe meiner auf diesen Seiten beschriebenen Gedanken über Todesfurcht mit ihr. In der vierten Woche berichtete sie, dass sie sich wieder normal fühlte, und wir vereinbarten eine abschließende Stunde einige Wochen später.
Bei dieser letzten Stunde, als ich fragte, was ihr in unserer gemeinsamen Arbeit am meisten geholfen habe, traf sie eine klare Unterscheidung zwischen den Gedanken, die ich eingebracht hatte, und der bedeutungsvollen Beziehung, die sie zu mir hatte.