Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Im Dezember 1971 begegnete ich Walter Kempowski zum ersten Mal, einem schlanken Mann von Anfang 40, der in jenem Jahr einen Roman mit dem merkwürdigen Titel«Tadellöser & Wolff»publiziert hatte. Der Roman war freundlich, sogar betont wohlwollend aufgenommen worden – voller Anerkennung war die Kritik schon zwei Jahre zuvor bei Kempowskis Debüt«Im Block»gewesen -, doch von großen Auflagen, gar von Popularität war der Autor weit entfernt. Damals konnte niemand ahnen, auch Kempowski nicht, der große Pläne hatte, daß mit dem Erscheinen dieses Buches der Grundstein für einen der erfolgreichsten Romanzyklen der deutschen Literatur gelegt war.
Kempowski las in einer Hamburger Bücherhalle vor allenfalls zwei Dutzend Zuhörern. Nach der Lesung bat ich ihn um ein Interview – ich war Anfang Zwanzig, Student der Germanistik, und ich muß auf ihn einen sehr jugendlichen Eindruck gemacht haben. Denn Kempowski reagierte reserviert: Nein, von einer Schülerzeitung wolle er sich nicht befragen lassen. Immerhin durfte ich ihn zum Hauptbahnhof fahren, und während der Fahrt erklärte ich ihm, daß ich hoffte, eine Zeitung zum Abdruck des Interviews bewegen zu können. Gut, sagte er, falls eine richtige Zeitung für den Plan zu gewinnen sei, dürfte ich mich wieder bei ihm melden.
Als ich ihm dann wenig später mitteilte, die Literaturzeitschrift«Akzente»habe an einem Kempowski-Gespräch Interesse, ging alles recht schnell. Schon am 22. Januar 1972 saß ich bei ihm in Nartum, im Obergeschoß der Dorfschule. Kempowski war Lehrer, der nebenbei schrieb; als Schriftsteller konnte er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie noch lange nicht verdienen.
Das Interview fand am Nachmittag statt. Auf Kempowskis Briefbogen stand vorsorglich hinter der Telefonnummer der Vermerk:«ab 15.30 Uhr». Störungen zur falschen Zeit wollte er ausschließen. Übrigens zierte den Bogen damals auch eine eigenwillige Kopf- und Fußleiste: Außer dem Namen Kempowski waren als Schriftband oben und unten allerlei Fehlschreibungen dokumentiert, wie«Kampowske»,«Klimbinsky»,«Kompotzki»,«Klombowske»,«Kenbosski»oder«Kompowki»- in dieser Auflistung offenbarte sich die für Kempowski auch später charakteristische Mischung aus Verärgerung und Selbstironie.
Er erzählte geduldig und konzentriert: wie er, der Rostocker Reedersohn, zwischen 1948 und 1956 in Bautzen als politischer Häftling einsaß, wie er im Knast Verse im Rilke-Ton auf Schiefertafeln notierte, wie er dann nach seiner Entlassung in der Bundesrepublik einen nie veröffentlichten kleinen Roman à la Kafka geschrieben habe.
Er, der literarische Neuling, ein Opfer von Willkürjustiz, hatte nach der Haft den Impuls, zunächst alles zusammenzutragen und um sich zu versammeln, was ihn an seine Kindheit und Jugend erinnerte: alte Fotos, Adreßbücher, Zeitungen, Spielzeuge. Mitte der fünfziger Jahre begann er damit, seine Mutter, seinen Bruder und andere Verwandte vor ein Tonbandgerät zu setzen und zu befragen. Das alles wurde zur Grundlage zunächst für den Roman«Tadellöser & Wolff», später auch für andere Teile jener Chronik des deutschen Bürgertums, mit der er berühmt werden sollte.
Schon damals, Anfang der siebziger Jahre, war dem Schriftsteller freilich ein Problem sehr bewußt: Das, was da unter seinen Händen weitgehend autobiographisch zum Roman wurde (Kempowski hat daraus nie ein Hehl gemacht), war ein subjektiver, sehr individueller Ausschnitt der deutschen Geschichte, das Schicksal einer, seiner Familie – und trotz der Gefängnishaft Kempowskis, seines Bruders und schließlich auch der Mutter war es eine noch einigermaßen glimpflich verlaufene Geschichte aus Kriegs- und Nachkriegszeiten. Dem Autor stand stets vor Augen, daß es andere, viel grausamere und entsetzlichere Geschichten aus jenen Jahren zu erzählen gab. Aber wie konnten sie Eingang in sein autobiographisches Romanwerk finden?
Als wir damals in Nartum miteinander sprachen, hatte Kempowski schon eine fixe Idee im Kopf. Er beabsichtige, sagte er mir, Zeitzeugen eine einzige Frage zu stellen:«Haben Sie Hitler gesehen?»Aus den Antworten wollte er ein Buch zusammenstellen. Das klang recht kurios, und ich war zunächst mehr als skeptisch, was seinen Plan anging. Kempowski bat mich (wie auch manch anderen) um Mitarbeit – und allein die drei Stimmen, die ich aus meiner Familie zu dem Projekt beitrug, machten mir schnell klar, daß diese schlichte Frage bei den Befragten etwas in Gang setzte, was in jedem Sinn unerhört war.
Das kleine gelbe Buch mit der Frage im Titel erschien 1973: Hunderte von verblüffenden, naiven, listigen und verräterischen Stimmen waren zusammengekommen. Mag die Sammlung auch demoskopisch nicht abgesichert sein, so ist sie doch auf ihre Art repräsentativ – eine entlarvende Offenbarung, ein grandioses Dokument der Zeitgeschichte.
Noch beklemmender wurde die Angelegenheit, als der Schriftsteller Jahre später noch eine andere«Schlüsselfrage»(Kempowski) stellte, eine Frage wiederum von entwaffnender Schlichtheit, nämlich:«Haben Sie davon gewußt?»Gemeint waren die Konzentrations- und Vernichtungslager – und fast alle Befragten verstanden offenbar auf Anhieb, wonach da gefragt wurde. Das Ergebnis war wiederum frappierend, die 1979 publizierte Sammlung ein Ereignis.
Für Kempowski sind diese Bücher keine Nebenwerke gewesen: Er betrachtete sie – zusammen mit einem dritten Umfragebuch über Schulerfahrungen:«Immer so durchgemogelt»(1974) – als integralen Bestandteil seiner«Deutschen Chronik».
Mit diesen Aussagen im unzensierten Originalton der Zeitgenossen war er auf einer Spur, die ihn ins Uferlose, zumindest kaum Begrenzbare führen sollte. Die eigene Familiengeschichte hatte dem Autor einen Rahmen gesetzt, die kollektive Erfahrung dagegen war ein weites, ein unüberschaubares Feld – das sollte sich Jahre später bei der Arbeit am«Echolot»erweisen.
Zunächst freilich war die«Deutsche Chronik»abzuschließen, der Romanzyklus, der 1971 mit«Tadellöser & Wolff»fulminant gestartet war. In diesem Roman wird Kempowskis Jugend in der Zeit von Ende der dreißiger Jahre an bis Kriegsende geschildert. Es folgte schon im Jahr darauf der Roman«Uns geht’s ja noch gold», der das von der Roten Armee eingenommene Rostock der unmittelbaren Nachkriegsjahre zum Schauplatz hat und mit der Verhaftung des gerade 18jährigen Protagonisten 1948 endet. Die sich anschließende, acht Jahre währende Haft in Bautzen und die Ankunft in der Bundesrepublik werden in dem Band«Ein Kapitel für sich»(1975) geschildert: eine um die Perspektive anderer Familienmitglieder erweiterte Fassung des Romandebüts«Im Block»(1969).
Ursprünglich plante Kempowski, seinen Romanzyklus mit zwei Folgebänden abzuschließen, in denen er sich der Jahre bis 1963 widmen wollte. Statt dessen griff er weit in die Historie zurück und erzählte in zwei Bänden die Vorgeschichte zu«Tadellöser & Wolff»: 1978 erschien der Roman«Aus großer Zeit», in dem das Leben der Großeltern in der wilhelminischen Ära gezeigt wird, von der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts bis kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs; 1981 folgte der Roman«Schöne Aussicht», der vor allem die zwanziger Jahre, die Geburt und Kindheit des Autors sowie den Beginn der Naziherrschaft umfaßt.
Damit war der Zyklus – nach nur zehn Jahren – vorläufig abgeschlossen. Aus diesem Anlaß trafen wir im August 1981 erneut zusammen und setzten unser Gespräch fort, dieses Mal in Frankfurt am Main, wo ich inzwischen lebte und arbeitete. Kempowski war zu Besuch in der Stadt, hatte sich gemeldet und war von mir zum Frühstück eingeladen worden. Es wurde ein munteres Interview. Auf der Tonspule von damals sind auch die Nebengeräusche festgehalten, das Klappern des Geschirrs, das Aufschneiden der Brötchen, das Aufschlagen eines Frühstückseis. Und als einmal das Telefon klingelte, sagte der Gast:«Gehen Sie nur, das Tonband läuft ja. Ich beantworte Ihre Frage inzwischen.»
Als ich in die Küche zurückkam, sprach er immer noch, mit dem Brötchen in der Hand. Sein Tonfall verriet, wie wichtig es ihm war, sich zu erklären und zugleich auf seinen Eigenheiten zu bestehen. Er sprach mit fester Stimme, die gar nicht recht zu dem Mann mit den schmalen Schultern passen wollte. Schmal war auch sein Gesicht, dominiert von einer feinen Goldbrille und einem dezenten Schnauzbart, der im Gegensatz zu dem von Günter Grass so gar nichts Ausladendes hatte.«Wenn ich heute sehe», sagte Kempowski damals über die Arbeit am Romanzyklus,«was ich mir damals aufgeladen habe, in den späten fünfziger, frühen sechziger Jahren, wo ich bereits anfing, das Material zu sammeln, so ist es mir völlig unverständlich, wo ich den Mut hernahm und auch die Kraft. Wenn ich es noch einmal entscheiden müßte, würde ich sagen: Nein. Ich hätte nicht den Mut, das noch einmal anzufangen. »
Die Anerkennung, die er zu Beginn seiner Autorenkarriere bei der Literaturkritik genossen hatte, war zunehmend ideologisch gefärbter Skepsis gewichen, die um so heftiger wurde, je mehr sich Kempowski zum Erfolgsautor und Publikumsliebling entwickelte (woran die TV-Verfilmung des Romans«Tadellöser & Wolff»großen Anteil hatte). War die Vergegenwärtigung deutscher Geschichte als Familiengeschichte nicht allzu gemütlich und harmonisierend ausgefallen? Wurde das mit höchster Präzision vorgeführte Alltagsleben im bürgerlichen Ambiente kritisch oder nicht doch mit Sympathie geschildert? Solche Fragen tauchten monoton immer wieder auf. Daß ein Roman kein politischer Kommentar ist, daß ein Autor seinen Figuren nicht ins Wort fallen und sie nicht denunzieren soll, während er ihnen auf die Finger schaut, das vergaßen manche Kritiker. Man verharmloste Kempowski zum spröden Außenseiter, spleenigen Freund des Bürgerlichen, zum allenfalls liebenswerten Sammler.
Ihn schmerzte das, er war empfindlich geworden. Ich hatte das schon zuvor zu spüren bekommen, als meine Rezension seines Romans«Ein Kapitel für sich»in der«Frankfurter Allgemeinen Zeitung»offenbar nicht zustimmend genug ausgefallen war. Er schrieb mir im November 1975 aus Nartum (inzwischen stand nur noch sein Name im Briefkopf, ergänzt um die Berufsbezeichnung«Landlehrer»):«Kritik kann ich vertragen, herabsetzende fast mehr als lobende. Ein wenig schade finde ich, daß Ihr Blick nicht tiefer reicht, wo wir uns doch so gut kennen und so oft über alles gesprochen haben.»Er schlug vor, die Rezension einmal«mündlich»durchzugehen, das werde vielleicht von Nutzen sein. Dazu ist es zwar nie gekommen, aber von heute aus gesehen kommt mir seine Reaktion verständlich vor: Es finden sich in meiner Kritik einige recht kleinliche und klischeehafte Einwände.
Noch in den siebziger Jahren hatte Kempowski damit begonnen, Autobiographien, Briefe und Tagebücher zu sammeln, zunächst von Menschen aus seiner näheren Umgebung. Später, zu Beginn der achtziger Jahre, intensivierte er die Suche, gab Annoncen in Zeitungen auf und gründete ein«Archiv für unpublizierte Biographien».
Daraus entstand irgendwann der tollkühne Plan einer Art kollektiven Tagebuchs der Jahre von 1943 bis 1949. Dank des Computers war es möglich geworden, umfangreiche Texte zu speichern und immer wieder neu anzuordnen. Warum also sollte nicht eine Chronik von Tag zu Tag entstehen können, montiert aus den unterschiedlichsten Eintragungen und Aufzeichnungen der Zeitgenossen? Kempowski muß bald klar geworden sein, daß sich sein Projekt zu einer Lebensaufgabe auszuwachsen begann.«Damit werde ich mich wahrscheinlich den Rest meiner Tage beschäftigen», notierte er 1990 in seinem Tagebuch.
Endlich sah der Schriftsteller eine Möglichkeit, seiner Roman-Chronik eine über die autobiographische, individuelle Perspektive hinausweisende Ergänzung an die Seite zu stellen, in der die Schrecken des Krieges und das Grauen der Shoah, aber auch das Alltagsleben an der Front und daheim vielstimmig zur Sprache kommen konnten.
Viele Jahre arbeitete er weitgehend im Stillen daran. Er veröffentlichte neue Romane, schrieb Kinderbücher und komponierte Hörspiele aus Originaltönen («Beethovens Fünfte»). Als Nachzügler und endgültiger Abschluß der«Deutschen Chronik»erschien 1984 der Roman«Herzlich willkommen», der die ersten Jahre des Erzählers in der Bundesrepublik schildert. Damit war der Romanzyklus auf sechs Bände mit zusammen rund 2500 Seiten angewachsen, die Zeitspanne von 1885 bis 1960 umfassend. Im Roman«Hundstage»(1988) tauchte dann erstmals ein Alter ego Kempowskis auf, der Schriftsteller Alexander Sowtschick, der später noch einen starken Auftritt in dem Roman«Letzte Grüße»(2003) haben sollte.
Während all dieser Jahre schrieb der Unermüdliche auch noch ausführlich Tagebuch. Begonnen hatte Kempowski damit bei Kriegsende. Was der Jugendliche sich über den Einmarsch der Roten Armee in Rostock notiert hatte, wurde allerdings bei seiner Verhaftung 1948 konfisziert und galt dann strafverschärfend als«antisowjetische Einstellung». Diese frühen Tagebücher hat er nie wiedergesehen. Nach der Haft setzte er neu an und schrieb bis an sein Lebensende.
«Jeden Tag kommen zehn, manchmal auch mehr Seiten dazu», hat er einmal verraten. Und den Satz hinzugefügt:«Ein Schriftsteller, der kein Tagebuch schreibt, ist irgendwie schief gewickelt, mit dem stimmt etwas nicht.»Es konnte allerdings vorkommen, daß er beim Wiederlesen vor allem der frühen Notizen unzufrieden mit sich selber war – was er wiederum aufschrieb, so im April 1983:«die Tagebücher von 1956/59, eklig, kitschtriefend, weltanklagend. »
Erst spät, 1990, begann er damit, Auszüge zu veröffentlichen, zunächst den Band«Sirius»mit Aufzeichnungen vornehmlich aus dem Jahr 1983. Darin finden sich auch die ersten Hinweise auf das entstehende«Echolot», auch manch verzagte Äußerung:«Archiv-Arbeit. War heute mutlos, da ich sie allein nicht bewältigen kann. Die Regale füllen sich. Wie soll ich die Biographien auswerten? Was soll ich zurückschicken? Erstmal nehme ich alles und behalte alles, das weitere wird sich finden. Gerade die Offenheit allen Formen des Lebens gegenüber – auch den ‹falschen› (also den Nazis) – garantiert, daß ich das Interessante bekomme.»
Damit hatte Kempowski ein entscheidendes Merkmal seiner Arbeit, vielleicht sogar seines Wesens angesprochen: Intuitiv wich er allem aus, was man heute gern als«political correctness»bezeichnet. Er war niemand, der in einem Lebensbericht zu lesen aufhörte, nur weil ihm der Verfasser anrüchig erschien. Vielmehr interessierten ihn gerade die wunden Stellen, das, was peinlich ist und peinigend. Nie verlor er das Interesse an jenen, die versagt hatten. Er hörte zu, las weiter in ihren Aufzeichnungen.
Nur so konnte der gigantomanische Plan zu einer Kollektivchronik entstehen und letztlich gelingen. Ohne Neigung und Zuneigung war das nicht möglich. Mit einer Schere im Kopf ebensowenig. Trotzdem erkannte Kempowski bald, daß sein ursprüngliches Konzept, den Zeitraum von 1943 bis 1949 in Buchform zu erfassen, nicht zu verwirklichen war: Zehntausende von Seiten wären zusammengekommen.
Er entschloß sich, für eine erste Ausgabe eine bescheidenere Auswahl zu treffen, nämlich Januar und Februar 1943 – am Ende ergab auch das kaum weniger als 3000 Seiten. Damals war sein Plan, insgesamt vier historische Komplexe aus der Masse seines Materials herauszugreifen, die er mit den Stichworten«Stalingrad»,«Invasion und 20. Juli»,«Frühjahr 1945»und«Berlin-Blockade»kennzeichnete (für die Publikation änderte er die Auswahl und Anordnung dann noch einmal).
Im Sommer 1992 schrieb mir Kempowski einen Brief und fragte an, ob ich mir einen Vorabdruck vorstellen könnte. Er dachte an einen einzigen Tag, Neujahr 1943 – fünfzig Jahre danach. Ich wechselte damals gerade von der«Zeit»zum«Spiegel», und so war einer meiner ersten Vorschläge dort ein Artikel über das«Echolot»-Projekt mitsamt Auszügen daraus.
Der Chefredaktion schickte ich ein paar Stichworte zu dem Plan.«Ein wahnwitziges Unternehmen: Schon lange sammelt der Romancier fremde Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefnachlässe, Fotoalben in seinem Archiv. Das Projekt existiert seit Jahren als Gerücht, ausführlich vorgestellt wurde es bisher nicht. Eine Auswahl der Texte von der Jahreswende 1942/1943 bietet sich zum Jahreswechsel 1992/1993 an. Reizvoll auch die graphischen Gestaltungsmöglichkeiten: Den meisten Stimmen (es sind bekannte Persönlichkeiten darunter, vornehmlich aber gänzlich unbekannte Schreiber) ist ein Foto beigefügt – für das Projekt insgesamt eine Art bildliches Leitmotiv.»
Pünktlich zum Jahreswechsel 1992/1993 wurde die Sache ins Blatt gerückt – die erste öffentliche Präsentation von Kempowskis Weltkriegs-Memorial, zugleich eine Ankündigung der«Echolot»-Kassette, die im Herbst 1993 herauskam (übrigens dann ohne die Porträtfotos der Betroffenen). Vielleicht werde sich das«Echolot», schrieb ich begleitend zum Vorabdruck im«Spiegel»-Schlußheft des Jahres 1992,«als eines der letzten großen Wagnisse dieses Jahrhunderts erweisen: eine kollektive Alltagschronik und -collage, gegen die sich einst die Folianten eines Arno Schmidt wie Broschüren ausnehmen könnten».
Ich erhielt von Kempowski umgehend einen der rührendsten Briefe, die ich je von einem Schriftsteller erhalten habe. Zitiert sei daraus, weil hier eine Saite seines Wesens anklingt, die er sonst gerne verbarg.«Ich habe etwas Ähnliches noch nie zu hören gekriegt», schrieb er am Heiligabend 1992 (das Heft war ihm vorab per Expreß zugestellt worden),«es kommt mir so vor, als sei ich erst jetzt angekommen. Vor genau 1 Jahr hatte ich meine schwere Krankheit, und ich habe mir in den letzten Tagen immer wieder die Frage gestellt, was hat dir dieses eine geschenkte Jahr gebracht? Jetzt weiß ich es, Sie haben für mich zusammengezogen und formuliert, zu was ich da bin und was ich bin.»
Nun wäre eigentlich zu erwarten gewesen, daß nach der«Spiegel»-Fanfare andere Kritiker dagegenhalten würden – doch nichts dergleichen geschah. In seltener Einmütigkeit priesen die Zeitungen bei Erscheinen der ersten«Echolot»-Lieferung im Herbst 1993 das Werk und seinen Magier. In der«Zeit»schwärmte Fritz J. Raddatz, Kempowskis«Riesen-Collage»habe eine solche Sprengkraft,«daß man das Gefühl hat, die Schädeldecke explodiert»; in der«Süddeutschen Zeitung»nannte Jörg Drews das«Echolot»ein«deutsches Lesebuch zur Epoche, ein Memorial von monumentalem Umfang»; und Frank Schirrmacher überbot in der«Frankfurter Allgemeinen»noch das allgemeine Lob:«Wenn die Welt noch Augen hat zu sehen, wird sie, um es in einem Wort zu sagen, in diesem Werk eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken.»
Dann kam doch noch die Gegenrede, freilich eine matte. Johannes Willms belehrte – wiederum in der«Süddeutschen Zeitung»und unter der grimmigen Überschrift«Die Kritik in der Krise»- seine Kollegen im eigenen Blatt und anderswo, daß ein literarisches Werk unbedingt Stil und Fiktion aufweisen müsse. Davon könne aber im«Echolot»keine Rede sein. Denn die Kompilation verschiedener Texte habe naturgemäß keinen einheitlichen Stil – und ausgedacht sei das Ganze ebenfalls nicht.
Welch unangemessene Kriterien waren das angesichts dieses einzigartigen Werks, das unausgesprochen eine große Lücke füllt und für jenes Epos über den Zweiten Weltkrieg steht, das zu schreiben den deutschen Schriftstellern bis heute aus verständlichen und guten Gründen nicht gelungen ist. Es spricht für die Demut des Schriftstellers Kempowski, sich nicht anheischig zu machen, derlei ganz aus eigener Kraft stemmen zu können, sondern sich der Originaltöne zu bedienen, ohne etwas dazuzuerfinden oder zu stilisieren – statt dessen zeigt sich seine Kunst in der Montage der vielen Stimmen.
Selten zuvor ist diese Epoche derart nahegerückt, ungefiltert, die pure Gegenwärtigkeit. Es ist die Leistung eines Künstlers, diese Stimmen so angeordnet zu haben, daß sie sich gegenseitig ergänzen, erhellen und kommentieren. Ganz zu schweigen von der ernormen Vorleistung des Sammlers und Jägers Kempowski, das Material für diese Komposition überhaupt erst angelockt und angehäuft zu haben.
Nachts, wenn er nicht schlafen könne, sagte er mir 1993 in Nartum, stehe er manchmal auf und blättere in seinem Archiv in fremden Tagebüchern und Biographien. Das sei tröstlich. Aber immer wieder kamen er und die beiden Mitarbeiter, die er inzwischen hatte, an ihre Grenzen, wenn es um die endgültige Auswahl und Reihenfolge der Texte ging.«Hier drehen wir bald alle durch», schrieb er mir, als er die Abschrift des neuen Interviews mit vielen Korrekturen zurückschickte (wie schon bei den früheren Gesprächen wollte er auch noch einmal die letzte Fassung sehen, er war in allem sehr genau). Dieses Interview im September 1993 führten wir aus Anlaß des Erscheinens der ersten«Echolot»-Kassette.
Im April 1995 besuchte ich ihn erneut. Gemeinsam suchten wir wiederum für einen«Spiegel»-Abdruck Texte aus noch unveröffentlichtem«Echolot»-Material heraus. Dieses Mal waren Stimmen zum Kriegsende gefragt, Notizen vom 8. Mai 1945. Es war faszinierend, wie Kempowski, damals Mitte Sechzig, vor seinem großen Computer saß, einem Gerät im Wert von 16 000 Mark (wie er gern betonte), das ihm der Verlag zur Verfügung gestellt hatte. Es war für ihn eine Genugtuung,«daß ich das in meinem Leben noch gelernt habe». Dann las er sich an einer Stelle fest und seufzte.«Das Leid: das erträgt man eigentlich nicht.»
Über seine eigenen Kriegserlebnisse ließ er sich nur ungern aus. In seinem Roman«Tadellöser & Wolff»gibt es – aus Sicht des Knaben Walter – einige Andeutungen dazu. Doch erst ein Gespräch vor laufender Kamera zum Thema«Luftkrieg und Literatur»löste ihm die Zunge, aufgenommen im Februar 2000 in seinem Haus. Überaus anschaulich schilderte er seinen Überlebenskampf im Hamburger Feuersturm vom Juli 1943 und von anderen Erfahrungen bis 1945.
Im Jahr zuvor, 1999, war die zweite«Echolot»-Kassette erschienen, vier Bände mit zusammen rund 3400 Seiten – sechs Jahre nach der ersten Lieferung mit ebenfalls vier Bänden und rund 3200 Seiten, von der inzwischen knapp 50 000 Exemplare verkauft worden waren (davon etwa 18 000 als Taschenbuch). Dieses Mal hatte Kempowski die Zeit vom 12. Januar bis 14. Februar 1945 im Visier, jene knapp fünf Wochen, die zwischen dem Start der sowjetischen Großoffensive auf Hitler-Deutschland und der Bombardierung Dresdens lagen.
In dieser Sinfonie der Tausend tun sich abermals Abgründe zwischen der scheinbar banalen Notiz aus dem Alltag im Nazireich und den Szenen von Krieg und Völkermord auf. Auch die durch die Sowjetoffensive ausgelöste Fluchtwelle der deutschen Bevölkerung bleibt nicht ausgespart – was Kempowski in der«Frankfurter Rundschau»prompt den absurden Vorwurf einer«neudeutschen Unbekümmertheit»einbrachte. Der finstere Höhepunkt und das monumentale Schlußkapitel dieser«Fuga furiosa»(Untertitel), die mosaikartig komponierte Darstellung der Luftangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945, nötigte freilich auch dem strengen«Rundschau»-Kritiker Bewunderung ab:«Das sind höchst aufschlußreiche und in einer solchen geradezu epischen Verdichtung bisher noch nie zusammengefaßte Dokumente.»