Lisa J. Smith hat schon früh mit dem Schreiben begonnen. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie bereits während ihres Studiums. Sie lebt mit einem Hund, einer Katze und ungefähr 10 000 Büchern im Norden Kaliforniens.
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Bei Dämmerung (30498)
In der Dunkelheit (30499)
In der Schattenwelt (30500)
KAPITEL EINS
4. September
Liebes Tagebuch,
heute wird etwas Schreckliches passieren. Warum habe ich diesen Satz geschrieben? Es ist absurd, denn es gibt keinen Grund für mich, mir Sorgen zu machen. Eher tausend Gründe, mich zu freuen, aber … Ich schaue auf den Wecker. Halb sechs Uhr morgens. Ich liege im Bett, bin hellwach und fürchte mich. Immer wieder rede ich mir ein, dass ich nur total durcheinander bin wegen des Zeitunterschieds zwischen Frankreich und hier. Aber das erklärt noch lange nicht, warum ich solche Angst habe. Und mich so entsetzlich verloren fühle.
Vorgestern, als ich mit Tante Judith und Margaret vom Flughafen kam, hatte ich schon diese merkwürdige Vorahnung. Wir bogen in unsere Straße ein und ich dachte: Mom und Dad warten zu Hause auf uns. Ich wette, sie stehen schon ungeduldig auf der Veranda oder hinter dem Wohnzimmerfenster. Sie haben uns sicher schrecklich vermisst.
Ich weiß. Das hört sich total verrückt an.
Doch selbst als ich das Haus sah und die leere Veranda, ließ mich dieses Gefühl immer noch nicht los. Ich rannte die Stufen hoch und hämmerte gegen die verschlossene Tür. Als Tante Judith aufschloss, stürmte ich hinein und blieb mitten im Flur stehen. Ich lauschte und erwartete jeden Moment, dass Mom die Treppe herunterkommen oder Dad aus dem Wohnzimmer nach uns rufen würde.
Genau in diesem Moment ließ Tante Judith mit einem lauten Knall einen Koffer hinter mir fallen, seufzte und sagte: »Gott sei Dank. Wir sind wieder zu Hause.« Margaret lachte. Und ich? Ich fühlte mich so verlassen und allein wie noch nie in meinem Leben.
Zu Hause. Ich bin wieder zu Hause. Warum klingt das wie eine Lüge?
Ich wurde hier in Fell’s Church geboren und habe immer in diesem Haus gelebt. Da ist mein altes Zimmer mit dem Brandfleck auf den Dielenbrettern, der entstanden war, als Caroline und ich unsere ersten Zigaretten geraucht hatten und dabei fast erstickt wären. Ich kann aus dem Fenster schauen und den großen Baum sehen, den Matt und seine Freunde hochgeklettert sind, um in die Pyjamaparty an meinem Geburtstag vor zwei Jahren zu platzen, die ich nur für die Mädchen hatte steigen lassen. Das ist mein Bett, mein Stuhl, mein Schrank.
Alles kommt mir jetzt so fremd vor, als ob ich nicht hierher gehören würde. Und das Schlimmste ist, ich fühle eine schreckliche Sehnsucht.
Irgendwo anders ist mein Platz, aber ich kann diesen Ort nicht finden.
Ich war gestern zu müde, um in die Einführungsveranstaltung zu gehen. Meredith hat den Stundenplan für mich aufgeschrieben, aber ich hatte keine Lust, mit ihr am Telefon zu reden. Tante Judith hat jedem, der anrief, erzählt, dass ich noch zu sehr unter der Zeitverschiebung leide und schlafen würde. Aber beim Abendessen hat sie mich mit nachdenklichem Blick beobachtet.
Heute muss ich mich der Clique stellen. Wir wollen uns vor der Schule auf dem Parkplatz treffen. Warum habe ich solche Angst? Fürchte ich mich etwa vor ihnen?
Elena Gilbert hörte auf zu schreiben. Sie starrte mit gezücktem Stift auf den letzten Satz in dem kleinen Buch mit dem blauen Samteinband und schüttelte den Kopf. Plötzlich richtete sie sich auf und warf Stift und Buch gegen das große Panoramafenster, wo sie abprallten und auf dem gepolsterten Fenstersitz landeten.
Es war alles total verrückt.
Seit wann hatte ausgerechnet sie Scheu davor, Menschen zu treffen? Seit wann fürchtete sie sich buchstäblich vor allem? Sie stand auf und zog ärgerlich ihren roten Seidenkimono über. Dabei brauchte sie gar nicht in den kunstvoll gearbeiteten viktorianischen Spiegel über der Ankleidekommode aus Kirschholz zu schauen. Sie wusste, was sie sehen würde: Elena Gilbert, cool, blond und schlank. Die Trendsetterin, was Mode betraf. Die Oberschülerin, mit der jeder Junge ausgehen wollte und an deren Stelle sich jedes Mädchen wünschte. Die im Moment jedoch die Stirn runzelte und den Mund zusammenkniff.
Ein heißes Bad, ein starker Kaffee, und ich bin wieder ich selbst, dachte sie. Die morgendliche Routine von Duschen und Anziehen wirkte beruhigend auf sie. Sie ließ sich Zeit und wühlte gemächlich in ihren neuen Sachen aus Paris. Schließlich wählte sie ein pinkfarbenes Top und einen kurzen weißen Rock. Gut siehst du aus, richtig zum Anbeißen, dachte sie, und ihr Spiegelbild zeigte ihr ein selbstbewusstes Mädchen mit einem heimlichen Lächeln auf dem Gesicht. Ihre Sorgen schienen wie weggeblasen.
»Elena! Wo steckst du? Du wirst noch zu spät zur Schule kommen.« Tante Judith’ Stimme drang schwach von unten herauf.
Elena fuhr sich ein letztes Mal mit der Bürste durch ihr seidiges Haar und bändigte es mit einem farblich zu ihrem Top passenden Band. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und lief die Treppe hinunter.
In der Küche saß die vierjährige Margaret am Tisch und aß Cornflakes. Tante Judith brutzelte irgendwas auf dem Herd. Auf ihrem schmalen, gütigen Gesicht lag wie immer ein nervöser Schatten, und ihr dünnes, flatterndes Haar war zu einem Knoten zurückgebunden, der sich schon wieder auflöste. Elena küsste sie leicht auf die Wange.
»Morgen alle miteinander. Tut mir leid, ich hab keine Zeit mehr zu frühstücken.«
»Aber Elena, du kannst doch nicht mit leerem Magen … du brauchst doch Vitamine …«
»Ich werde mir vor der Schule etwas in der Bäckerei kaufen«, versprach Elena. Sie drückte einen Kuss auf Margarets gesenkten Kopf und wandte sich zum Gehen.
»Aber Elena …«
»Und ich werde nach der Schule vermutlich zu Bonnie oder Meredith gehen, also wartet nicht mit dem Essen auf mich. Tschüss!«
»Elena …«
Doch sie war schon an der Haustür. Sie trat auf die Veranda, schloss die Tür hinter sich … und blieb stehen.
All die bösen Gefühle, die sie am Morgen gehabt hatte, waren mit einem Schlag wieder da. Die Aufregung, die Angst. Und die Gewissheit, dass etwas Schreckliches passieren würde.
Die Maple Street lag verlassen da. Die großen viktorianischen Häuser sahen gespenstisch aus. Wie die Kulisse eines verlassenen Drehorts. Sie machten den Eindruck, als ob sie menschenleer seien, aber voller merkwürdiger anderer Wesen, die alles genau beobachteten.
Das war es. Etwas beobachtete Elena. Der Himmel war nicht blau, sondern milchig und verschleiert. Er wölbte sich über ihr wie eine riesige umgedrehte Schüssel.
Die Luft war schwül und drückend. Elena fühlte, dass jemand sie ansah.
Sie erhaschte einen Blick auf etwas Dunkles in den Zweigen des alten Quittenbaums vor dem Haus.
Es war eine Krähe. Sie saß völlig reglos im gelben Laub. Und sie musterte Elena.
Elena versuchte, sich einzureden, dass das völlig verrückt war, aber tief in ihrem Innern war sie sicher. Es war die größte Krähe, die sie jemals gesehen hatte. Muskulös und geschmeidig, mit einem pechschwarzen Federkleid, auf dem sich das Licht in Regenbogenfarben brach. Elena registrierte jede Einzelheit: die gefährlichen schwarzen Krallen, den scharfen Schnabel und das ihr zugewandte, glitzernde schwarze Auge.
Der Vogel war so still, dass man ihn für eine Wachsfigur hätte halten können. Aber während sie ihn ansah, fühlte Elena, wie sie langsam rot wurde. Die Hitze stieg in Wellen an ihrem Hals und ihren Wangen hoch. Weil er sie so … anstarrte. Genauso wie Jungs sie musterten, wenn sie einen Badeanzug oder eine knappe Bluse trug. Als ob er sie mit seinen Augen ausziehen wollte.
Bevor sie überhaupt merkte, was sie tat, hatte sie bereits ihre Tasche fallen gelassen und einen Stein vom Weg aufgehoben. »Hau ab!«, schrie sie. Ihre Stimme bebte vor Wut. »Hau ab! Mach, dass du wegkommst!« Mit den letzten Worten warf sie den Stein.
In einem Schauer aus herabfallendem Laub entkam die Krähe unverletzt. Ihre ausgebreiteten Flügel waren riesig. Elena duckte sich unwillkürlich und geriet in Panik, als der große Vogel dicht über ihren Kopf hinwegflog. Der Wind seines Flügelschlags wirbelte ihr blondes Haar durcheinander.
Aber die Krähe stieg höher und höher und kreiste wie eine schwarze Silhouette am weißen Himmel. Dann flog sie mit einem heiseren Krächzen in Richtung Wald davon.
Elena richtete sich langsam auf und sah sich verschämt um. Sie konnte kaum fassen, was sie gerade getan hatte. Jetzt, da der Vogel fort war, war auch die drückende Atmosphäre verschwunden. Ein leichter, frischer Wind raschelte in den Blättern. Elena holte tief Luft. Ein paar Häuser weiter öffnete sich eine Tür und ein paar Kinder liefen lachend auf die Straße.
Elena lächelte und atmete noch mal tief ein. Erleichterung durchflutete sie wie warmes Sonnenlicht. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Es war ein wunderschöner Tag voller Erwartungen und nichts Böses würde geschehen.
Nichts Böses, außer dass sie ausgerechnet am ersten Schultag zu spät kommen würde. Die ganze Clique wartete sicher schon ungeduldig auf dem Parkplatz.
Du kannst ihnen immer noch erzählen, dass du stehen geblieben bist, um einen Stein nach einem aufdringlichen Typen zu werfen, dachte sie. Das würde allen zu denken geben. Ohne zu dem Quittenbaum zurückzusehen, ging sie schnell die Straße entlang.
Die Krähe landete in der Spitze einer Eiche. Das Laub raschelte heftig und Stefanos Kopf fuhr hoch. Als er erkannte, dass es nur ein Vogel war, entspannte er sich.
Sein Blick fiel auf das leblose weiße Geschöpf in seinen Händen und er fühlte tiefes Bedauern. Er hatte es nicht töten wollen. Andererseits hätte er etwas Größeres als ein Kaninchen gejagt, wenn er geahnt hätte, wie hungrig er war. Aber genau das war der Punkt, der ihm Angst machte: nie das Ausmaß des Hungers zu kennen oder vorher zu wissen, was er tun musste, um ihn zu stillen. Er hatte Glück gehabt, dass er diesmal nur ein Kaninchen erwischt hatte.
Er stand neben der alten Eiche. Seine schwarzen Locken glänzten in der Sonne. In Jeans und T-Shirt unterschied sich Stefano Salvatore kein bisschen von jedem anderen Oberstufenschüler.
Und doch war er anders.
Hierher, tief in den Wald, wo niemand ihn sehen konnte, war er gekommen, um Nahrung zu finden. Jetzt leckte er sich sorgfältig die Lippen, um sicherzugehen, dass sich kein Blut mehr darauf befand. Er wollte kein Risiko eingehen. Die Maskerade würde auch so schon schwer genug durchzuhalten sein.
Einen Moment überlegte er, ob er nicht doch alles rückgängig machen sollte. Vielleicht war es besser, nach Italien zurückzugehen in sein Versteck. Was hatte ihn dazu getrieben, ernsthaft zu glauben, er könne einfach so in die Welt des Tageslichts zurückkehren?
Aber er hatte es satt, im Schattenreich zu leben. Er hasste die Dunkelheit und all jene Wesen, die sich in ihr verbargen. Und vor allem wollte er nicht mehr allein sein.
Er war sich nicht sicher, warum er Fell’s Church in Virginia gewählt hatte. Für seine Verhältnisse war es eine relativ junge Stadt. Die ältesten Gebäude waren erst vor anderthalb Jahrhunderten errichtet worden. Aber die Stadt pflegte noch die Erinnerungen an die Geister und Legenden des Bürgerkriegs. Sie gehörten zum täglichen Leben wie die Supermärkte und Hamburgerbuden.
Stefano gefiel dieser Respekt vor der Vergangenheit. Er glaubte, dass er die Leute von Fell’s Church mögen würde. Und wer weiß, vielleicht konnte er sogar seinen Platz unter ihnen finden.
Natürlich würde er nie voll akzeptiert werden. Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. Nein, das wusste er besser. Es würde nie einen Ort geben, an den er ganz und gar gehörte. Einen Ort, an dem er wirklich er selbst sein konnte.
Es sei denn, er wählte wieder die Dunkelheit.
Stefano schüttelte heftig den Kopf und vertrieb diesen Gedanken. Er hatte sich von den Schatten losgesagt und sie hinter sich gelassen. All diese Jahre würde er auslöschen und ganz neu beginnen. Heute.
Endlich fiel ihm auf, dass er immer noch das Kaninchen in den Händen hielt. Sanft legte er es auf ein Bett aus braunen Eichenblättern. In weiter Ferne, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, hörte er einen Fuchs.
Komm, Jagdgefährte, dachte er. Dein Frühstück wartet.
Als er die Jacke über seine Schulter warf, bemerkte er die Krähe, die ihn vorhin gestört hatte. Sie saß immer noch in der Eiche und schien ihn zu beobachten. Irgendetwas stimmte da nicht.
Stefano war versucht, seine Gedanken auszusenden, um den Vogel zu testen. Doch im letzten Moment hielt er sich zurück. Denk an deinen Vorsatz, ermahnte er sich. Er wollte seine außergewöhnliche Gabe nur benutzen, wenn es unbedingt nötig war. Wenn er keine andere Wahl mehr hatte.
Lautlos bewegte er sich über Laub und trockene Zweige, die den Boden bedeckten, zum Waldrand hin. Dort war sein Auto geparkt. Er warf einen Blick zurück und sah, dass die Krähe den Baum verlassen hatte und sich auf das Kaninchen stürzte.
Etwas Düsteres lag in der Art, wie der Vogel seine Flügel über den leblosen weißen Körper spreizte. Etwas Düsteres und gleichzeitig Triumphierendes. Stefanos Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Fast wäre er zurückgegangen und hätte den Vogel vertrieben. Doch die Krähe hat das gleiche Recht auf Nahrung wie der Fuchs, sagte er sich.
Und das gleiche Recht wie er selbst.
Sollte er dem Vogel wiederbegegnen, würde er versuchen, sein wahres Wesen zu ergründen. Jetzt jedoch riss er seinen Blick los und rannte mit festen Schritten durch den Wald. Er wollte nicht zu spät in der Robert-Lee-Highschool ankommen.
KAPITEL ZWEI
Kaum hatte Elena den Parkplatz der Highschool betreten, stand sie schon im Mittelpunkt. Alle waren da. Die ganze Clique, die sie seit Ende Juni nicht mehr gesehen hatte, und vier oder fünf Mitläufer, die hofften, bei dieser Gelegenheit endlich auch mal beachtet zu werden. Eine nach der anderen aus der Clique umarmte Elena.
Caroline war ein Stückchen gewachsen und noch schlanker geworden. Mehr denn je glich sie einem Model. Sie begrüßte Elena kühl und musterte sie mit zusammengekniffenen grünen Augen.
Bonnie war nicht gewachsen. Ihr roter Lockenkopf reichte Elena gerade mal bis ans Kinn, als Bonnie sie in die Arme schloss. Moment mal, Locken?, dachte Elena und schob die Freundin um Armeslänge zurück.
»Bonnie! Was hast du mit deinem Haar gemacht?«
»Gefällt es dir? Ich finde, es macht mich größer.« Bonnie lächelte und fuhr sich mit der Hand durch ihre ohnehin schon aufgeplusterten Locken. Ihre braunen Augen funkelten vergnügt und ihr herzförmiges Gesicht strahlte vor Freude.
Elena ging ein Stückchen weiter. »Meredith! Du bist wenigstens noch die Alte.«
Ihre Umarmung wurde mit gleicher Herzlichkeit erwidert. Meredith habe ich mehr vermisst als jede andere aus der Clique, dachte Elena, während sie das groß gewachsene Mädchen ansah. Meredith trug nie Make-up. Aber mit ihrer makellosen olivbraunen Haut und den dichten schwarzen Wimpern hatte sie das auch nicht nötig. Die Freundin musterte Elena mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Nun, dein Haar ist durch die Sonne noch heller geworden … Aber wo ist die Bräune? Ich dachte, du wolltest dich an der französischen Riviera ein bisschen sonnen.«
»Du weißt doch, dass ich nie braun werde.« Elena hielt ihre Hände hoch und betrachtete sie. Die Haut wirkte wie Porzellan und war fast so hell und durchsichtig wie die von Bonnie.
»He, das erinnert mich an was«, warf Bonnie ein und packte Elenas Hand. »Ratet mal, was ich von meiner Cousine in diesem Sommer gelernt hab?«
Bevor jemand antworten konnte, stieß sie triumphierend hervor: »Die Kunst des Handlesens!«
Die anderen stöhnten oder lachten.
»Lacht, so viel ihr wollt.« Bonnie war kein bisschen beleidigt. »Meine Cousine hat behauptet, dass ich das ideale Medium bin. Also, lass mich mal sehen …« Sie schaute auf Elenas Handfläche.
»Beeil dich, sonst kommen wir zu spät«, sagte Elena etwas ungeduldig.
»Schon gut, schon gut. Nun, ist das deine Lebenslinie – oder deine Herzlinie?« Einige in der Menge kicherten. »Ruhe. Ich tauche jetzt in den Abgrund. Ich sehe … ich sehe …« Plötzlich veränderte sich Bonnies Gesichtsausdruck, als hätte sie einen Schock erlitten. Ihre braunen Augen weiteten sich, sie schien nicht länger auf Elenas Hand zu starren, sondern durch sie hindurchzuschauen, auf etwas, das Furcht einflößend war.
»Du wirst einen großen, dunklen Fremden treffen«, murmelte Meredith hinter ihr. Wieder kicherten einige.
»Dunkel ja, und auch ein Fremder … aber er ist nicht groß.« Bonnies Stimme klang leise und wie aus weiter Ferne.
»Obwohl«, fuhr sie nach einem Moment fort und sah verwirrt aus, »er war einmal groß.« Mit weit aufgerissenen Augen sah Bonnie Elena verwundert an. »Aber das ist doch unmöglich, nicht wahr?«
Sie ließ Elenas Hand abrupt fallen, als hätte sie sich verbrannt. »Mehr kann ich nicht erkennen.«
»Okay, die Show ist vorbei«, sagte Elena zu den anderen. Sie war leicht irritiert. Diese übersinnlichen Dinge hatte sie bisher für Tricks gehalten. Warum ging ihr das jetzt so nahe? Nur weil sie heute Morgen beinahe selbst die Fassung verloren hätte …
Die Mädchen gingen auf das Schulgebäude zu. Doch das Geräusch eines getunten Motors ließ sie innehalten.
»Da sieh mal einer an«, murmelte Caroline. »Was für ein toller Wagen.«
»Genauer gesagt, was für ein toller Porsche«, korrigierte Meredith sie trocken.
Der glänzende schwarze Porsche 911 Turbo glitt auf der Suche nach einem Parkplatz über das Gelände. Er glich einem Panther auf Beutejagd.
Als der Wagen anhielt und sich die Tür öffnete, sahen sie den Fahrer.
»Oh mein Gott«, flüsterte Caroline atemlos.
»Das kannst du laut sagen«, pflichtete Bonnie bei.
Elena konnte erkennen, dass er einen äußerst durchtrainierten Körper hatte.
Er trug verwaschene Jeans, so eng, dass er sie abends wohl mit dem Dosenöffner ausziehen musste, ein knappes T-Shirt und eine Lederjacke von ungewöhnlichem Schnitt. Sein Haar war lockig – und dunkel.
Er war nicht sehr groß. Eher Durchschnitt.
Elena atmete hörbar aus.
»Wer ist dieser maskierte Fremde?«, fragte Meredith. Ihre Bemerkung war zutreffend. Eine große dunkle Sonnenbrille bedeckte die Augen des jungen Mannes und schützte sein Gesicht vor neugierigen Blicken.
Ein Gewirr von Stimmen erhob sich.
»Siehst du die Jacke? Jede Wette, das ist der neueste Schrei aus Italien. Sicher aus Rom.«
»Was weißt du schon von Rom? Du bist in deinem ganzen Leben nie weiter als bis nach Rome im Staat New York gekommen.«
»Schaut mal. Elena hat wieder dieses Jagdfieber im Blick. Der schöne Fremde sollte sich vorsehen.«
Über das ganze Geplapper hinweg erhob sich plötzlich eiskalt Carolines Stimme: »Komm schon, Elena. Du hast doch Matt. Was willst du mehr? Und was kann man mit zwei Jungs tun, was man nicht auch mit einem tun kann?«
»Dasselbe … nur länger«, gab Meredith schlagfertig zurück, und alle brachen in Gelächter aus.
Der junge Mann hatte seinen Wagen abgeschlossen und ging auf die Schule zu. Unauffällig folgte Elena ihm, die anderen Mädchen blieben ihr dicht auf den Fersen. Ärger stieg in ihr hoch. Konnte sie nirgendwo hingehen, ohne dass ihr die ganze Meute hinterherhechelte? Meredith fing ihren Blick auf und Elena musste wider Willen lächeln.
»Noblesse oblige«, sagte Meredith leise.
»Was?«
»Wenn du die Queen der Schule sein willst, musst du auch die Konsequenzen tragen.«
Elena runzelte über diese Bemerkung die Stirn, während sie das Gebäude betraten. Ein langer Gang erstreckte sich vor ihnen und die atemberaubende Gestalt in Jeans und Lederjacke verschwand durch eine Tür weiter vorn. Elena ging langsamer, als sie auf das Büro zukam. Schließlich blieb sie stehen, um gedankenvoll die Nachrichten am Schwarzen Brett zu betrachten, das neben der Tür hing. Es gab hier ein großes Fenster, durch das man das ganze Büro sehen konnte.
Die anderen Mädchen starrten offen durch die Scheibe und kicherten aufgeregt. »Netter Hintern.« – »Das ist ganz sicher eine Armani-Lederjacke.« – »Glaubst du, der Typ kommt aus Europa?«
Elena bemühte sich, den Namen des Jungen zu verstehen. Es schien dort drin ein paar Schwierigkeiten zu geben. Mrs Clarke, die Verwaltungssekretärin, blickte auf eine Liste und schüttelte den Kopf. Der junge Mann sagte etwas und Mrs Clarke hob bedauernd die Hände: »Tut mir leid.« Sie fuhr mit dem Finger die Liste entlang und schüttelte wieder den Kopf. Der Junge wandte sich ab, drehte sich dann jedoch wieder zu ihr um. Als Mrs Clarke aufsah, veränderte sich ihr Ausdruck.
Der junge Mann hatte die Sonnenbrille jetzt in der Hand. Mrs Clarke schien von irgendetwas sehr überrascht zu sein. Elena sah, dass sie mehrmals blinzelte. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich, als ob sie versuchte zu sprechen.
Elena wünschte sich, mehr sehen zu können als nur den Hinterkopf des jungen Mannes. Mrs Clarke wühlte in ein paar Papieren. Sie wirkte ziemlich benommen. Schließlich fand sie ein Formular, machte einen Vermerk darauf und schob es dem jungen Mann hin.
Er kritzelte etwas auf das Papier – vermutlich seine Unterschrift – und gab es ihr zurück. Mrs Clarke starrte es einen Moment lang an. Dann suchte sie in einem anderen Berg von Zetteln herum und reichte ihm etwas, das wie ein Stundenplan aussah. Ihr Blick war starr auf den Jungen gerichtet, der das Blatt nahm, den Kopf zum Dank neigte und zur Tür ging.
Elena brannte inzwischen vor Neugier. Was war da drin passiert? Wie sah das Gesicht des Fremden aus? Als er jedoch aus dem Büro trat, hatte er wieder die Sonnenbrille auf. Elena war tief enttäuscht.
Er blieb kurz in der Tür stehen und so konnte sie wenigstens seine restlichen Züge erkennen. Das dunkle, lockige Haar umrahmte ein Gesicht, das von einer alten römischen Münze zu stammen schien … hohe Wangenknochen, eine klassische gerade Nase … Und ein Mund, der einem nachts den Schlaf rauben kann, dachte Elena. Seine Oberlippe wirkte sinnlich und verletzlich zugleich. Das Geplapper der anderen Mädchen auf dem Flur war so plötzlich verstummt, als hätte jemand einen Schalter betätigt.
Die meisten wandten verlegen den Blick von ihm ab und schauten irgendwo in der Gegend herum. Doch Elena hielt die Stellung beim Fenster. Sie warf den Kopf zurück und löste das Band aus ihrem Haar, sodass es ihr verführerisch über die Schultern fiel.
Ohne nach rechts oder links zu schauen, ging der junge Mann den Flur entlang. Sobald er außer Hörweite war, ertönte ein Chor von sehnsüchtigen Seufzern.
Elena hörte ihn nicht.
Er ist glatt an mir vorbeigegangen, dachte sie wie benommen. Ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Von weit her vernahm sie das Läuten zur ersten Stunde. Meredith zog sie am Arm.
»Was?«
»Ich sagte, hier ist dein Stundenplan. Wir haben jetzt Mathe im zweiten Stock. Komm schon!«
Elena ließ es zu, dass Meredith sie den Flur entlang, die Treppe hoch und in das Klassenzimmer zog. Automatisch setzte sie sich auf einen leeren Platz und blickte den Lehrer an, ohne ihn wirklich zu sehen. Sie hatte sich von diesem Erlebnis noch nicht erholt.
Er war einfach an ihr vorbeigegangen. Ohne auch nur einen Blick zu wagen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr so etwas das letzte Mal bei einem Jungen passiert war. Jeder riskierte zumindest mal einen Blick. Einige stießen bewundernde Pfiffe aus. Andere brachten genug Mut auf, sie anzusprechen. Und dann gab es noch die, die sie nur offen anstarrten.
Und das hatte Elena immer gefallen.
Was gab es schließlich Wichtigeres als Jungs? Sie waren der Maßstab für Beliebtheit und Schönheit. Außerdem konnten sie ganz nützlich sein. Manchmal waren sie richtiggehend aufregend. Aber das dauerte meistens nicht lange. Und manchmal waren sie von Anfang an Trottel.
Die meisten Jungs sind wie kleine Hunde, überlegte Elena. Ganz niedlich, aber im Grunde entbehrlich. Nur sehr wenige konnten zu richtigen Freunden werden. Wie Matt.
Oh, Matt. Letztes Jahr hatte sie gehofft, endlich gefunden zu haben, wonach sie suchte. Einen Jungen, bei dem sie mehr empfinden konnte. Mehr als nur den Triumph, ihn erobert zu haben, oder den Stolz, ihre neueste Trophäe den anderen Mädchen vorzuführen. Und sie hatte Matt wirklich lieb gewonnen. Aber als sie den Sommer über Zeit gehabt hatte nachzudenken, war ihr aufgegangen, dass es diese Art von Liebe war, die man für einen Bruder oder eine Schwester empfindet.
Ms Halpern teilte die Geometriebücher aus. Elena nahm ihres mechanisch entgegen und schrieb ihren Namen hinein. Sie war immer noch in Gedanken versunken.
Sie mochte Matt lieber als jeden anderen Jungen, den sie kannte. Und deshalb musste sie ihm sagen, dass es vorbei war.
In einem Brief war ihr das nicht gelungen. Sie hatte auch jetzt noch keine Ahnung, wie sie es ihm beibringen sollte. Es lag nicht daran, dass sie Angst hatte, er könnte ausrasten. Er würde es nur nicht verstehen. Wie auch? Sie verstand es ja selbst nicht.
Es war, als ob sie nach etwas … anderem greifen wollte. Immer wenn sie dachte, es gefunden zu haben, war es nicht da. So war es bei Matt gewesen und bei allen anderen Jungs. Und dann musste sie immer wieder aufs Neue mit der Suche beginnen. Zum Glück gab es genug Auswahl. Kein Junge konnte ihr auf Dauer widerstehen und keiner hatte sie je übersehen. Bis jetzt.
Bis heute. Als Elena sich wieder an den schicksalhaften Moment auf dem Flur erinnerte, krampften sich ihre Finger um ihren Kugelschreiber. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass dieser Typ einfach so an ihr vorbeigegangen war.
Es läutete und alle drängten aus dem Klassenzimmer. Doch Elena blieb in der Tür stehen. Sie biss sich auf die Lippen und musterte die Schüler auf dem Flur. Ihr Blick fiel auf eins der Mädchen, das sich auf dem Parkplatz an die Clique gehängt hatte.
»Frances! Komm mal her!«
Frances eilte eifrig herbei. Ihr unscheinbares Gesicht strahlte.
»Hör mal, Frances. Erinnerst du dich an den Jungen von heute früh?«
»Der mit dem Porsche? Und der tollen Lederjacke? Wie könnte ich den vergessen?«
»Ich brauche seinen Stundenplan. Besorge ihn mir aus dem Büro oder kopiere sein eigenes Exemplar, wenn’s sein muss. Egal wie, mach’s einfach.«
Frances schien einen Moment sehr überrascht, dann lächelte sie und nickte. »Okay, Elena. Ich werd’s versuchen. Wenn’s klappt, treffen wir uns in der Pause.«
»Danke.« Elena sah dem davoneilenden Mädchen nach.
»Weißt du was? Du bist total verrückt.« Meredith war wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht.
»Was hat man davon, die Highschool-Queen zu sein, wenn man nicht hin und wieder mal seine Macht spielen lässt?«, erwiderte Elena ruhig. »Wo muss ich jetzt hin?«
»Du hast Wirtschaft. Hier, nimm deinen Stundenplan selbst. Ich muss in den Chemieunterricht.«
Wirtschaftskunde blieb ebenso wie der ganze Rest des Morgens für Elena nur eine nebelhafte Erinnerung. Sie hoffte, wenigstens einen weiteren Blick auf den neuen Schüler erhaschen zu können, doch er war in keiner ihrer Unterrichtsstunden. Dafür aber Matt. Elena fühlte einen stechenden Schmerz, als sie in seine lächelnden blauen Augen blickte.
In der Pause nickte sie grüßend nach rechts und links, während sie zur Cafeteria ging. Caroline stand neben dem Eingang und lehnte aufreizend lässig an der Wand. Die beiden Jungen, mit denen sie sprach, verstummten schlagartig und stießen einander an, als Elena herankam.
»Hallo«, sagte sie kurz zu ihnen und wandte sich an Caroline. »Kommst du mit rein?«
Carolines grüne Augen musterten Elena kurz. Sie warf ihr kastanienbraunes Haar zurück. »Was? An den V.I.P-Tisch?«, meinte sie spöttisch.
Elena war verwirrt. Sie und Caroline waren seit dem Kindergarten befreundet und hatten ihren Konkurrenzkampf bisher eher locker gesehen. Doch in letzter Zeit hatte Caroline sich verändert. Sie begann immer mehr, die Rivalität zwischen ihnen ernst zu nehmen. Jetzt war Elena überrascht von der Bitterkeit in ihrer Stimme.
»Nun, du tust gerade so, als wärst du eine aus der breiten Masse. Und das bist du wohl kaum, liebste Caroline«, versuchte sie zu scherzen.
»Oh, ich glaube, da hast du recht.« Caroline sah Elena geradewegs ins Gesicht. Und Elena war geschockt von der offenen Feindschaft, die in ihren grünen Katzenaugen lag. Die beiden Jungs lächelten verlegen und machten sich aus dem Staub.
Caroline schien es nicht zu bemerken. »Es hat sich vieles geändert, seit du den Sommer über fort warst, Elena«, meinte sie. »Und vielleicht sind ja deine Tage an der Spitze gezählt.«
Elena fühlte, wie sie rot wurde. Sie bemühte sich, ruhig zu antworten. »Kann sein. Aber ich würde mir noch kein Zepter kaufen, wenn ich du wäre, Caroline.« Sie drehte sich um und ging in die Cafeteria.
Es tat richtig gut, Meredith, Bonnie und bei ihnen Frances zu sehen. Elena entspannte sich etwas, und die Röte wich von ihren Wangen, während sie ihr Essen aussuchte und zu den anderen ging. Sie würde sich von Caroline nicht anmachen lassen. Sie würde einfach überhaupt nicht mehr an sie denken.
»Ich hab’s.« Frances wedelte stolz mit einem Stück Papier, als Elena sich setzte.
»Und ich hab auch ein paar gute Neuigkeiten auf Lager«, mischte Bonnie sich ein. »Also, Elena. Hör genau zu. Er ist in meinem Biounterricht und ich sitze direkt schräg hinter ihm. Sein Name ist Stefano. Stefano Salvatore. Er kommt aus Italien und wohnt bei der alten Mrs Flowers am Stadtrand.« Sie seufzte. »Er ist so richtig schön altmodisch. Caroline hat ihre Bücher fallen lassen und er hat sie ihr aufgehoben.«
Elena verzog das Gesicht. »Wie ungeschickt von Caroline. Was ist noch passiert?«
»Das war alles. Er hat sich nicht wirklich mit ihr unterhalten. Oh, er ist ja so geheimnisvoll. Mrs Endicott, unsere Biologielehrerin, hat versucht, ihn dazu zu bringen, die Sonnenbrille abzunehmen, aber er wollte nicht. Er hat irgendein gesundheitliches Problem.«
»Was ist es?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es was Ernstes und seine Tage sind gezählt. Wäre das nicht romantisch?«
»Ja, sehr«, erwiderte Meredith trocken.
Elena musterte den Stundenplan und biss sich auf die Lippen. »Er ist zusammen mit mir in der siebten Stunde. Die Geschichte Europas. Hat jemand von euch das auch belegt?«
»Ich«, sagte Bonnie. »Und ich glaube, Caroline. Vielleicht auch Matt. Er machte so eine Bemerkung, dass er ausgerechnet das Glück gehabt hätte, wieder Mr Tanner zu erwischen.«
Toll, dachte Elena und stocherte mit ihrer Gabel lustlos auf ihrem Teller herum. Es sah ganz so aus, als würde die siebte Stunde außerordentlich interessant werden.
Stefano war froh, dass der Schultag fast vorüber war. Er wollte raus aus den überfüllten Räumen und Fluren, und wenn es nur für ein paar Minuten war.
So viele Menschen. Ihre Gedanken und Gefühle stürmten auf ihn ein. Aus ihrem Unterbewusstsein empfing er eine Unmenge an flüsternden Stimmen, sodass ihm ganz schwindlig wurde. Es war eine Ewigkeit her, seit er sich zum letzten Mal in einer solchen Menschenmasse befunden hatte.
Doch eine Person hatte sich von all den anderen abgehoben. Sie war unter denen gewesen, die ihn auf dem Hauptflur der Schule beobachtet hatten. Er wusste nicht, wie sie aussah, aber ihre persönliche Aura war sehr stark. Er fühlte, dass er sie auf Anhieb wiedererkennen würde.
Jedenfalls war der erste Tag seiner Maskerade so weit überstanden. Er hatte seine besonderen Gaben nur zweimal eingesetzt und auch dann nur in Maßen.
Jetzt war er müde und, wie er zugeben musste, auch hungrig. Das Blut des Kaninchens war nicht genug gewesen. Darüber musste er sich jedoch später Gedanken machen.
Er fand den Klassenraum für die letzte Unterrichtsstunde und setzte sich. Sofort spürte er wieder die Anwesenheit dieser starken Persönlichkeit.
Sie schwebte wie eine Lichtgestalt in seinem Unterbewusstsein. Golden und sanft und doch voller Leben. Zum ersten Mal konnte er das Mädchen ausfindig machen, das diese Aura verströmte. Es saß direkt vor ihm.
In diesem Moment drehte es sich um und er sah das Gesicht des Mädchens. Er konnte gerade noch verhindern, erschrocken nach Luft zu schnappen.
Catarina! Aber das konnte nicht sein. Catarina war tot, niemand wusste das besser als er.
Trotzdem war die Ähnlichkeit unheimlich. Das helle goldene Haar, so blond, dass es zu leuchten schien. Diese weiße Haut mit dem rosigen Schimmer über den Wangenknochen, die ihn immer an einen Schwan oder Alabaster erinnerte. Und diese Augen … Catarinas Augen waren von einer Farbe gewesen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, dunkler als das Blau des Himmels, so leuchtend wie der blaue Edelstein ihres Kopfschmucks. Dieses Mädchen hatte dieselben Augen.
Und diese Augen sahen ihn jetzt lächelnd an.
Er wandte schnell den Blick ab. Am allerwenigsten wollte er an Catarina denken. Er wollte dieses Mädchen nicht anschauen, das ihn so sehr an Catarina erinnerte, und er wollte ihre Aura nicht länger spüren. Er blickte auf sein Pult und schottete sein Unterbewusstsein gegen sie ab. Schließlich drehte sie sich wieder langsam nach vorn.
Sie war verletzt. Sogar über seine starken Barrikaden hinweg spürte er es. Es war ihm egal. Im Grunde war er sogar froh darüber. Hoffentlich lässt sie mich jetzt in Ruhe, dachte er. Abgesehen davon hegte er keine anderen Gefühle für sie.
Das redete er sich zumindest ein, während die monotone Stimme des Lehrers ungehört an seinem Ohr vorüberzog. Aber er konnte den schwachen Duft ihres Parfüms riechen – Veilchen, dachte er – und ihren schlanken weißen Nacken sehen, der über das Buch gebeugt war. Ihr blondes Haar fiel rechts und links daran vorbei über ihre Schultern.
Ärgerlich spürte er das altbekannte Gefühl in seinen Zähnen. Es war mehr ein Kitzeln oder Kribbeln als ein Schmerz. Es war ein Hunger, ein ganz spezieller Hunger, dem er nicht nachgeben würde.