Cover

Als Sänger hat Tony Gardner die besten Zeiten hinter sich – seine Engagements werden rarer, seine Autogramme kaum mehr nachgefragt. Für den Kaffeehausgitarristen Janeck ist Tony Gardner jedoch das größte Idol. Als sich die beiden in Venedig über den Weg laufen, muss er Gardner einfach ansprechen. Der nutzt die Gelegenheit, um Janeck für den vielleicht wichtigsten Auftritt seines Lebens zu gewinnen: Er will seiner Frau ein Ständchen bringen, in der Hoffnung, so seine bröckelnde Ehe retten zu können.

Diese und vier weitere Geschichten sind eine Liebeserklärung Kazuo Ishiguros an seine größte Leidenschaft: die Musik. Von Venedig über London und die Malvern Hills bis nach Hollywood führt sie die Menschen zueinander, spinnt ein Netz zwischen den unterschiedlichsten Persönlichkeiten, Nationalitäten und Schicksalen.

»Diese raffinierten und zuweilen unerhört komischen Storys über Kaffeehausmusiker, Schnulzensänger und Jazzsaxofonisten könnten ein Klassiker werden.« – Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Kazuo Ishiguro ist ein Meister der subtilen Zwischentöne.« – Benedict Wells

KAZUO

ISHIGURO

Bei Anbruch

der Nacht

Erzählungen

Aus dem Englischen

von Barbara Schaden

BLESSING

Titel der Originalausgabe:

NOCTURNES. FIVE STORIES OF MUSIC AND NIGHTFALL

Originalverlag:

Faber & Faber, London

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Neuausgabe 03/2021

Copyright © 2009 by Kazuo Ishiguro

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -illustration: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs

von Annykos/Shutterstock

Herstellung: Gabriele Kutscha

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-02784-1
V004

www.blessing-verlag.de

Für Deborah Rogers

INHALT

Crooner

Ob Regen oder Sonnenschein

Malvern Hills

Bei Anbruch der Nacht

Cellisten

CROONER

An dem Morgen, an dem ich Tony Gardner zwischen den Touristen sitzen sah, zog hier in Venedig gerade der Frühling ein. Wir hatten unsere erste ganze Woche draußen auf der Piazza hinter uns – eine Wohltat, kann ich Ihnen sagen, nach den endlosen stickigen Stunden hinten im Café, wo wir der Kundschaft im Weg sind, die ins Treppenhaus will. Es ging ein ziemlicher Wind an diesem Morgen, und unsere brandneue Markise flatterte uns um die Ohren, aber wir fühlten uns alle ein bisschen frischer und fröhlicher, und das hörte man unserer Musik wohl auch an.

Aber ich rede hier, als wäre ich ein reguläres Bandmitglied, dabei bin ich einer der »Zigeuner«, wie uns die anderen Musiker nennen, einer von denen, die rund um die Piazza wandern und aushelfen, wenn in einem der drei Kaffeehausorchester Not am Mann ist. Meistens spiele ich hier im Caffè Lavena, aber wenn nachmittags viel los ist, begleite ich schon mal die Leute vom Quadri bei einem Set oder gehe rüber zum Florian, dann über den Platz zurück ins Lavena. Ich komme mit allen gut aus – auch mit den Kellnern –, und in jeder anderen Stadt hätte ich schon eine feste Anstellung. Aber hier, wo sie alle derart besessen von Tradition und Vergangenheit sind, ist alles umgekehrt. Überall sonst wäre es ein Pluspunkt, wenn einer Gitarre spielt. Aber hier? Eine Gitarre! Die Geschäftsführer der Kaffeehäuser drucksen herum. Das wirkt zu modern, das gefällt den Touristen nicht. Bloß damit mich keiner für einen Rock ’n’ Roller hält, habe ich seit letztem Herbst eine klassische Jazzgitarre mit ovalem Schallloch, eine, die zu Django Reinhardt gepasst hätte. Das macht es ein bisschen einfacher, aber die Geschäftsführer sind noch immer nicht zufrieden. Auf diesem Platz hier kannst du als Gitarrist Joe Pass sein, und sie stellen dich trotzdem nicht fest ein, so ist es.

Natürlich ist da noch die Nebensächlichkeit, dass ich kein Italiener bin, geschweige denn Venezianer. Dem großen Tschechen mit dem Altsax geht es nicht anders. Wir sind beliebt, wir werden von den anderen Musikern gebraucht, aber wir passen nicht so ganz ins offizielle Programm. Spielt einfach und haltet den Mund, sagen die Geschäftsführer immer. Dann merken die Touristen nicht, dass ihr keine Italiener seid. Tragt eure Anzüge, Sonnenbrillen, kämmt euch das Haar zurück, dann merkt keiner einen Unterschied, aber fangt bloß nicht an zu reden.

Aber ich mache mich ganz gut. Alle drei Kaffeehausorchester, besonders wenn sie gleichzeitig unter ihren Konkurrenzbaldachinen aufspielen müssen, brauchen eine Gitarre – etwas Weiches, Solides, aber Verstärktes, das im Hintergrund die Akkorde schlägt. Sie denken jetzt wahrscheinlich: Drei Bands gleichzeitig auf ein und demselben Platz, das klingt doch schrecklich! Aber die Piazza San Marco ist groß genug, die verkraftet das. Ein Tourist, der über den Platz schlendert, hört das eine Stück verklingen, während sich das nächste einblendet, ungefähr so, wie wenn er an der Skala seines Radios dreht. Wovon die Touristen nicht allzu viel vertragen, das sind die klassischen Sachen, die ganzen Instrumentalversionen berühmter Arien. Okay, wir sind hier auf dem Markusplatz, sie wollen nicht gerade die neuesten Pophits. Aber sie hören gern alle paar Minuten was, das sie kennen, vielleicht eine alte Julie-Andrews-Nummer oder ein Thema aus einem berühmten Film. Ich weiß noch, wie ich letzten Sommer von einer Band zur nächsten pilgerte und an einem einzigen Nachmittag neunmal »The Godfather« spielte.

Jedenfalls waren wir an besagtem Frühlingsmorgen draußen und spielten vor einer ordentlichen Touristenmenge, als ich Tony Gardner entdeckte, der allein vor seinem Kaffee saß, fast direkt vor uns, vielleicht sechs Meter von unserer Markise entfernt. Wir haben ständig Prominente hier auf der Piazza, aber wir machen keinen großen Wirbel darum. Kann sein, dass es sich die Bandmitglieder am Ende eines Stücks zuflüstern: Schau, da ist Warren Beatty. Schau, das ist Kissinger. Diese Frau dort, die war doch in dem Film über die Männer, die ihre Gesichter tauschen. Ist für uns nichts Besonderes. Es ist schließlich der Markusplatz. Aber als mir klar wurde, dass es Tony Gardner war, der hier saß, war es anders, da wurde ich doch sehr aufgeregt.

Tony Gardner war der Lieblingssänger meiner Mutter. Solche Platten aufzutreiben war bei uns zu Hause, damals in der kommunistischen Zeit, fast unmöglich, aber meine Mutter besaß praktisch die gesamte Kollektion von ihm. Als Kind machte ich mal einen Kratzer in eine ihrer kostbaren Platten. Die Wohnung war so eng, und ein Junge in meinem Alter musste sich einfach ab und zu bewegen, vor allem in den kalten Monaten, wenn man nicht rauskonnte. Deshalb hatte ich ein Spiel, ich sprang von unserem kleinen Sofa auf den Sessel, immer wieder, aber einmal landete ich daneben und traf den Plattenspieler. Die Nadel schrammte mit einem Ratsch quer über die Platte – das war lang vor den CDs –, und meine Mutter kam aus der Küche herein und fing an, mich anzuschreien. Ich war sehr zerknirscht, weniger, weil sie mich anschrie, sondern, weil es eine Tony-Gardner-Platte war und weil ich ja wusste, wie viel ihr die bedeutete. Und ich wusste, dass jetzt auch diese Platte bei jeder Umdrehung dieses knackende Geräusch von sich geben würde, während er seine amerikanischen Schmachtfetzen sang. Jahre später, als ich in Warschau arbeitete und mich auf dem Plattenschwarzmarkt auskannte, besorgte ich meiner Mutter Ersatz für alle ihre abgenudelten Tony-Gardner-Alben, auch für die Platte, die ich ruiniert hatte. Ich brauchte mehr als drei Jahre, aber ich gab nicht auf, beschaffte eine nach der anderen, und bei jedem Besuch brachte ich ihr wieder eine mit.

Sie verstehen also, warum ich so aufgeregt wurde, als ich ihn keine sechs Meter von mir entfernt entdeckte. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, und es kann sein, dass ich einen Akkordwechsel versiebte. Tony Gardner! Was hätte meine liebe Mutter gesagt, wenn sie das gewusst hätte! Um ihretwillen, um ihres Andenkens willen musste ich hingehen und etwas zu ihm sagen, auch wenn die Kollegen lachten und sagten, ich führte mich auf wie ein Hotelpage.

Natürlich konnte ich nicht einfach zwischen Tischen und Stühlen hindurch auf ihn zumarschieren. Erst musste das Set zu Ende sein. Es war eine Qual, sage ich Ihnen, noch einmal drei, vier Nummern, und jede Sekunde dachte ich, jetzt steht er auf und geht. Aber er blieb sitzen, ganz allein, starrte in seinen Kaffee und rührte darin herum, als wäre er total erstaunt über das, was der Kellner ihm da gebracht hatte. Er sah aus wie jeder andere amerikanische Tourist, in hellblauem Polohemd und weiten grauen Hosen. Seine Haare, sehr dunkel, sehr glänzend auf dem Plattencover, waren inzwischen fast weiß, aber sie waren noch immer sehr dicht und genauso tadellos frisiert wie damals. Als ich ihn entdeckte, hatte er seine Sonnenbrille in der Hand – ich bezweifle, dass ich ihn sonst erkannt hätte –, aber während der folgenden Stücke, bei denen ich ihn immer im Auge behielt, setzte er sie auf, nahm sie wieder ab, setzte sie wieder auf. Er wirkte geistesabwesend, und dass er unserer Musik gar nicht wirklich zuhörte, enttäuschte mich.

Dann war unser Set vorbei, und ich stürzte unter dem Baldachin hervor, ohne was zu den anderen zu sagen, bahnte mir einen Weg zu Gardners Tisch und war einen Moment lang in Panik, weil ich nicht wusste, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Ich stand hinter ihm, aber irgendein sechster Sinn ließ ihn sich umdrehen und zu mir heraufsehen – wahrscheinlich kam das vom jahrzehntelangen Umgang mit Fans, die auf ihn zutraten –, und sofort stellte ich mich vor und erklärte, dass ich ihn sehr bewunderte, dass ich in der Band sei, die er gehört habe, dass meine Mutter ein große Bewunderin von ihm gewesen sei; das alles in einem einzigen langen Schwall. Er lauschte mit ernster Miene und nickte alle paar Sekunden, als wäre er mein Arzt. Ich plapperte weiter, und von ihm kam weiter nichts als ein gelegentliches »Ach ja?«. Nach einer Weile fand ich es an der Zeit zu gehen und wollte mich gerade entfernen, als er sagte:

»Sie kommen also aus einem Ostblockland. Das muss hart gewesen sein.«

»Ist alles Vergangenheit.« Ich zuckte munter die Achseln. »Jetzt sind wir ein freies Land. Eine Demokratie.«

»Das freut mich zu hören. Und das war Ihre Truppe, die eben für uns gespielt hat. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?«

Ich sagte, ich wolle nicht aufdringlich sein, aber jetzt war etwas Freundlich-Bestimmtes an Mr Gardner. »Nein, nein, setzen Sie sich. Ihre Mutter hat meine Platten geliebt, sagten Sie.«

Also setzte ich mich und erzählte weiter. Von meiner Mutter, von unserer Wohnung, den Platten vom Schwarzmarkt. Und ich wusste zwar nicht mehr, wie die Alben hießen, aber ich beschrieb ihm die Bilder auf den Hüllen, wie ich sie in Erinnerung hatte, und jedes Mal hob er einen Finger und sagte etwas wie: »Oh, das war sicher Inimitable. Der unnachahmliche Tony Gardner.« Ich glaube, wir genossen beide dieses Spiel, aber dann sah ich Mr Gardners Blick abschweifen und drehte mich um, und genau in dem Moment trat eine Frau an unseren Tisch.

Sie war eine dieser ungemein vornehmen amerikanischen Damen, mit tollem Haar, tollen Kleidern, toller Figur, und dass sie nicht so jung sind, merkt man erst, wenn man sie aus der Nähe sieht. Aus der Ferne hätte ich sie für ein Model aus einer dieser Nobelillustrierten gehalten. Aber als sie sich neben Mr Gardner setzte und ihre Sonnenbrille auf die Stirn schob, sah ich, dass sie mindestens fünfzig war, vielleicht älter. Mr Gardner sagte zu mir: »Das ist meine Frau Lindy.«

Mrs Gardner warf mir ein Lächeln zu, das irgendwie gezwungen war, dann fragte sie ihren Mann: »Und wer ist das? Hast du einen Freund gefunden?«

»Richtig, Liebling. Ich hatte ein sehr nettes Gespräch mit … Entschuldigen Sie, mein Freund, ich weiß Ihren Namen gar nicht.«

»Jan«, sagte ich schnell. »Aber Freunde nennen mich Janeck.«

Lindy Gardner sagte: »Sie meinen, Ihr Spitzname ist länger als Ihr echter Name? Wie geht das denn?«

»Sei nicht unhöflich zu dem Mann, Liebling.«

»Ich bin nicht unhöflich.«

»Mach dich nicht über seinen Namen lustig, Liebling. Sei ein gutes Mädchen.«

Lindy Gardner wandte sich mit einem irgendwie ratlosen Ausdruck an mich. »Wissen Sie, was er meint? Hab ich Sie beleidigt?«

»Nein, nein«, sagte ich, »gar nicht, Mrs Gardner.«

»Ständig sagt er mir, ich sei unhöflich zum Publikum. Aber ich bin nicht unhöflich. War ich jetzt unhöflich zu Ihnen?« Dann, an Mr Gardner gewandt: »Ich rede auf natürliche Art mit dem Publikum, Süßer. Das ist meine Art. Ich bin nie unhöflich.«

»Okay, Liebling«, sagte Mr Gardner, »lass uns das jetzt nicht weiter ausbreiten. Wie auch immer, dieser Mann hier ist nicht Publikum.«

»Ach nein? Was denn dann? Ein verloren geglaubter Neffe?«

»Sei doch nett, Liebling. Dieser Mann ist ein Kollege. Ein Musiker, ein Profi. Er hat jetzt gerade für uns gespielt.« Er deutete zu unserem Baldachin hinüber.

»Ah ja!« Lindy Gardner wandte sich wieder an mich. »Sie haben dort Musik gemacht, ja? Also, das war hübsch. Sie waren am Akkordeon, stimmt’s? Wirklich hübsch!«

»Vielen Dank. Ich bin aber der Gitarrist.«

»Gitarrist? Das ist nicht Ihr Ernst! Noch vor einer Minute hab ich Sie beobachtet. Genau dort haben Sie gesessen, neben dem Kontrabassisten, und so wunderschön auf Ihrem Akkordeon gespielt.«

»Verzeihung, aber am Akkordeon, das war Carlo. Der Große mit der Glatze …«

»Sind Sie sicher? Sie nehmen mich nicht auf den Arm?«

»Liebling, bitte. Sei nicht unhöflich zu dem Mann.«

Er hatte nicht gerade geschrien, aber seine Stimme war auf einmal scharf und zornig, und nun herrschte ein merkwürdiges Schweigen. Mr Gardner brach es selbst nach einer Weile und sagte sanft:

»Entschuldige, Liebling. Ich wollte dich nicht anschnauzen.«

Er streckte die Hand aus und ergriff eine der ihren. Ich hätte eigentlich erwartet, dass sie sich losriss, aber das Gegenteil war der Fall: Sie rückte auf ihrem Stuhl näher zu ihm und legte ihre freie Hand auf das gefaltete Händepaar. So saßen sie ein paar Sekunden, Mr Gardner mit gesenktem Kopf, seine Frau mit leerem Blick über seine Schulter hinwegstarrend; sie blickte auf die Basilika jenseits der Piazza, aber ihre Augen schienen nichts wahrzunehmen. In diesem kurzen Moment war es, als hätten sie nicht nur mich an ihrem Tisch vergessen, sondern sämtliche Leute auf dem Platz. Dann sagte sie, beinahe flüsternd:

»Schon gut, Süßer. Es war meine Schuld. Ich hab dich aufgeregt.«

Noch eine Weile saßen sie so da, Hand in Hand. Dann seufzte sie, ließ Mr Gardner los und sah mich an. Sie hatte mich schon zuvor angesehen, aber diesmal war es anders. Diesmal spürte ich ihren Charme. Es war, als hätte sie eine Skala, die von null bis zehn reichte, und hätte in dem Moment beschlossen, ihren Charme mir gegenüber auf sechs oder sieben aufzudrehen. Ich spürte ihn wirklich stark, und wenn sie mich jetzt um einen Gefallen gebeten hätte – zum Beispiel über den Platz zu gehen und ihr Blumen zu kaufen –, hätte ich es mit Freuden getan.

»Janeck«, sagte sie. »So heißen Sie, oder? Es tut mir leid, Janeck. Tony hat recht. Wie komme ich dazu, so mit Ihnen zu reden?«

»Wirklich, Mrs Gardner, machen Sie sich bitte keine Gedanken …«

»Und ich bin in euer Gespräch hineingeplatzt. Bestimmt ein Musikergespräch. Aber wisst ihr was? Ich werde euch zwei jetzt in Ruhe weiterreden lassen.«

»Du musst wirklich nicht gehen, Liebling«, sagte Mr Gardner.

»Oh doch, Süßer. Ich sehne mich regelrecht danach, mir diesen Prada-Laden anzusehen. Ich bin nur hergekommen, um dir zu sagen, dass ich länger weg bin, als ich dachte.«

»Okay, Liebling.« Tony Gardner richtete sich zum ersten Mal auf und atmete tief durch. »Solange du sicher bist, dass es dir Spaß macht.«

»Oh ja, ich werde mich wunderbar amüsieren. Und euch beiden wünsche ich eine nette Unterhaltung.« Sie stand auf und berührte mich an der Schulter. »Passen Sie auf sich auf, Janeck.«

Wir sahen ihr nach, dann fragte mich Mr Gardner das eine oder andere nach dem Leben eines Musikers in Venedig und besonders nach dem Quadri-Orchester, das in dem Moment zu spielen anfing. Er schien meinen Antworten nicht sehr aufmerksam zu folgen, und ich wollte mich schon verabschieden und gehen, aber dann sagte er plötzlich:

»Ich hätte da einen Vorschlag, mein Freund. Lassen Sie mich sagen, was mir vorschwebt, und Sie können mir einen Korb geben, wenn Sie wollen.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Darf ich Ihnen was erzählen? Als Lindy und ich zum ersten Mal hierher nach Venedig kamen, waren wir in den Flitterwochen. Vor siebenundzwanzig Jahren. Und obwohl wir nur glückliche Erinnerungen an die Stadt haben, waren wir nie mehr hier, jedenfalls nicht gemeinsam. Und als wir diese Reise planten, diese für uns ganz besondere Reise, sagten wir uns, wir müssen unbedingt ein paar Tage in Venedig verbringen.«

»Ist es Ihr Hochzeitstag, Mr Gardner?«

»Hochzeitstag?« Er blickte erschrocken drein.

»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich dachte nur – weil Sie sagten, es ist Ihre ganz besondere Reise.«

Er blickte noch eine Zeit lang erschrocken drein, dann lachte er, ein lautes, dröhnendes Lachen, und auf einmal fiel mir dieses eine Lied wieder ein, das meine Mutter ständig hörte; darin gibt es mittendrin eine gesprochene Passage, wo er sagt, es sei ihm egal, dass diese Frau ihn verlassen habe, und er stößt dieses sardonische Gelächter aus. Jetzt schallte dasselbe Gelächter über den Platz. Dann sagte er:

»Hochzeitstag? Nein, nein, es ist nicht unser Hochzeitstag. Aber was ich vorhabe, ist nicht so weit davon entfernt. Denn ich möchte was sehr Romantisches tun. Ich möchte ihr ein Ständchen bringen. Wie sich’s gehört, nach venezianischer Art. Und hier kommen Sie ins Spiel. Sie spielen auf Ihrer Gitarre, ich singe. Wir tun es von einer Gondel aus, wir lassen uns bis unters Fenster rudern, ich singe zu ihr hinauf. Wir haben ein Quartier in einem Palazzo nicht weit von hier. Das Schlafzimmerfenster geht auf den Kanal hinaus. Wenn es dunkel ist, wird das perfekt sein. Die Laternen an den Hausmauern erzeugen das passende Licht. Unten Sie und ich in einer Gondel, oben tritt sie ans Fenster. Alle ihre Lieblingslieder. Es muss nicht lang sein, abends ist es doch noch ein bisschen kühl. Nur drei oder vier Lieder, stelle ich mir vor. Ich entlohne Sie anständig. Was meinen Sie?«

»Mr Gardner, es wäre mir eine große Ehre. Wie ich schon sagte, Sie waren eine wichtige Person für mich. Wann würden Sie das gerne machen?«

»Warum nicht heute Abend, wenn’s nicht regnet? Gegen halb neun? Wir essen früh, und bis dahin sind wir wieder zurück. Ich denke mir irgendeinen Vorwand aus, um die Wohnung zu verlassen, und treffe mich mit Ihnen. Bis dahin habe ich eine Gondel bestellt, wir lassen uns durch den Kanal rudern, halten unter dem Fenster an. Das wird perfekt. Was meinen Sie?«

Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, dass das wie ein Traum war, der Wirklichkeit wird. Außerdem hielt ich es für eine reizende Idee, dieses Paar – er in den Sechzigern, sie in den Fünfzigern –, das sich benimmt wie zwei verliebte Teenager. Tatsächlich war die Idee so reizend, dass sie mich die Szene, die ich vorhin miterlebt hatte, beinahe vergessen ließ. Aber nicht ganz. Ich meine, ich wusste schon zu diesem Zeitpunkt irgendwo tief drinnen, dass die Sache nicht so klar und einfach war, wie er sie darstellte.

Die nächsten Minuten saßen Mr Gardner und ich noch zusammen und besprachen die Details – welche Lieder er wollte, welche Tonarten er bevorzugte, solche Dinge. Dann war es Zeit für mich, ich musste zurück unter den Baldachin und zu unserem nächsten Set, also stand ich auf, gab ihm die Hand und sagte, er könne an diesem Abend voll und ganz auf mich zählen.

Die Gassen waren still und dunkel, als ich abends zu der Verabredung mit Mr Gardner ging. Damals war es noch so, dass ich mich ständig verlief, kaum hatte ich mich ein Stück von der Piazza San Marco entfernt, und obwohl ich mit wirklich viel Vorsprung losgegangen war und die kleine Brücke kannte, zu der mich Mr Gardner bestellt hatte, kam ich ein paar Minuten zu spät.

Er stand direkt unter einer Laterne. Er trug einen zerknitterten dunklen Anzug, das Hemd bis zum dritten oder vierten Knopf offen, sodass man seine Brustbehaarung sah. Als ich mich für die Verspätung entschuldigte, sagte er:

»Was sind ein paar Minuten? Lindy und ich sind seit siebenundzwanzig Jahren verheiratet. Was sind ein paar Minuten?«

Er war nicht verärgert, aber seine Stimmung schien mir ernst und feierlich – ganz und gar nicht romantisch. Hinter ihm schaukelte die Gondel sanft im Wasser, und ich sah, dass der Gondoliere Vittorio war, den ich nicht besonders gut leiden kann. Vordergründig tut Vittorio immer sehr kumpelhaft, aber ich weiß – wusste es schon damals –, dass er über unsereinen, über Leute, die er »Fremde aus den neuen Ländern« nennt, alle möglichen Gemeinheiten erzählt, und alles ist erstunken und erlogen. Deswegen nickte ich bloß, als er mich an dem Abend begrüßte wie einen Bruder, und wartete schweigend, während er Mr Gardner in die Gondel half. Dann reichte ich ihm meine Gitarre – ich hatte meine spanische Gitarre mitgebracht, nicht die mit dem ovalen Schallloch – und stieg ebenfalls ein.

Vorn im Boot wechselte Mr Gardner ständig die Position, und irgendwann setzte er sich so schwerfällig nieder, dass wir fast kenterten. Aber ihm fiel das anscheinend gar nicht auf, und als wir ablegten, starrte er immer nur ins Wasser.

Ein paar Minuten glitten wir schweigend an dunklen Häusern entlang, unter niedrigen Brücken hindurch. Irgendwann erwachte er aus seinen tiefen Gedanken und sagte:

»Hören Sie, mein Freund. Ich weiß, wir haben für heute Abend schon ein Programm vereinbart. Aber ich hab’s mir anders überlegt. Lindy liebt den Song ›By the Time I Get to Phoenix‹. Ich habe ihn vor vielen Jahren mal aufgenommen.«

»Klar, Mr Gardner. Meine Mutter sagte immer, dass Ihre Version besser ist als die von Sinatra. Oder diese berühmte von Glenn Campbell.«

Mr Gardner nickte, und eine Zeit lang konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Bevor uns Vittorio um eine Ecke steuerte, stieß er seinen Gondoliereruf aus, der um die Mauern scholl.

»Ich habe ihn ihr oft vorgesungen«, sagte Mr Gardner. »Wissen Sie, ich glaube, sie würde ihn heute Abend gern hören. Sind Sie vertraut mit der Melodie?«

Ich hatte inzwischen meine Gitarre ausgepackt, und ich spielte ein paar Takte des Lieds.

»Ein bisschen höher«, sagte er. »In Es. So habe ich es auf dem Album gesungen.«

Ich wechselte also die Tonart, und nach etwa einer Strophe setzte Mr Gardner ein, er sang sehr leise, fast gehaucht, als wüsste er den Text nur noch halb. Aber in diesem stillen Kanal trug seine Stimme weit. Sie klang sogar sehr schön. Und einen Moment lang war mir, als wäre ich wieder ein Kind und in unserer damaligen Wohnung: ich auf dem Teppich, meine Mutter auf dem Sofa, erschöpft, vielleicht auch mit gebrochenem Herzen, während in der Zimmerecke Tony Gardners Platte lief.

Mr Gardner brach jäh ab und sagte: »Okay. Wir machen ›Phoenix‹ in Es. Dann vielleicht ›I Fall in Love too Easily‹, wie geplant. Und wir schließen mit ›One for My Baby‹. Das ist genug. Mehr wird sie nicht hören wollen.«

Danach schien er wieder in Gedanken zu versinken, und wir glitten zum leisen Plätschern von Vittorios Ruder durch die Dunkelheit.

»Mr Gardner«, sagte ich schließlich, »hoffentlich nehmen Sie mir die Frage nicht übel. Aber erwartet Mrs Gardner dieses Konzert? Oder soll es eine wunderbare Überraschung werden?«

Er seufzte tief, dann sagte er: »Ich schätze, wir müssen es in die Kategorie wunderbare Überraschung einordnen.« Und er fügte hinzu: »Der Himmel weiß, wie sie reagiert. Vielleicht kommen wir gar nicht bis ›One for My Baby‹.«

Vittorio steuerte uns um eine weitere Ecke, auf einmal ertönten Gelächter und Musik, und wir glitten an einem großen, hell erleuchteten Restaurant vorbei. Sämtliche Tische schienen besetzt, die Kellner wuselten herum, alle Gäste wirkten froh und glücklich, obwohl es um diese Jahreszeit so nah am Kanal nicht besonders warm gewesen sein dürfte. Nach der Stille und Dunkelheit, durch die wir gefahren waren, fand ich dieses Restaurant irgendwie beunruhigend. Es war, als wären wir die Bewegungslosen und sähen vom Kai aus dieses glitzernde Partyschiff vorbeifahren. Ein paar Gesichter blickten zu uns her, aber niemand schenkte uns besondere Aufmerksamkeit. Dann lag das Restaurant hinter uns, und ich sagte:

»Das ist doch komisch. Können Sie sich vorstellen, was diese Touristen tun würden, wenn sie wüssten, dass gerade eine Gondel mit dem legendären Tony Gardner an ihnen vorbeigefahren ist?«

Vittorio, der nicht viel Englisch versteht, kapierte immerhin, wovon ich sprach, und lachte kurz auf. Aber Mr Gardner rührte sich eine ganze Weile nicht. Ringsum war es wieder dunkel, wir fuhren in einem engen Kanal an spärlich beleuchteten Hauseingängen vorbei, und er sagte plötzlich:

»Mein Freund, Sie kommen aus einem kommunistischen Land. Deswegen ist Ihnen nicht klar, wie das alles funktioniert.«

»Mr Gardner«, sagte ich, »mein Land ist nicht mehr kommunistisch. Wir sind jetzt freie Menschen.«

»Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht Ihre Nation verunglimpfen. Sie sind ein tapferes Volk. Ich hoffe, Sie erlangen alle Frieden und Wohlstand. Aber was ich Ihnen sagen wollte, mein Freund. Ich meine, dass Sie aufgrund Ihrer Herkunft vieles noch nicht begreifen können. Was ganz normal ist. Genauso, wie ich in Ihrem Land vieles nicht begreifen würde.«

»Das wird wohl so sein, Mr Gardner.«

»Diese Leute, an denen wir vorbeigefahren sind. Hätten Sie sich vor sie hingestellt und gefragt: ›Hallo, erinnert sich noch jemand an Tony Gardner?‹, dann hätten wohl manche, vielleicht sogar die meisten Ja gesagt. Wer weiß? Aber wenn wir wie jetzt eben an ihnen vorbeifahren, wäre irgendwer, selbst wenn er mich erkannt hätte, in Begeisterung ausgebrochen? Das glaube ich nicht. Die Leute würden nicht die Gabel aus der Hand legen, sie würden nicht ihre Kerzenscheinromantik unterbrechen. Warum auch? Ist doch nur irgendein Schnulzensänger aus einer längst vergangenen Zeit.«

»Das kann ich nicht glauben, Mr Gardner. Sie sind ein Klassiker. Sie sind wie Sinatra oder Dean Martin. Manche Spitzenkünstler kommen nie aus der Mode. Anders als diese Popsternchen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, mein Freund. Sie meinen es gut, ich weiß. Aber gerade heute Abend ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Späße mit mir zu machen.«

Ich wollte schon protestieren, aber es war etwas an seinem Verhalten, das mir riet, das Thema insgesamt fallen zu lassen. So fuhren wir weiter, niemand sprach. Um ehrlich zu sein, begann ich mich zu fragen, worauf ich mich da eingelassen hatte, was diese ganze Serenadengeschichte bedeuten sollte. Die beiden waren schließlich Amerikaner. Wahrscheinlich würde Mrs Gardner, sobald er unten zu singen anfing, mit einer Knarre ans Fenster kommen und auf uns schießen.

Vielleicht bewegten sich Vittorios Gedanken in die gleiche Richtung, denn als wir unter einer Laterne an einer Hausmauer vorbeikamen, warf er mir einen Blick zu, der besagte: »Schräger Vogel, wie, amico?« Aber ich reagierte nicht. Undenkbar, dass ich mich mit einem von seinem Schlag gegen Mr Gardner stellte. Vittorio behauptet, dass Ausländer wie ich die Touristen abzocken, Müll in die Kanäle kippen und überhaupt die ganze verdammte Stadt ruinieren. An manchen Tagen, wenn er mies gelaunt ist, stellt er uns als Straßenräuber hin – als Vergewaltiger sogar. Einmal fragte ich rundheraus, ob es stimme, dass er solche Sachen herumerzähle, und er schwor, das sei alles total gelogen. Er sei doch kein Rassist, wie denn auch mit seiner jüdischen Tante, die er wie eine Mutter verehre? Aber einmal, als ich nachmittags Pause hatte, lehnte ich in Dorsoduro an einer Brücke und vertrieb mir die Zeit. Unter mir fuhr eine Gondel vorbei. Drei Touristen saßen darin, und Vittorio stand mit seinem Ruder hinter ihnen und verbreitete genau diesen Blödsinn, sodass alle Welt es hören konnte. Also, er kann meinen Blick suchen, soviel er will, mich macht er nicht zu seinem Komplizen.

»Lassen Sie mich Ihnen ein kleines Geheimnis verraten«, sagte Mr Gardner plötzlich. »Ein kleines Geheimnis über den Auftritt vor Publikum. Unter uns Profis. Es ist ganz einfach: Sie müssen etwas wissen – egal, was, aber irgendetwas müssen Sie über Ihr Publikum wissen. Etwas, was für Sie, in Ihrem Kopf, dieses Publikum von einem anderen unterscheidet, vor dem Sie tags zuvor aufgetreten sind. Sagen wir, Sie sind in Milwaukee. Jetzt müssen Sie sich fragen, was ist anders, was ist besonders am Publikum von Milwaukee? Was unterscheidet es von einem Publikum in Madison? Es fällt Ihnen nichts ein, aber Sie müssen es einfach weiter versuchen, bis Ihnen eine Idee kommt. Milwaukee, Milwaukee. Gute Schweinekoteletts machen sie in Milwaukee. Das wird gehen, das verwenden Sie, wenn Sie auf die Bühne rausgehen. Sie brauchen kein Wort darüber zu verlieren, Sie haben es einfach im Kopf, wenn Sie vor ihnen singen. Die Leute vor Ihnen, das sind diejenigen, die gute Schweinekoteletts essen. In puncto Schweinekoteletts setzen sie Maßstäbe. Verstehen Sie, was ich meine? Auf diese Weise wird das Publikum zu Menschen, die Sie kennen, vor denen Sie auftreten können. Sehen Sie, das ist mein Geheimnis. Unter uns Profis.«

»Danke, Mr Gardner. So hätte ich das nie gesehen. Ein Tipp von jemandem wie Ihnen, das vergess ich nie.«

»Heute Abend«, fuhr er fort, »treten wir vor Lindy auf. Das Publikum ist Lindy. Also werde ich Ihnen etwas über Lindy erzählen. Wollen Sie was über Lindy wissen?«

»Natürlich, Mr Gardner«, sagte ich. »Sehr gern möchte ich was über sie wissen.«

Während der nächsten gut zwanzig Minuten saßen wir in der Gondel und drehten Runde um Runde, während Mr Gardner redete. Manchmal senkte sich seine Stimme zu einem Murmeln, als führte er Selbstgespräche. Dann wieder, wenn eine Laterne oder ein vorbeiziehendes Fenster einen Lichtschein ins Boot warf, erinnerte er sich an mich, hob wieder die Stimme, machte einen Einwurf wie: »Verstehen Sie, was ich meine, mein Freund?«

musste

»Das verstehe ich nicht, Mr Gardner. Warum wollen Sie und Mrs Gardner sich dann trennen?«

Er stieß wieder einen seiner Seufzer aus. »Wie sollten Sie das mit Ihrer Herkunft auch verstehen, mein Freund? Aber Sie waren so nett zu mir heute Abend, ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Tatsache ist, dass ich nicht länger der große Name bin, der ich mal war. Protestieren Sie, so viel Sie wollen, aber dort, wo wir herkommen, lässt sich so was einfach nicht leugnen. Ich bin kein großer Name mehr. Jetzt könnte ich das einfach hinnehmen und in der Versenkung verschwinden. Von vergangenem Ruhm leben. Oder ich könnte sagen, nein, ich bin noch nicht fertig. Mit anderen Worten, mein Freund, ich könnte ein Comeback machen. Das haben viele getan, die in meiner Lage und schlimmer dran waren. Aber ein Comeback ist keine leichte Sache. Sie müssen bereit sein, eine Menge zu verändern, und manches fällt sehr schwer. Sie müssen ein anderer werden. Sie müssen sich sogar von Dingen verabschieden, die Sie lieben.«

»Mr Gardner, meinen Sie damit, dass Sie und Mrs Gardner sich wegen Ihres Comebacks trennen?«

»Schauen Sie sich doch die Leute an, denen das Comeback gelungen ist. Schauen Sie sich die paar aus meiner Generation an, die heute noch da sind. Alle neu verheiratet, jeder Einzelne von ihnen. Zum zweiten, manche zum dritten Mal. Ich und Lindy, wir werden allmählich zur Lachnummer. Außerdem gibt es da diese spezielle junge Dame, auf die ich ein Auge geworfen habe, und sie hat ein Auge auf mich geworfen. Lindy weiß Bescheid. Sie weiß es länger als ich, vielleicht weiß sie es seit ihrer Zeit im Diner, als sie Megs Geschichten zuhörte. Wir haben alles durchgesprochen. Sie versteht, dass es Zeit für uns ist, getrennte Wege zu gehen.«

»Ich versteh noch immer nicht, Mr Gardner. Das Land, aus dem Sie und Mrs Gardner kommen, kann doch nicht so verschieden von allen anderen sein. Das ist doch der Grund, Mr Gardner, das ist der Grund, weshalb die Lieder, die Sie in den vielen Jahren gesungen haben, die Leute überall auf der Welt ansprechen. Auch dort, wo ich gelebt habe. Und was sagen alle diese Lieder? Dass es traurig ist, wenn zwei Menschen die Liebe abhandenkommt und sie sich trennen müssen. Aber dass sie für immer zusammenbleiben sollten, wenn sie einander weiterhin lieben. Das sagen Ihre Lieder.«

»Ich verstehe, was Sie sagen, mein Freund. Und es mag hart für Sie klingen, ich weiß. Aber so ist es. Und hören Sie, es geht ja auch um Lindy. Es ist das Beste für sie, wenn wir es jetzt tun. Sie ist noch lange nicht alt. Sie haben sie gesehen, sie ist immer noch eine schöne Frau. Sie muss jetzt ausgehen, solange sie Zeit hat. Zeit, eine neue Liebe zu finden, eine neue Ehe einzugehen. Sie muss rauskommen, bevor es zu spät ist.«

Ich weiß nicht, was ich darauf gesagt hätte, aber dann überrumpelte er mich mit der Bemerkung: »Ihre Mutter. Ich schätze, sie ist nie rausgekommen.«

Ich dachte darüber nach, dann sagte ich leise: »Nein, Mr Gardner. Sie ist nie rausgekommen. Sie hat die Veränderungen in unserem Land nicht mehr erlebt.«

»Das ist schade. Ich bin sicher, sie war eine wunderbare Frau. Wenn es stimmt, was Sie sagen, und meine Musik sie ein bisschen glücklich gemacht hat, dann bedeutet mir das viel. Sehr schade, dass sie nicht rauskam. Ich möchte nicht, dass es meiner Lindy genauso geht. Wirklich nicht. Nicht meiner Lindy. Ich will, dass meine Lindy rauskommt.«

Die Gondel stieß sachte gegen den Kai. Vittorio rief uns leise an, streckte die Hand aus, und nach ein paar Sekunden stand Mr Gardner auf und kletterte hinaus. Als auch ich mit meiner Gitarre draußen stand – um nichts auf der Welt hätte ich Vittorio gebeten, dass er mich umsonst mitnimmt –, hatte Mr Gardner seine Brieftasche gezückt.

Vittorio schien erfreut über seinen Lohn, und mit seinen üblichen Höflichkeitsphrasen und -gesten stieg er wieder in die Gondel und ruderte durch den Kanal davon.

Wir sahen ihm nach, wie er in der Dunkelheit verschwand, und im nächsten Augenblick drückte mir Mr Gardner einen Stoß Geldscheine in die Hand. Ich sagte, das sei viel zu viel, und ohnehin sei es eine riesige Ehre für mich, aber er ließ keinen Widerspruch zu.

»Nein, nein«, sagte er und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, als wollte er nichts mehr damit zu tun haben, nicht nur mit dem Geld, sondern auch mit mir, dem Abend, vielleicht diesem ganzen Abschnitt seines Lebens. Er machte sich auf den Weg zu seinem Palazzo, aber nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Die Gasse, in der wir waren, der Kanal, alles war jetzt still, bis auf die gedämpften Laute aus einem Fernsehapparat.

»Sie haben gut gespielt, mein Freund«, sagte er. »Sie haben einen schönen Anschlag.«

»Danke, Mr Gardner. Und Sie haben großartig gesungen. So großartig wie immer.«

»Vielleicht komme ich morgen, bevor wir abreisen, noch einmal auf die Piazza. Um Sie und Ihre Truppe spielen zu hören.«

»Das hoffe ich, Mr Gardner.«

Aber ich sah ihn nie wieder. Ein paar Monate später, im Herbst, hörte ich, dass Mr und Mrs Gardner sich hatten scheiden lassen – einer der Kellner im Florian hatte es irgendwo gelesen und erzählte es mir. Da fiel mir alles wieder ein, was an diesem Abend passiert war, und es machte mich ein bisschen traurig, als ich daran dachte. Denn Mr Gardner war mir wie ein ziemlich anständiger Mensch vorgekommen, und egal, wie Sie es betrachten, ob Comeback oder nicht, er ist und bleibt einer der ganz Großen.