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Leif GW Persson:Sühne
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Den som dödar draken« bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.
Copyright © 2008 by Leif GW Persson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009 by btb Verlag
Umschlag: Grafikagentur semper smile/ Copyright © Danita Delimont/Getty Images
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN : 978-3-641-03083-4
V003
www.btb-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis
 

Inschrift
 

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 61
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Kapitel 75
Kapitel 76
Kapitel 77
Kapitel 78
Kapitel 79
Kapitel 80
Kapitel 81
Kapitel 82
Kapitel 83
Kapitel 84
Kapitel 85
Kapitel 86
Kapitel 87
Kapitel 88
Kapitel 89
Kapitel 90
Kapitel 91
Kapitel 92
Kapitel 93
Kapitel 94
 

Copyright

Dies ist ein böses Märchen für erwachsene Kinder.
 

Leif GW Persson

1
Ein bekleckerter Schlips, ein Topfdeckel aus Eisen und ein gewöhnlicher Hammer mit abgebrochenem Holzstiel. Das waren die drei augenfälligsten Funde, die die Polizei Solna bei ihrer ersten Untersuchung des Tatortes machte. Mit größter Wahrscheinlichkeit waren diese Gegenstände dazu verwendet worden, dem Opfer das Leben zu rauben. Um das einzusehen, brauchte man kein Kriminaltechniker zu sein. Es genügte, zwei Augen im Kopf und so gute Nerven zu haben, dass man den Anblick überhaupt aushielt.
Was den Hammer mit dem abgebrochenen Stiel anging, würde sich recht bald herausstellen, dass man sich geirrt hatte und dass der Täter ihn nicht dazu verwendet hatte, das Opfer umzubringen.
Während die Spurensicherung am Werke war, erledigten die Ermittler alle Routineaufgaben. Sie klingelten bei den Nachbarn und in den Nachbarhäusern und erkundigten sich nach dem Opfer und nach Ereignissen, die eventuell etwas mit der Tat zu tun haben konnten. Eine Zivilbeamtin setzte sich in der Dienststelle an den Computer und brachte alles in Erfahrung, was sich auf diesem Wege herausfinden ließ.
Recht bald gelangten sie zu dem bedauerlichen Schluss, dass es sich bei dem Betroffenen um das typische Mordopfer schwedischer Kriminalgeschichte handelte, wie sie während der letzten hundertfünfzig Jahre aufgezeichnet worden war. Vermutlich repräsentierte es sogar eine länger zurückliegende Zeitspanne ganz gut, da die Gerichtsprotokolle aus dem frühen Mittelalter dasselbe Bild vermittelten wie die Gerichtsstatistik der Industriegesellschaft. Das klassische schwedische Mordopfer des letzten Jahrtausends gewissermaßen. In der Sprache von heute: »Ein alleinstehender Mann mittleren Alters, ein Au ßenseiter mit schweren Alkoholproblemen.«
 

»Kurz und gut, ein gewöhnlicher Alki«, wie der Ermittlungsleiter der Polizei Solna, Kriminalkommissar Evert Bäckström, den Verstorbenen bei der ersten Besprechung mit seinen Fahndern und seinem Chef beschrieb.

2
Worauf die Erzählungen der Nachbarn und die Recherche in den Datenbanken bereits hinwiesen, wurde durch die eindeutigen forensischen Beweise der beiden Kriminaltechniker noch bestätigt.
»Ein typischer Mord im Suff, wenn du mich fragst, Bäckström«, fasste der ältere der beiden, Peter Niemi, die Sache zusammen, als er bei der ersten Sitzung die Einschätzung der Spurensicherung vortrug.
 

Schlips, Topfdeckel und Hammer waren Eigentum des Opfers gewesen und hatten sich in der Wohnung befunden, ehe die üble Sache ihren Anfang genommen hatte. Der Schlips lag dem Opfer noch um den Hals, ordentlich unter dem Hemdkragen, aber etwa fünf Zentimeter zu fest zugezogen und dann noch unter dem Kehlkopf sicherheitshalber mit einem normalen Knoten verankert.
In der Wohnung schienen sich zwei Personen, von denen die eine den Fingerabdrücken nach zu schließen mit dem Opfer identisch war, die Stunden vor dem Mord mit Essen und Trinken vertrieben zu haben. Leere Schnapsflaschen und Bierdosen, Gläser, aus denen Bier und Wodka getrunken worden war, Essensreste auf zwei Tellern auf dem Tisch im Wohnzimmer und dazu passende Essensreste in der kleinen Küche ließen darauf schließen, dass die letzte Mahlzeit des Opfers aus Bohnen mit Speck bestanden hatte. Die Bohnen waren fertiggekocht gewesen und - darüber gab die Plastikverpackung im Mülleimer Auskunft - am selben Tag in einem Ica-Laden in der Nähe gekauft worden. Sie waren in dem gusseisernen Topf aufgewärmt worden, dessen Deckel der Täter seinem Gastgeber im Verlauf des Abends wiederholte Male auf den Kopf geknallt hatte.
 

Auch der Gerichtsmediziner war zu diesem Schluss gekommen. Er hatte seine Erkenntnisse dem der Obduktion beiwohnenden Kriminaltechniker, der während der Besprechung der Fahnder mit anderem beschäftigt gewesen war, dargelegt. Seine schriftliche, endgültige Stellungnahme würde eine Woche auf sich warten lassen, aber für eine vorläufige Einschätzung hatten die üblichen Schnitte und sein geübtes Auge genügt.
»Ein Alki, wie die Polizei so schön zu sagen pflegt, wenn es um Personen wie die unseres bedauernswerten Opfers geht«, erklärte der Gerichtsmediziner, der in dieser Runde als gebildeter Mensch gelten konnte, der auf seine Ausdrucksweise Wert legte.
 

Alles zusammengenommen, die Berichte der Nachbarn, die Informationen über das Opfer aus den Datenbanken, die Funde am Tatort, die Beobachtungen des Gerichtsmediziners, erklärte erschöpfend alles, was die Polizei wissen musste. Zwei Alkis, die einander gut kennen, treffen sich, um eine Kleinigkeit zu essen und bedeutend mehr zu trinken. Anschließend beginnen sie über irgendeine menschliche Sinnlosigkeit, die ihre private und gemeinsame Geschichte ausmacht, zu streiten und beschließen ihre Zweisamkeit zu guter Letzt damit, dass der eine den anderen erschlägt.
Ganz einfach also. Es bestanden die besten Aussichten, den Täter im nächsten Bekanntenkreis des Opfers, also unter seinesgleichen, zu finden, und entsprechende Maßnahmen waren bereits ergriffen worden. Solche Morde wurden in neun von zehn Fällen aufgeklärt, und der Staatsanwalt hatte in der Regel nach spätestens einem Monat sämtliche Papiere auf dem Tisch liegen.
Reine Routine also, und die Solna-Polizisten, die an dieser ersten Besprechung teilnahmen, verschwendeten keinen Gedanken darauf, Spezialisten, wie beispielsweise die Profiler oder den Kriminologieprofessor des Reichskriminalamtes, der im Übrigen nur ein paar Häuserblocks vom Opfer entfernt wohnte, hinzuzuziehen.
Keiner der Experten hatte sich aus eigenem Antrieb gemeldet, und das war auch gut so, denn sie hätten nur das zu Papier gebracht, was alle anderen ohnehin schon zu wissen glaubten. Damit blieb es ihnen zumindest erspart, sich zu blamieren.
Es sollte sich nämlich schon bald herausstellen, dass das, worauf die gesammelte kriminologische Erkenntnis, die polizeiliche Erfahrung sowie die normale Intuition, über die alle richtigen Polizisten verfügten, hinwiesen, katastrophal falsch war.
»Die Fakten, Bäckström«, sagte Bäckströms oberste Chefin, die Polizeidirektorin der Polizeidirektion West, Anna Holt, als ihr Bäckström am Tage nach dem Mord den Fall vortrug.
»Ein ganz normaler Alki«, meinte Bäckström und nickte bekümmert.
»Okay. Du hast fünf Minuten.« Holt seufzte. Es standen noch mehr Punkte auf der Tagesordnung, wovon mindestens einer bedeutend wichtiger war als Bäckströms Fall.

3
Am Donnerstag, dem 15. Mai, war die Sonne über dem Hasselstigen 1 bereits um 3.20 Uhr morgens aufgegangen. Genau zwei Stunden und vierzig Minuten bevor Septimus Akofeli, 25, genau hier eintraf, um die Tageszeitungen einzuwerfen.
 

Septimus Akofeli arbeitete eigentlich als Fahrradbote, verdiente sich aber seit knapp einem Jahr etwas dazu, indem er in einigen Vierteln beim Råsundavägen, unter anderem im Hasselstigen 1, die Zeitungen austrug. Er war ein Flüchtling aus dem südlichen Somalia und stammte aus einem kleinen Dorf, das nur einen halben Tagesmarsch von der kenianischen Grenze entfernt lag. An seinem dreizehnten Geburtstag war er in seiner neuen Heimat eingetroffen, und dass er in Schweden und nicht in einem anderen Land gelandet war, lag daran, dass seine Tante und sein Onkel mit den Cousins und Cousinen fünf Jahre zuvor dorthin geflüchtet waren. Alle seine anderen Verwandten waren tot. Oder besser gesagt ermordet, denn nur wenige von ihnen waren an anderen Ursachen gestorben.
Septimus Akofeli war kein normaler somalischer Flüchtling, der auf gut Glück nach Schweden gekommen war. Er besaß hier Angehörige, die sich um ihn kümmerten, und es gab schwerwiegende humanitäre Gründe, ihn ins Land zu lassen. Alles schien sich auch gut zu entwickeln. Oder zumindest so gut, wie man es nur erwarten konnte, wenn es um einen Menschen wie ihn ging.
Septimus Akofeli hatte die schwedische Schule besucht und in den meisten Fächern durchschnittliche oder sogar gute Noten gehabt. Dann hatte er sechs Semester an der Universität Stockholm studiert und einen Magister in Sprachen abgelegt, mit Englisch als Hauptfach. Er besaß einen Führerschein und war mit zweiundzwanzig schwedischer Staatsbürger geworden. Er hatte sich auf zahlreiche Stellen beworben und schließlich auch eine von ihnen bekommen. Er war Fahrradkurier bei Miljöbudet - »Die Kuriere, die die Erde schützen«. Als er die erste Rate seines Studiendarlehens hatte abbezahlen müssen, hatte er sich noch einen zweiten Job als Zeitungsausträger besorgt. Seit einigen Jahren wohnte er allein in einer Einzimmerwohnung im Fornbyvägen in Rinkeby.
Septimus Akofeli war also ein rechtschaffener Mann und fiel niemandem zur Last. Trotz seines Hintergrundes hatte er mehr erreicht als die meisten, und die meisten mit seinem Hintergrund hatte er weit übertroffen.
Septimus Akofeli war kein normaler Flüchtling. Zum einen war Septimus ein sehr ungewöhnlicher somalischer Vorname, auch innerhalb der kleinen christlichen Minorität des Landes, zum anderen war er bedeutend hellhäutiger als die meisten seiner Landsleute. Für beides gab es eine einleuchtende Erklärung: Der Pastor der Afrikamission der anglikanischen Kirche, Mortimer S. Craigh - S. wie in Septimus -, hatte gegen das sechste Gebot verstoßen. Er hatte Septimus’ Mutter geschwängert, hatte seine schwere Sünde bereut, war der Vergebung des Herrn teilhaftig geworden und war umgehend in seine Heimatgemeinde, ein kleines Dorf namens Great Dunsford in Hampshire, zurückgekehrt, das im Übrigen in einer überaus pastoralen Gegend lag.
 

Am Donnerstag, dem 15. Mai, um fünf nach sechs Uhr morgens, hatte Septimus Akofeli die Leiche des ermordeten Karl Danielsson, 68, in der Diele seiner Wohnung im ersten Stock des Hasselstigen 1 in Solna gefunden. Die Tür zur Wohnung stand weit offen, und der Tote lag nur einen Meter hinter der Schwelle. Septimus Akofeli hatte das Exemplar des Svenska Dagbladet, das er bei dem Abonnenten Danielsson gerade noch in den Briefkastenschlitz in der Tür hatte stecken wollen, beiseite gelegt. Er hatte sich vorgebeugt und den Toten genau betrachtet. Er hatte sogar seine starren Wangen berührt. Dann hatte er den Kopf geschüttelt und auf seinem Handy den Notruf gewählt.
Um sechs Minuten nach sechs war er mit der Einsatzzentrale der Polizei Stockholm auf Kungsholmen verbunden worden. Der Mann in der Zentrale hatte ihn gebeten, am Telefon zu warten, während er gleichzeitig einen Streifenwagen alarmiert hatte, der sich auf dem Frösundaleden nur wenige hundert Meter vom Hasselstigen entfernt befunden hatte. »Verdacht auf Mord im Hasselstigen eins.« Außerdem hatte er den Anrufer als verdächtig gefasst beschrieben, was nicht nur darauf hindeuten konnte, dass sich jemand mit der Polizei einen Spaß erlauben wollte, sondern dass der Anrufer »ernsthaft gestört« sein könnte …
Der Mann in der Zentrale hatte nicht wissen können, dass Septimus Akofeli für diese Art von Entdeckungen außerordentlich geeignet war. Schon als kleiner Junge hatte er mehr Ermordete und Verstümmelte gesehen als fast alle anderen neun Millionen Einwohner seiner neuen Heimat.
 

Septimus Akofeli war klein und schmächtig, er war ein Meter siebenundsechzig groß und wog fünfundfünfzig Kilo. Er war dabei sehr durchtrainiert, was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass er jeden Morgen zwei Stunden lang Treppen auf- und ablief und dann den Rest des Tages damit verbrachte, ungeduldig wartende Kunden, die noch dazu Rücksicht auf die Umwelt nahmen und die man deswegen nicht unnötig warten lassen konnte, im Eiltempo per Fahrrad mit Briefen und Paketen zu versorgen.
Septimus Akofeli sah mit seiner dunklen, olivfarbenen Haut, seinen klassischen Gesichtszügen und einem Profil, wie man es in Bildern auf antiken ägyptischen Vasen fand, sehr gut aus. Was im Kopf eines Inspektors mittleren Alters vorging, der in der Einsatzzentrale der Stockholmer Polizei arbeitete, wusste er natürlich nicht.
Erst hatte er getan, was man ihm gesagt hatte, und am Telefon gewartet. Nach ein paar Minuten hatte er dann kopfschüttelnd sein Handy ausgeschaltet, weil ihn die Polizei vergessen hatte. Dann hatte er seine Zeitungstasche abgestellt und sich vor der Wohnungstür auf die Treppenstufen gesetzt, um wie versprochen im Haus zu bleiben.
Ein paar Minuten später hatte er Gesellschaft erhalten. Erst hatte jemand vorsichtig die Haustür geöffnet und wieder geschlossen. Dann waren leise Schritte auf der Treppe zu hören gewesen. Dann war ein männlicher Polizist um die vierzig in Uniform aufgetaucht und hinter ihm seine bedeutend jüngere, ebenfalls uniformierte Kollegin. Der Polizist hatte eine Hand auf seiner Waffe gehabt und mit dem linken Arm auf ihn gedeutet. Seine jüngere Kollegin hatte bereits ihren Schlagstock in der Rechten gehalten.
»Okay, jetzt machen wir es so«, hatte der Streifenpolizist gesagt und Akofeli zugenickt. »Erst strecken wir die Hände über den Kopf, dann stehen wir ganz ruhig auf und stellen uns mit dem Rücken zu uns mit gespreizten Beinen hin...«
Wer, wir?, hatte Septimus Akofeli gedacht und getan, wie ihm geheißen.

4
Hasselstigen ist eine kleine, knapp zweihundert Meter lange Querstraße des Råsundavägen, etwa einen halben Kilometer vom Fußballstadion Råsunda entfernt und ganz in der Nähe der ehemaligen Filmstudios von Svensk Filmindustri in der sogenannten Filmstadt gelegen, einem mittlerweile exklusiven Wohnviertel mit Eigentumswohnungen. Hier wohnen ganz andere Leute als im Hasselstigen 1.
Das Haus Hasselstigen 1 war im Herbst 1945 ein halbes Jahr nach Kriegsende gebaut worden. Die Leute in der Gegend nannten es das Haus, das Gott oder zumindest der Vermieter vergessen hatte.
Das Backsteinhaus hatte fünf Stockwerke und umfasste etwa dreißig kleinere Ein- oder Zweizimmerwohnungen. Die Renovierung der Fassade, die der Abflussrohre und von vielem anderen war seit langem überfällig.
Auch die Mieter hatten bessere Zeiten gesehen, etwa zwanzig waren alleinstehend, und die meisten waren Rentner. Außerdem gab es acht ältere Paare, allesamt Rentner, und eine neunundvierzigjährige Frau, die mit einem neunundzwanzigjährigen Sohn, einem Frührentner, in einer Zweizimmerwohnung lebte. Bei den Nachbarn galt er als etwas seltsam, aber nett, harmlos und hilfsbereit. Er hatte immer mit seiner Mutter zusammengewohnt. Seit einiger Zeit wohnte auch er alleine, da seine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte und seit einigen Monaten in einer Rehaklinik betreut wurde.
Elf Mieter bezogen eine Tageszeitung, sechs Dagens Nyheter und fünf Svenska Dagbladet. Seit einem Jahr sorgte Septimus Akofeli dafür, dass sie jeden Morgen in den Briefkästen lagen, und zwar pünktlich gegen sechs und ohne dass er das Zustellen auch nur ein einziges Mal versäumt hätte.
Im Haus Hasselstigen 1 wohnten insgesamt 41 Personen. Oder vierzig, wenn man genau sein wollte, da eine gerade ermordet worden war, und bereits am Nachmittag hatte die Polizei Solna eine Liste sämtlicher Hausbewohner einschließlich des Opfers zusammengestellt.
In der Zeit zwischen dem Eingehen des Alarms bei der Einsatzzentrale und dem Erstellen der Liste der Hausbewohner hatte sich einiges ereignet. Unter anderem war der Ermittlungsleiter der Polizei Solna, Kriminalkommissar Evert Bäckström, bereits gegen zwanzig vor zehn am Tatort eingetroffen, also nur dreieinhalb Stunden nachdem bei seinen Kollegen im »Bunker« der Alarm eingegangen war. Das war in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um Bäckström handelte, rekordverdächtig.
Dafür gab es eine höchst private Erklärung. Am Vortag hatte ihm der Betriebsarzt der Polizei Stockholm das Versprechen abgenommen, dass er sein Leben unverzüglich ändern würde. Er hatte ihm ausgemalt, was ihm bevorstand, wenn er wie gehabt weitermachte, und das hatte sogar Bäckström Angst eingeflößt. Zumindest so weit, dass sich Bäckström nach einem nüchternen Abend und einer durchwachten Nacht dazu aufgerafft hatte, sich zu Fuß zu seiner neuen Arbeitsstelle bei der Kripo der Polizeidirektion West zu begeben.
Eine endlose Wanderung nach Golgatha von fast vier Kilometern. Eine nicht enden wollende Strecke von seinem gemütlichen Zuhause in der Inedalsgatan auf Kungsholmen zur riesigen Dienststelle im Sundbybergvägen in Solna, unter einer erbarmungslosen Sonne und bei einer Temperatur, die aller Beschreibung spottete und die selbst den Gewinner einer olympischen Goldmedaille im Marathonlauf zugrunde gerichtet hätte.

5
Um Viertel nach neun am Morgen des 15. Mai stand die Sonne bereits hoch an einem blauen, wolkenlosen Himmel. Obwohl es noch so früh im Jahr war, zeigte das Thermometer bereits sechsundzwanzig Grad im Schatten, und Bäckström war schweißgebadet, als er die Brücke über den Karlbergskanal passierte. Vorausschauend hatte er sich für die Strapazen entsprechend gekleidet. Hawaiihemd, Shorts und Sandalen. Sogar eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank hatte er in der Tasche, um der Gefahr der Dehydrierung vorzubeugen.
Nichts hatte geholfen. Obwohl er zum ersten Mal, seit er erwachsen war, freiwillig einen ganzen Tag nüchtern geblieben war - in fünfundzwanzigeinhalb Stunden hatte er keinen Tropfen angerührt, um genau zu sein -, war es ihm noch nie schlechter gegangen.
Diesen verdammten Quacksalber bringe ich um, dachte Bäckström. Verkatert? Keinen Tropfen hatte er angerührt, und das jetzt schon den zweiten Tag, und trotzdem fühlte er sich wie ein Adler, der mit einer Hochspannungsleitung kollidiert war.
Genau da klingelte sein Handy. Der Wachhabende aus Solna.
»Dein Typ wird verlangt, Bäckström«, sagte er. »Ich versuche dich schon seit heute früh um sieben erfolglos ausfindig zu machen.«
»Ich war gezwungen, einen frühen Termin im Reichskriminalamt wahrzunehmen«, log Bäckström, der ungefähr zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal glücklich in seinem Bett das Bewusstsein verloren hatte.
»Worum geht’s?«, wollte er dann wissen, um weiteren Fragen auszuweichen.
»Wir haben einen Mord für dich. Die Kollegen am Tatort brauchen ein paar gute Ratschläge und Anweisungen. Ein alter Rentner ist erschlagen worden. Der Tatort soll das reinste Schlachthaus sein.«
»Was wissen wir sonst noch?«, wollte Bäckström wissen, dem es trotz des freudigen Bescheids keinen Deut besser ging.
»Na ja, viel weiß ich auch nicht. Mord, ganz eindeutig Mord. Das Opfer ist ein älterer Mann, ein Rentner, wie schon gesagt. Sieht alles nicht sonderlich appetitlich aus, sagen die Kollegen. Unbekannter Täter. Wir haben nicht mal eine Personenbeschreibung, die wir durchgeben könnten. Das ist also alles, was ich weiß. Wo steckst du übrigens?«
»Ich habe gerade den Karlbergskanal überquert«, erwiderte Bäckström. »Ich gehe zu Fuß zur Arbeit, wenn es nicht zu sehr regnet. Es ist immer gut, sich etwas zu bewegen«, erklärte er.
»Was du nicht sagst«, meinte der Wachhabende, dem es schwerfiel, sein Erstaunen zu verbergen. »Wenn du willst, kann ich dir einen Wagen entgegenschicken.«
»Tu das«, sagte Bäckström. »Sag ihnen, dass es eilt. Ich erwarte sie bei dem Clubhaus dieser Fußball-Hooligans auf der Solnaer Seite des Kanals.«
 

Sieben Minuten später bremste ein Streifenwagen mit Blaulicht neben ihm, wendete auf der Straße und hielt vor der Auffahrt zum Clubhaus des AIK. Sowohl der Fahrer als auch seine jüngere Kollegin stiegen aus und nickten freundlich. Offenbar begriffen sie, was Sache war, denn der Fahrer hielt Bäckström die Tür auf seiner Seite auf, damit er nicht auf dem für die Kriminellen reservierten Platz schräg hinter dem Fahrer zu sitzen brauchte.
»Hier wartest du an einem Ort, der Kriminalgeschichte geschrieben hat, Bäckström«, meinte der Kollege und deutete mit dem Kopf zu den Büschen hinter Bäckström hinüber.
»Ich heiße übrigens Holm«, sagte er und deutete mit dem Daumen auf die eigene uniformierte Brust. »Das hier ist Hernandez«, meinte er und nickte seiner Kollegin zu.
»Kriminalgeschichte?«, meinte Bäckström, nachdem er sich auf den Rücksitz gezwängt hatte, war aber in Gedanken mehr bei Holms Kollegin. Langes dunkles Haar in einem aufwendigen Knoten, ein strahlendes Lächeln, mit dem man das ganze Fußballstadion in Råsunda hätte erhellen können, und eine Oberweite, die die Uniformbluse zu sprengen drohte.
»Kriminalgeschichte?«, wiederholte er.
»Du weißt schon, diese Prostituierte. Hier hat man sie doch damals gefunden. Oder zumindest Teile von ihr. Dieser alte Fall mit der zerstückelten Leiche. Alle haben doch damals den Gerichtsmediziner und seinen Freund, diesen Arzt, für die Täter gehalten. Aber wer weiß es schon wirklich, der Chef der Kripo hier, der gute Toivonen, hat eine ganz andere Theorie, wie es zugegangen sein muss.«
»Damals müsstest du doch dabei gewesen sein, Bäckström«, warf Hernandez ein, drehte sich zu ihm um und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Wann war das noch gleich? Ich meine, wann hat man sie gefunden? Ich war zwar damals schon auf der Welt, aber es muss doch irgendwann Anfang der Siebziger gewesen sein? Vor fünfunddreißig oder vierzig Jahren? Oder?«
»Es war im Sommer 1984«, erwiderte Bäckström kurz angebunden. Noch ein Wort, und ich seh zu, dass du zur Politesse degradiert wirst, in Chile, dachte er und sah die Kollegin Hernandez finster an.
»Ach so, 1984. Ja, da war ich schon auf der Welt«, meinte Hernandez, die offenbar nicht klein beigeben wollte und ihn immer noch mit all ihren strahlend weißen Zähnen anlächelte.
»Das glaube ich auch. Du siehst in der Tat bedeutend älter aus«, stellte Bäckström fest, der das Feld ebenfalls nicht einfach räumen wollte. Da hast du was zu kauen, dachte er.
»Was den aktuellen Fall angeht, gibt es einiges zu berichten«, lenkte Holm ab und räusperte sich vorsichtig, während Hernandez Bäckström den Rücken zukehrte und sicherheitshalber begann, in einer Mappe mit Notizen zu blättern. »Wir kommen nämlich von dort.«
»Ich höre«, sagte Bäckström.
 

Holm und Hernandez waren die erste Streife am Tatort gewesen. Sie hatten gerade in der Statoil-Tanke jenseits von Solna Centrum, die rund um die Uhr geöffnet hatte, einen ersten Kaffee getrunken, als man sie über Funk alarmiert hatte. Mit Blaulicht und Sirenen waren sie drei Minuten später im Hasselstigen 1 gewesen.
Über Funk waren sie zur Vorsicht angehalten worden. Der Kollege hatte gefunden, dass der Mann, der den Mord gemeldet hatte, anders geklungen habe als Leute für gewöhnlich in vergleichbaren Situationen. Er habe vollkommen gelassen gewirkt, seine Stimme ganz ruhig geklungen. Verdächtig ruhig und gesammelt eben, so wie diese Irren, die bei der Polizei anriefen, um von ihren letzten Untaten zu berichten.
»Der Zeitungszusteller hat angerufen. Einwanderer. Netter Bursche, wenn du mich fragst, glaube nicht, dass er etwas mit der Sache zu tun hat«, meinte Holm zusammenfassend.
So jemanden wie dich fragt aber niemand, dachte Bäckström.
»Und das Opfer? Was wissen wir über den?«
»Das ist der Wohnungsinhaber. Er heißt Karl Danielsson. Älterer, alleinstehender Mann, achtundsechzig Jahre alt. Also Rentner«, erklärte Holm.
»Und da können wir uns ganz sicher sein?«, fragte Bäckström.
»Ganz sicher. Ich habe ihn sofort erkannt. Ich habe ihn vor einigen Jahren von Solvalla zur Ausnüchterungszelle gefahren. Er hat anschließend ein wahnsinniges Theater gemacht und die Kollegen und mich wegen allem Erdenklichen angezeigt. Er wurde wohl nicht zum ersten Mal abgeholt. Soziale Probleme, Alkohol und so. Mittlerweile nennt man das wohl sozial marginalisiert.«
»Ein ganz normaler Alki also, das willst du doch sagen«, meinte Bäckström.
»Ja, doch, so kann man es vielleicht auch ausdrücken«, erwiderte Holm und klang plötzlich so, als wolle er das Thema wechseln.
 

Fünf Minuten später setzten sie Bäckström im Hasselstigen 1 vor der Haustür ab. Holm wünschte ihm viel Glück. Er und die Kollegin Hernandez beabsichtigten zur Dienststelle zu fahren und das Protokoll zu verfassen. Falls sie ihm noch mit etwas weiterhelfen könnten, könne Bäckström selbstverständlich jederzeit von sich hören lassen.
Wüsste nicht, was das sein sollte, dachte Bäckström und stieg aus dem Wagen, ohne sich fürs Mitnehmen zu bedanken.

6
Wie immer, dachte Bäckström, als er aus dem Wagen gestiegen war. Um die Absperrung vor dem Haus drängte sich die übliche Meute, Journalisten, Fotografen, Nachbarn und Schaulustige, Leute, die nichts Besseres zu tun hatten. Außerdem die normalen Kleinkriminellen, die hierher geraten waren, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie das zugegangen war. Unter anderen drei solariengebräunte Jünglinge, die Bäckströms Kleidung und Aussehen kommentierten, als er sich mit Mühe unter dem Absperrband hindurchzwängte.
Bäckström drehte sich zu ihnen um, um sich ihr Aussehen für den Tag einzuprägen, an dem sie sich an seinem Arbeitsplatz wiederbegegnen würden. Das war nur eine Frage der Zeit, und dann würde er diesen kleinen Brechmitteln zu einem unvergesslichen Erlebnis verhelfen.
Als er an dem jüngeren uniformierten Kollegen vorbeiging, der an der Haustür stand, gab er die erste Dienstanweisung in seiner neuen Mordermittlung.
»Ruf in der Dienststelle an und fordere ein paar Leute an, die ein paar gute Bilder von unserem geliebten Publikum machen können«, sagte er.
»Schon erledigt«, stellte der Kollege fest. »Das war das Erste, worum Ankan mich gebeten hat, als sie hier auftauchte. Die Kollegen sind schon seit einigen Stunden hier und schießen Fotos«, fügte er aus irgendeinem Grund noch hinzu.
»Ankan?«
»Annika Carlsson. Du weißt schon, diese große, dunkelhaarige Kollegin, die früher bei der Kommission für Raubüberfälle gearbeitet hat. Sie wird Ankan genannt.«
»Du meinst diese Lesbe?«, fragte Bäckström.
»Danach darfst du mich nicht fragen, Bäckström«, erwiderte der Kollege grinsend. »Aber es stimmt schon. Man hört so das eine oder andere.«
»Wie zum Beispiel?«, erkundigte sich Bäckström misstrauisch.
»Man sollte sich möglichst nicht mit ihr aufs Armdrücken einlassen«, erklärte der Kollege.
Bäckström begnügte sich damit, den Kopf zu schütteln. Wo soll das alles noch enden, dachte er, als er das Haus Hasselstigen 1 betrat. Was ist nur mit der schwedischen Polizei los? Schwuchteln, Lesben, Schwarze und die üblichen Schwachköpfe. Kein normaler Schutzmann, soweit das Auge reicht.
 

Am Tatort sah es so aus, wie es auszusehen pflegte, wenn jemand einen alten Alki in seiner eigenen Wohnung erschlagen hat. In diesem Fall kurz gesagt noch fürchterlicher als normalerweise bei einem alten Alki. Dieses Exemplar nun lag hinter der Tür in der Diele auf dem Teppich mit den Füßen zur Wohnungstür, die Beine gespreizt und die Arme über seinem zerschlagenen Kopf in einer fast flehenden Geste ausgestreckt. Dem Gestank nach zu urteilen, waren bei seinem Tod sowohl Urin als auch Exkremente in seine Gabardinehosen geraten. Eine metergroße Blutlache auf dem Boden. Die Wände der Diele bis zur Decke mit Blut bespritzt. Blutspritzer sogar an der Decke.
Verdammt, dachte Bäckström und schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte er bei Schöner Wohnen anrufen, damit diese Einrichtungsschwuchteln mal ein volkstümliches Interieur zu sehen bekamen. Eine kleine Reportage, Hausbesuch bei sozialen Randgruppen, dachte Bäckström, der in diesem Augenblick aus seinen Gedanken gerissen wurde. Jemand tippte ihm auf die Schulter.
»Hallo, Bäckström. Toll, dass du da bist«, sagte Kriminalinspektorin Annika Carlsson, dreiunddreißig, und nickte ihm freundlich zu.
»Hallo«, erwiderte Bäckström und versuchte, nicht so mitgenommen zu klingen, wie er sich fühlte.
Dieses Frauenzimmer war einen halben Kopf größer als er, und er war immerhin ein stattlicher Mann in seinen besten Jahren. Lange Beine, schmale Taille, verdammt durchtrainiert und an der Oberweite nichts auszusetzen. Hätte sie sich jetzt noch die Haare wachsen lassen und einen kurzen Rock angezogen, dann hätte man sie glatt mit einer ganz normalen Frau verwechseln können. Abgesehen von der Größe natürlich, aber an der ließ sich vermutlich nichts ändern, und hoffentlich war sie ausgewachsen, obwohl sie noch nicht trocken hinter den Ohren sein konnte.
»Irgendwelche besonderen Wünsche, Bäckström? Die Spurensicherung ist gerade mit der ersten Runde durch, und sobald die Leiche auf dem Weg in die Gerichtsmedizin ist, kannst du einen Blick auf den Tatort werfen.«
»Das mache ich später«, sagte Bäckström und schüttelte den Kopf. »Wer ist denn das?«, fragte er dann und nickte zu einer dunkelhäutigen Gestalt hinüber, die in der hintersten Ecke des Treppenhauses in der Hocke an der Wand saß. Wehmütiger, verschlossener Gesichtsausdruck und eine Stofftasche, aus der ein paar Zeitungen herausragten, über der Schulter.
»Das ist der Zeitungszusteller, der uns verständigt hat«, antwortete Kollegin Carlsson.
»Kaum zu glauben«, erwiderte Bäckström. »Deswegen hat er also auch eine Zeitungstasche über der Schulter hängen.«
»Sehr scharfsinnig, Bäckström«, meinte Annika Carlsson lächelnd. »Um genau zu sein, fünf Dagens Nyheter und vier Svenska Dagbladet. Das Svenska Dagblad des Opfers liegt dort drüben neben der Tür«, fuhr sie fort und deutete auf eine zusammengefaltete Zeitung, die in der Tür zur Wohnung des Toten lag.
»Was wissen wir über ihn? Den Zeitungsburschen?«
»Er scheint nichts mit der Sache zu tun zu haben«, antwortete Annika Carlsson. »Die Techniker haben ihn unter die Lupe genommen. Keinerlei Spuren, weder am Körper noch an den Kleidern. Wenn man sich anschaut, wie es da drinnen aussieht, müsste er über und über mit Blut besudelt sein, wenn er den Mord verübt hätte. Er sagt, er habe das Gesicht des Opfers befühlt, seine Wange, um genau zu sein, und als diese vollkommen starr gewesen sei, sei ihm klar gewesen, dass er es mit einem Toten zu tun hat.«
»Studiert er Medizin oder was?« Kaum zu glauben, dachte Bäckström, dass der kleine Mohr so viel Mumm hat.
»Offenbar hat er in seiner Heimat viele Tote zu Gesicht bekommen«, meinte Carlsson, allerdings dieses Mal ohne zu lächeln.
»Hat er die Gelegenheit genutzt, um was zu klauen?«, fragte Bäckström aus einem alten Reflex heraus.
»Er wurde von der ersten Streife, die hier eintraf, sofort durchsucht. In der Hosentasche hatte er ein Portemonnaie mit seinem Führerschein, einen Ausweis von dem Zeitungsvertrieb, eine kleinere Geldsumme in Münzen und Scheinen, ich meine, etwa hundert Kronen, hauptsächlich in Münzen. Außerdem ein Handy, sein eigenes. Wir haben uns die Nummer notiert, falls du das wissen willst. Sollte er etwas gestohlen haben, so hatte er es zumindest nicht in der Tasche, er kann es auch nicht irgendwo versteckt haben, denn wir haben bereits das ganze Haus ohne Ergebnis durchsucht.«
»Hat er irgendwelche Anrufe getätigt?« »Laut seiner Aussage nur einen. Den Notruf. Wurde mit den Kollegen im Bunker verbunden. Er sagt, der Einzige, mit dem er gesprochen hat, sei der Kollege in unserer Einsatzzentrale gewesen, aber das werden wir natürlich überprüfen. Wir haben sein Handy auf der Liste der zu überprüfenden Telefone.«
»Hat er auch einen Namen?«, fragte Bäckström.
»Septimus Akofeli, fünfundzwanzig Jahre alt, Flüchtling aus Somalia, schwedischer Staatsbürger, wohnhaft in Rinkeby. Fingerabdrücke und DNA sind abgenommen, aber noch nicht überprüft, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er derjenige ist, für den er sich ausgibt.«
»Wie hieß er noch gleich?«, fragte Bäckström. Was für ein absurder Name, dachte er.
»Septimus Akofeli«, wiederholte Annika Carlsson. »Ein Grund, warum ich ihn hierbehalten habe, war, dass du vielleicht noch mit ihm sprechen willst?«
»Nein«, antwortete Bäckström und schüttelte den Kopf. »Was mich betrifft, kannst du ihn ruhig nach Hause schicken. Ich würde mir aber gerne den Tatort anschauen, falls diese Halbakademiker von der Spurensicherung endlich mal fertig werden.«
»Peter Niemi und Jorge Hernandez, auch Chico genannt, übrigens«, meinte Annika Carlsson. »Sie arbeiten hier in Solna bei der Spurensicherung. Bessere Leute findet man nicht, wenn du mich fragst.«
»Hernandez? Wo habe ich das schon mal gehört?«, fragte Bäckström.
»Er hat eine jüngere Schwester, Magdalena Hernandez, die als Streifenpolizistin arbeitet. Sie ist dir sicher schon mal aufgefallen«, meinte Annika Carlsson und lächelte aus irgendeinem Grund breit.
»Weshalb?«, wollte Bäckström wissen.
»Schwedens bestaussehendste Polizistin, findet jedenfalls eine Mehrheit der Kollegen. Ich finde sie ganz prima«, meinte Kollegin Carlsson und lächelte.
»Was du nicht sagst«, meinte Bäckström.
 

In der Wohnung sah es so fürchterlich aus, wie Bäckström erwartet hatte. Eine kleine Kleiderkammer und eine schmale Diele. Links ein kleines Badezimmer und eine Toilette, dahinter ein kleineres Schlafzimmer. Rechts eine Küche mit Essecke und geradeaus ein Wohnzimmer. Insgesamt etwa fünfzig Quadratmeter. Wann der Bewohner zuletzt geputzt hatte, war unklar, jedenfalls seit Neujahr nicht mehr.
Die Möbel waren abgenutzt, die Einrichtung war konsequent. Ungemachtes Bett mit Kopfkissen ohne Bezug, fleckiger Küchentisch und durchgesessene Couchgarnitur im Wohnzimmer. Gleichzeitig zeugten die Gegenstände von den einstmals besseren Zeiten des Mordopfers Karl Danielsson. Es gab fadenscheinige Perserteppiche, einen soliden altmodischen Mahagonischreibtisch mit helleren Intarsien. Der Fernseher war zwanzig Jahre alt, aber immerhin von Bang & Olufsen. Davor stand ein englischer Lehnsessel aus Leder mit passendem Fußschemel.
Schnaps, dachte Bäckström. Schnaps und Einsamkeit. Er selbst wusste, was das hieß, seit ihm diese Lackaffen von der nationalen Einsatztruppe vor einem guten halben Jahr eine Schockgranate an den Kopf geworfen hatten. Er war erst am Tag darauf wieder zu sich gekommen, und da hatte er sich bereits auf der Psychiatrie in Huddinge hinter Schloss und Riegel befunden.
»Hast du noch weitere Wünsche, Bäckström?«, fragte Annika Carlsson und sah bei dieser Frage fast etwas bekümmert aus.
Ein paar Schnäpse und ein großes Bier, dachte Bäckström. Und wenn du dir die Haare wachsen lässt und einen Rock anziehst, dann darfst du mir vielleicht sogar einen blasen. Aber auf mehr brauchst du nicht zu hoffen, dachte er, da ihm während der letzten vierundzwanzig Stunden große Zweifel an der irdischen Lust und der geistigen Liebe gekommen waren.
»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Wir sehen uns dann auf der Wache.«
 

Irgendwas stimmt nicht, dachte Bäckström, als er zu Fuß gemächlich zur Polizeidienststelle ging. Aber was? Und wie sollte er nur darauf kommen, wo man sein Gehirn vollkommen trocken gelegt hatte. Wahrscheinlich hatte es bereits irreparable Schäden davongetragen. Diesen verdammten Quacksalber bringe ich um, dachte er.

7
Um drei Uhr nachmittags fand das erste Treffen von Bäckström mit dem Team seiner neuen Mordermittlung statt. Es war nicht unbedingt die zackigste Truppe, die er im Laufe seiner fünfundzwanzig Jahre bei der Kriminalpolizei geführt hatte. Auch nicht die größte. Insgesamt acht Personen, wenn man ihn selbst und die beiden Kriminaltechniker mitzählte, die bald wieder anderen Aufgaben nachgehen würden, wenn sie das Notwendigste über Karl Danielsson herausgefunden hatten. Blieben also eins plus fünf übrig, und wenn man bedachte, was er bisher von seinen Mitarbeitern gesehen und gehört hatte, blieb eigentlich nur ein Mann übrig, Kriminalkommissar Evert Bäckström himself. Wer sonst? Wie immer also. Bäckström, die letzte Hoffnung aller trauernden Angehörigen, die in Danielssons Fall wahrscheinlich mit dem staatlichen Alkoholverkauf Systembolaget identisch waren.
»Okay«, sagte Bäckström. »Ihr könnt euch alle willkommen fühlen, und bis auf Weiteres gilt das für alle von euch. Falls sich in diesem Punkt irgendwelche Änderungen ergeben, teile ich euch das mit. Verspürt jemand Lust zu beginnen?«
»Ja, mein Kollege und ich«, sagte der ältere der Kriminaltechniker, Peter Niemi. »Wir waren nur kurz in der Wohnung und haben noch jede Menge zu tun.«
 

Peter Niemi war seit gut fünfundzwanzig Jahren Polizist und arbeitete seit fünfzehn als Kriminaltechniker. Er war fünfzig, sah aber bedeutend jünger aus. Blond, sportlich, recht groß. Er war im nordschwedischen Tornedalen geboren und aufgewachsen, hatte mehr als sein halbes Leben in Stockholm gelebt, sprach aber immer noch Dialekt. Er lächelte gerne mit einem freundlichen Ausdruck in den blauen Augen, hatte dabei aber immer etwas Reserviertes. Man musste nicht Krimineller sein, um ihm seinen Beruf anzusehen, und dass er die zurückliegenden fünfzehn Jahre keine Uniform mehr getragen hatte, spielte dabei keine Rolle. Die Botschaft seiner Augen war entscheidend. Peter Niemi war Polizist, und er war nett und zuvorkommend, solange man sich anständig benahm. Tat man das nicht, gehörte Niemi nicht zu den Leuten, die beiseitetraten, was schon viele schmerzhaft hatten erfahren müssen.
»Gut«, meinte Bäckström. »Ich höre.« Schmieriger Lappe, versoffener Finne. Er redet grad so, als sei er vom Bus aus Haparanda hergetorkelt. Je früher der Schwachkopf wieder zu reden aufhört, desto besser.
»Also folgendermaßen«, sagte Niemi und blätterte in seinen Papieren.
 

Das Opfer hieß Karl Danielsson, Rentner, achtundsechzig Jahre alt. Laut Pass, den die Kriminaltechniker in seiner Wohnung gefunden hatten, war er ein Meter achtundachtzig groß und hatte vermutlich einhundertzwanzig Kilo gewogen.
»Kräftig und ziemlich übergewichtig. Vermutlich wog er dreißig Kilo zu viel«, vermutete Niemi, der selbst die Leiche unter den Armen angehoben und auf die Bahre gelegt hatte. »Genaue Zahlen bekommt ihr dann vom Onkel Doktor.«
Als ob wir die bräuchten, dachte Bäckström missgelaunt. Wir werden unser Mordopfer kaum zu Wurst verarbeiten.
»Beim Tatort«, fuhr Niemi fort, »handelt es sich um die Wohnung des Opfers, und zwar um die Diele. Ich glaube, er war auf dem Klo und bekommt den ersten Hieb, als er auf den Flur tritt und den Reißverschluss seiner Hose hochzieht. Darauf lassen die Blutspritzer schließen, außerdem war der Reißverschluss nur zur Hälfte geschlossen. Dann hat er mehrere Schläge in rascher Folge bekommen, bei den letzten hat er bereits auf dem Boden der Diele gelegen.«
»Und womit?«, fragte Bäckström.
»Mit einem blauen, emaillierten Topfdeckel aus Eisen«, antwortete Niemi. »Der lag neben der Leiche auf dem Fußboden. Der Topf steht auf dem Herd in der Küche, und dahin sind es nur drei Meter.«
»Außerdem«, fuhr er fort, »scheint der Täter noch einen Hammer mit einem Holzstiel verwendet zu haben. Dieser Stiel ist fast ganz oben am Hammerkopf abgebrochen. Stiel und Hammerkopf lagen auf dem Fußboden der Diele, und zwar in Höhe des Kopfes des Toten.«
»Unser Täter ist wirklich ein gründlicher kleiner Racker«, meinte Bäckström seufzend und schüttelte seinen runden Kopf.
»So klein auch wieder nicht, jedenfalls nicht nach dem Schlagwinkel zu urteilen. Er war außerdem noch gründlicher, auch wenn das erst wegen des vielen Blutes auf Danielssons Gesicht und Brust nicht zu sehen war. Danielsson wurde nämlich auch noch erdrosselt, und zwar mit seinem eigenen Schlips, als er schon am Boden lag. Da war er mit Sicherheit bereits bewusstlos und lag im Sterben. Der Täter hat den Schlips zugezogen und die Schlinge dann mit einem normalen Knoten gesichert. Vollkommen unnötig, wenn ihr mich fragt. Aber klar, lieber zu viel als zu wenig, wenn man auf Nummer sicher gehen will.« Niemi zuckte mit den Achseln.
»Hast du irgendeine Vorstellung, wer die Tat verübt haben könnte?«, fragte Bäckström, obwohl er bereits wusste, wie die Antwort ausfallen würde.
»Typischer Mord unter Zechbrüdern, wenn du mich fragst, Bäckström«, antwortete Niemi und lächelte freundlich. »Und dabei darfst du nicht vergessen, Bäckström, dass du diese Frage jemandem stellst, der aus dem Tornedalen stammt.«
»Was glaubst du, wann die Tat verübt worden ist?«, fragte Bäckström. Doch nicht ganz so blöde, dachte er.
»Dazu komme ich noch. Nichts überstürzen, Bäckström«, sagte Niemi.
»Ehe das Opfer erschlagen wurde, hat es mit einer weiteren Person, die ihre Fingerabdrücke zurückgelassen hat, deren Identität jedoch noch nicht geklärt ist, auf der Couchgarnitur im Wohnzimmer gesessen und gebratenen Speck mit Bohnen gegessen. Der Gastgeber saß vermutlich im Sessel, sein Gast auf dem Sofa. Der Couchtisch war gedeckt, zum Abdecken war man jedoch nicht mehr gekommen. Wir haben diverse Fingerabdrücke sichergestellt, und die Ergebnisse haben wir hoffentlich bereits morgen. Mit etwas Glück haben wir den Täter in unserer Kartei. Zum Essen haben sie fünf Halbliterdosen Bier und mehr als eine Flasche Wodka getrunken. Wir haben eine leere Flasche gefunden und eine angefangene. Normale Nullkommasieben-Liter-Flaschen, im Übrigen die Edelmarke Explorer. Beide Schraubverschlüsse lagen auf dem Boden vor dem Fernseher. Dort hatten sie also gesessen und gegessen, und es spricht einiges dafür, dass die Flaschen bei Beginn der Mahlzeit ungeöffnet waren. Unter anderem hing noch dieser Verschlussring an den Schraubverschlüssen. Ihr wisst schon, dieser Metallstreifen, der sich abdrehen lässt und dabei dieses hübsche Geräusch verursacht.«
Hin und wieder wirkt dieser Lappe ja richtig normal, dachte Bäckström. Obwohl ihn plötzlich ein gewaltiger Schwindel überkam, fast ein Vorgefühl des Todes. Woher kam das auf einmal?
»Noch mehr? Über den Täter und das, was vorher passiert ist?«