Inhaltsverzeichnis
DIE AUTORIN
Sigrid Heuck wurde in Köln geboren und lebt seit 1949 im bayerischen Voralpenland. Nach dem Studium der Mode-Grafik besuchte sie die Akademie der Bildenden Künste in München und machte sich anschließend als freiberuflich arbeitende Grafikerin selbstständig. Sigrid Heuck kam über die Illustration zum Schreiben, weil es ihr besonderen Spaß machte, eigene Texte auszustatten. Seitdem sind zahlreiche Kinderbücher von ihr erschienen. Viele ihrer Bücher wurden in fremde Sprachen übersetzt und ausgezeichnet.
Von Sigrid Heuck ist bei OMNIBUS
erschienen:
Colleen (26179)
Jim
Es ist schon einige Zeit her, da lebte im Wilden und schönen Westen Amerikas ein Cowboy mit dem Namen »Jim«.
So ein Cowboy hütet Kühe, und weil das zu Fuß ziemlich anstrengend wäre, reitet er dabei auf einem Pferd.
Obwohl viele Leute glauben, alle Cowboys seien wild und grausam, war Jim nicht so. Zum Beispiel benützte er seine Sporen nur, um sich damit am Rücken zu kratzen, und niemals, um ein Pferd anzutreiben. Außer seinen Kleidern besaß er noch ein Lasso, eine Gitarre, einen Sattel, ein Zaumzeug und das dazugehörige Pferd, denn ohne Pferd, Zaumzeug, Sattel, Gitarre und Lasso war ein Cowboy nicht vollständig ausgerüstet.
Eigentlich hätte in seinem Gürtel noch eine Pistole stecken sollen; manche Cowboys besitzen sogar zwei, aber Jim hatte nichts für Pistolen übrig. Vom Knall eines Schusses bekam er immer Ohrenweh und das konnte er nicht ausstehen. Ihm genügte sein Lasso. Mit einem Lasso kann man Kühe fangen, man kann einen Wagen damit aus dem Dreck ziehen und nachts kann man darauf schlafen. Und das ist wichtiger, als in der Gegend herumzuknallen.
Jim sang gern. Er kannte fast alle alten Cowboylieder. Aber am liebsten erfand er selbst, was er singen wollte.
Sein Lieblingslied begann so:
»Jetzt sing ich das Lied vom fröhlichen Jim, und wer es nicht mag, der höre nicht hin. Jippedihott und hoppedihü – wild ist der Westen und weit die Prärie.«
Wetten wir, Farmer?
Damals, als Jim beschlossen hatte, von Beruf Cowboy zu werden, besaß er zwar ein Lasso und eine Gitarre, aber noch kein Pferd. Er musste sich immer eins ausleihen.
Das gefiel ihm gar nicht. Alle anderen Cowboys protzten vor ihm mit ihren Pferden. Sie lachten ihn oft aus, denn die Farmer, bei denen er arbeitete, liehen ihm nur ihre ältesten Mähren. Darüber ärgerte sich Jim, und er überlegte lange, wie er es anstellen könnte, zu einem eigenen Pferd zu kommen. Eines Tages kam ihm ein Gedanke.
»Willst du mit mir wetten«, fragte er den Farmer, »dass ich es fertig bringe, mit einem einzigen Satz über dreißig nebeneinander gestellte Rinder zu springen?«
»Oho«, lachte der Farmer und klopfte ihm auf den Rücken, »lass das lieber sein, Jim. Das geht schief. Du wirst zu kurz springen und die Rinder werden dich mit ihren Hörnern stoßen. Und glaub mir, das tut weh!« Aber Jim bestand auf seinem Angebot.
»Nun gut«, meinte der Farmer, »wenn du unbedingt willst, dann wette ich mit. Du wirst dir zwar deine Hose dabei zerreißen, aber wir werden unseren Spaß haben. Um was soll’s denn gehen?«
»Wenn ich gewinne, darf ich mir ein Pferd aus deiner Herde aussuchen. Gewinnst du, dann will ich ein Jahr lang ohne Lohn für dich arbeiten.«
Der Farmer erklärte sich damit einverstanden. In den nächsten Tagen suchte Jim nach einem günstigen Platz für seinen Sprung.
Er betrachtete genau alle in der Nähe stehenden Bäume. Er prüfte den Boden, hob hier und da einen Stein auf und schleuderte ihn weit von sich. Jeder, der ihn dabei beobachtete, musste glauben, er sei übergeschnappt.
Eines Tages rief der Farmer seine Cowboys zusammen und erzählte ihnen von der Wette. »Was«, riefen die Cowboys, »der kleine Jim will über dreißig Rinder springen? Er sollte sich erst einmal eine Pistole kaufen und schießen lernen!«
Der Farmer befahl ihnen, die dreißig Rinder zusammenzutreiben.
»Es ist heiß heute«, sagte Jim, »die Sonne blendet.«
Und die dreißig Rinder mussten sich im Schatten einer jungen Fichte aufstellen. »Seht, den Kleinen blendet die Sonne«, spotteten die Cowboys.
Aber Jim ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Zuerst ging er langsam um die Tiere herum. Er betrachtete sie von vorn, von hinten und von der Seite. Er prüfte die Spitzen der Hörner und achtete darauf, dass die Reihe schnurgerade war.
»Platz da«, schrie der Farmer, »damit Jim einen Anlauf nehmen kann!«
»Ich brauche keinen Anlauf«, sagte Jim ruhig, »ich springe aus dem Stand.«
»Wa-a-as!«
Die Männer erstarrten vor Schreck.
»Aus dem Stand?«
Die Reihe der dreißig Rinder war ein gewaltiges Hindernis.
»Achtung«, rief Jim, »jetzt geht es gleich los!« Er nahm sein Lasso, warf es blitzschnell über den Wipfel der Fichte und zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu Boden. Weil aber ein Fichtenstamm im Allgemeinen die Eigenschaft hat, immer kerzengerade zum Himmel zu schauen, schnellte er wieder zurück und riss Jim dabei in die Höhe. Jim flog zuerst ein Stück aufwärts, dann wieder abwärts und landete schließlich weit hinter den dreißig aufgestellten Rindern. Ja, er hätte leicht das Doppelte schaffen können.
»Hurra«, schrien die Cowboys, »Jim hat die Wette gewonnen! Hurra!«
Nur der Farmer freute sich nicht.
Genau genommen ärgerte er sich sogar. Aber das half ihm nichts.
Er musste dem Sieger das Pferd geben. So war es ausgemacht und ein Männerwort war ein Männerwort, überall auf der Welt, auch im Wilden Westen.
Mister Tramp
Noch am selben Abend wollte Jim seine Wahl treffen. Aber so einfach das klingt, das war eine schwierigere Sache als der Sprung über die Rücken von dreißig Rindern. Der Farmer besaß nämlich eine große Herde und Jim konnte sich nur schwer entscheiden.
Es gab braune Pferde mit schwarzen Mähnen und es gab weiße Pferde, es gab rote, gelbe und manche waren sogar gescheckt. Einige hatten grobe Köpfe und feine Beine und andere feine Köpfe und grobe Beine. Wieder andere hatten schiefe Beine und einen krummen Rücken, aber die kamen überhaupt nicht infrage.
Jim ließ sich Zeit. Er hockte sich auf den Koppelzaun und beobachtete sie.
»Dieses«, sagte er, oder: »Nein, jenes«, oder: »Wie wäre es denn mit dem Grauen dort drüben?« Doch dann gefiel ihm ein anderes besser. Auf einmal entdeckte er eine wunderhübsche weiße Stute. Ihr Fell glänzte wie Schnee, auf den die Sonne scheint, und wenn sie die Beine im Trab hob und senkte, kam es Jim vor, als sei sie eine verzauberte Tänzerin.
»Esmeralda ist die Schönste«, erklärte der Farmer, »aber leider ist sie wasserscheu und leicht verschnupft.«
Jim schüttelte den Kopf. Ein wasserscheues Pferd, dem dauernd die Nase lief, war nichts für einen Cowboy wie ihn. Er brauchte ein hartes Pferd. Wieder betrachtete er die Herde. Jetzt fiel sein Blick auf ein kleines, zottelhaariges Wesen, das ein wenig abseits stand. Es war nicht schön, denn für ein Pferd waren seine Ohren etwas zu groß. Außerdem hatte es eine hängende Unterlippe. Jim betrachtete es näher. Das kleine Pferd blinzelte erst mit dem rechten, dann mit dem linken Auge, als wollte es sagen:
»Nimm mich, ich will dein Freund sein!« Eigentlich hatte sich Jim sein Traumpferd ein bisschen schöner, ein bisschen stolzer, ein bisschen königlicher vorgestellt. Er war der Meinung, sein Pferd sollte Bewunderung und Neid erregen.
»Aah«, sollten die Leute sagen, wenn er durch die Stadt ritt, »ah, schaut, da kommt Jim, der Cowboy! Was hat er doch für ein prächtiges Pferd!«
Dieses kleine, zottelhaarige Pferdchen war ganz und gar nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Und trotzdem gefiel es ihm.
Jetzt wackelte es mit der Nase. Das sah sehr lustig aus. Es hob den Kopf und prustete ihm mitten ins Gesicht.
»Ich nehme dieses da!«, sagte Jim mit fester Stimme. »Wie heißt es?«
»Irgendwann ist es uns einmal zugelaufen«, erzählte der Farmer, »darum heißt es Mister Tramp. Aber es ist ein gutes Pferd. Es hat noch nie einen Reiter abgeworfen, es war noch nie verschnupft und wasserscheu ist es auch nicht.« Insgeheim freute er sich sehr, dass Jim es sich ausgesucht hatte, denn das kleine Pferd war so hässlich, dass es keiner kaufen wollte. Und weil er froh war, es loszuwerden, schenkte er ihm noch einen alten Sattel und ein Zaumzeug dazu. Jim war glücklich über Mister Tramp. Endlich hatte er ein eigenes Pferd samt Sattel und Zaumzeug. Zusammen mit dem Lasso und der Gitarre war er jetzt vollständig ausgerüstet.
Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, wenn ihn die anderen Cowboys verspotteten: »Jim, gib deinem Esel die Sporen. I-ah, i-ah!« Oder: »Pass auf, dass du nicht herunterfällst!« Und Ähnliches.
Er hörte einfach nicht hin.
Mister Tramp war sein Freund, und obwohl man es ihm nicht ansehen konnte, war er mutig und schnell. Jims Meinung nach war er das schnellste Pferd, das zur damaligen Zeit im Wilden Westen zu finden war. Und es hatte auch sonst alle guten Eigenschaften, die ein Pferd und ein Freund haben müssen. Natürlich konnte es nicht reden, aber Jim verstand sich mit ihm auch so. Dafür gab es eine Menge Möglichkeiten, zum Beispiel die Ohrensprache: Stellte Mister Tramp seine Ohren auf, dann hieß das so viel wie:
»Heißa, ist das ein lustiger Tag, lass uns schneller laufen, Jim!«
Ließ er sie hängen, dann wollte er Jim damit zeigen, wie müde er war oder dass er Hunger hatte. Drehte er die Ohren aber so, dass beide Öffnungen nach hinten schauten, dann war höchste Gefahr im Anzug.
Außer der Ohrensprache gab es noch die Nasensprache und die Augensprache, aber die wurden nur bei besonderen Gelegenheiten angewendet. Zwei Dinge liebten Jim und Mister Tramp gemeinsam. Das eine waren die Cowboylieder und das andere alles, was süß schmeckte.
Spielte Jim auf seiner Gitarre, dann nickte das kleine Pferd mit dem Kopf dazu.
Manchmal, wenn es ganz fröhlich war, trabte es sogar auf der Stelle, und das sah aus, als wolle es tanzen. Mit der Vorliebe für Süßigkeiten hatte es der Cowboy leichter als Mister Tramp. Er fand oft Erdbeeren oder Himbeeren, wenn sie durch den Wald ritten. Doch das kleine Pferd liebte Äpfel und Birnen. Am allerliebsten lutschten beide kleine Zuckerstückchen, aber die waren damals sehr teuer, und Jim hatte ja kein Geld und konnte sich das nicht leisten.
Unterwegs
Jim und Mister Tramp zogen los und blieben immer da, wo es ihnen gerade gefiel. Es war zwar damals nicht ungefährlich, ganz allein und ohne Pistole durch einsame Gegenden zu reiten, denn es gab viele Räuber und nur wenig Polizisten. Aber ein Cowboy hat keine Angst. Jim fühlte sich sehr wohl da draußen und außer seiner Gitarre und dem Lasso gab es bei ihm nichts zu rauben. Für einen Räuber ist aber eine Gitarre oder ein Lasso keinen Überfall wert. Er hält sich lieber an Postkutschen und wandernde Goldgräber.
Meist entschied das kleine Pferd, wohin geritten wurde. Das war gut so, denn irgendwo kamen sie immer an. Unterwegs erzählte Jim seinem Pferd viele abenteuerliche Geschichten. Es waren Lagerfeuergeschichten, denn alle Cowboys lieben es, sich die Füße zu wärmen und dabei ihre Abenteuer zu erzählen.
Manchmal spielte Jim auch auf seiner Gitarre und sang dazu:
»Jim war ein Cowboy. Er hatte kein Geld, und Reiten war ihm das Schönste der Welt. Jippedihott und hoppedihü – wild ist der Westen und weit die Prärie.«
Wenn Mister Tramp müde war, wurde Rast gemacht. Jim suchte sich dann Beeren, Pilze oder irgendetwas anderes zum Essen und das Pferd rupfte sich Gras. Natürlich wären ihm Äpfel lieber gewesen, aber leider wachsen Apfelbäume nur selten wild. Auch im Wilden Westen. Während das Pferd ausruhte, übte sich Jim im Lassowerfen. Das ist eine äußerst schwierige Sache.
Zuerst schwang er das Seil über seinem Kopf, bis es wie ein kreisrunder Reifen durch die Luft wirbelte. Dann ließ er die Schlinge einmal größer und einmal kleiner werden. Er hob und senkte den Arm schnell auf und ab und das Seil tanzte in Wellenlinien um ihn herum. Später sprang er durch und über das wirbelnde Lasso. Er übte sich im Zielwerfen und im Heranholen von Gegenständen, zum Beispiel im Blumenpflücken.
Es dauerte ziemlich lange, bis er es fertig brachte, auch nur eine einzige Blüte mit der Seilschlinge zu sich heranzuholen, ohne dabei ihren Stängel zu knicken. Dann waren es bald zwei, drei und vier. Wenn er aber zwölf Blumen auf diese Weise gepflückt hatte, ohne sie beschädigt zu haben, war er mit sich zufrieden. Er schmückte damit Mister Tramps Zaumzeug und steckte den Rest in die leeren Schlaufen seines Patronengurtes.
Dann sattelte er das Pferd, stieg auf und ritt weiter.
Eines Tages begegnete Jim einem uralten Mann.
»Guten Tag, alter Mann!«, sagte er zu ihm.
»Guten Tag, Cowboy!«, erwiderte der Alte. Er war ein Pelzhändler im Ruhestand. Nur selten, höchstens alle zehn Jahre einmal, begegnete er einem anderen Menschen.
Deswegen begann er gleich ein kleines Gespräch.
»Wie heißt du? Wohin des Weges?«, fragte er. »Ich bin Jim, der Cowboy, und mein Pferd heißt Mister Tramp«, erwiderte Jim. »Ich reite durch das Land und bleibe immer da, wo es mir gefällt.« Und dann fügte er noch hinzu: »Das tu ich gern.«
»Und wohin reitest du?«, fragte der Alte. »Wo mein Pferd hin will«, antwortete Jim.
»Und wo will dein Pferd hin?«
»Das weiß ich nicht.«
Der alte Pelzhändler schüttelte den Kopf.
»Aber du musst doch eine bestimmte Richtung einhalten!«, meinte er.
»So«, sagte Jim, »was gibt es denn da für Möglichkeiten?«
»Du kannst nach Norden reiten, nach Osten, Westen oder Süden«, erklärte ihm der Alte.
»Und was gibt es im Norden, Osten, Westen und Süden?«
»Im Norden ist es kalt. Da ist der Wind zu Hause und der Boden ist fast das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt.«
»Gibt es da Erdbeeren und Himbeeren?«, fragte Jim.
»Nein. Dort wächst nur Moos, und die Menschen tragen dicke Pelze, damit sie nicht erfrieren.«
»Dann will ich nicht nach Norden«, meinte Jim. »Wie schaut es denn im Osten aus?«
»Im Osten findest du große Städte, in denen viele Menschen wohnen.«
»Gibt es dort Erdbeeren und Himbeeren?«
»Ja. Aber du musst sie in Geschäften kaufen.«
»Was«, empörte sich Jim, »ich soll sie bezahlen und hier wachsen sie im Wald! Nein, der Osten ist nichts für mich.«
»Ja, wie wäre es dann mit dem Westen?«, fragte der Alte.
»Aber wir sind doch hier im Westen!«
Der Pelzhändler staunte.
»Aber Jim, das hier ist doch nicht das Ende der Welt. Es geht doch noch weiter.«
»Und wohin kommt man da?«
»Zuerst musst du über ein hohes Gebirge und dann kommst du ans Meer.«
»Aber ich will nicht über ein Gebirge, nur um ans Meer zu kommen!«