Inhaltsverzeichnis
Dem Gedenken an Esther Stone
»Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen.«
2. Mose 20, 4-5
Teil eins
Die Holocaust-Prinzessin
Es war nicht das erste Mal, dass Vater und Sohn Maurice und Norman Messer von Polen nach Hause fuhren, aber eindeutig das traurigste. Bisher hatten sie, der eine als Geschäftsführer und der andere als Aufsichtsratsvorsitzender der Holocaust Connections, Inc., die für ihre Kunden getätigten Geschäfte stets mit Bravour abgewickelt, sich dadurch eine beneidenswerte Reputation erarbeitet und ihren legendären Erfolg begründet. Doch diesmal waren sie, bei einer überaus schmerzlichen Privatangelegenheit, die ein ihnen nahestehendes Mitglied ihrer eigenen Familie betraf, genau genommen die Zukunft ihres ganzen Geschlechts, komplett gescheitert. Nechama, einziges Kind eines einzigen Sohnes, hatte es kategorisch abgelehnt, sich mit ihrem Vater oder ihrem Großvater zu treffen, weder unter vier Augen noch in irgendeiner anderen Konstellation. Sie hatte, so lautete die sehr bestimmt geäußerte Mitteilung, sowieso ein Schweigegelübde abgelegt. Mitgeteilt wurde das den beiden Männern von einer matronenhaften Nonne mit Sonnenbrille, die vors Tor des Karmelitinnenklosters gekommen war, um mit ihnen zu sprechen – vors Tor des neuen Klosters, das sich fünfhundert Meter vom Gelände des Todeslagers Auschwitz entfernt befand und das die Nonnen nach all dem lächerlichen Theater bezogen hatten. »Schwester Consolatia ersucht Sie zu respektieren, dass sie das Recht hat, eine eigene Wahl zu treffen«, sagte die Nonne in aller Entschiedenheit und auf Englisch, obwohl Maurice selbstverständlich Polnisch sprach. Nach diesen vielsagenden Worten blieb den Messers, Vater und Sohn, nichts übrig, als einzusehen, dass es sich nur um ein direktes Zitat ihres abtrünnigen Sprösslings handeln konnte, jetzt wiedergeboren als Schwester Consolatia vom Kreuz, ihrer verlorenen Nechama.
Trotz ihrer fraglos aufrichtigen und tief empfundenen Enttäuschung machten sie es sich wie immer auf ihren großzügigen Plätzen in der ersten Klasse der LOT-Maschine bequem. Sie flogen, das war eine Frage der Firmenphilosophie, stets polnisch; so pflegten sie ihre gedeihlichen Beziehungen zu der Regierung, mit der sie die meisten Geschäfte abwickelten, und sie flogen auch stets erster Klasse, denn alles andere wäre unpassend gewesen für Männer wie sie, die so tief durchdrungen waren von einer Geschichte, deren Tragik fast mythisch war, einer Geschichte, die sie von gewöhnlichen Menschen trennte und die es deshalb erforderte, dass sie auch gesondert saßen. Und vom unternehmerischen Standpunkt sähe es, nüchtern betrachtet, auch schlecht aus, wenn sie Economy flögen: so als machte ihre Firma schwere Zeiten durch. In ihrer Branche hing naturgemäß alles vom Image ab. »Schau«, wie es Norman – begleitet von den üblichen Pausen und den demonstrativen Schluckgeräuschen, die stets einen seiner Aphorismen ankündigten – formulierte, »Viehwaggons hatten wir schon. Von jetzt an ist erste Klasse angesagt, für die ganze Strecke.« Die Kunden erwarteten überdurchschnittliche Leistungen von den Messers, und die Holocaust Connections, Inc., berechnete auch die entsprechenden Spesen. Diese Reise zum Beispiel wurde von einer Anti-Pelz-Organisation finanziert, der daran gelegen war, ihren Status als Holocaustler ehrenhalber zu festigen, und Norman hatte – und das auch noch mitten in seinem privaten Unglück! – ihr Anliegen vorangebracht. Erste Schritte nur, zugegeben, die kreative Verwendung der Berge von Haar im Auschwitzer Museum, das den vergasten Opfern geschoren wurde, gehörte dazu – bei oberflächlicher Betrachtung ein durchaus grässlicher Gedanke, an dem er nun feilte und polierte, um die relevanten ethischen Zusammenhänge herauszuarbeiten, die der Pelz-Aktion das moralische Siegel des Holocausts aufdrücken würden.
Inzwischen kannten die Geschäftspartner Messer und Messer natürlich alle Flugbegleiter der Airline, und ihre Spezialität waren die Frauen. Maurice bestand darauf, sie auch weiterhin politisch inkorrekt als Hostessen zu bezeichnen, eine kleine grenzwertige Freiheit, die er sich nahm, und er hatte vorsichts- und versöhnungshalber Mitbringsel aus den Luxushotels in Warschau und Krakau eingesteckt, kleine Shampookissen oder Duftseifen aus den Bädern, in Goldfolie eingewickelte Schokoladeherzen, die er von den Kopfkissen der aufgeschlagenen Betten nahm. Er kniff und tätschelte die aufregenden Blondinen mit dem drallen Wuchs bis zur Belästigung beim Guten-Tag- und Auf-Wiedersehen- und Danke-Sagen und murmelte: »Keine Sorge, ihr Süßen, keine Sorge, ich tu euch nichts.« – »Und kommt damit auch noch durch«, wie Norman seiner Frau Arlene gewissenhaft und überflüssigerweise auseinandersetzte, »er ist ja auch so ein knuddeliger oller jüdischer Glatzkopf mit Pummelfäustchen und komischem Akzent, da halten diese dummen Hühner aus Tschenstochau ihn für harmlos – schwerer Irrtum, meine Damen! -, und so wird dann ein klassischer Polenwitz daraus.«
Sie bestiegen die Maschine vor den gewöhnlichen Passagieren und behielten ihre Marken-Trenchcoats bis zum letzten Moment an – die sexy Semiotik internationaler Geheimnisse und Intrigen, wie sie es auslegten. Dann kam eine Flugbegleiterin, Magda oder Wanda oder sonst wer, angeschwebt und servierte, ohne vorher fragen zu müssen, denn die Wünsche der Herren hatten sich dem Hirn bereits eingebrannt, so als wäre die Speicherung von derlei Informationen der Grund ihrer Existenz, mit einem Lächeln zur Begrüßung, wie es aus dem Repertoire ihrer Ehefrauen lange verschwunden war, von einem vor diesen so lebendig atmenden Brüsten hergetragenen Tablett dasselbe wie immer: für Maurice ein Glas Bordeaux (»Männer trinken Rotwein«, wie er bei offiziellen Anlässen gern weltmännisch anmerkte), für Norman Rum mit Coca-Cola, zwei Becher Schokomilch und ein Dutzend Tütchen mit karamellisierten Erdnüssen.
Schweigend saßen sie lange Zeit nebeneinander, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, getrennt und vereint zugleich: Norman riss eine Tüte nach der anderen mit den Zähnen auf, gab die Erdnüsse in die hohle Hand, schüttelte sie sacht wie Eiswürfel im Glas und kippte sie sich, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, mit einem kurzen, dumpfen Klatschen in den Mund. Das ging automatisch, mechanisch. Es war in Ordnung, die Nüsse auf diese Art wegzuputzen, wenn er mit seinem Vater reiste. Der alte Herr störte sich nicht daran, bemerkte es wahrscheinlich noch nicht einmal, so wie andere Eltern, die Überlebende waren, dankbar registrieren mochten, dass der Junge wenigstens aß, und für Norman selbst war es ein heimliches Vergnügen, denn so zu naschen hätte er sich im Beisein seiner Frau oder seiner Tochter nicht erlauben können. Dieses roboterhafte Auf und Ab seines Arms machte die beiden wahnsinnig, sie spürten die kranartige Bewegung sogar, wenn sie ihn nicht direkt ansahen. Vielleicht war Nechama deswegen in den Orden eingetreten, spekulierte Norman – wegen seiner enervierenden Gewohnheiten.
Was Arlene betraf – na, er wollte sich jedenfalls nicht alles verderben und an das bevorstehende Treffen mit seiner Frau denken, wenn er gerade kaute. Er weigerte sich rundweg, darüber nachzudenken, wie er ihr das Nechama-Problem näherbringen könnte, wenn er heimkam, wie er bestätigen sollte, dass es, ja, leider, zumindest vorläufig so aussah, als wäre das mit dem Nonnewerden beschlossene Sache. Da konnten sie im Moment wohl nichts machen, außer natürlich, um Arlenes Ausdruck zu gebrauchen, weiter zu ihr zu stehen, die Tochter bedingungslos zu lieben, das verstand sich von selbst, immer für sie da zu sein. Gleichzeitig aber mussten sie sich selbst Zeit geben, um zu trauern, im übertragenen Sinne natürlich, nicht tatsächlich eine Trauerzeit durchmachen, gar sieben Tage lang schiwe zu sitzen, wie es die ultraorthodoxen Fanatiker tun, wenn eines ihrer Kinder konvertiert. Und dann mussten sie damit abschließen, mussten ihr Leben weiterführen, mussten diesen Schrecken loslassen, ihn hinter sich bringen, dem Heilungsprozess eine Chance geben, bla, bla, bla. »Sieh es doch mal so«, würde er zu Arlene sagen, »die schlechte Nachricht ist, es steht fest – sie ist Nonne und deswegen wohl auch Christin, eine gojische, eine Schickse, noch schlimmer sogar, eine Katholikin, dem müssen wir einfach ins Auge sehen. Problematisch ist außerdem, vermute ich, dass sie sich für ihre Aktion gerade das Karmelitinnenkloster bei Auschwitz aussuchen musste, ausgerechnet dort, wo drei Viertel ihrer Familie verbrannt worden sind. Verstehst du, was ich meine? Andererseits« – und an der Stelle würde er langsamer werden und um des größeren Effekts willen tief Luft holen -, »die gute Nachricht ist: Sie ist in Sicherheit, hat ein Dach über dem Kopf und jeden Tag was zu essen, Jungs können nicht mehr an sie ran, und, vom elterlichen Standpunkt aus gesprochen, wir wissen jederzeit, wo sie sich aufhält.«
Hey, er liebte das Mädchen genauso, wie Arlene das tat, dachte Norman grollend. Warum musste er sich ständig rechtfertigen? Brauchte er diesen zusätzlichen Kummer wirklich? Nechama war auch sein Kind, verdammt noch mal. Dieses ganze Chaos war für ihn genauso peinlich wie für Arlene. Himmel, es konnte sich sogar auf ihre Firma auswirken, auf ihr ganzes Leben – hören Sie das, Mrs. Messer, hallo? Wie sah das denn aus?, fragte er im Geiste seine Frau: Holocaust-Erbin gibt Juden den Laufpass. Das war ein Notfall, da war schnelle Schadensbegrenzung gefragt. Er musste sich überlegen, wie er dieses Negativum zu ihrem Vorteil vermarkten, wie er es umwenden konnte – irgend so was wie weiterwirkendes Holocaust-Trauma, anhaltende Bedrohung unseres Lebens, der Holocaust ist noch nicht vorbei und so weiter und so fort.
Kein Problem, das würde er schon hinkriegen. Eines wollte er aber doch wissen, nur eines: Warum war immer er derjenige, der, wie Arlene das ausdrücken würde, eine Stütze sein musste? War er etwa so was wie ein Suspensorium? Warum konnte sie zur Abwechslung nicht mal ihn stützen? War es durch ihre Ozonschicht schon zu ihr durchgedrungen, dass ihr armer Trottel von Mann überall, wo er seinen Fuß hinsetzte, ein Großer war, dass er empfangen wurde wie ein Held? War sie sich dessen bewusst? In Warschau beteten die Frauen ihn an, und seit er so abgenommen hatte, erst recht. Aber Fakt war, dort drüben hatten sie ihn sowieso immer geliebt, in jeder Form und Gestalt: um seiner selbst willen nämlich. Sie kamen in sein Hotelzimmer, Blumensträuße und Champagnerflaschen in der Hand, die Gesichter hübsch zurechtgemacht und die Haare eingesprüht, in glänzenden High Heels und Minikleidern aus echtem Leder, die eine Wucht waren und robuste Reißverschlüsse aus Metall hatten vom Nacken bis zum Saum – nicht dass er carpe-diemte, überflüssig, das zu sagen. In den Staaten verehrten sie ihn, dort war er ein Idol, umgab ihn doch die Aura des Leidens wie einen Heiligen oder als wäre er einem Dostojewski-Roman entsprungen, sie verehrten ihn, weil er bei dieser traurigen Holocaust-Sache nicht lockerließ, weil er ihr jeden Augenblick widmete, die Schoah Tag und Nacht mit sich herumschleppte, weil er sein eigenes Glück opferte, um die Flamme am Leben zu erhalten – natürlich nicht um seines eigenen Wohls willen, sondern im Dienste des moralischen und ethischen Wohls der Menschheit. Der Schmerz in seinem Blick, der melancholische Zug um seinen Mund, die offenkundige Depression, mit der er sich die Haare föhnte, das kummervolle Wissen darum, dass der Mensch dem Menschen ein Unmensch war, mit dem er sich den Trenchcoat gürtete – das machte sie an, ja, das machte sie an.
Seine Frau war nicht begeistert, na und? Gab es sonst noch was Neues? Arlene war am glücklichsten, wenn er nicht zu Hause war, das war offensichtlich, es freute sie, dass seine Arbeit so viel Reisen erforderte. Schön, er konnte auch damit leben, solange noch irgendjemand auf seiner Seite stand, solange noch irgendjemand sich freute, wenn er sich ab und zu blicken ließ, und ihm ein wenig Respekt zollte. Ihm die Schuld an dem ganzen Fiasko zu geben war freilich etwas anderes. Also wirklich, hatte er das Kind etwa ins Nonnenkloster gesteckt? Bitte! Warum fuhr er dann jetzt nach Hause, aus freien Stücken, um sich den ganzen Müll anzuhören? Er hatte anscheinend den Verstand verloren, war meschugge geworden. Das war Masochismus, schlicht und einfach, ein krankhaftes Verlangen nach Bestrafung – er sollte einen Seelenklempner anrufen, sollte sich coachen lassen, wie diese Mentaltrainer-Typen sagen. Zweifelte er etwa daran, was Arlene mit ihrem unterbelichteten Sozialarbeiterinnenhirn und ihren vorgefertigten psychologischen Erklärungen ihm vor die Füße kehren würde? Ach, es war das alte Lied, er hatte es schon tausendmal gehört. Sie würde die ganze Litanei wieder von vorn herunterbeten, dass alles seine Schuld war, alles, was passiert war: seine Schuld. Von Anfang an. Erstens war es doch krank, ein Baby unbedingt Nechama nennen zu wollen, einem armen, unschuldigen Baby einen Namen zu geben, der »Trost« bedeutete, wie in »Tröste dich, tröste dich, mein Volk«, als wäre dieses kleine Kind so etwas wie ein Ersatzjude, so etwas wie der nach der Katastrophe überreichte Trostpreis, so als hinge es allein von diesem Kind ab, ob nach dem großen Unglück wieder alles in Ordnung kommt. Damit wurde dem Kind doch eine schwere Last aufgebürdet, eine unmögliche Last – kein Wunder, dass das arme Mädchen sich nun aus dieser Welt hinausbegeben hatte. Für ihn war ein Name wohl Nebensache? Es gab Massen von Büchern zu dem Thema, zum Einfluss von Namen auf individuelle Entwicklung, Identität und Selbstbild. Welcher Vater tat seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas an? Es war kriminell, unverzeihlich. Warum hatte Nechama keinen normalen Namen bekommen können, einen x-beliebigen, hoffnungsfrohen, nach Glück strebenden amerikanischen Namen, den man wenigstens aussprechen konnte, Stacy oder Tracy zum Beispiel?
Und dann diese Sachen von wegen zweite Generation, auf die er sich gestürzt und zu der er Nechama mitgeschleppt hatte, als wäre sie irgendein archetypisches Opferlamm wie Jephthas Tochter, wie Iphigenie. Norman wusste ja sehr wohl, dass die meisten aus der Ganzheitlichkeitsfraktion richtig vernarrt waren in die Vorstellung von der zweiten Generation, die schluckten das, Arlene aber – Überraschung! – glaubte da überhaupt nicht dran. Und warum nicht? Das konnte man sich doch denken: weil es Normans Agenda diente, weil es seine Obsession legitimierte und erklärte und ihr Status verlieh. Arlene konnte dem nichts abgewinnen. Was Arlene betraf, war die zweite Generation eine zusammenfantasierte Kategorie, eine Ausflucht für eine Bande von Heulsusen und von Leuten, die sich selbst bedauerten, von Leuten, die an unheilbarer Entwicklungshemmung litten. Die sogenannten Überlebenden, das war die erste Generation; die waren dort gewesen, hatten alles unmittelbar erlebt, und danach kamen ihre Kinder, die Möchtegerns von der zweiten Generation, diese Holocaust-Nassauer, Norman und Konsorten, die sich die Beine ausrissen, um auch was von der Schoah abzukriegen. Und all die robusten, gewitzten, paranoiden Flüchtlinge, die den Krieg überstanden hatten – man mochte nicht mal ansatzweise darüber nachdenken, wie die das geschafft hatten -, auf einmal werden daraus heilige Überlebende mit einem unaussprechlichen Wissen, und dann wird die zweite Generation – geboren und aufgewachsen in Brooklyn oder sonst wo, weit, weit weg von Gaskammern und Krematorien – zu Überlebenden gekrönt, ehrenhalber. Auf einmal gewinnen diese leichtgewichtigen Nachkommen an Bedeutung, an Einfluss, an Seriosität – und fahren all die Belohnungen ein, die man kriegt, wenn man sich an das Leiden ranschmeißt. Was könnte schöner sein? Alle Vorteile von Auschwitz, ohne diese Grausamkeit tatsächlich durchmachen zu müssen – Holocaust light.
Was tat sie, um diese Ehre zu verdienen, die sogenannte zweite Generation? Worin genau bestand ihr kostenlos erbrachtes Leiden? Tja, sie hatten es schwer, die armen Kleinen, sie waren ebenfalls Opfer; das konnte man ihnen nicht wegnehmen, wie sie sich als eifrige Selbsthilfegruppe regelmäßig bei ihren in Synagogenkellern abgehaltenen Treffen gegenseitig versicherten. Sie waren durch die Beschädigten beschädigt worden, hatten psychische Verletzungen dadurch erlitten, dass sie bei misstrauischen, traumatisierten, überfürsorglichen Eltern aufwuchsen, die unmögliche Erwartungen an sie hegten. Ihnen wurde aufgebürdet, die Fackel der Erinnerung, die kitschige Kerze Memoria aus der Vergangenheit weiterzutragen in die Zukunft. Ihr Selbstbewusstsein erlitt einen vernichtenden Schlag, als sie erfuhren, dass ihr Leben bloß eine lumpige Nebenhandlung war im Vergleich zu den Epen ihrer Eltern. Er war krank und erbärmlich – der »Holocaust-Neid«, ein neuer Begriff: bald auch bei einem Psychiater Ihres Vertrauens in der verbesserten, erweiterten nächsten Ausgabe der DSM-IV-Bibel über geistige Störungen. Und sich vorzustellen, dass er sein eigenes Kind einer solchen pathologischen Situation aussetzte – sich vorzustellen, dass er jetzt Ernst machte und zuließ, dass sich ein akutes Leiden chronifizierte, dass sich die Qualen verlängerten, indem er die ganze Last Nechama aufbürdete wie ein Lebenslänglich, wie eine vertraglich abgesicherte Sklaverei: Schuldgefühle bis in die zehnte Generation. War es da ein Zufall, dass sie die Juden fallen ließ zugunsten der ultimativen Märtyrerreligion, in der das Leiden aus zweiter Hand gleich den Hauptinhalt darstellte samt einem gefolterten mageren Kerl an einem Kreuz als zentraler Ikone? War es da ein Zufall, dass ihr Weg sie zurückführte zu den Toren von Auschwitz? Hatte er nie geahnt, wohin diese morbide Holocaust-Fixierung führen würde?
»Vielleicht hätten wir so einen Deprogrammierungsmenschen dazuholen sollen?«, sagte Maurice jetzt. »Vielleicht hätten wir an der Mauer hochklettern sollen wie der eine verrückte Rabbi – wie hieß der noch? -, als das Kloster noch in dem anderen Gebäude war, da, wo sie im Krieg das Gas aufbewahrt haben. Vielleicht hätten wir Nechama von den schwesters kidnappen sollen.«
Norman schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee, Papa.« Er schluckte bedeutungsschwer, bevor er sich weiter ausließ. »Das wäre ein Desaster für die polnisch-jüdischen Beziehungen geworden, ein Albtraum für die katholisch-jüdischen Beziehungen, ganz zu schweigen von unseren geschäftlichen Beziehungen.«
»Nu, man müsst ja auch jünger sein für ein solches Affengeturne, Mauern hochklettern – weißt du, was ich meine? So jung bist du schließlich nicht mehr, Normie, ha ha, und ich bin nicht so gut in Form – wie deine Mama sagt, grazil -, ich bin nicht mehr so grazil wie früher, als ich Partisanenführer war und in den Wäldern gegen die Nazis gekämpft hab.«
Norman stockte unwillkürlich der Atem, und er musste Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel drücken, um die Sehnsucht nach seiner Tochter einzudämmen, die ihn in dem Augenblick schier zu überschwemmen drohte, als Maurice den bekannten Kehrreim vom Partisanenführer sang, der in den Wäldern gegen die Nazis gekämpft hatte. Das war ein Privatwitz zwischen Norman und Nechama, bei dem sie Maurice’ Worte hinter seinem Rücken lautlos mit den Lippen formten und in perfekter Nachahmung seiner Mienen, Gesten und seines Akzents mitsprachen, jedes Mal, wenn er sie bei einem Treffen im Familien- und Freundeskreis äußerte oder sogar bei den Vorträgen über seine Karriere als Widerstandskämpfer, die Maurice regelmäßig in Synagogen, Gemeindezentren oder Schulen hielt und die er stets mit demselben Satz einleitete: »Ich bin hier, um den Mythos zu entlarven, dass die Juden wie Schafe zur Schlachtbank getrottet seien.« Auch diesen Satz formten Norman und Nechama in stummem Übermut, und manchmal blieb ihnen vor lautlosem Lachen fast die Luft weg. Es war ein harmloses Vater-Tochter-Ritual und hatte angefangen, als sie vielleicht achtzehn oder neunzehn gewesen war: Maurice hatte, von Nechama ins jüdische Studentenzentrum ihres College eingeladen, seine Standardrede gehalten, wie stets mit dem Satz über den Schafe-und-Schlachtbank-Mythos begonnen und wie stets Haltung angenommen, wenn es ans Abspielen der Partisanenhymne Never Say This Is the Final Road for You ging.
Als Norman und Nechama bei dem nach Maurice’ Vortrag stattfindenden Empfang einen Moment allein waren, sie standen sich gegenüber, ihre durchsichtigen Plastikbecher mit moussierendem Cidre gefüllt, so als spielten sie ein Paar, das sich bei einem gesellschaftlichen Anlass gerade kennengelernt hatte, erwähnte Norman beiläufig – in ganz anderem Zusammenhang, er hatte vergessen, in welchem -, dass natürlich niemand genauer wusste, was Maurice Messer während des Holocausts wirklich getan hatte, außer dass er sich tagsüber in den Wäldern versteckt und nachts Hühner geklaut hatte. Was unter diesen Umständen ja auch keine Schande war. »Musst dich damit abfinden, Kleines«, sprach Norman weiter, von etwas gepackt, gegen das er nicht ankonnte, »geschossen hat er in den Wäldern nicht – bloß geschissen!«
»Du meinst, Großvater war gar kein Partisanenführer und hat nicht gegen die Nazis gekämpft?« Das Kind schien ehrlich schockiert zu sein.
Norman zog eine Augenbraue hoch. Seine Tochter meinte es nicht ironisch. Vielleicht war er diesmal zu weit gegangen, vielleicht war sie wirklich unschuldig, vielleicht war sie einfach zu zart für derlei Realpolitik. Nicht zu glauben, anscheinend war sie bisher wirklich noch nie auf den Gedanken gekommen, dass die Story ihres Großvaters bloß eine harmlose Erfindung zum Zwecke der Selbstvermarktung war. Einen vernichtenden Moment lang befürchtete Norman, er habe seinem Kind womöglich einen irreparablen, unverzeihlichen Schaden zugefügt, doch als sie nach dem langen Schweigen, mit dem sie diese neue Information aufgenommen hatte, gehässig herausplatzte: »Okay, Dad, ich verrat den Holocaust-Leugnern nicht, dass das alles reine Erfindung ist«, atmete er erleichtert auf und war beeindruckt von ihrer schnellen Auffassungsgabe und ihrem feinen Gespür dafür, wo ihre Interessen lagen und wo ihre Loyalität angebracht war, war beeindruckt von der Klugheit, mit der sie menschliche Schwäche als eine weitere amüsante Lebenstatsache mehr akzeptierte.
»Schau«, sagte Norman überdeutlich, »es ist ja nicht so, als hätte er nicht wirklich gelitten. Es ist schließlich nicht leicht, stets und ständig für ein Opfer gehalten und von anderen bedauert zu werden – erst recht für so einen Macho wie Großvater. Du bist jetzt ein großes Mädchen, Nechama, du kannst das verstehen. Die Schoah war ein extrem kastrierendes Ereignis, wie deine Mutter vielleicht sagen würde. Fremde konnten kommen und buchstäblich alles mit dir machen. Männer wie dein Großvater taten sich damit nicht leicht, deshalb war es hinterher für ihn psychologisch entscheidend, anderen zu vermitteln, dass er nicht kastriert worden war, um es direkt zu sagen, er war ja immer noch ein ganzer Mann – und machte sich halt zum Widerstandskämpfer. So einfach war das. Außerdem, wem schadet es denn, wenn ein alter Herr ein bisschen Theater spielt und sich als großer Held aufführt?« Er sprach jetzt betont langsam, um die Pointe vorzubereiten. »Der Holocaust-Markt wird nicht zusammenbrechen, bloß weil ein alter Mann ein bisschen übertreibt, glaub mir. Die Verrückten, die behaupten, das Ganze habe gar nicht stattgefunden, sollten daraus keinen Trost schöpfen.«
Keinen Trost schöpfen, hatte er gesagt – keinen nechama schöpfen. Mit jenem Tage begann, wie er sich erinnerte, ihre Tradition deliziöser Spöttereien in liebevoller Häme, wann immer sich Maurice aufwärmte und seine Partisanenplatte auflegte. Es war ihr Vater-Tochter-Ding geworden. Und es war die Erinnerung an diese harmlose verschwörerische Bindung an sein Kind, die jetzt Besitz von ihm ergriff und ihn übermannte.
»Nu, Normie«, sagte Maurice, »ja oder nein? Warum sagst du nichts? Erinnerst du dich an dieses Palaver mit den schwesters aus dem Kloster mit dem verrückten Rabbi, wie deine Mama ihn nennt?«
Maurice zitierte seine Frau so oft wie möglich, gestand ihr galant zu, dass sie das englische Idiom und die englische Aussprache überragend meisterte, und sah in ihr eine fast orakelhafte Quelle des gesunden Menschenverstands. Jedes Mal wenn die Rede auf diesen Rabbi kam, der international Aufsehen erregt hatte mit seinem Protest gegen die Einrichtung eines katholischen Klosters in Auschwitz, wo über eine Million Juden vergast worden waren – dasselbe Kloster, in dem, an einem akzeptableren, vom Papst persönlich bestimmten Ort, ihre Enkelin Nechama nun für die Rettung der Seelen ermordeter Juden betete -, riss Blanche die Augen auf und rief: »Aber Liebling, der ist verrückt!« Maurice versäumte es daher nie, das Epitheton »der verrückte Rabbi« anzuführen, wenn er auf das Ereignis in dem alten Karmelitinnenorden zu sprechen kam – ganz so als würde es sich, seit Blanche mit ihrem einzigartig gesunden Menschenverstand so befunden hatte, beim Geisteszustand des Rabbis um eine klinische Diagnose handeln. Gesunder Menschenverstand war nach Maurice’ Meinung eine sehr wünschenswerte Eigenschaft bei einer Frau, und es gab eine Zeit, da hatte er Norman geraten, sie bei seiner Partnerwahl an die erste Stelle der Liste zu setzen. Woraufhin Blanche stets spröde bemerkte: »Wenn es über ein Mädchen heißt, es habe gesunden Menschenverstand, ist das ein verhüllter Ausdruck für nicht so aj-aj-aj, falls du weißt, was ich meine – anders gesagt, für nicht so hübsch.« – »Gesunder Menschenverstand und hübsch dazu«, warf Maurice dann munter ein, »wie bei meiner Blanchie.«
Sie diskutierten über alles, er und Blanche, sogar über die Themen, über die sie nicht diskutierten. Beispielsweise diskutierten sie und diskutierten zugleich nicht darüber, wo sie beide bei den Fähigkeiten ihres Normans die Grenze sahen – nicht nötig, ihre Einigkeit in dem Punkt mit Worten zu besiegeln. Und ungefähr um dieselbe Zeit, als sie ihre Firma für Damenunterwäsche verkauften, die Messers’ Foundation, die ihnen mehr als nur ein angenehmes Leben ermöglicht hatte, war der Holocaust in Mode gekommen, mehr in Mode als verstärkte Büstenhalter und Lycra-Miederhosen. Als Erstes pfiffen sie mal auf ein Leben als Privatiers und wurden die Anführer der Gruppe der Überlebenden und populäre Redner, die an den einschlägigen Veranstaltungsorten Zeugnis ablegten. Der Holocaust war heiß, keine Frage. Blanche drängte Maurice dann, eine neue Beraterfirma zu gründen, die Holocaust Connections, Inc., und Norman als gleichberechtigten Partner aufzunehmen – »Mach den Holocaust zu deiner Sache«, wie ihr Klugscheißer von Sohn es bündig zusammenfasste, er war einfach einsame Spitze. Erste und zweite Generation, die zusammen arbeiteten und spielten: ein ideales Projekt, das perfekte Ventil für ihren Norman, den kleinen Scheißer, wie sie ihn liebevoll nannten, dessen bisherige Jobs, darin waren sie sich einig, unter seiner Würde und unbefriedigend gewesen waren und ihn total unterfordert hatten. Jetzt konnte Norman den lieben langen Tag herumlümmeln, kreative Gespräche mit Kunden führen, seinen brillanten Optimismus ausstrahlen, seine bösen Witze reißen, ab und zu einen Artikel für eine jüdische Zeitung schreiben, in den Gewässern der Diplomatie herumschippern, in den Korridoren der Macht herumschmusen und nach Herzenslust mit den vielen anderen Politikern, Insidern und Hotshots palavern – es gab wohl kein besseres Betätigungsfeld für seine enormen Talente und Gaben. Unausgesprochen waren sie sich einig: Norman brauchte ihre Hilfe; er war ein von Grund auf schwacher Mensch, allein würde er es nie schaffen. Es spielte keine Rolle, dass er an der Princeton University gewesen war – Princeton Schminceton! – und dort sogar drei Tage und Nächte lang bei einem Sit-in im Büro des Rektors mitgemacht hatte, obwohl seine Mutter ja nicht gezögert hatte, mitten in diese Nonstop-Orgie hineinzumarschieren und ihm sein Allergiemedikament in die Hand zu drücken. Wen interessierte es, dass er einen juristischen Abschluss von der Rutgers besaß, wo arme Schlemihls dazu ausgebildet wurden, eine Bande von Kriechern und Schleimern zu werden. Wen interessierte es, dass er erwachsen war, allem Anschein nach ein ausgewachsener Mann, der eine Sozialarbeiterin zur Frau und eine hübsche, aber launische Tochter hatte. Wenn morgen der Krieg ausbrach, dessen waren sie sich sicher, würde ihr Norman es nicht schaffen. Ohne es laut auszusprechen, erkannten beide, dass ihr Sohn – anders als sie selbst – nicht überlebt hätte.
Überleben – das war die Untergrenze. Darüber wurde nicht diskutiert. Das war ein Faktum auf der Ebene, die die Lebenden von den Toten trennte. Das war die Lektion, die ihrem Norman einzutrommeln sie sich so bemüht hatten: Erst mal überleben, dann kann man sich Gedanken über solche Nettigkeiten wie Moral und Gefühle machen. Wenn dir jemand sagt, dass er dich töten wird, passt du auf, du nimmst denjenigen ernst, glaubst ihm. Und du stehst am nächsten Morgen früher auf und tötest ihn. Wenn du überlebst, hast du gewonnen. Wenn du nicht überlebst, hast du verloren. Wenn du verlierst, bist du ein Nichts. Wie lautet Regel Nummer eins fürs Überleben? Vertraue niemandem, sei misstrauisch gegen jeden, nimm als gegeben an, dass der andere darauf aus ist, dich zu vernichten, und friss ihn bei lebendigem Leib, bevor er Gelegenheit dazu hat. Warum hatten sie überlebt? Glück, es war reines Glück, sagten sie immer. Glaubten das aber nicht für einen Moment. Sie sagten nur, was von ihnen erwartet wurde, um nicht das Andenken derer zu beleidigen, die nicht überlebt hatten, derer, die, seien wir ehrlich, versagt hatten, derer, die jetzt Haufen aus grauer Asche und zermalmten Knochen waren, auf denen andere herumspazierten. Sie kannten die Wahrheit: Sie hatten überlebt, weil sie stärker waren, besser – fitter. Das Überleben war ein Erfolg, doch sogar unter den Erfolgreichen gab es Kategorien und Abstufungen. Man schaue sich die Überlebenden doch heute einmal an, diejenigen, die wie wandelnde Tote aus den Lagern gewankt waren. Klassische Grünschnäbel waren das, ewige Immigranten, hatten Angst, anderen womöglich auf die Nerven zu gehen, wenn sie auf dem Holocaust herumritten – warum die Sache bis vors Bundesgericht zerren? -; ein Haufen Nichtse war das, bis die Überlebenden-Elite auch ihr Bewusstsein erweiterte, Leute aus dem Kreis um Blanche und Maurice, die mit Stil überlebt hatten, die Furchtlosen. »Ich? Ich habe nie Angst!«, sagte Maurice immer; das war sein Motto. Nein, ihnen war es zu verdanken, dass der Holocaust ein fester Begriff war. Sie errichteten Gedenkstätten und Museen. Sie waren Millionäre, hohe Tiere, waren Macher und Beweger. Sie regierten das Land. Survival of the fittest. Blanche hatte einmal in einer Zeitschrift gelesen, Krebszellen seien die bestangepasste Lebensform, denn sie fraßen alles andere auf, breiteten sich aus, reproduzierten sich, sie obsiegten, überlebten, sie hatten gewonnen. Vielleicht war das allerdings kein so schönes Beispiel, vielleicht warf es kein so gutes Licht auf sie und Maurice und die Übrigen, wenn man sie mit Krebs verglich. Krebs war schlecht, aber wenn du in dieser Welt überlebst, hast du gewonnen, und wenn du gewonnen hast, bist du gut.
Sie waren ein fantastisches Team, Blanche und Maurice Messer, ein kämpferisches Pärchen, und sie waren stolz darauf. Zu ihrem vierzigsten Hochzeitstag hatten Norman und Arlene ihnen eine Plakette geschenkt, darauf eingraviert die Worte: »Die Messers – scharf wie eh und je.« Sie hängten sie in ihre »Holocaust-Zentrale«, das an das Wohnzimmer angrenzende Arbeitszimmer, direkt über den Aufsatz, den Nechama mal mit acht, in der dritten Klasse, geschrieben hatte. Das Thema lautete »Mein Held«, und Nechama hatte sich Maurice ausgesucht. »Großvater hatte im Zweiten Weltkrieg ein Gewehr. Mit dem Gewehr hat er böse Deutsche getötet, wie einen gefährlichen Bazillus. Er hat das jüdische Volk gerettet. Sein Gewehr hat er so lieb gehabt. Abends hat er ihm immer einen Gutenachtkuss gegeben. Er hat das Gewehr ins Bett mitgenommen. Nach dem Krieg durfte Großvater auf einem Panzer mitfahren. Da hat er das Gewehr in der Hand gehalten. Dann haben sie es ihm weggenommen, da war Großvater traurig. Er hat geweint, weil sein Gewehr nicht mehr da war. Da hat er dann Großmutter geheiratet.« Die Lehrerin gab ihr für diese Leistung nur ein »ausreichend«, und Blanche sagte: »Was weiß die denn? Ist ja wohl kaum ein Zufall, dass sie Lehrerin geworden ist«, und hängte den Aufsatz, teuer gerahmt, an die Wand. »Das Gewehr bin ich«, sagte sie trotzig. Maurice machte sich auch nicht viel aus diesem Aufsatz. »Wozu erzählt sie der ganzen Welt meine Partisanengeschichte? Die ist privat, nur für die Familie.« – »Was stört dich denn daran, Maurice?«, wollte Blanche wissen. »Jeder Überlebende ist ein Partisan. Überleben heißt Widerstand.« – »Sei nicht paranoid, Papa«, warf Norman ein. »Heutzutage kannst du das ruhig zugeben, dir passiert nichts.« Und fügte nach bedächtigem Schlucken und bedeutungsschwangerer Pause hinzu: »Ziggy und Manny und Feivel und Yankel und die anderen, die damals mit dir in den Wäldern waren, sind inzwischen alle gestorben, mögen sie in Frieden ruhen – und schweigen.«
Wieder ging es ums Überleben, diesmal für das jüdische Volk, um sein Überleben in einer Epoche der Assimilation und der Mischehen und des Niedergangs des Antisemitismus in Amerika – durchaus ein gemischtes Vergnügen -, letztlich um einen zweiten Holocaust, der noch gefährlicher war, denn er vollzog sich schleichend, unsichtbar und untergründig. Blanche und Maurice hätten alles getan, um das Überleben der Juden zu sichern, hätten keine Mühe und kein Opfer gescheut; denn wenn es galt – sie wussten es wohl -, einen vom Weg abgekommenen Juden wieder zurückzuholen, dann gab es nichts Besseres als den Holocaust: Das war der Bestseller, das war die sichere Bank, damit bekam man den Kunden immer. Warum hat Gott uns den Holocaust gegeben? Aus einem einzigen Grund! Damit die Lektion da ankommt, wo sie hinsoll: einmal Jude, immer Jude. Man konnte versuchen, sich dazwischenzumogeln und sich in der Menge aufzulösen, man konnte sich vermischen und angleichen, aber das nützte alles nichts und war hoffnungslos. Nichts, wo man sich hätte verstecken, nichts, wo man hätte hinrennen können. Hitler mit seinen Nürnberger Rasse- und Blutgesetzen würde einen überall aufstöbern und wegspülen wie eine Kakerlake, fast so, als hätte er eine Abmachung mit den die Mischehe verteufelnden Rabbis getroffen. Danke, Mr. Hitler!
Und wer konnte diese Botschaft effektiver laut und klar verbreiten als ein Partisanenführer und seine Frau – selbst Überlebende von drei, vielleicht vier Konzentrationslagern, je nachdem, wie man zählte -, die ihre Geschichte immer wieder erzählten, bis sie schwarz wurden, tagaus und tagein anderen die Lehren aus dem Holocaust einhämmerten. Was immer nötig sein mochte, um anderen diese Lektion einzubläuen, sie würden es tun, auch wenn es bedeutete, sich plump ins Rampenlicht zu drängen, auch wenn es ihrem Wesen zutiefst widersprach, auch wenn es den irreführenden Eindruck erzeugte, dass sie die Toten ausbeuteten – sie würden es tun, und zwar nicht zu ihrem persönlichen Ruhm- und Ehrgewinn, Gott bewahre!, sondern für die Sache, denn das war ihre Mission, deswegen waren sie auserwählt worden, das war der Sinn ihres Überlebens. Sie waren die erste Generation, die Augenzeugen. Norman war das Bindeglied. Nechama stand für Kontinuität.
Ja, Kontinuität. Nechama war designiertes Kaddisch, ihre lebende Gedenkkerze, die dritte Generation. Und jetzt war sie Christin. Das war tragisch – tragisch! Wie hatte das passieren können? Wer hätte je mit so etwas gerechnet? Das lag außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens. Sie hatten alles, was sie besaßen, in dieses Mädchen gesteckt, Nechama war die ideale Schülerin gewesen, der ideale Protegé. Sie war, wie Maurice es bei seinen Vorträgen auszudrücken pflegte, seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, jener Shprintza Chaya Messer, ihres Zeichens Guerillakämpferin, ermordet von den Nazis bei der Razzia in Wieliczka, während sie aus vollem Halse »Kämpft, jidalech, kämpft!« schrie.
Bis zum heutigen Tag sprachen die Leute über Nechamas Bat-Mizwa-Rede: wie sie sich da umgedreht und zum Geist des Mädchens aus Wilna, das sie zu ihrem Zwilling erkoren hatte, gesprochen, wie sie mit festen Worten gesagt hatte: »Rosa, meine Schwester, du wurdest von den Nazis grausam ausgelöscht. Du hattest nie eine Bat-Mizwa. Heute gebe ich dir zurück, was dir damals zu Unrecht genommen wurde – denn heute bin ich du.« Arlene mit ihrer naiven amerikanischer-als-amerikanischen Art hatte es als grausig bezeichnet, als morbide, eine Form von Kindesmissbrauch, und hatte gedroht, die heilige Stätte zu verlassen, doch alle anderen hatten sich spirituell erbaut und moralisch erfrischt gefühlt von Nechamas Worten und zufrieden geweint. Und wer konnte die Holocaust-Versammlungen vergessen, die Nechama an der Highschool organisiert hatte, bei denen Maurice oder Blanche Zeugnis ablegten und einmal sogar Norman in seiner Eigenschaft als Botschafter der zweiten Generation zu den Teenagern sprach, die sich gelbe Papiersterne für Juden, rosa Dreiecke für Homosexuelle, schwarze Dreiecke für Zigeuner an die Nine-Inch-Nails-T-Shirts geheftet hatten; und wer konnte das Tanzstück aus Nechamas Feder mit dem Titel Requiem für die Abwesenden vergessen, das alle Jahre wieder aufgeführt wurde mit den wehenden, wallenden Schals und den prägnant himmelwärts gereckten Armen? Nechama war immer so stolz gewesen auf ihre Familie, diese Holocaust-Relikte, für die sich ein normaler Teenager bis auf die Knochen geschämt hätte, sie hatte sogar die Großeltern und den Vater eingeladen, mit ihr mitzufahren, nach Polen zum Marsch der Lebenden, zu dem Tausende anderer jüdischer Mädchen und Jungen aus der ganzen Welt anreisten; sie war eine Klasse für sich, sie war eine Holocaust-Prinzessin. Und sie schämte sich kein bisschen für die VIP-Behandlung, die ihr damals zuteilwurde dank der Position ihrer Familie in der Holocaust-Hierarchie, es war ihr auch nicht peinlich, mit langsamerem Schritt neben den Alten die drei Kilometer lange Strecke von Auschwitz nach Birkenau zu gehen, zum wahren Vernichtungszentrum mit den Überresten der Gaskammern und Krematorien und der Asche und den pulverisierten Knochen unter ihren Füßen. Nechama hatte die anderen angeschaut und – sie würden es niemals vergessen – gesagt: »Ich sehe sie, höre sie, ich fühle sie, die Toten gehen neben uns.« Und schließlich ihr Aufsatz für die Bewerbung am College, in dem sie geschrieben hatte: »Eines haben Sie womöglich aus dieser Bewerbung bisher über mich erfahren, nämlich, dass ich im besten und konstruktivsten Sinne eine Holocaust-Verrückte bin. Soll heißen, dass ich total besessen bin vom Holocaust, dem Mord an sechs Millionen meines Volkes, und entschlossen, alles in meiner Macht Stehende dafür zu tun, dass die Toten nicht umsonst gestorben sind.« – »Wunderbar, wunderbar«, erklärte Maurice, »wie das Shtar Shpangled Banner!« Nechama wurde in Princeton abgelehnt, trotz dieses Familienerbes, denn im Grunde war das, wie Maurice es ausdrückte, »eine Bande von Antisemiten und schtinkers.« Nechama ging an die Brown-University.
Mit solch guten Holocaust-Noten, wer hätte da je geglaubt, dass sie ihrem Volk den Rücken kehren und – ausgerechnet! – Nonne werden würde? Kloster und Kontinuität – die beiden Begriffe gingen definitiv nicht zusammen, sie passten nicht, bildeten kein natürliches Paar. Nonne, die Vorstellung war dem jüdischen Denken fremd, bei den Juden wurden die Mädchen alle verheiratet, so oder so, bekamen Kinder, und wenn eines doch mal keine bekam – tja, so etwas gab es einfach nicht, wer hätte derlei je gehört? Schon als kleines Mädchen hatte Nechama so bewegend davon gesprochen, dass sie mindestens zwölf Kinder haben wollte, um ihren Beitrag zu leisten, zum Ausgleich für die Millionen, die ermordet worden waren: Köpfe, gegen Steinmauern geschmettert, Menschen, bei lebendigem Leib ins Feuer geworfen oder erschossen, vergast. Sie würde eine Gebärmaschine werden zum Zwecke jüdischer Kontinuität. Sie war ein hübsches Mädchen, wie alle bemerkten – ein bisschen füllig vielleicht, »saftig«, wie Maurice, »mit Babyspeck«, wie Blanche sagte. Ihre Lieblingsspeise war laut Familienlegende Marzipan, und sogar diese Präferenz galt als Zeichen ihrer Überlegenheit; das war doch so europäisch, so Alte Welt – was weiß ein gewöhnliches amerikanisches Popcorn-Kind denn von Marzipan? Die Jungen, die sich zu ihr hingezogen fühlten, waren in der Regel etliche Jahre älter und in der Regel Einwanderer. Zu den Lieblingsgeschichten der Familie gehörte die, wie Nechama eines Abends mal lange ausgegangen war und sich dann um fünf Uhr morgens, als sie endlich heimkam, vor ihren Eltern damit rechtfertigte, dass ein Salvadorianer namens Salvador sie eingeladen hatte und sie, weil sie seine Gefühle nicht verletzen wollte, ihm erläutern musste, dass sie niemals mit einem Nichtjuden ausgehen könne, und zwar wegen des Holocausts – das war nichts Persönliches, es war nur ihre Pflicht, die sechs Millionen zu ersetzen. Woraufhin sie ihm natürlich die ganze Geschichte des Holocausts erzählen musste, damit er begriff, woher sie stammte – angefangen von Hitlers Aufstieg zur Macht im Jahre 1933 und so weiter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, und das dauerte, und deshalb kam sie so spät, sie hoffe, sie seien ihr nicht böse. »Was hat Salvador denn dazu gesagt?«, wollte Norman wissen, offenbar kein bisschen böse, sondern von Stolz erfüllt. »Oh, er hat gesagt: ›Ich wollte dich bloß auf einen Kaffee einladen, ich hab dir doch keinen Heiratsantrag gemacht.‹ Aber darum geht’s ja nicht.«
Sie war auch wirklich nie mit einem Nichtjuden ausgegangen, soviel sie wussten. Jedenfalls war das Liebesleben ihrer Tochter nach dem College-Beginn für sie ein Rätsel, stand nicht mehr zur Debatte. Nechama brachte zwar ein paarmal gojische Jungen nach Hause mit, das schon, aber das war immer »rein platonisch«, wie sie es ausdrückte: »Wir sind bloß Freunde.« Sie lernte die Jungen bei ihren Aktivitäten zur Beendigung der weltweiten Christenverfolgung kennen. »Während wir hier noch reden, findet da draußen ein christlicher Holocaust statt«, erklärte sie beim Abendessen im Beisein eines solchen Gastes, »und als Jüdin, aus der womöglich ein Lampenschirm gemacht worden wäre, kann ich mit reinem Gewissen dazu nicht schweigen.« Sie brachte einen chinesischen Studenten mit, der schilderte, wie er wegen seiner Mitgliedschaft in einer Untergrundkirche geschlagen und gefoltert worden war. Dann einen sudanesischen Labortechniker, dessen Familienangehörige verbrannt oder in die Sklaverei verkauft worden waren, weil sie ihren Glauben praktizierten. Wenn diese jungen Männer bei Tisch ihre Geschichten erzählten, lauschte Nechama verzückt, mit feuchten Augen, den Mund leicht geöffnet, obwohl sie sie bestimmt schon einmal gehört hatte. »Einer, der sie haben will, muss Folternarben vorweisen können«, sagte Arlene. »Weshalb tändelt sie mit gojim herum?«, beklagte sich Maurice bei Norman. »Wo hat Hitler seine großartigen Vorstellungen über die Juden denn her, sag mir das. Und der Papst, du wirst entschuldigen, Seine Heiligkeit, was hat der während des Krieges gemacht – Binokel gespielt?« – »Die wollen den Holocaust kapern«, jammerte Norman. »Christen sind als Holocaust-Material nicht – ich wiederhole: nicht! – akzeptabel. Da ziehen wir die Grenze.« Die Familie wollte Nechama ihrer neuesten Fixierung wieder entwöhnen, indem sie ihr eine Partnerschaft im Unternehmen antrug, die Leitung des gesamten Frauen-Holocaust-Portfolios: Abtreibung, sexuelle Nötigung, weibliche Genitalverstümmelung, Vergewaltigung, das ganze Pipapo – aber darauf fiel Nechama nicht herein. »Die Christen sind die neuen Juden«, sagte sie. »Christen haben auch ein Recht auf einen Holocaust. Seit wann besitzen Juden da ein Monopol? Genau das ist ja das Problem. Sie glauben immer, ihnen gehört alles, sie wollen nie teilen.« Also knickten sie schließlich ein und boten Nechama an, ihre unternehmerische Tätigkeit auf den christlichen Holocaust auszudehnen, so befremdlich und geschmacklos es ihnen auch schien: Sollte sie halt diesen neuen Geschäftsbereich aufbauen und leiten! »Vergesst es«, sagte Nechama. »Ihr seid mir viel zu kompromittiert und politisiert. Eine Einladung zu einem Essen in einer Botschaft und ihr lasst die Opfer im Regen stehen.«
Zum letzten Mal gesehen hatte sie jemand aus der Familie ein paar Tage nach dem Anruf und der Mitteilung, dass sie als Postulantin in das Karmelitinnenkloster bei Auschwitz eintreten und – es handelte sich um einen kontemplativen, geschlossenen »Eremiten«-Orden -, zukünftig für Besucher nicht groß zur Verfügung stehen würde. Sie würde zwar schon bald Novizin werden und schließlich die Gelübde ablegen, würde sich aber, betonte sie, stets als jüdische Nonne betrachten. Daran sollten sie denken. Sie ging ihnen nicht verloren. Sie sollten nicht verzweifeln. Es wurde beschlossen, dass Arlene allein fahren und sie besuchen sollte. Arlene akzeptierte die Mission, obwohl sie oft verkündet hatte, niemals einen Fuß auf diesen »riesigen Friedhof namens Polen« setzen zu wollen – »als Jude kann man dort nicht leben; diese Reise in die Vergangenheit, zurück zu den Schtetl-Wurzeln, ist obszön; Bildungsreisen durch Konzentrationslager sind grotesk«. Am Tag nach Nechamas Anruf flog Arlene nach Warschau.
Bei ihrem Übertritt zum Katholizismus hatte Nechama ihrer Familie gesagt, er sei ein notwendiger Schritt hin zur Erfüllung ihrer »Berufung«, sie sollten aber wissen und verstehen, dass sie trotzdem Jüdin bleibe wie die Urchristen. »Was soll das heißen?«, hatte Maurice gefragt. »Machst du bei uns mit oder bei denen, bist du eine Gojische oder Jüdin? Du kannst nicht beides sein – du kannst nicht unter zwei chuppas gleichzeitig tanzen, das geht nicht! Es wäre besser, du würdest für eine kurze Weile nur so tun, als ob du Katholikin wärst – und dann Schluss, aus und fertig -, das läuft auf dasselbe hinaus, wie wenn du’s wirklich tust.« Norman wollte wissen, ob das so etwas wie eine Juden-für-Jesus-Aktion wäre, doch nein, sagte sie, das stehe in der besten Tradition der ersten Kirchenväter. Norman machte der Familie dann die Hoffnung, dass man heutzutage vielleicht Christ und Jude sein konnte, genauso wie man, das war ja allgemein bekannt, Buddhist und Jude sein konnte – Juddhist hieß das und war ungefähr so was wie parve, nichts, worüber man sich aufzuregen brauchte, weder Milch noch Fleisch.
Dennoch war Nechamas Konversion ein vernichtender Schlag, wenngleich nicht völlig unerwartet in Anbetracht dessen, wie tief sie in den christlichen Holocaust eingetaucht war. Nach dem College hatte sie Vollzeit in der Washingtoner Zentrale der Organisation gearbeitet und war zu dem aufgebrochen, was sie ihre »Pilgerschaft« nannte, ihren »Kreuzzug«, hatte sich überall auf der Welt vor Ort von den Stätten der Verfolgung überzeugt, hatte den Unterdrückten Trost gespendet und Mut zugesprochen. Aus Pakistan hatte man sie wegen Agitation und der Förderung von Unruhen rausgeschmissen. In Äthiopien hatte man sie verhaftet, und es musste an mächtig vielen Fäden gezogen werden, um das Kind wieder freizukriegen, was sich dank des Status ihrer Familie in der Welt und ihrer fantastischen Verbindungen zu höchsten Stellen auch diskret hatte abwickeln lassen – »ein bisschen schmir hier, ein bisschen kwetsch da«, wie Maurice zufrieden berichtete. Als ihnen immer klarer wurde, dass Nechama auf eine Konversion zusteuerte, versuchte Norman ihr noch nahezubringen, dass sie dem christlichen Holocaust als Jüdin viel nützlicher sein konnte, dass ihr Judentum ein besonders effektvoller Aufhänger für die Medien war, dass er die Menschen bei ihrer Neugier packte – was tat ein nettes jüdisches Mädchen wie sie an einem solchen Platz? Das machte sie viel interessanter und, seien wir ehrlich, bizarrer, vor allem dank ihrer erkennbar jüdischen Identität und der Prominenz ihrer Familie in Holocaust-Kreisen, das konnte ihrem Anliegen noch mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit eintragen. »Außerdem«, fügte Norman gemächlich hinzu, »muss man nicht Christ sein, um den christlichen Holocaust zu mögen. Wenn ich am Wal-Holocaust dran bin, werde ich dafür zum Wal? Überleg dir’s noch mal, Nechamale, denk noch mal darüber nach.«