Inhaltsverzeichnis
Wem gehört Ostpreußen?
»Deutsches Land« oder »reaktionäres Junkerland«?
Polnisch, litauisch oder russisch?
Wo liegt Preußen? – »Brus«, die Prußen und die Ursprünge Preußens
Mit Feuer und Schwert?
Der Deutsche Orden in Preußen
Die Schlacht von 1410
Das protestantische Herzogtum
Die preußische Reformation und ihre europäische Bedeutung
Preußische Litauer und Masuren
»Sancta Warmia« – Heiliges Ermland
»Caressiret die Preussen«
Brandenburg-Hohenzollern und das widerspenstige Preußen
»Ännchen von Tharau« Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis
Leibeigenschaft, Gutsherrschaft und Tatarenkriege
Die Provinz macht den König – Die Krönung Friedrichs I. zu Königsberg 1701
Die Große Pest 1709 bis 1711
Preußische Toleranz, Fremde und die »Repeuplirung«
Von Schulen und Kirchen
»Ein schicklicher Platz« Ostpreußens geistesgeschichtliches Vermächtnis
»Unser Todesurteil« – Zwischen Niedergang und Hoffnung
Reformzeit und Reaktion – Ostpreußens Liberalismus
»... seien Bären und Wölfe zu Hause« Aufbruch in die Moderne
Provinz im Deutschen Reich
Ostpreußens neue Blüte
Die multiethnische Welt Ostpreußens
Der Anfang vom Ende Preußens: die Germanisierungspolitik
Kulturkampf im katholischen Ermland
»Als Nation dem Untergang geweiht«: die Kuren
Hindenburg, der Retter Ostpreußens – Eine deutsche Provinz als Kriegsschauplatz
Tannenberg
Ein Mythos und seine nationale Weihe
Abstimmungen und Memelfrage
Abgetrennt vom »Reich«
Politische Radikalisierung: das Lehrstück Ostpreußen
Unterm Hakenkreuz
»Hüter deutscher Ostmark«
Germanisierung bis zum bitteren Ende
Heimatverlust und Mord an den Juden
»Wir sind vogelfrei!« Terror und Widerstand
Kriegsalltag in trügerischer Ruhe
Verschwiegen und verdrängt: Konzentrationslager in Ostpreußen
Masssaker an der Küste des Samlands
»Der Exodus«
Ein Erbe – dreigeteilt – Ostpreußen in Rußland, Polen und Litauen
Kriegsbeute Königsberg
»Polnische Brüder«?
»Autochthone« im Memelland
»Land der dunklen Wälder«
Ostpreußisches Erbe in der Bundesrepublik
Ostpreußisches Erbe in der DDR
Plädoyer für eine Wiederentdeckung
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Personenregister
Ortsregister
Bildnachweis
Copyright
Wem gehört Ostpreußen?
»Deutsches Land« oder »reaktionäres Junkerland«?
Um Ostpreußen tobt seit 1945 so etwas wie ein Glaubenskrieg. »Propagandazentrum für Nationalismus, Faschismus und Revanchismus«, so polemisierte ein linkes Flugblatt 1987 gegen die Eröffnung des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg, denn im Westen Deutschlands hat man das Land nach 1945 in erster Linie wahrgenommen, wenn die Vertreter der Vertriebenenverbände sich zu Wort meldeten. Diese pflegten stets heftige Reaktionen der DDR, der Volksrepublik Polen und anderer Staaten des Warschauer Pakts auszulösen, denn ihre territorialen Ansprüche boten den kommunistischen Machthabern geradezu Steilvorlagen.
Während hinter dem Eisernen Vorhang alle gesellschaftlichen Gruppen Angst hatten vor der Rückkehr der Deutschen, war die Gesellschaft der Bundesrepublik in bezug auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete schon früh in zwei Lager gespalten. Wo der vermeintliche Feind saß, machte der SPD-Bundestagsabgeordnete und Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Reinhold Rehs, am 3. Juli 1966 in seiner Rede »Ostpreußens Wort zur Stunde« vor mehr als zweihunderttausend Ostpreußen in Düsseldorf deutlich: »Dazu gehört bei uns jene Gruppe verklemmter intellektueller Eiferer, die über die Heimatvertriebenen reden und schreiben wie über geistig Kranke oder politisch Asoziale... Übrig bleiben sollen... von der 750jährigen deutschen Geschichte Ostpreußens ein paar letzte Jahrzehnte; 12 Jahre deutscher Verstrickung in Irrtum und Verbrechen einer Diktatur.«1
Seitdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, nähern sich die Lager an, weil die jüngsten Entwicklungen und die neuere Forschung dazu führen, daß die extremen Positionen aufgegeben werden. Eine neue Generation blickt unbefangener auf das Land und seine Geschichte und ist mit ihren Fragen längst zum Kern der Dinge vorgestoßen: den deutsch-litauisch-polnischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Damals richtete sich auf Ostpreußen das Augenmerk deutscher, litauischer und polnischer Nationalisten. Während die deutschtumszentrierte Historiographie mit Hilfe abstruser Konstruktionen den »urdeutschen« Charakter der Provinz zu beweisen suchte, leitete die polnische Seite aus der ethnisch polnischsprachigen Dominanz in der Bevölkerung Masurens und des südlichen Ermlandes ihren Anspruch auf das südliche Ostpreußen als »urpolnisches Land« ab, und Litauens Forderung nach »Wiedervereinigung« mit dem großlitauischen Mutterland war auf Preußisch Litauen im Nordosten gerichtet.
Nationen produzieren kollektive Erinnerungen. Das historische und kulturelle Gedächtnis ist das Ergebnis kollektiver Identitätsprozesse. Ostpreußen ist dafür ein wunderbares Beispiel: Litauer und Polen haben ihr Deutschlandbild überwiegend aus Ereignissen gewonnen, die auf ostpreußischem Boden stattgefunden haben. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, daß Ostpreußen als kulturelle Schnittstelle in litauisch-baltische, polnische und russische Regionen hineinwirkte, andererseits ist diese Region wie keine andere Provinz des deutschen Sprachraums bestimmt gewesen von der ethnischen Eigenart der Bewohner.
Am Beispiel Ostpreußens läßt sich leider auch verfolgen, wie sehr das kollektive Gedächtnis der Nationen form- und fälschbar ist. Gegenspieler des Erinnerns ist das Vergessen, und das kann im Gedächtnis einer Gesellschaft ebenso beeinflußt werden wie das Erinnern.2 Betrachtet man das historische Gedächtnis der um Ostpreußen ringenden Nationen, muß man auf allen Seiten ein gezieltes Ausblenden konstatieren. Die kollektive Erinnerung wurde seit dem 19. Jahrhundert jeweils im Sinne der eigenen Nation gesteuert.
Die ideologische Manipulation der historischen Hintergründe hat den deutschen Blick auf Preußen verengt. Während in der vornationalen preußischen Historiographie auf die besonderen Verflechtungen Ostpreußens mit seinen Nachbarn hingewiesen wurde und der preußische Historiker Christoph Hartknoch (164-1687) in seinem Werk »Alt- und Neues Preußen« schrieb: »Es steht fest, daß das europäische Sarmatien die Polen, Litauer und Preußen wie eine gemeinsame Mutter ernährt«,3 bemühte man sich noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg, Ostpreußens nichtdeutschen Einfluß zu leugnen. In einer offiziellen Publikation der Landsmannschaft Ostpreußen war 1983 zu lesen: »Es handelte sich um keine Slawen, die hier wohnten, sondern um das Volk der heidnischen Prußen, das der baltischen Gruppe, einem Zweig der großen indoeuropäischen Sprach- und Völkergemeinschaft, zuzuordnen ist... Die prußische Bevölkerung wurde... weder vertrieben noch ausgerottet, sondern in die sehr allmählich geschaffene neue Volksschichtung eingebettet. Durch jahrhundertelange soziale Angleichung ist das altpreußische Volkstum blutsmäßig mit der deutschen Bevölkerung verschmolzen.«4 Noch 1990 verfielen Autoren in einen völlig unangebrachten Überschwang: »Es spricht für die Überlegenheit der deutschen Kolonisatoren, daß sie auch einer zahlenmäßig überlegenen fremdvölkischen Unterschicht den Stempel deutscher Kultur aufdrücken und sie in wenigen Jahrhunderten absorbieren konnten.«5
Ihren Anfang nahm diese deutschtumszentrierte Sichtweise mit Heinrich von Treitschkes Artikel über den Deutschen Orden, der bis in die nationalsozialistische Zeit und darüber hinaus das Bild des Ordens in Deutschland maßgeblich geprägt hat. Preußen sollte unter den europäischen Staaten nicht länger als Parvenu gelten, und dieses Ziel hoffte man zu erreichen, indem man seine Geschichte bis auf den Ordensstaat, eine deutsche Großmacht, zurückführte. Ostpreußen wurde zum »Bollwerk«. In der anarchischen Flut der slawischen Völker repräsentierten nach Treitschke der Ordensstaat wie das deutsche Volk schlechthin das Geordnete, Standhafte, aber auch das Wehrhafte. 6 Der neuralgische Punkt in dieser Geschichte war Tannenberg. Das zwischen 1927 und 1934 erbaute Tannenberg-Nationaldenkmal sollte zweifellos Hindenburgs Sieg in der Schlacht von 1914 verherrlichen, aber man verfolgte noch ein anderes Ziel: die Demonstration germanischer Überlegenheit. Ganz im Sinne der deutschen »Volkstums- und Grenzlandpolitik« sollte das Denkmal dem Slawen – und zwar Russen wie Polen – künden, daß der Niederlage des Ordens gegen ein polnisch-litauisches Heer an diesem Ort im Jahre 1410 der endgültige Sieg gefolgt war.
Die Verbindung von Germanen und Ordensrittern, die unhistorische Verknüpfung von Ereignissen des Mittelalters und der Vorgeschichte mit denen der Gegenwart war kennzeichnend für die Ideologie des »Volkstumskampfes« und fand auch in der Belletristik Verbreitung. Max Halbe etwa schrieb in seiner im »Dritten Reich« publizierten Autobiographie über die Ordenszeit: »›Wir wollen gen Ostland reiten!‹ Der deutsche Ritterorden war es, der zuerst diesen Fanfarenruf durch das Deutschland der späten Stauferzeit erklingen ließ. Jahrhundertelang sind ihm Bürger- und Bauernsöhne aus allen deutschen Gauen und Stämmen gefolgt … Jeder Deutsche hat die Fremde im Blut! (Leider auch meistens das Fremde!)... Nicht umsonst hat ein historischer Seher wie Treitschke die germanische Rückwanderung nach Osten und die Besitzergreifung, Wiederbesiedelung der weiten, fruchtbaren Lande zwischen Weichsel und Düna die größte Tat nicht nur unseres Mittelalters, sondern unserer ganzen Geschichte genannt.«7
Erich Maschke, einer der Protagonisten der deutschen »Ostforschung« während des »Dritten Reiches«, hat in der Nachfolge von Treitschke im Deutschen Orden ein Symbol, eine mythische Verklärung des Führerprinzips gesehen, das zu neuer Größe heranwuchs: »Als Vorbild, als Symbol eines bleibend lebendigen Inhaltes steht die Erscheinung des Deutschen Ordens und seines preußischen Staates heute vor uns. Nichts in der Geschichte wiederholt sich; nichts kann kopiert werden. Aber was in unserer Zeit nach Gestaltung drängt, ist dem Wesen und Werk jenes Ordens der Deutschen im Tiefsten verwandt. Wieder sind Soldat und Staatsmann eins. Wieder wachsen Staat und Volk aus dem Werke der Gemeinschaft. Wieder herrscht die Idee des Ordens, wenn es gilt, in strengster Auslese und höchster Bindung dem deutschen Staate... das Leben und die Größe des Volkes für alle Zukunft zu sichern. Diesem politischen Willen unserer Zeit bietet sich nur ein geschichtliches Symbol: der Deutsche Orden.«8
Symbole, die bereits Jahrhunderte überdauert haben, sind besonders wirkungsmächtig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die ideologisierte Ordensgeschichte das Geschichtsbild mehrerer Generationen bestimmt hat. Der damit verbundene Nationalitätenkampf hat Tod und Verderben über die Völker Europas gebracht. Die Staaten des Warschauer Pakts haben nach 1945 die Schuld dafür der Bundesrepublik Deutschland aufgebürdet. Auch die DDR schwenkte als Bündnispartner des östlichen Paktes ideologisch auf diesen Kurs ein. Walter Ulbricht erklärte bereits im Sommer 1945 den Bewohnern der Sowjetzone: »So schmerzlich es ist, so können wir es doch den anderen Völkern nicht verdenken, daß sie sich jetzt Sicherheiten verschaffen, nachdem unser Volk nicht imstande war, im eigenen Land die notwendigen Sicherheiten gegen die Kräfte des preußischen Militarismus und gegen die reaktionären Vertreter des ›Dranges nach Osten‹ zu treffen.«9 Ulbricht rechtfertigte das Vorgehen der Sieger beziehungsweise Befreier mit dem Argument, es müsse vermieden werden, daß der deutsche Nationalismus wieder außer Kontrolle gerate. Er rief seine Landsleute auf, Verständnis aufzubringen für die Zerschlagung Preußens und die Oder-Neiße-Grenze, die 1950 im Görlitzer Vertrag von der DDR anerkannt wurde oder anerkannt werden mußte.
Die Lehrpläne der DDR folgten fortan den ideologischen Vorgaben Moskaus, die in puncto Ostpreußen dem polnischen Standpunkt sehr nahe kamen. Paul Wandel, Volksbildungsminister in der frühen DDR, sah 1952 in der Legitimierung der Oder-Neiße-Grenze lediglich eine Wiederherstellung des Status quo ante, da die verlorenen Ostgebiete erst »unter der Herrschaft der brandenburgischen Kurfürsten, unter Friedrich II. und seinen Nachfolgern im 18. und 19. Jahrhundert dem preußischen Staat als Eroberungen polnischer und anderer slawischer Gebiete eingegliedert worden« seien. Die übrigen Territorien dagegen seien ursprünglich von Slawen besiedelt gewesen und durch die »feudalen Eroberer« germanisiert worden. Damit schloß sich Wandel weitgehend der These polnischer und sowjetischer Historiker an, wonach die Westverschiebung Polens gewissermaßen die historisch-moralische Wiedergutmachung für den verbrecherischen deutschen »Drang nach Osten« darstellte.
Polnisch, litauisch oder russisch?
Tannenberg – das polnische Grunwald und litauische Žalgiris – steht für den polnisch-litauischen Triumph über den Deutschen Orden 1410, Ostpreußen insgesamt hingegen für den räuberischen Kreuzritterorden. Später repräsentierte es den Junkerstaat und wurde schließlich zum Synonym für den preußischen Militarismus schlechthin. In Polen und Litauen zog man – ebenso wie im Deutschen Reich – eine direkte Linie vom Mittelalter bis zur Gegenwart und kam zu dem Ergebnis, daß der den Slawen wie Balten feindlich gesinnte »Kreuzritter« fester Bestandteil des deutschen Volkscharakters sei.
Die hohen Auflagen der Kreuzritterromane von Henryk Sienkiewicz und Józef Ignacy Kraszewski im Nachkriegspolen, die Feiern zum 550. Jahrestag der Schlacht von Grunwald, zahlreiche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und nicht zuletzt die Kreuzritterfilme sprechen dafür, daß die »Ideologie des Kreuzrittertums« den nationalen Ressentiments der polnischen Bevölkerung entgegenkam. Parallelen zwischen der Niederlage des Ordens bei Tannenberg 1410 und dem Untergang des »Dritten Reiches« 1945 schienen sich geradezu aufzudrängen. Daß ein großer Teil der preußischen Ostgebiete ursprünglich von Slawen besiedelt, durch die »feudalen Eroberer« germanisiert und diese Fremdherrschaft nach Jahrhunderten durch die Oder-Neiße-Grenze beseitigt worden sei, in diesem Punkt waren sich sogar kommunistische Ideologen und katholisch-oppositionelle Kreise einig.
Das ursprünglich von polnischen Nationalisten des rechten Spektrums entwickelte Schlagwort vom »Drang nach Osten« fand Eingang in die marxistische Geschichtsschreibung. Es lieferte eine – wenn auch irrationale – Erklärung für komplexe Phänomene und trug zur Pflege des liebgewordenen Feindbildes bei. Das zeigte sich noch, als der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Edward Gierek, im Juni 1976 die Bundesrepublik Deutschland besuchte und in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« äußerte: »Die tausend Jahre währende Nachbarschaft war nicht immer gut. Im Laufe der Jahrhunderte waren wir dem Drang nach Osten Ihrerseits ausgesetzt, waren wir das Objekt der deutschen Expansion. Dieser Drang offenbarte sich nicht im Kulturbereich, obwohl es auch solche Perioden in der Geschichte der Beziehungen unserer Völker gab. Leider war es anders. Dieser Drang hatte das Hauptziel, uns Polen von dem Boden unserer Väter zu verdrängen.«10
Seit 1945 haben die Polen die Jahrestage des Sieges von 1410 auf dem Schlachtfeld von Grunwald begangen. 11 An diesem historischen Ort verwahrte man eine Metallurne mit der Erde von 130 Schlachtfeldern, auf denen zwischen 963 und 1945 Polen gegen Deutsche gestanden haben. Die mit den Sowj ets kämpfende kommunistische polnische »Volksarmee« (Armia Ludowa) ist am Grunwaldtag, am 15. Juli 1943, in der Sowjetunion vereidigt worden. Drei Monate später erhielt sie in der Schlacht bei Lenino ihre Feuertaufe. Zehn Jahre danach verschmolzen die Schlachten von 1410 und 1943 in einem neuen Denkmal. Zum 550. Jahrestag des Sieges entstand in Grunwald eine ganze Denkmallandschaft, in deren Zentrum ein Obelisk mit zwei Ritterantlitzen aufragt. Diese richten den Blick drohend gen Westen, wo die »revanchistische« Bundesrepublik Deutschland lag, die die Oder-Neiße-Linie nicht als polnische Grenze anerkennen wollte.
Die Eingliederung des »urpolnischen« Ostpreußens wie aller preußischen Ostprovinzen 1945 feierte Polen als »Rückkehr« nach »700jährigem preußischen Joch«. Überall stößt man bis heute auf diese Auffassung. In das monumentale Denkmal vor dem Rathaus von Bischofsburg wurde nach 1945 eingemeißelt: »Myśmy tu nie przyszli, myśmy tu wrócili« (Wir sind hier nicht angekommen, sondern zurückgekommen). In einer polnischen Publikation aus dem Jahr 1958 ist zu lesen: »1944-45 wurden Ermland und Masuren befreit. Die Erde, um die Bażyński, Kalkstein, Kętrzyński und Pieniężny und viele ungenannte Aktivisten kämpften, kehrte zum Mutterland Polen zurück.«12 Und auf der Internetseite der Stadt Rhein (Ryn) in Masuren wird verkündet: »Ryn do Polski prowrócił w 1945 roku« (Rhein ist 1945 nach Polen zurückgekehrt).
Eines der Forschungsinstitute, die den polnischen Charakter der Region wissenschaftlich belegen sollten, war das für die südöstliche Ostseeregion zuständige Wojciech-Kętrzyński-Institut im ermländischen Allenstein. Wojciech Kętrzyński, ehemals Adalbert von Winkler, nahm als ostpreußischer Mediävist bewußt einen nationalen Identitätswechsel vor und reklamierte fortan als Pole den historischen Anspruch Polens auf Ostpreußen. In seiner Schrift »O Mazurach« (Über die Masuren) verankerte er 1872 erstmals Ostpreußen im polnischen nationalen Gedächtnis als »urpolnisch«. Begründet wurde der polnische Anspruch auf Ostpreußen mit der Polnischsprachigkeit der Ermländer und Masuren, obwohl die nationalen polnischen Minderheitenvereine in den »urpolnischen« Regionen Ermland und Masuren lediglich Splittergruppen waren. Allein das Abstimmungsergebnis von 1920, als mehr als 99 Prozent der Masuren für den Verbleib bei Ostpreußen votierten, führte die Propaganda der polnischen Nationalisten von den »unerlösten polnischen Brüdern« ad absurdum. So schmerzlich das für Polens Nationalisten sein mag: Auch 1945 wartete in Ostpreußen niemand auf die »Heimkehr« nach Polen.
Litauen begann einst, wo Preußen endete: an den Ufern des Nemunas, den die Deutschen Memel und die Russen Njemen nennen. Diesem Strom, der in seinem letzten Stück zusammen mit dem Kurischen Haff, in das er mündet, die südliche und westliche Landschaft des heutigen Litauen prägt, fühlen sich die Litauer eng verbunden. Nach ihrer Überlieferung hat der Nemunas dem Eroberungsdrang der Ordensritter Einhalt geboten, weshalb er zum Schicksalsstrom Litauens wurde und entsprechend häufig in der litauischen Volkspoesie erwähnt wie in Liedern besungen wird.13
Ganz zweifellos gehört die Schlacht bei Tannenberg am 15. Juli 1410 zu den historischen Ereignissen, die bis heute für Europa eine wichtige politische und kulturelle Rolle spielen, denn an diesem Tag hat ein polnisch-litauisches Heer mit dem Sieg über die Ordensritter die Machtverhältnisse in diesem Teil des Kontinents grundlegend verändert. Für die Sieger hatte der Entscheidungskampf identitätsstiftenden Charakter. In Litauen wird allerdings nicht wie in Polen König Jagiełło (litauisch Jogaila), sondern sein Vetter, der litauische Großfürst Vytautas (polnisch Witold), als Sieger und Held der Nation gefeiert, und man spricht von der Schlacht bei Žalgiris, wobei es sich um eine Übersetzung des polnischen Namens Grunwald handelt, eine Abwandlung von Grunenvelt, also Grünfelde.
Vytautas dem Großen setzten die Litauer 1932 ein Denkmal vor der Militärakademie im litauischen Kaunas. Zu seinen Füßen lagen ein Deutschordensritter mit zerbrochenem Schwert, aber auch ein Russe, ein Pole und ein Tatar, die sich ihm unzweideutig unterwarfen. Das im Krieg zerstörte Denkmal wurde im März 1990 wieder aufgestellt, diesmal an der Laisvės alėja, der Freiheitsallee im Zentrum von Kaunas. Seither diskutieren die Litauer über die Anlage eines Ehrenhains für den »Helden von Žalgiris«.
Anders als in Polen herrscht in Litauen Nachholbedarf in puncto identitätsstiftender nationaler Symbolik, denn während der sowjetischen Ära sind Litauens Denkmäler nationalen Inhalts geschleift worden, und 1980 hat das KGB sogar Feiern zum 550. Todestag des Vytautas untersagt. Um diesen Bedarf zu befriedigen, begingen der litauische Präsident Valdas Adamkus und sein polnischer Kollege Aleksander Kwaśniewski den Tag des polnisch-litauischen Sieges von 1410 im Jahr 2000 gemeinsam, und die beiden Verteidigungsminister unterzeichneten eine Absichtserklärung für eine gemeinsame NATO-Eingreiftruppe. Schon 1999 war das bekannte Gemälde Jan Matejkos, das auf vierzig Quadratmetern die Schlacht von Grunwald (»Bitwa pod Grunwaldem«) darstellt, als Leihgabe des Warschauer Nationalmuseums nach Wilna gelangt: Zweihunderttausend Ausstellungsbesucher bezeugen, daß Großfürst Vytautas, der Sieger über den Deutschen Orden, der große Held der litauischen Nation ist.
Das nach 1918 neu entstandene Litauen hat historische Ansprüche auf das nördliche Ostpreußen erhoben, die weit über das eigentliche litauischsprachige Gebiet Preußisch Litauens hinausreichten und auch Königsberg einbezogen. Das ist zurückzuführen auf die vielfältigen und engen kulturellen Bezüge Litauens zu Ostpreußen, wie die Situation in Russisch-Litauen zwischen 1864 und 1904 zeigt. Der russische Generalgouverneur von Wilna hatte nach der blutigen Niederschlagung des Januaraufstandes von 1863 ein Druckverbot für litauische Schriften in lateinischen Lettern erlassen und auch die Einfuhr solcher Schriften untersagt. Bis heute lastet die Erinnerung daran auf Litauen, denn das Verbot wurde verhängt gegen die erste zaghafte, aus der Idee der nationalen Wiedergeburt erwachsende Blüte der modernen litauischen Literatur. Da erwies es sich als Segen, daß in Ostpreußen seit Jahrhunderten die lithuanistische Tradition gepflegt wurde und ostpreußische Druckereien darin geübt waren, litauische Bücher herzustellen. Diese wurden nun illegal bei Nacht und Nebel nach Russisch-Litauen gebracht und dort unter Lebensgefahr verbreitet. Daß der in Ostpreußen gesprochene litauische Dialekt zur litauischen Hochsprache wurde, lag an den sprachlichen und kulturellen Traditionen, die mit der Gründung der Universität Königsberg entstanden. Diese sind ein wesentlicher Bestandteil des litauischen Nationalbewußtseins. Ostpreußens preußische Litauer und ihre Kultur erlebten seit dem 18. Jahrhundert jedoch einen steten Niedergang. Für das kleine Volk war der Verlust der ethnischen Eigenart eine Katastrophe, auch wenn diese in einem kulturhistorisch so bedeutsamen Land wie Ostpreußen aufging. In dem Essay »Auf der Suche nach Deutschland« schildert die litauische Schriftstellerin Nerija Putinaitė, was die Litauer an der deutschen Kultur schätzten, die immer ganz besonders mit Ostpreußen verbunden sein wird:
»Mythen, die dazu einladen, Deutschland zu suchen. Deutschland ist für uns das Land der gerechten Helden, die die Eigenart Litauens erkennen und zu schätzen wissen: Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder, Karl Friedrich Lessing, Johann Wolfgang Goethe, Georg Sauerwein, Eduard Gisevius und natürlich, an herausragender Stelle, Immanuel Kant. Sie alle nehmen einen Ehrenplatz auf dem Altar der litauischen Mythen von Deutschland ein. Sie alle haben sich nicht nur mit der litauischen Sprache und Kultur beschäftigt, sondern sie auch in Schutz genommen. Lessing etwa zeigte sich beeindruckt von der ›faszinierenden Einfachheit‹ der litauischen Volkslieder. Herder schloss in seiner Liedersammlung acht litauische Volkslieder mit ein, Hamann interessierte sich unter anderem für die mündliche Überlieferung. Ganz zu schweigen von Gisevius und Sauerwein, die sich mit Leib und Seele dem Litauertum verschrieben hatten.
Unser großes Idol Kant verfasste seine ›Nachschrift eines Freundes‹ zu dem 1800 von Mielke herausgegebenen litauisch-deutschen und deutsch-litauischen Wörterbuch. Dieser Text gilt noch vor seinen philosophischen, ethischen und politischen Überlegungen als Kants größter Beitrag zur litauischen Kultur und erhob ihren Verfasser in den Rang einer Ikone des litauischen kulturellen und philosophischen Lebens, Kant selber bekam das Werk, an dem er bis kurz vor seinem Tod arbeitete, gar nicht mehr zu sehen. Die preußischen Litauer seien es wert, dass die Reinheit ihrer Sprache erhalten bliebe – Kant selbst wird sich der lang anhaltenden Wirkung seiner Worte wohl kaum bewusst gewesen sein. Er konnte nicht ahnen, dass dieser Tropfen im Ozean der deutschen Kultur solch gewaltige Auswirkungen auf das litauische Selbstverständnis haben könnte und zu einem Grundpfeiler des litauischen Heldenmythos von Deutschland werden würde.« 14
Auf einem Triumphbogen in Memel, der zum achtzigsten Jahrestag der »Heimkehr« des Memellandes nach Litauen 2003 feierlich eingeweiht wurde, steht: »Wir sind ein Volk, ein Land, ein Litauen«. Die Worte stammen von Ieva Simonaitytė (1897-1978), einer Memelländerin, die zwischen den Weltkriegen zu dem kleinen Häuflein der prolitauischen Protagonisten zählte. Insbesondere die in den USA und Kanada lebenden Exillitauer bezeichnen den litauischen Einmarsch von 1923 bis heute als »Rückgewinnung«, den deutschen von 1939 aber als Annexion. Auf dem alten Memeler Stadtfriedhof steht seit 1977 ein Denkmal, das die »nationale Wiedervereinigung« symbolisiert und an die litauischen »Aufständischen« von 1923 erinnert. Es wurde aus einem deutschen Grenzpfahl der Kaiserzeit gefertigt, der einst bei Nimmersatt stand. Daß 1939 von hundertfünfzigtausend Memelländern nur 585 für Litauen optierten, will man bis heute nicht hören. Die zahlreichen litauischen Verstöße gegen das Memelstatut haben die Memelländer jedoch deutscher gemacht, als sie jemals waren. Letztlich scheiterte Litauen im Memelland – wie Polen in Masuren und Ermland – mit seinem nationalen Anspruch, der regionale Eigenarten mißachtete. Daß Litauisch die Muttersprache vieler Ostpreußen war, bedeutete nämlich nicht, daß sie auch ein prolitauisches nationales Bewußtsein hatten, vielmehr war die ostpreußische Vielsprachigkeit zurückzuführen auf die jahrhundertelang geübte Toleranz.
Für die Litauer ist Preußens Geschichte in Ostpreußen indes nur Episode und Preußen stets als Teil des vom Deutschen Orden annektierten Großlitauen betrachtet worden. Die Ultranationalisten Litauens beziehen sich in ihren Forderungen bis heute auf das Großlitauische Reich des Mindaugas, der sich am 6. Juli 1253 in Wilna selbst krönte, nachdem er die Oberherrschaft über mehrere baltische Stämme erlangt hatte. Das Memelland mit der nördlichen Kurischen Nehrung wurde 1945 Teil der Litauischen Sowjetrepublik und 1991 Teil der demokratischen Republik Litauen. Man kann sagen zum Glück, denn die Litauer sind behutsam mit dem preußisch-litauischen Erbe umgegangen.
Mit der Unabhängigkeit von 1991 hat das freie Litauen einen Teil Ostpreußens erhalten und sich mit der Bestätigung der Grenzen verspätet unter die Siegermächte eingereiht. Die Nachfahren der Exillitauer pflegen das Erbe Preußisch Litauens und haben mit ihren Spenden an litauische und insbesondere kleinlitauische Organisationen schon viel zur Erforschung der litauischen Kultur in Ostpreußen beigetragen. So erschien im Jahr 2000 der erste Band der kleinlitauische Enzyklopädie »Mažosios Lietuvos Enciklopedija«. Die Forderung an Rußland, einen Teil der Kaliningrader Oblast an Litauen abzutreten, erheben sie indes noch immer von Zeit zu Zeit. Zuletzt löste Anfang der 1990er Jahre der litauische Botschafter in den USA, Stasys Lozoraitis, damit internationale Besorgnis aus.
Wie jüngst aufgefundene Dokumente zeigen, waren solche Forderungen auch den leitenden Funktionären der Litauischen Sowjetrepublik nicht fremd. Nationale Politik, selbst wenn sie sich nur in Forderungen zeigte, wurde während der Ära der Sowjetunion durchaus betrieben, und zwar nicht nur von den Staaten an der Peripherie, sondern auch von einigen Sowjetrepubliken.15 Der Mythos von Žalgiris lebte in der Sowjetära auf, da die politisch abhängigen Litauer in dieser Zeit ihre einzigartige ethnische und religiöse Identität pflegten und sich dabei weit mehr von Wunschvorstellungen als von Realitäten leiten ließen. Die Sehnsucht, Stärke und Halt in der eigenen heldenhaften Vergangenheit zu finden, kreiste um den Kampf gegen die Kreuzritter, die jetzt wieder für das übermächtige Rußland standen. Was in der Vergangenheit gelungen war, mußte doch auch in der Zukunft möglich sein. Historische Genauigkeit war da fehl am Platze, denn sie hätte solche Träume zerplatzen lassen.
Im litauischen Kampf mit dem Deutschen Orden spielte auch der litauisch-polnische Gegensatz eine Rolle, der, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die litauische Historiographie dominiert. In der litauischen Geschichte des 13. bis 15. Jahrhunderts spielen die Beziehungen zum Deutschen Orden nur eine Nebenrolle. In der Skala der moralischen Werte stand der Deutsche Orden immer höher als das polnische Königreich. An der Schlacht von Tannenberg im Jahr 1410, die in der polnischen Geschichtsschreibung traditionell mit starken antideutschen Ressentiments beladen ist, interessiert die Litauer im Grunde nur eines: Wer spielte in der Schlacht die größere Rolle – Polen oder Litauer?
Der nichtlitauische Teil der Sowjetunion in der Kaliningrader Oblast, das nördliche Ostpreußen, das direkt zur Russischen Sowjetrepublik gehörte, machte es sich mit dem Neuanfang 1945 besonders leicht. Hier sah man sich in keiner historischen Kontinuität und betrachtete den nördlichen Teil Ostpreußens schlicht als Kriegsbeute. Die Übernahme durch die Sowjetunion bedeutete zugleich Schlußstrich und Neubeginn aus dem Nichts. Aber auch das Nichts hatte eine Vergangenheit.
Während sich in Litauen und Polen nach 1991 zahllose regionale Initiativen wie befreit vom ideologischen Ballast der Vergangenheit des Themas Ostpreußen annahmen, scheint die Entwicklung im Königsberger Gebiet anders zu verlaufen. Auch in Kaliningrad erlebte Königsberg eine bemerkenswerte Renaissance. Der sozialistischen Betonmonotonie wurden Mosaiksteinchen des alten Königsberg entrissen, liebevoll, ja zärtlich bemühte man sich in der gesamten Oblast um die Spuren einer völlig verdrängten Vergangenheit. Das ist noch immer so, doch wird es offiziell zunehmend weniger gern gesehen. Vielmehr werden großrussische historische Bezüge herausgestellt, die an die Rolle der Russen in der Geschichte Ostpreußens anknüpfen sollen.
Die offiziellen Stellen bemühen sich, in einer komplexer werdenden Welt des politischen Wandels krampfhaft um eine regionale Identität, die das Königsberger Gebiet in einen rußländischen Kontext stellt. In Königsberg wächst eine fünfkuppelige orthodoxe »Erlöserkathedrale« empor zur zweitgrößten Kirche Rußlands – ein Zeichen russischen Territorialanspruchs. An der Nordseite des Pillauer Militärhafens krönt eine überdimensionierte Reiterstatue der Zarin Elisabeth Petrowna eine stilisierte »Elisabethanische Festung«. Das Denkmal sei Teil eines Kulturprogramms für das Gebiet Kaliningrad, welches die Region als europäischen Kulturraum und gleichzeitig als traditionell russisches Gebiet aufwerten soll, erklärte der russische Kulturminister Schwydkoi.16 Während des Siebenjährigen Krieges haben die russischen Truppen der Zarin die preußische Ostseefestung Pillau erobert und Königsberg kurzzeitig besetzt. Beide Bauten sollen nun von der »jahrhundertealten Bindung« der Gegend an Rußland künden.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging auch die deutsche Geschichte Ostpreußens zu Ende. Was dort deutsch gewesen war, verschwand und versank. Nur die Vertriebenen schienen die Erinnerung an das Untergegangene zu bewahren. Aber mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erwies sich das als Irrtum.Längst hatten die russischen Bewohner der »Oblast Kaliningrad«damit begonnen, nach der Vergangenheit ihrer neuen Heimat zu fragen. Hobbyarchäologen und Historiker förderten versunkene Zeugnisse der deutschen Vergangenheit zutage wie diese Porzellanscherben, die Isaak Rutman in Tilsitsammelte und geduldig wieder zu Tassen zusammensetzte. Solche Spurensuche wird von offizieller Seite zunehmend wenigergern gesehen, vielmehr wünscht man großrussische historischeBezüge herzustellen, die die russische Politik und das Festhalten an diesem Gebiet rechtfertigen sollen.
Zum Jubiläum der Stadt Königsberg hat der Kreml eine historisch fragwürdige Sondermünze »750 Jahre Kaliningrad« prägen lassen, und er bestand darauf, die Feierlichkeiten am 4. Juli 2005 abzuhalten, dem Jahrestag der Umbenennung der ostpreußischen Hauptstadt 1946 in »Kaliningrad«.17 Der deutsche Name der Stadt durfte bei den offiziellen Veranstaltungen nicht genannt werden. Das mutet geradezu absurd an, nachdem große Städte Rußlands wie St. Petersburg, Twer, Nishnij Nowgorod und Ekaterinburg ihre historischen Namen wiedererhalten haben. In Königsberg hält man dagegen an den grotesken Bezeichnungen aus der Sowjetära fest: »Es hat den Anschein, als wären es Klangkörper in einem akustischen Reservat des bedrohten Sowjetjargons oder aber Exponate in einem Freilichtmuseum der untergegangenen Sowjetunion, die in ihrer Authentizität selbst Belarus oder Transnistrien in den Schatten stellen.«18
Ob den Bewohnern des nördlichen Ostpreußen in einer schwierigen Zeit des Umbruchs Namen wie »Sowjetstadt« (Sowjetsk), »Bannerstadt« (Znamensk) und »Rotbannerstadt« (Krasnoznamensk) zu neuer Identität verhelfen, sei dahingestellt. Königsbergs Benennung nach Stalins engstem Weggefährten Michail Iwanowitsch Kalinin (1875-1946), mehrere Jahrzehnte formales Staatsoberhaupt der Sowjetunion, ist auf jeden Fall eine Provokation. Während sich der litauische und polnische Teil Ostpreußens dynamisch verändert, wobei die Rückbesinnung auf gemeinsame historische Wurzeln hilft, ist mit Kalinin kein Staat zu machen. Daß zum sechzigsten Jubiläum von Kaliningrad Rufe nach einem Stalin-Denkmal als Dank an den Gründer der Stadt ertönen, läßt den Wunsch nach einer unzensierten Neuentdeckung der Kulturlandschaft Ostpreußen wachsen.
Wo liegt Preußen?
»Brus«, die Prußen und die Ursprünge Preußens
»Die alte preußische Geschichte ist sagenumwobener als die meisten sagenreichen Urgeschichten. Im Anklang an die gotische Einwanderung von Norden her werden die Brüder König Widewuto und Oberpriester oder Kriwe Pruteno als die ersten Führer bezeichnet, die von Gotland her übers Frische Haff auf Flößen ankamen und in Glück und Segen ihr Volk beherrschten. Sie haben ein Lebensjahrhundert überschritten, als sie bei einer Volksversammlung eichenlaubgeschmückt den Scheiterhaufen an der heiligen Eiche von Romowe besteigen. Brüderlich vereint, nach Ermahnungen ans Volk, ein Loblied den Göttern singend, scheiden sie unter Blitz und Donner im Feuer ab, nachdem die 12 Söhne Widewuts die 12 Gaue in Besitz genommen hatten. Damit soll wohl die glückliche Zeit vor der Zersplitterung in Gaue … angedeutet werden.«1
Diese wunderbare Geschichte von den Prußen und ihrem sagenhaften König Waidewuth, die jedoch keinesfalls gesichert ist, hat der Volkskundler Franz Tetzner aufgeschrieben. Preußens Ursprünge sind von Mythen umrankt. Diese Zeit vor der Landnahme durch den Deutschen Orden im Jahr 1225 ist für den Historiker zumeist in wenigen Sätzen abgehandelt. Erst danach läßt sich am südöstlichen Ostseerand das Geschehene anhand historischer Quellen rekonstruieren. Damit tritt Preußen in den abendländischen Kulturkreis ein.
Ist Ostpreußen das Land der Prußen, Litauer, Polen, Russen oder Deutschen? Kaum waren die Geister des Nationalismus erwacht, erhoben die Nationen Ansprüche auf die Region zwischen Weichsel und Memel. Darüber gerieten die ursprünglichen Bewohner, die Prußen, beinahe in Vergessenheit. Deutsche und polnische, zum Teil auch litauische Wissenschaftler lieferten sich erbitterte Kontroversen und ließen die Geschichte dieses Landes willkürlich dort beginnen, wo es in die eigene ideologische Konzeption paßte. Es ist dem Historiker Hartmut Boockmann beizupflichten, der die Geschichte Ostpreußens mit den Prußen beginnen läßt, weil die »Kontinuität des Wissens der Landesbewohner von ihrer eigenen Vergangenheit jahrhundertelang nicht hinter die Prußen zurückreichte«.2 Es ist nicht leicht, sich den alten Preußen, den Prußen, objektiv zu nähern, weil das wenige, was von ihnen überliefert ist, oft bis zur Unkenntlichkeit im nationalen Sinne manipuliert ist.
Der Name Ostpreußen geht auf die Prußen zurück, die hier einst lebten. Die Ursprünge Preußens, das gemeinhin für preußisch-deutschen Untertanengeist steht, könnten kaum nichtdeutscher sein, denn die Prußen zählten zu den baltischen Völkern. Sie sind bereits – wenn auch schwerlich konkret geographisch nachweisbar – bei Tacitus und Ptolemäus bezeugt. Bekanntheit über die Region hinaus erlangten sie durch ihren größten Reichtum: den Bernstein. Dieses »ostpreußische Gold«, weltweit nur in Ostpreußen im Tagebau gefördert, gelangte über die Bernsteinstraße in den Mittelmeerraum, wo es reißenden Absatz fand. Die Geschichte des Bernsteins – im Prußischen heißt Bernstein gintar, im Litauischen gintaras, im Polnischen bursztyn und im Russischen jantar – beginnt mit einer schönen Sage aus der griechischen Götterwelt: »Phaeton, der Sohn des Helios, hatte sich von seinem zunächst widerstrebenden Vater die Erlaubnis erwirkt, auch einmal die feurigen Rosse des Sonnenwagens lenken zu dürfen. Seine Kraft erwies sich aber als zu schwach; der Wagen kam aus seiner Bahn und steckte Himmel und Erde in Brand. Vom Blitz des erzürnten Jupiter getroffen, stürzte Phaeton in die Fluten des Eridanos. Tiefe Trauer um Phaeton erfüllte seine Schwestern, ›die Heliaden‹, die das Mitleid der Götter zu Pappeln an den Ufern des Flusses verwandelte; aber noch in dieser Gestalt weinten sie Tränen, die sich zu dem ›Electron‹ verhärteten.«3
Man gewann den Bernstein im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise: durch Schöpfen, Stechen und Baggern, aber auch durch die Bernsteingräberei. Das staatliche Bernsteinregal garantierte später dem Orden und den preußischen Folgestaaten sichere Einkünfte. Verstöße wurden streng geahndet. Im Samland stand für lange Zeit auf unberechtigtes Bernsteinlesen die Todesstrafe.
Bevor der Orden seine Herrschaft im Land der Prußen aufrichtete, hatte man westlich der Elbe nur vage Vorstellungen von dieser Region. Als erster erwähnte der sogenannte Bayerische Geograph das Volk der Prußen (Bruzi), der ihnen das gesamte Land zwischen Weichsel und Memel als Siedlungsgebiet zuschrieb.4 Das war Mitte des 9. Jahrhunderts. Ein weiterer Hinweis stammt aus einem Bericht des jüdischen Reisenden Ibrahim ibn Ja’qub, der während der Regentschaft Kaiser Ottos I. im Jahre 965 oder 966 nach Magdeburg gelangte und dort über die – von ihm selbst aber nicht bereisten – östlicher gelegenen Regionen »Brus« berichtete.
Die Bernsteingewinnung an der Küste des Samlands hatte eine lange Tradition und reichte bis in die prußische Zeit zurück. Dieser frühneuzeitliche Holzschnitt eines unbekanntenKünstlers von 1662 zeigt Bernsteinfischer bei ihrer mühsamenArbeit. Das Gold der Ostsee war über Jahrtausende ein Exportschlager. Es gelangte bereits in der Antike in den Mittelmeerraum,wo eine griechische Sage von seiner Entstehung erzählte. Der auf der Kurischen Nehrung geborene preußischeBaltist Ludwig Rhesa griff diese Sage in seinem »Lied der Bernsteinfischer« auf:
Weise sagen: Heliaden
Weinten einst im goldnen Hain
Um den Bruder an Gestaden,
Und die Träne ward zu Stein.
Unklar ist die Bedeutung des Wortes Preußen (Prußen, Prusai). Einiger Forscher schließen auf einen Beinamen (prausti – waschen, prusna – Maul) oder eine Tätigkeitsbezeichnung (Pferdezüchter, im Kaschubischen bedeutet prus Hengst). Von den einzelnen prußischen Stammesnamen, die gleichzeitig als Territorialbezeichnungen dienten, seien erwähnt: Pomesanien (von Pamedian – »Vorwaldland«) und Pogesanien (Pagudian – »mit Pflanzen bewachsenes Land«). Das benachbarte Ermland (Warmien) könnte seinen Namen von dem Begriff warmai (Hummel – für diese Annahme spricht aber nicht viel) oder vom Adjektiv wormyan, wurman (rot in der Bedeutung »rotes Land«) herleiten.5
Erste Berichte über direkte Kontakte mit den Prußen stammen aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende. Im Zuge der Missionspolitik Kaiser Ottos III. richtete sich damals das Augenmerk der Christen zunehmend auf die östlich des Reiches gelegenen Gebiete. Missionsreisen waren also durchaus keine Unternehmungen religiöser Einzelgänger, sondern standen im Kontext der päpstlichen und königlichen Politik. Die Missionierung der Prußen ist mit dem Namen Adalbert von Prag (tschechisch Vojtěch, polnisch Wojciech, ungarisch Béla) verbunden. Der aus altböhmischem Adel stammende Bischof von Prag konnte schon auf die erfolgreiche Missionierung der Ungarn zurückblicken, als er im Jahre 996 auf Kaiser Otto III. traf. Mit dessen Unterstützung begab er sich in das Land der Prußen, wo er 997 den Märtyrertod starb. Ludwig von Baczko, der Chronist Preußens, hat dazu 1792 in seiner »Geschichte Preußens« geschrieben:
»Dies war... Adalberts Schicksal. Er ging in Begleitung seines Bruders Gaudentius und Benedicts, eines Mönches, von Danzig über das frische Haff, entließ seine polnischen Begleiter, wurde anfänglich von den gastfreyen Preußen liebreich aufgenommen, nachher verjagt, und aus unangezeigten Gründen, wahrscheinlich wegen eines unerwarteten Unglücksfalls, holten ihn die Preußen aus einem Orte, den er früh verlassen, Nachmittags ein, banden ihn, und ein Siggo, oder Pfaffe, durchbohrte ihn mit einem Spieße. Als Tag seines Todes wird der 24. [sic!] April 997 angegeben. Der Ort bleibt unsicher. Nach Ankunft des Ordens wurde St. Albrecht bey Tenkitten, ohnweit Fischhausen, zwischen der Ostsee und dem frischen Haffe gelegen, als die Stelle angegeben, wo Adalbert den Märtyrertod litt.«6
Der polnische König Bolesław I. Chrobry sorgte unverzüglich für die Überführung des Leichnams nach Gnesen. Dorthin reiste Kaiser Otto III. im Jahr 1000, um an der Beisetzung Adalberts teilzunehmen. Schon bald erfolgte dessen Kanonisierung. Adalbert stieg zum polnischen Nationalheiligen auf. Diese Verehrung stärkte Gnesens Bedeutung als erstes selbständiges römisches Erzbistum in Polen. Die Christianitas weihte dem Märtyrer Adalbert großartige Kirchen. Neben dem Dom von Gnesen und dem Veitsdom zu Prag wurde ihm – durch König Stephan von Ungarn – der Dom zu Esztergom (Gran) gewidmet; Reliquien des Heiligen befinden sich unter anderem in der Aachener Stiftskirche Sankt Adalbert sowie in San Bartolomeo zu Rom, wo er sich einige Zeit aufhielt. In einer Heiligenvita hatte Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Sylvester II., um 998/999 im Schlußvers geschrieben:
Bischof Adalbert litt die Todesmarter für Christus
In dem Monat April am dreiundzwanzigsten Tage.
Durch sein beharrlich Gebet wolle Christus uns, seine Diener,
Die sich fromm ihm weih’n, beschützen auf immer und ewig.7
Das Patrozinium des Heiligen ist der 23. April. An diesem Tag ehrten 1997 – ein Jahrtausend nach seinem Tod – Deutsche, Polen, Tschechen und Ungarn den Missionar Mitteleuropas mit Feiern und Sonderbriefmarken als Apostel Preußens und Schutzpatron Böhmens und Polens.
Dem heiligen Adalbert folgte Brun (Bruno) von Querfurt als »Erzbischof der Heiden« mit einer weiteren Missionsreise zu den Prußen. Brun ist für das südliche Preußen noch bedeutender, da er der erste Christ war, der nachweislich in das Gebiet des späteren Masuren vordrang. Dort wurde er um 1009 in Sudauen, wahrscheinlich im östlichen Kreis Lyck, von den heidnischen Sudauern, einem Prußenstamm, erschlagen. Dennoch verbinden sich mit diesem aus dem deutschen Sprachraum stammenden Missionar die Ursprünge des Christentums in Preußen. An die Anfänge christlicher Mission im späteren Ostpreußen erinnert bis heute das sogenannte Brunokreuz am Großen Löwentinsee, das vor 1945 von Deutschen errichtet wurde und für die katholischen Polen ein Symbol der Christianisierung im Nordosten Europas darstellt.
Beide Missionsreisen waren letztlich Fehlschläge in bezug auf das damit verfolgte Anliegen, aber es setzte immerhin eine verstärkte Wahrnehmung der Prußen durch westliche Chronisten ein. Adam von Bremen berichtete in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in seiner »Chronik der Hamburger Bischöfe« von den Prußen und bestätigte – allerdings nicht aus eigener Anschauung – die Existenz des Samlands und seine Bewohner (Sembi) als einen Zweig der Prußen. Auch später wurden viele Informationen ohne genaue Kenntnisse der Situation in Preußen kolportiert und – aus religiösen Motiven – idealisiert.
Als eigene Ethnie bildeten sich die Prußen erst am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter heraus. Eine erste Darstellung der Prußen findet sich auf einer der Bronzetüren des Gnesener Doms aus dem 11./12. Jahrhundert, auf der die Vita des heiligen Adalbert erzählt wird. Sie lebten in relativ autarken Stammes- und Familienverbänden, was dem Orden ihre Unterwerfung nach 1225 erleichterte. Über die prußische Kultur weiß man kaum etwas. Es gibt nur wenige Zeugnisse der Sprache, doch es hat sich bis 1945 eine erstaunlich große Anzahl von Orts- und Flurnamen erhalten, die im litauischen und teilweise sogar im polnischen Äquivalent noch heute erkennbar sind.
Die baltische Sprachgemeinschaft umfaßt vier Sprachen: Prußisch, Kurisch, Lettisch und Litauisch. Das Prußische weist zahlreiche Lehnworte aus dem benachbarten slawischen Sprachraum auf. Insgesamt sind nur etwa 1800 prußische Wörter überliefert. Bis ins 16. Jahrhundert fand die Sprache keinerlei schriftlichen Niederschlag. Erst mit Übersetzungen des lutherischen Katechismus ins Prußische unter Herzog Albrecht von Preußen erfolgte die Umsetzung der Laute in Lettern. Den Untergang der prußischen Sprache im 17. Jahrhundert hat das nicht aufhalten können.
Vor der Eroberung Preußens durch den Orden gliederte sich die Region in jene zwölf Landschaften, die der Legende nach Waidewuths Söhne in Besitz genommen hatten. Peter von Dusberg hat sie in seiner »Chronik des Preußenlandes« im 14. Jahrhundert benannt: Pomesanien, Warmien, Natangen, Samland, Kulmer Land, Löbau, Pogesanien, Nadrauen, Schalauen, Sudauen, Galinden und Barten. Nach Dusberg wurden sie von Völkern (nationes) bewohnt, was den autarken Charakter der einzelnen Regionen bekräftigt. Nach Schätzungen von Hartmut Boockmann lebten auf dem Gesamtgebiet Preußens einschließlich des Kulmer Landes vor der Eroberung durch den Orden etwa 220 000 Menschen.8 Die polnischen Historiker Gerard Labuda und Marian Biskup schätzen die Einwohnerzahl an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert auf etwa 170 000.9
Obwohl an der prußischen Küste ein so bedeutender Handelsplatz wie Truso lag, waren die Prußen keine Seefahrer, sondern eine eher ländliche Gemeinschaft, deren Handel mit anderen Völkern sich mehr oder weniger auf Bernstein und Pelze beschränkte. Daß dieser Handel nicht unbeträchtliche Gewinne abwarf, belegen Silberfunde aus der Zeit unmittelbar vor der Eroberung durch den Deutschen Orden, etwa der altsudauische Silberschatz bei Skomenten (Kreis Lyck).
Die Prußen mußten ihr Land gegen Westen, Süden und Osten verteidigen. Mit der Ankunft des Deutschen Ordens wurde die Westgrenze zur gefährdetsten. Dort tobte fortan der Abwehrkampf der einheimischen Stämme. Als letzte wurden die in den südlichen Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen – dem späteren Masuren – lebenden prußischen Stämme unterworfen. Sie konnten sich länger als die anderen der äußeren Feinde erwehren, weil ihnen die natürlichen Gegebenheiten Masurens, die undurchdringlichen Wälder und die vielen Seen, zu Hilfe kamen. Der in Tilsit an der Memel geborene Schriftsteller Johannes Bobrowski hat diesem untergegangenen Volk der Prußen – durchaus politisch idealisiert – in seinem Poem »Pruzzische Elegie« ein Denkmal gesetzt:
Dir
ein Lied zu singen,
hell von zorniger Liebe -
dunkel aber, von Klage
...
Namen reden von dir,
zertretenes Volk, Berghänge,
Flüsse, glanzlos noch oft,
Steine und Wege -
Lieder abends und Sagen,
das Rascheln der Eidechsen nennt dich
und, wie Wasser im Moor,
heut ein Gesang, vor Klage
arm -10
In Ostpreußen wird eine mythenumwobene prußische Kultstätte »Romuva« (slawisiert Romove) vermutet – was wohl auf ramus oder romus zurückgeht und soviel wie »ruhevoll, friedlich« bedeutet -, von der man nicht genau weiß, wo sie sich befand. Es ist anzunehmen, ––