Inhaltsverzeichnis
Widmung
Blasse Hände, die ich liebte, neben Shalamar
Kopfkissen
In der Bettenabteilung
Natalie
Kleine Schwester
Ein Wochenende schlechter Sex
Honig
Schnappschüsse
Die Schweiz
1.
2.
3.
4.
5.
Grün
Schacht
Das Wetter von gestern
Alles, was du wünschst
Auf die Liebe
Wohnwagen
Bis zum Tod der jungen Frau
Ehefrau
Die Kreuzfahrt
Della
Danksagung
Copyright
Für Theo und Eileen Dombrowski
Blasse Hände, die ich liebte, neben Shalamar
An einem Samstagabend vor Weihnachten hatte ich mit einem Typen Sex und gab ihm meine Nummer. Er hatte etwas an sich, was mich hätte ahnen lassen können, dass er genau die Sorte Mann war, die anruft. Als Fintan ans Telefon ging, war ich ausnahmsweise einmal fast dankbar. Durch die Schiebetür konnte ich ihn hören.
»Ja, sie ist da. Sie ist in der Küche und isst gerade was Totes.«
Dann: »Nein, ich bin kein Vegetarier.«
Und dann: »Was Totes eben. Ich meine Typen wie dich.«
Ich sagte: »Gib mir den Hörer, Fintan.«
Als das Gespräch beendet war, warf ich den Rest meines Abendessens weg, ging ins Wohnzimmer und setzte mich. Fintan sah sich einen Dokumentarfilm über Flughäfen an, der sich als ziemlich witzig erwies. Als der Film zu Ende war, stand ich auf, um ins Bett zu gehen, und Fintan blickte zu mir auf und sagte: »Geh du nicht sanft.«
Und ich antwortete: »Gute Nacht, Fintan. Gute Nacht, Liebling. Gute Nacht.«
Beinahe wäre ich mit Fintan gegangen, das war, bevor ihm die Diagnose gestellt wurde. Jetzt wohnen wir zusammen, und die Leute fragen mich: Ist das nicht ein bisschen zu gefährlich? Dabei ist er der sanftmütigste Mann, den ich kenne. Die Aschenbecher waren das größte Problem, immer dieser Dreck. Schließlich sagte ich es ihm eines Tages beim Abwasch, und er verschwand für eine Woche. Dann war er eines Abends wieder da und saß auf dem Sofa, in der Hand eine Messingdose mit einem abscheulichen Sprungdeckel. Ich fragte: »Wo hast du die denn her, aus Indien?« Er sah mich nur an. Jetzt hört man ihn überall im Haus klicken und klacken. Es ist, als asche jemand in eine Mausefalle hinein, was mich aber noch immer lächeln lässt.
Ansonsten kann ich nicht klagen. Zwar wäre es mir lieber, er würde seine Klamotten öfter mal waschen, aber ich glaube, mit dem Geruch fühlt er sich wohler. Ich mich im Grunde auch. Er erinnert mich an die Zeit, als ich ihn fast geliebt hätte, damals im College, als es den ganzen Tag regnete, als niemand Heizung hatte und man einem Mann als Erstes den Rüssel unter den Pullover steckte und schnüffelte.
Heute ist er dünner, und seine Hände zittern. Im Haus behält er seinen Mantel an und verbringt viel Zeit damit, mitten im Zimmer die Luft anzustarren – nicht die Decke oder die Wände, sondern die Luft selbst.
Aber auf so was darf man nicht vertrauen. Ich wäre die Letzte, die das tut. Persönlich glaube ich, dass er keiner Fliege was zuleide tun könnte, trotzdem überprüfe ich seine Medikamente, wenn er nicht da ist. Und doch stimmte, was er an dem Abend gesagt hat, als das Telefon läutete – ich aß gerade was Totes. Ich saß in der Küche, wo das Kondenswasser an der schwarzen Fensterscheibe herunterlief, und stocherte in der Carbonara herum, als handele es sich um sämtliche Männer, die ich verschlissen oder verpasst hatte. Sämtliche Männer, die ich verpasst oder denen ich den Laufpass gegeben hatte. Wenn’s ein Lied wär, könnte man’s singen. Wenn’s ein Lied wär, könntest du’s noch einmal spielen, Sam.
Ich ging raus, griff nach dem Hörer, sagte »Hallo?« und starrte Fintan so lange an, bis er die Diele räumte. »Tut mir leid.«
»Bist du’s?«, fragte der Typ am anderen Ende. »Bist du’s?«
Dann stellte er sich vor – ziemlich merkwürdig, wenn man bereits miteinander im Bett gewesen ist. Anschließend wollte er sich mit mir »verabreden«. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Als ich anfing auszugehen, gab’s so was nicht. Man traf die Leute ganz zufällig. Man blieb noch auf einen Drink, dann, wieder durch Zufall, bis zur Sperrstunde und schließlich, durch ein Wunder, durch ein Ungeschick, durch ein Versehen, einen Ausrutscher, die ganze Nacht. (Ich kann euch sagen, das war ganz schön schlimm, so ein Ausrutscher, ein richtiger Unfall. Genauso schlimm wie mit dem Auto.) Das ungefähr dachte ich in der Küche, während die Pasta durch Ei und Sahne glitschte. Wie bringe ich es bloß fertig? Wie baue ich mit dem gottverdammten Wagen einen Unfall?
»Wie wär’s mit Freitagabend?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Oder Mittwoch?«
In der Dunkelheit der Diele schaute ich in einem imaginären Kalender nach und lauschte dem Besetztzeichen noch eine Weile, nachdem der Typ aufgelegt hatte.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn mochte. Das war alles.
Das Abendessen mit ihm war schon seltsam. Ich sollte aufhören, über mein Leben zu jammern, aber ich saß in einem Restaurant mit roten Samtvorhängen, weißen Leinentischdecken und teuren, geziert lächelnden Kellnern, spielte mit meinem Fischmesser und fragte mich: Wozu das alles? Danach gingen wir zu ihm, und ich spürte, wie mitten im Sex die Migräne einsetzte. Es hätte nett sein können – ich hab nichts gegen Sex -, aber mit der beginnenden Migräne kam es mir vor, als befinde er sich weit weg von mir, und jeder Stoß ließ mein Hirn flackern, bis ich ganz klein war und mich irgendwie auf dem Grund meines eigenen Brunnens zusammenrollte.
Natürlich war er sehr fürsorglich und bestand darauf, mich nach Hause zu fahren. Die Männer sagen immer, sie wollen zwanglosen Sex, aber wenn man Vielen-Dankgute-Nacht sagt, sind sie zutiefst beleidigt, meiner Erfahrung nach. Er strich mir über die Wange und fragte, ob er mich wiedersehen könne, und als ich Ja sagte, entsperrte er mit einem Fauchen und einem Klicken die Zentralverriegelung und ließ mich gehen.
In der Küche trank ich vier Tassen superstarken schwarzen Kaffee und ging ins Bett. Und wartete.
Am nächsten Tag kam irgendwann Fintan ins Zimmer und zog die Vorhänge zu, weil ein schmaler Lichtstrahl hereinfiel. Als er das Licht ausgesperrt hatte, war ich so froh, dass ich anfing zu weinen. Eine Migräne ist etwas Unglaubliches. Man liegt da und kann es nicht glauben. Man liegt da, starr vor Unglauben, wie ein Atheist in der Hölle.
Fintan machte es sich auf einem Stuhl neben dem Bett bequem und begann mir etwas vorzulesen. Ich hatte nichts dagegen. Ich hörte alles und verstand alles, trotzdem rauschten die Wörter an mir vorbei. Er hielt mein Exemplar von Alice im Wunderland aus Kindertagen in den Händen, und ich fragte mich, ob die Farben früher auch schon so kräftig gewesen waren: Alice’ Haar ein schreiendes Gelb, der Flamingo in ihren Armen rosa gefiedert.
Er kam zu der Stelle, an der es um die drei kleinen Schwestern geht, die auf dem Grunde eines Brunnens lebten – Hilde, Else und Trine. Und wovon lebten sie? Von Karamell.
»Das ist aber nicht gut möglich, oder?«, bemerkte Alice dazu sanft, »sie wären ja auf Dauer krank davon geworden.«
»Das waren sie auch«, sagte die Haselmaus; »sehr krank sogar.«
Ich lächelte, von Selbstmitleid überschwemmt. Und plötzlich roch ich es, klar und deutlich, es roch nach Karamell, es war wie ein Witz. Das ganze Zimmer war voll davon. Süß und verbrannt. Eine Erweiterung der Luft: ein Kieselstein, der in den Teich meines Hirns gefallen war und der dafür sorgte, dass, als die letzte Kräuselung sich geglättet hatte, der Schmerz verschwunden oder zumindest im Verschwinden begriffen war. Der Schmerz war wieder bloße Möglichkeit.
»Oh«, machte ich.
»Was?«, fragte Fintan.
Im Halbdunkel sah er mich an. Da läutete unten das Telefon. Ich wollte aus dem Bett steigen, doch Fintan hielt mich zurück, einfach durch die Art und Weise, wie er neben mir auf dem Stuhl saß.
Ein paar Wochen später hatte ich Streit mit ihm, schob lautstark sein schmutziges Geschirr in der Küche zusammen. Möglich, dass Fintan ein Problem mit Wasser hat. Möglich, dass alle Männer ein Problem mit Wasser haben. Eines Tages wird man das dafür verantwortliche Gen ausmachen, in der Zwischenzeit aber wünsche ich mir ein besseres Leben.
Natürlich verteidigt sich Fintan nie, sodass es bei dem Streit stets um etwas anderes geht – etwas, das sich nicht recht fassen lässt. Es geht um alles.
Ja, wollte ich sagen, er ist verheiratet. Allerdings lebt er ganz und gar – auch gerichtlich – getrennt von einer Frau, die immerzu krank ist; von einer Tochter, die intelligent ist, aber nicht essen mag; und von einer weiteren Tochter, die sein ganzer Stolz und seine ganze Freude ist. Ich mochte ihn, er gab sich Mühe. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, brachte er mir ein Geschenk mit, das zwar meist nicht nach meinem Geschmack, aber doch »geschmackvoll« war, klein und teuer, wie ein Moment aus einem Fünfzigerjahre-Film. Und im Bett herrschte erstaunliche Dunkelheit. Das musste einfach erwähnt werden. Wenn er sich von mir wegdrehte, hatte ich das Gefühl, dass er über nichts nachdachte, dass es keine Worte in seinem Kopf gab. Er rollte die Augen dann in ihren Höhlen, und die zunehmende Dunkelheit war ihm eine Wonne. Es war, als sähe man einem Mann beim Sterben zu. Es war, als hätte man Sex mit einem Tier.
Nichts davon erwähnte ich, als ich die Pfanne, in der Fintan sich Rührei gemacht hatte, auf das Abtropfbrett knallte. Auch die beiden zu intelligenten Töchter und die sich auflösende Exfrau erwähnte ich nicht. Stattdessen sagte ich, Fintan werde in den Weihnachtsferien eine andere Bleibe finden müssen, da ich mir keine Sorgen um ihn machen wolle, wenn er allein im Haus sei.
»Auf Weihnachten kommt es nicht an«, sagte er.
»Ja, klar.«
Natürlich nicht. Weihnachten fuhr ich zu meiner Familie. Worauf es ankam, war Neujahr, denn wenn es Mitternacht schlug, wäre ich in einem Hotel und würde vor scheußlich gemusterten Gardinen guten Champagner trinken. Würde mit meinem neuen Galan, meinem großen alten, behaarten alten Mister Daddy-O im Bett liegen.
Und. Und. Und.
»Und dein Geschirr, Fintan, stört mich nicht, aber Rührei geht entschieden zu weit.«
Schweigen.
»Spiegelei?«
»Spiegelei ist in Ordnung.«
Fintan hatte recht. Weder um den Champagner noch um die Gardinen sorgte er sich. Ich vermute, sogar der Sex kümmerte ihn nicht. Er sorgte sich um etwas anderes. Um eine kleine Flamme, um die er die Hände legte, die er aber nicht berühren konnte.
Er ist der sanftmütigste Mann, den ich kenne.
Aber ein sanftes Gefühl hatte auch ich. Ich wollte sagen, dass dieser Mann – dass dieser Mann irgendwie zu viel Geld und keinen Geschmack besaß, mich aber unbedingt haben wollte. Ich wollte sagen, wie hilflos mich das machte; wie stürmisch und dankbar er für mein Gefühl war. Ich wollte sagen, dass er trübe Wichtigtueraugen hatte, sein Nacken aber wie der Flaum eines Säuglings roch.
Als ich an dem Abend das Eingangstor öffnete, hörte ich aus dem Haus hinter mir die Klänge eines Klaviers. Es dämmerte. Der trunksüchtige Lehrer von gegenüber hatte seine Weihnachtslichter aufgehängt; in jedem der Fenster eine andere Form. Unten ein Quadrat und einen Kreis, oben ein Dreieck und etwas, das wir Rhomboid nannten, alles in fließendem, aufblitzendem Gold und Weiß. Aus einem Grüppchen Jungen drüben beim Briefkasten flog ein Gegenstand herüber und landete auf der Fahrbahn. Es war ein Skateboard. Die Hände am niedrigen kalten Torgriff, stand ich da und lauschte den ersten Takten der Pathétique.
Du spielst nur, wenn ich nicht gucke, dachte ich. Sobald ich gucke, hörst du auf.
Ich stand an der Bushaltestelle, doch als der Bus kam, hüllte ich mich in meinen Mantel und ging zurück zum Haus. Denn wenn er wieder spielte, hatten seine Hände aufgehört zu zittern. Und wenn das Zittern aufgehört hatte, nahm er keine Pillen mehr, und die Hölle war los – Flughafenpolizei, Fintan, der nackt durch Dublin rennt oder, wenn er Glück hat, durch Paris; Fintan, der auf den Brüstungen von Gebäuden oder Brücken balanciert, die Taschen voller Steine.
Ich hatte ihn nie so ganz im Leben stehend erlebt. Ich war nicht da, als es anfing, im Sommer nach unserer Abschlussprüfung, die er natürlich schamlos gut bestanden hatte. Wie sich später herausstellte, waren seine Notizen in verschiedenen Farben geschrieben, einige sogar verschlüsselt. Aus der Badewanne war blaue Tinte abgelaufen, die getrocknete Lache hatte das Emaille verfärbt. Als ich nach Hause kam, war sie noch vorhanden – zutiefst traurig. Das Blau seiner Gedanken, das Blau seines Geistes, dachte ich, während ich vergeblich versuchte, es wegzuschrubben, oder wenn ich im Badewasser hockte und es betrachtete.
Als er sechs Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sein Zimmer noch da – selbstverständlich war es das. Niemand würde Fintan hängen lassen. Unser anderer Mitbewohner (und mein Ex) Pat baute irgendwas in Deutschland auf und war immer nur da und gleich wieder weg. Ich hatte einen Job. Im Lauf der Jahre machte sich unsere Wohngegend allmählich. Und dann gab es nur noch Fintan und mich.
Jetzt gab es nur noch mich, weinend auf dem Rückweg von der Bushaltestelle, angezogen vom Klang seines Klavierspiels, vorbei an den mit Rauputz überzogenen, blau, grau und dunkelgrün gestrichenen Reihenhäusern. Die Frau, die wir Bubbles nannten, stand in einem dünnen pfirsichfarbenen Morgenmantel in der Haustür und lauschte. Sie sah, wie ich mir die Nase putzte. Ich lachte und winkte sie fort. Ich wusste nicht, warum ich weinte. Wegen der Musik. Vielleicht wegen des Typen, den ich auf dem College gekannt hatte, mit dem knabenhaften Körper und dem königsblauen Pullover. Und wohl auch wegen der Tatsache, dass seine Hände die ersten waren, die ich je geliebt habe. Sie waren so weiß.
Als ich meinen Schlüssel ins Türschloss steckte, brach das Klavierspiel ab. Ich betrat das Wohnzimmer, und er saß auf dem Sofa, als hätte er es nie verlassen. Ich umarmte ihn leicht und etwas ungelenk, und so blieben wir sitzen; Fintan kuschelte sich an mich und drückte sein Gesicht gegen meine Brust, bis mein T-Shirt von seinem sabbernden Mund ganz durchnässt war. Lange saßen wir so da. Dieses Bild machten wir von uns. Diese Pietà. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich uns dort sitzen sehen – obwohl ich ihn aus irgendeinem Grund in meinen Armen nicht spürte.
In der Küche tranken wir gerade Tee, als das Telefon klingelte. Ich ging hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen. Dann kam ich zurück und setzte mich.
»Ich war mal so gescheit, Fintan«, sagte ich. »Aber das nützt mir nichts mehr.«
»Ich weiß«, antwortete er.
Dann hätte ich ihm seine Pillen geben sollen. Ich hätte ihm eine in die Hand drücken, in den Mund oder in den Rachen schieben sollen – aber wir sind schon immer zu sanft miteinander umgegangen, selbst in der Wahl unserer Worte, also sagten wir lediglich Gute Nacht und gingen zu Bett.
Am ersten Weihnachtstag verkündete meine Mutter, Plumpudding mache ihr zu viel Mühe, und servierte eins dieser Eiscremedesserts aus dem Supermarkt. Mein Bruder hatte ein paar Flaschen guten Wein mitgebracht, und ich lieferte die Papierhüte. Nach der Plumpuddingerklärung stritten wir uns heftig über Weinbrandbutter, und ich brach in Tränen aus. Meine Mutter sah mich nur an.
Zu Silvester rief ich im Haus an, doch es meldete sich niemand. Und als ich am dritten Januar zurückkam, war Fintan verschwunden.
Am vierzehnten Februar wurden mir meine Valentinskarte und zwölf pralle dunkle Rosen an den Schreibtisch meines Arbeitsplatzes geliefert. Außerdem rief mich Fintans Gelegenheitsbruder aus Castleknock an, um mir mitzuteilen, sie hätten ihn endlich aufgespürt und wüssten, wo er sich aufhalte.
Ich nahm mir den Nachmittag frei, kaufte einen Discman und ein paar CDs und fuhr mit einem Taxi hinaus nach Grangegorman. Dort war ich noch nie gewesen: Es war ein Witz von einem Irrenhaus, bedrohlich und viktorianisch. In den kargen Zimmern murmelten und jammerten Leute vor sich hin, und überall hing ein Geruch nach Bleichmitteln und Sperma, der der eigenen Verrücktheit entsprach und nicht der ihren. Schließlich fand ich Fintan. Er lag so reglos im Bett, dass man unter der dünnen weißen Tagesdecke jede Erhebung und Vertiefung sah, von den Fingerknöcheln bis zur hohen, zarten Linie seines Penis. Er schlug die Augen auf und schloss sie wieder. Dann öffnete er sie abermals, schaute mich eine Weile an und drehte den Kopf weg. Bis zum Anschlag vollgepumpt mit Drogen.
Ich stöpselte ihm die Kopfhörer in die Ohren und schob Musik in den Discman. Er zuckte zusammen, und ich drosselte die Lautstärke. Dann drehte er sich um und sah mich an, während die Musik lief. Er nahm meine Hand, führte sie an sein Gesicht, über Mund und Nase, und küsste mir die Handfläche. Liebevoll sah er mich an. Ich weiß nicht, was seine Augen sagten, als sie mich über den sanften Knebel meiner Hand hinweg anstarrten. Ich weiß nicht, was sie sahen. Sie sahen etwas Schönes, etwas wahrhaft Schönes. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich sahen.
Die Hochzeit fand im November statt, als Fintan, leicht erschöpft, wieder in die Welt zurückgekehrt war. Immer wenn das geschah, fand ich, dass er von Mal zu Mal undeutlicher wurde, schwerer zu erkennen. Ich empfand vielerlei – vor allem Schuld -, aber der Gesundheitsfürsorger wollte ihn in einer Rehaklinik unterbringen, und außerdem zog ich aus. Wie immer man es betrachtet, mit dem Haus hatte es für uns jetzt ein Ende. Es würde keine zerbrochenen Aschenbecher mehr geben und keine Ausflüge in den Waschsalon, keine Abende auf dem kaputten Sofa mehr und keinen Plausch mit Bubbles auf der Captains Road.
Aber nicht ein einziges Mal dachte ich daran, ihm Lebewohl zu sagen. Ich heiratete doch nur. Sogar zu meinem Junggesellinnenabschied nahm ich ihn mit – vermutlich als eine Art Maskottchen.
Der Abend ließ sich langsam an. Meine erwachsenen Freundinnen tauschten Telefonnummern und Visitenkarten aus – mit den Tequila Slammers musste ich selbst anfangen. Zwei Stunden später waren wir dabei, uns den Rest zu geben, die letzte Nacht überhaupt. Ich erinnere mich vage an ein paar Pferdedroschken. Ich weiß auch noch, wie wir über die Mauer hinter dem Haus meines neuen, will sagen: meines zukünftigen Ehemannes kletterten. Keiner von uns kam es in den Sinn, meinen Schlüssel zu benutzen oder auch nur an der Haustür zu klopfen. In der Küche brannte Licht – daran erinnere ich mich. Wir befreiten eine Backsteinmauer von Efeu und steckten uns die Zweige ins Haar. Bei einem Ritual in den Blumenbeeten verlor ich mein Höschen. Meine älteste Freundin Cara machte Fotos, daher weiß ich das alles – zwei der Mädels versuchten, mir die Bluse auszuziehen, Breda zerfetzte die Dahlien (offenbar waren es »langweilige Blumen, langweilige Blumen!«), und irgendeine, es sieht ganz nach Jackie aus, knutschte mit Fintan an einem Baum. Auf dem Foto besteht er nur aus Hals. Den Kopf hat er für den Kuss nach hinten geneigt, sodass das Blitzlicht seinen Adamsapfel und die blauweiße Haut unter seinem Kinn erfasste.
Auch ich hatte ihn einmal geküsst, in meinem zweiten Jahr am College, bevor er verrückt wurde oder was auch immer. Bei einer Party saßen wir auf dem Fensterbrett, hüllten uns in die Vorhänge und unterhielten uns eine Weile miteinander, die Köpfe gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt. Ich erinnere mich noch an die Stille draußen, an die Vorhänge, die auf uns ruhten, den Mief und das Gequassel im Raum. Irgendwann küsste ich ihn. Und das war alles. Die Haut an seinem Mund war entsetzlich dünn. Schon damals hielt Fintan es mit dem Augenblick. Als bewege er sich durch Flüssigkeit, während wir anderen uns mit Luft begnügten.
So, jetzt bin ich also verheiratet, was immer das bedeutet. Ich glaube, es bedeutet, dass ich nun Bescheid weiß.
Da ich ab sofort in diesem Haus mit den langweiligen Blumen und mit den von Efeu berankten Mauern wohne, weiß ich, dass ich Fintan nicht nur »fast« geliebt habe – ich habe ihn geliebt. Punktum. Und ich kann nichts dagegen tun – gegen die Tatsache, dass ich ihn jahrelang geliebt habe, ohne es zu wissen. Gar nichts wusste ich.
Ich schlafe ganz entspannt neben meinem Gatten, meinem gierigen alten Mann. Denn irgendwie hat er recht – Fintan hat immer irgendwie recht. So viele von den Männern, denen man begegnet, sind tot. Einige von ihnen sind auf nette Art tot, andere einfach nur tot. Das macht sie leicht verführbar. Das macht ihre Verführung gefährlich. Sie schenken einem ihre weiße Blindheit.
So ist es leicht, neben ihm unter den Laken zu liegen und nicht viel nachzudenken. Neben meinem behaarten alten Säugling. Der alles für mich tun würde. Er gibt Geld für mich aus, es scheint ihm Vergnügen zu bereiten – mehr Vergnügen als das, was er letztlich kauft, denn tote Männer kennen nicht den Unterschied zwischen Dingen, die leben (ich zum Beispiel oder gar Meine Möse), und Dingen, die tot sind, nämlich Sein Geld, das einfach nur ein getrockneter Haufen Scheiße ist und wofür sich ein Leben im Hause der Toten nicht lohnt. Also rede ich weiter, und er ist weiter tot und schenkt mir Dinge, die bereits verwest sind (einen »wunderschönen« Seidenschal, ein Auto, mit dem ich irgendwohin fahren könnte, zwei Bücher, die durchaus richtigen Büchern ähneln, die ich gern lesen würde). Ringsumher herrscht die Verschwörung der Toten, und die Oberkellner lächeln noch immer geziert, wie es Oberkellner eben tun, während die Gerichte auf der Tischplatte es auf ermutigende Weise miteinander treiben.
Inzwischen ist mir übel. Dieses Leben ist nichts für mich. Seine frühere Frau hat Probleme mit Zysten, irgendwas Schreckliches mit dem Rücken, Zerfallserscheinungen. Ich höre ihr Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich sehe das Scheckbuch mit ihrem Namen, der unter seinem gedruckt ist. Ich bin dünner, meine Garderobe ist kostspieliger geworden. An den Wochenenden trifft er sich mit seinen Töchtern, die in Mathe immer ein kleines bisschen besser werden, ihr Lächeln immer süßer, ihre Schleifchen ein kleines bisschen gerader; unter der Gesichtshaut treten bereits die Wangenknochen hervor, zu früh, zu schön und bestürzt.
An den Nachmittagen treffe ich mich mit Fintan, und wir haben Sex, süß wie Regenwasser. Ich brauche die Sonne mehr als alles andere, und wir ziehen uns in ihrem Licht aus. Ich öffne die Vorhänge und schaue aufs Meer. Inzwischen ist er verrückter denn je. Ich glaube, er ist ziemlich verrückt. Er ist kaum mehr vorhanden. Hinter meinem Rücken höre ich Fäden reißen. Ich drehe mich zu ihm um. Zusammengerollt liegt er im Nachmittagslicht auf dem Laken, auf seinem Rücken zeichnet sich die Linie seiner Wirbel ab, hinter seinen Knien biegen sich die Sehnen, und auf dem beiläufig hingeworfenen Kissen zittern die schönsten Hände der Welt.
Ich sage zu ihm: »Ich wünschte, ich hätte einen Namen wie du. Wenn ich mit dir rede, bist du immer ›Fintan‹. Immer heißt es: ›Fintan dies, Fintan das.‹ Doch meinen Namen sprichst du nie aus. Manchmal glaube ich, dass du ihn gar nicht weißt – dass niemand ihn weiß. Außer ihm vielleicht. Ich möchte ihn hören, verstehst du das?«
Kopfkissen
»Alison«, sagte sie.
»Ja?«
»Was ist ein Homosexueller?«
»Das ist ein Mann, der einen anderen Mann liebt.«
»Ja«, sagte sie. »Aber wie geht das?«
»Sie lieben sich«, antwortete ich.
»Aber wie?«, fragte sie. »Wie lieben sie sich?« Und da glaubte ich zu wissen, was sie meinte. Ich sagte, sie schöben sich gegenseitig ihr Ding in den Hintern, nein, ich benutzte das Wort »Anus«, damit es anatomischer klang.
»Aha«, sagte sie, und ich versuchte nachzuvollziehen, was sie wohl dachte.
»Danke«, sagte sie.
Doch irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl dabei, und als Karen am nächsten Tag ankam und sagte: »Was erzählst du Li da über schwulen Sex?«, kam ich mir schon ziemlich furchtbar vor.
»Die kennt doch nicht mal die andere Sache«, fuhr sie fort. »Die weiß doch nicht mal, wie normale Leute es miteinander anstellen.« Danach nahm sie mich in die Mangel. Wie ich mich dabei fühlte, war ihr total egal. So ist das wohl nun mal mit den Amerikanern: Wenn sie einmal beschließen, einem die Schuld an etwas zu geben, dann wollen sie auch, dass man sich dieser Schuld so richtig bewusst wird.
Karen hatte mich bei der Wohnungsvermittlung des College angefordert. Das erzählte sie mir, als ich ankam: Ihnen sei es wichtig, die richtige »ethnische Mischung« zu haben, deshalb habe sie um jemanden aus Irland gebeten. Ich litt noch etwas unter Jetlag. Ich erklärte ihr, dienstags könne ich gern die Irin für sie spielen, aber dürfte ich den Rest der Woche freihaben? Ganz ehrlich, ich konnte es nicht fassen, wie groß dort alles war. Als es hieß: »dorm«, hatte ich nicht mit einem Wohnheim gerechnet, sondern mit einem Schlafsaal, mit lauter Betten in Reihen. Ich stellte meinen Koffer ab und fragte, wann es heißes Wasser zum Duschen gebe. Karen verstand meine Frage nicht. Sie antwortete, sie hätten immer heißes Wasser, es sei denn, etwas wäre kaputtgegangen – auf dem Hahn stehe ein »H«, weil das Wasser, das herauslaufe, »heiß« sei.
Vom Wohnzimmer, das in der Mitte lag, gingen vier Schlafzimmer ab, und sie sagte, ich solle mir eins davon aussuchen. In jedem Schlafzimmer befand sich ein Hochbett mit einem darunter eingebauten Schreibtisch. Als Lichtquelle waren an der Unterseite des Bettes schicke Punktstrahler angebracht. Ich entschied mich für das Zimmer gleich neben dem Flur, kletterte vollständig bekleidet die kleine Leiter hinauf und legte mich hin, das Licht unter mir eingeschaltet. Ich war am College. Ich war in Amerika. Fliegt mich zum Mond.
Wochenlang blieb ich auf meinem Zimmer. Im Wohnzimmer konnte ich nicht sitzen, und die Küche gehörte Li und Wambui. Die ließen immer, bevor sie zum Unterricht gingen, alles Mögliche in Marinade schwimmen: Schüsseln mit Leber, eingelegt in Honig und Chili, oder Fisch, der in irgendeiner seltsamen Sauce grau anlief. Fantastisches Essen. Sie kicherten in der Küche wie Kinder und kochten wie Erwachsene. Ich wusste nicht einmal, wie man ein Ei kocht. Karen, wer hätte es gedacht, ernährte sich von Take-aways.
Ich wäre schon ganz gern mal ins Badezimmer gegangen, doch das war von Karen belegt, die dreimal am Tag duschte. Unmengen an Wasser, dann das Trällern und das dumpfe Spritzen – das Klatschen und Quatschen ihrer »Pflegemittel«. Auch leise Grunzlaute. Ich musste warten, bis alle schliefen, bevor ich scheißen gehen konnte. Eines Nachts stolperte ich, nur mit einem T-Shirt bekleidet, hinaus. Karen saß am Wohnzimmertisch. Während wir miteinander redeten, starrte sie wie gebannt auf meine Beine, mit einem Ausdruck, als müsse sie würgen. Es lag wohl an meiner Behaarung. Sie fand sie wohl moralisch abstoßend. Karen hätte lieber eine Abtreibung als einen Bikinistreifen auf sich genommen. Das jedenfalls sagte ich zu Li, die mich ansah und ein paarmal zwinkerte. Dann, peng!
»Alison.«
»Ja?«
»Was ist ein Bikinistreifen?« Was eine Abtreibung ist, wusste sie natürlich. Sie war Festlandchinesin.
Karen hatte einen Freund, der wie ein Scheißhaus aus Backsteinen gebaut war und nie einen Mucks von sich gab. Sie schlossen ihre Schlafzimmertür und waren verschwunden. Völlige Stille. Hinterher saß er im Wohnzimmer und musterte uns. Wambui blieb draußen im Flur und telefonierte den ganzen Abend, was auch eine Art war, damit umzugehen. Ich sprach aus, was mir als Erstes in den Sinn kam.
»Mein Gott«, entfuhr es mir, als ich aus dem Bad kam. »Warum sieht Pflegespülung eigentlich immer wie Sperma aus?«
Am nächsten Morgen war die Pflegespülung verschwunden. Volltreffer. In so was war ich gut, obwohl ich selbst nicht gerade viel Erfahrung in Sexdingen hatte. Ich meine, ich hatte schon manchmal Sex – zumindest in jenem ersten Trimester -, und es machte mir auch Spaß, aber irgendwie brachte es mich immer durcheinander. Zum Beispiel schor ich mir den Kopf kahl. Allerdings hatte ich das schon länger vorgehabt. Doch als ich anderntags aufwachte, beschloss ich, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, mir den Kopf kahl zu scheren. Als der Typ mich in der Mensa erblickte, hätte er sich am liebsten weggeduckt. Buchstäblich. Er zuckte zusammen und suchte den Boden nach einem Besteck ab, das ihm heruntergefallen sein mochte. Wie auch immer. Ich brachte ihn dazu, es noch einmal mit mir zu machen, mit Glatze, danach wollte ich nichts mehr von ihm wissen. Aber die Stoppeln gefielen mir. Eine Zeit lang sah ich ziemlich flott aus mit meinen Borsten und der kleinen schwarzgold bestickten islamischen Gebetsmütze, die ich mir in einem Secondhandladen gekauft hatte.
Um mir den Kopf kahl zu scheren, hatte ich Karens Rasierer benutzt. Das war ihr offensichtlich nicht entgangen, denn am nächsten Tag hatte sie ein neues, elektrisches Ding da, und all die alten Einwegrasierer lagen im Abfalleimer. Keine von uns beiden verlor ein Wort darüber, aber so was macht einen doch ganz fertig, man möchte sich regelrecht erschießen, sich geradezu einen Kopfschuss verpassen. Oder es ist einem völlig schnuppe. Wie zum Beispiel das Wissen, dass Li mir ein Höschen gestohlen hatte, ein schlichtes Baumwollhöschen, das sie eines Abends vor meinen Augen in ihre Schublade stopfte.
»Scheiße«, sagte Karen, als ich ihr davon erzählte. »Echt jetzt?«
Niemand von uns hatte je Lis Unterwäsche zu Gesicht bekommen. Wir sagten uns, vielleicht hat sie gar keine, doch dann entdeckte Karen unter ihrem Schreibtisch ein Paar Socken, die in Billigplastikschuhen steckten. Sie waren aus durchsichtigem Nylon, wie Kniestrümpfe, aber kürzer. Wie Strumpfhosen, die nur bis zu den Knöcheln reichen.
»O Gott, fass die bloß nicht an«, sagte Karen. »Ach je, was sollen wir nur mit ihr anstellen?«, fragte sie. »Was machen wir nur gegen diesen Gestank?«
Es war ziemlich offensichtlich, dass Li ihre Kleider nicht wusch, denn erst in der Vorwoche hatte sie mich gefragt, wie die Waschmaschinen funktionierten. Wir starrten hier also auf drei Monate. Allerdings muffelten die Socken gar nicht mal so schlimm – irgendwie trocken, alt und geschlechtslos.
»O mein Gott«, sagte Karen. »O mein Gott.«
Früh am Morgen, als Li im College war, hatten wir uns in ihr Zimmer geschlichen. Karen wollte möglichst schnell wieder raus, dabei machte Li nie blau. Sie gebrauchte erstaunliche Wörter wie »Katalepsie« und »Dramaturgie«. Sie kam aus China und sprach besser Englisch als ich. Sie war neunzehn.
Ich öffnete eine ihrer Schreibtischschubladen und stellte fest, dass sie voller Tabletten war. Reihen um Reihen kleiner Plastikdöschen mit chinesischen Etiketten. Ich probierte eine orangene und eine purpurfarbene. Sie waren riesig und schmeckten nach Talkum.
»Komm jetzt«, sagte Karen, die sich am Türgriff festhielt und auf und ab wippte, als müsse sie pinkeln. Karen studierte Jura. Wenn es damit nichts würde, wollte sie Immobilienmaklerin werden. Ich musste sie fragen, was eine Maklerin sei, und als sie mir antwortete, eine Maklerin verkaufe Häuser, kam ich mir ziemlich bescheuert vor, aber nicht so bescheuert wie sie, die sie Häuser verkaufen wollte.
Je mehr ich sie mochte, desto mehr brachte sie mich zur Raserei. Sie sagte, Wambui sei eine Lesbe, weil sie eine Freundin hatte, die ständig bei ihr übernachtete. Ich sah sie einfach nur an. Jedes Mal, wenn ich mich über Karen ärgerte, kam mir das Wort »Intimspülung« in den Sinn. Sie konnte sauber nicht von dreckig unterscheiden. Spülung, Spülung, Spülung! Stattdessen sagte ich: »Weißt du, überall auf der Welt schlafen Mädchen zusammen in einem Zimmer, und kein Mensch verliert auch nur ein Wort darüber. Überall auf der Welt, nur hier nicht.«
Wambuis Freundin hieß Brigid, und sie war wirklich nett. Sie erzählte, sie sei in Nigeria von irischen Nonnen unterrichtet worden, und dann streckte sie zum Beweis die Hand aus. »Sieh dir die Narben an.« Brigid war lustig, mit einem richtig trockenen Humor. Sie schlug Karen vor, sich Cornrows ins Haar flechten zu lassen. Karen war tatsächlich interessiert und stellte ihr eine Menge Fragen. Als sie gegangen war, lachten Brigid und Wambui so laut, dass sie sich an den Möbeln festhalten mussten. Wie immer verstand Li den Witz erst eine halbe Stunde später, und das löste erneut Gelächter aus. Li gab ein seltsames Schnauben von sich. Ich glaube, es war ihr peinlich, laut loszulachen.
Aber als meine Haare wieder nachwuchsen, wurde mir klar, wie unglücklich ich war. Ich ging zum College-Arzt und sagte, dass ich einen Knoten in der Brust vermutete. Er tastete beide Brüste ab, erkundigte sich nach meiner Verhütungsmethode und gab mir ein paar Schlaftabletten. Er empfahl mir, zum psychologischen Beratungsdienst zu gehen. Ich befolgte seinen Rat, doch die Frau dort fand alles, was ich sagte, einfach nur lustig. Sie sagte, sie liebe meinen Akzent. Die Tatsache, dass ich hier sei, beweise doch, dass ich zu den Aufgewecktesten gehöre, ich brauchte nur mein Selbstwertgefühl zu stärken.
Ich war jedoch nicht der Meinung, von aufgeweckten Menschen umgeben zu sein. Eigentlich fand ich einige von ihnen ziemlich dumm. Bis auf diesen Typen aus New York, der wahnsinnig schlau war, auf die langweilige Art. Den Aufsatz, den ich für die Zwischenprüfung geschrieben hatte, bekam ich mit der Bewertung »gut« zurück, obwohl es hieß: »Sie wissen nicht, was ein Absatz ist.« Danach blieb ich öfter zu Hause und ließ mir die Haare wieder wachsen.
Abends lief ich zum See hinab. Ich stellte mich mit dem Rücken zum Wasser und prüfte in allen mir bekannten Zimmern, ob Licht brannte, um zu sehen, wer zu Hause war und wo sich alle aufhielten. Es dauerte Wochen, bis ich merkte, dass sie alle büffelten. So richtig büffelten. Wenn sie sich irgendwo vergnügt hätten, hätte ich das gewusst. Heimliche Vergnügungen gab es nicht.
Einmal wachte ich nachts auf und sah Li bei mir im Schlafzimmer stehen, in den Händen ein Kopfkissen, oder vielleicht drückte sie es auch an die Brust. Jedenfalls stand Li mit einem Kopfkissen da in der Dunkelheit, und ich musste mich vergewissern, dass ich nicht träumte.
»Oh, Li«, sagte ich. Da ich noch halb schlief, brachte ich die Wörter nur kraftlos und undeutlich heraus. Beinahe liebevoll. Darauf drehte sie sich um und ging wieder hinaus.
Vielleicht wollte sie einfach nur ein bisschen Gesellschaft. Es war die erste Nacht der Weihnachtsferien. Karen war nach Hause gefahren, und Wambui besuchte Freunde in Chicago. Ich hatte kein Geld, um irgendwohin zu fahren, und Li vermutlich erst recht nicht. Wir waren also nur zu zweit und fühlten uns ein wenig sitzen gelassen.
Am nächsten Tag sagte ich nichts. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Sie tat mir ein bisschen leid, das war alles. Ich fragte mich, ob sie einfach nur bei mir schlafen wollte, wie es junge Frauen – das hatte ich Karen ja erklärt – überall auf der Welt tun, nur hier nicht. Oder wollte sie etwa mit mir schlafen, wie es junge Frauen tatsächlich tun (besonders hier)? Der Gedanke an ihren dünnen, kleinen Körper erregte mich irgendwie, allerdings auf nicht sehr angenehme Weise.
Unterdessen büffelte sie wie gewöhnlich in ihrem Zimmer und schnäuzte sich wie gewöhnlich im Bad unter fließendem Wasser die Nase, was bei mir einen gewissen Brechreiz hervorrief. Dann wieder war sie so still, dass ich nachsehen wollte, ob sie vielleicht tot umgefallen war.
Von Zeit zu Zeit prallten wir im Wohnzimmer aufeinander, dann stellte sie mir manchmal Fragen: Was hältst du von Werbung? Oder: Ist es wahr, dass man Kindern hier Medikamente gibt, um sie ruhigzustellen? Oder: Bist du kurzsichtig? Hast du Voltaire gelesen? Einmal, als wir uns besonders lang angeschwiegen hatten, beschloss sie, mir eine Reihe von Augenübungen vorzuführen, die in China üblich seien. Sie bewirkten, dass viele Menschen dort »keine Brille benötigen«. (Ach, wirklich?) Man musste sich mit den Daumen zwischen den Augenbrauen reiben, an bestimmten Punkten des Augapfels und der Augenhöhle den Zeigefinger kreisen lassen und anschließend eine Weile in die Ferne starren. Da saßen wir nun, in einem leeren Wohnblock mitten auf dem verlassenen Campus, und während die übrige westliche Welt Lichterketten aufhängte oder Geschenke einpackte, rieben wir uns die Augäpfel. Dann schauten wir aus dem Fenster.
Irgendwie hat es sogar gewirkt, glaube ich.
Sie klopfte nie bei mir an, dennoch blieb ich die ganze Nacht wach und schlief bis in den Nachmittag hinein. Ich fühlte mich sicherer so. Als ich am ersten Weihnachtstag aus meinem Zimmer wankte, saß sie am Wohnzimmertisch und lernte. Sie sprang auf, überreichte mir ein winziges Päckchen und sagte, indem sie schüchtern den Kopf einzog und zur Seite drehte: »Frohe Weihnachten, Alison.« Das Päckchen enthielt einen auf eine Plastikkarte gedruckten kleinen Kalender. Darauf waren zwei süße Babys abgebildet. Sie hielten eine Schleife, auf der das Jahr geschrieben stand. Ich sagte: »Oh, danke schön, Li. Danke.« Sie wirkte schrecklich erfreut.
Später am Nachmittag stahl ich von einem Blumenbeet des College ein paar späte Winterrosen und stellte sie auf den Tisch, zusammen mit einem verkokelten Hähnchen und aufgewärmtem Mais aus der Dose. Mein Leben war zu kurz, um Kartoffeln zu kochen. Mein Leben würde immer zu kurz sein, um Kartoffeln zu kochen. Das sagte ich Li, die wie von einer Schlange gebannt auf ihren Teller starrte. Isst man das hier? Wie schmeckt Truthahn? Ist es ein Opfertier? Schon das bloße Zuhören machte mich fertig. Ich versuchte, sie dazu zu bewegen, etwas Wein zu trinken, bis sie sich schließlich ein Glas genehmigte. Sofort fing sie an zu kichern. Ich trank drauflos und erging mich in Tiraden gegen die Werbung. Die schien sie ebenso zu interessieren wie die Atomkraft. Sie befragte mich zum irischen »Katholizismus« (ihre Aussprache war seltsam unsicher, offenbar hatte sie das Wort noch nie laut gesagt), und ich legte meinen Kopf auf den Tisch und sagte: »Oh, Li, oh, Li, oh, Li.« Das schienen wir beide recht lustig zu finden.
Ich bin vermutlich nicht sehr trinkfest. Ich hatte erst drei- oder viermal in meinem Leben Alkohol getrunken und fühlte mich ziemlich beduselt. Ehe ich mich versah, geriet ich wegen dieser Homosexualitätsgeschichte mit ihr aneinander. Sie wisse doch Bescheid – sie müsse einfach Bescheid wissen -, also warum habe sie gefragt? Sie sagte, nein, nein, in China gebe es so etwas nicht, sie hätten nicht einmal ein Wort für homosexuell. Es muss aber doch ein Wort dafür geben, antwortete ich, das hat nichts mit Kultur zu tun, das ist eine ganz natürliche Sache, aber sie lachte, als sei sie die Ausgefuchste und ich die Naive. Nein, sagte sie. Wirklich. Vielleicht gab’s mal ein Wort dafür, jetzt jedenfalls nicht mehr.
Im Flur läutete das Telefon – meine Familie wollte mir frohe Weihnachten wünschen. Also machte ich ganz auf »Ja, dir auch. Ja, dir auch«, während mir in atemberaubendem Tempo Brüder, Schwestern und Tanten durchgereicht wurden. Als ich zurückkam, hatte Li schon das Geschirr gespült. Sie kam ins Wohnzimmer und baute sich vor mir auf.
»Danke für eine schöne ›Weihnacht‹, Alison«, sagte sie ein wenig geschraubt. Dann ging sie an mir vorbei auf ihr Zimmer.