Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Millionen kennen die Romane und Erzählungen Franz Kafkas – seine Bücher sind in alle Schriftsprachen übersetzt -, und noch mehr Menschen, die nie eine Zeile von ihm gelesen haben, sind trotzdem mit seinem Namen vertraut und finden es ganz natürlich, ihre verwirrenden oder frustrierenden Erfahrungen mit dem undurchschaubar komplexen modernen Leben als »kafkaesk« zu bezeichnen. Kafka selbst gab nur wenige seiner Werke zur Veröffentlichung frei. Dazu gehörten die Erzählungen Die Verwandlung und In der Strafkolonie, die ihm, jede für sich genommen, schon einen hohen Rang im Pantheon der Literatur verschafft hätten, außerdem eine Handvoll anderer ebenso gelungener Texte, zum Beispiel Das Urteil, Ein Landarzt, Ein Bericht für eine Akademie, Ein Hungerkünstler und Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, die letzte von ihm verfaßte Erzählung. Diese Werke sicherten ihm die Bewunderung von Schriftstellern und Kritikern in Prag, Berlin und Wien, die ihn als einen Meister moderner deutscher Prosa anerkannten; schon zu Kafkas Lebzeiten wurde sein Werk in Anthologien aufgenommen und in tschechischen, ungarischen und schwedischen Übersetzungen publiziert. Mit Sicherheit hätte es nach seinem Tod nicht solche Weltberühmtheit ohne die unermüdlichen Anstrengungen Max Brods erlangt, seines engsten Freundes und ersten Biographen, der für die postume Veröffentlichung seiner Romane und Erzählungen sorgte.
Kafka hinterließ kein Testament, aber unmittelbar nach dem Tod des Freundes fand Brod in dessen Schreibtisch in der Wohnung der Eltern einen Brief mit einer »letzten Bitte«: Brod solle alles, was sich im Nachlaß finde – Tagebücher, Manuskripte, Briefe (fremde und eigene) und Gezeichnetes (Kafka konnte sehr gut zeichnen) -, restlos und ungelesen verbrennen, ebenso alles von seiner Hand, was andere in Besitz hätten. Diese »anderen« solle Brod »in [s]einem Namen darum bitten«, ihm die Manuskripte auszuhändigen. Weiter heißt es: »Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.«
1 In einem älteren Brief, den Brod ebenfalls im Schreibtisch des Freundes fand, legte Kafka fest:
Von allem was ich geschrieben habe gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der »Betrachtung« mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden).2
Brod entschied sich, Kafkas Verfügungen nicht auszuführen; als einen Hauptgrund dafür gab er an, daß er Kafka 1921 in einem Gespräch erklärt habe, er werde die Schriften nicht vernichten, falls sein Freund ihm tatsächlich so etwas zumuten würde. Daß Kafka daraufhin keinen anderen Testamentsvollstrecker bestimmt habe, der ihm zugesichert hätte, seine Bitte zu erfüllen, könne man – so Brod – als einen Hinweis verstehen, daß dem Freund »seine eigene Verfügung [kein] unbedingter und letzter Ernst« war. Der zwingende und entscheidende Grund war aber wohl Brods Einschätzung, »daß der Nachlaß Kafkas die wundervollsten Schätze, auch an seinem eigenen Werk gemessen, enthält«.3 Auch wenn man noch so fest davon überzeugt ist, daß allein der Autor das Recht hat, zu entscheiden, welche seiner Werke erscheinen und welche nie ans Licht kommen sollen, muß man dankbar sein, daß Kafkas Romane und späte Erzählungen erhalten geblieben sind.
Die Klausel in Kafkas zweitem sogenannten Testamentzettel, die Brod dazu autorisierte, Manuskripte und Briefe im Besitz anderer zurückzufordern, war, wie sich zeigte, von entscheidender Bedeutung. Brod besaß seit 1920 beziehungsweise 1923 die Manuskripte der Romane Der Proceß und Das Schloß. Er benutzte die zweite Verfügung als Druckmittel, um sich von Kafkas Eltern persönliche Papiere ihres Sohnes, die noch in seinem Zimmer lagerten, aushändigen zu lassen, unter anderem den 1919 geschriebenen, ungewöhnlich umfangreichen (in der Handschrift ungefähr hundert Seiten langen) Brief an den Vater. Dora Diamant (1898-1952), eine junge polnische Jüdin, mit der Kafka in seinen letzten Lebensmonaten in Berlin zusammengelebt hatte, übergab ihm ein Skizzenbuch, das Manuskript der Erzählung Der Bau und Kafkas letzte Tagebucheintragungen. Von Milena Jesenská (1896-1944), einer großen Liebe Kafkas, erhielt Brod das Manuskript des Romans Der Verschollene (Amerika), Briefe und zwölf Hefte mit Tagebuchnotizen von Ende 1909 bis zum 6. Januar 1921, die Kafka ihr im Oktober 1921 gegeben hatte. Briefe und Zeichnungen, dazu das Manuskript von Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse kamen von Robert Klopstock (1899-1972), einem Medizinstudenten, der während seines Militärdienstes an Tuberkulose erkrankt war. Kafka hatte sich mit Klopstock angefreundet, als sie sich beide in einem Lungensanatorium in Matliary in der Hohen Tatra aufhielten. Später, in der letzten Phase von Kafkas Krankheit, hatte Klopstock Dora Diamant geholfen, ihn zu pflegen.
Nachdem Brod die verschiedenen handschriftlichen Materialien zusammengetragen hatte, mußte er schwerwiegende editorische Probleme bewältigen, die mit dem ungeordneten Zustand der Manuskripte und mit Kafkas Kompositionsmethoden zusammenhingen, doch er setzte sich unermüdlich für die Veröffentlichung des Gesamtwerks ein. Daß Kafkas Schriften einen Succès d’estime erfahren hatten, war für deutsche Verlage kein ausreichender Grund, in einen Autor zu investieren, dessen Bücher sich bis dahin nicht gut verkauft hatten und dessen Attraktivität für das breite Publikum nur begrenzt schien; angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Deutschland wollten sie kein kommerzielles Risiko eingehen. Immerhin wurden die drei Romane publiziert: Der Proceß 1925 (in dem avantgardistischen Verlag Die Schmiede), Das Schloß 1926 und Amerika 1927 (beide im Verlag Kurt Wolff). Nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 verschlechterten sich die Publikationsmöglichkeiten für Werke jüdischer Autoren rapide. Kafkas Bücher wurden öffentlich verbrannt. Im Oktober 1935 wurden sie auf die schwarze Liste des »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« gesetzt. Danach mußte Brod zu allen möglichen Schachzügen Zuflucht nehmen, wie zum Beispiel die deutschen Rechte an Kafkas Werk dem nominell tschechischen Verlag Heinrich Mercy in Prag zu überschreiben, der mit dem Berliner Schokken Verlag assoziiert war. 1937 wurde die erste Gesamtausgabe von Kafkas Schriften abgeschlossen; die Bände I bis IV waren im Schocken Verlag erschienen, die Bände V bis VI bei Mercy. Diese Ausgabe enthielt Dichtungen, die vorher nur im Manuskript vorgelegen hatten, eine Auswahl aus den Tagebüchern und Briefen an Freunde (vor allem an Brod) und andere, aber weder die Briefe an Felice Bauer (1887-1960), Kafkas erste Verlobte, noch an Milena Jesenská. Derselbe Prager Verlag brachte 1937 Brods Kafka-Biographie heraus, ebenfalls in deutscher Sprache. (Daß eine tschechische Übersetzung von Kafkas Gesamtwerk erst im Herbst 2007 verfügbar war, ist ein erschreckendes Beispiel für die lähmende Wirkung, die das kommunistische Regime so lange Zeit auf die tschechische Kultur ausübte.)
Kafkas Tagebücher warfen ein besonderes Problem auf, da er in einige der Quarthefte, die er für seine diaristischen Eintragungen benutzte, häufig auch Ansätze oder Entwürfe zu literarischen Texten eintrug. Brod löste die am weitesten gediehenen dieser Fragmente aus dem Kontext der Tagebuchnotizen heraus und publizierte sie getrennt von ihnen. Die Frage, wie man mit den übrigen – autobiographischen – Eintragungen umgehen sollte, blieb zunächst offen. Brods anschließende Entscheidung, sie, wie auch die meisten Briefe Kafkas, die er an sich genommen hatte, zu veröffentlichen, läßt sich weniger überzeugend rechtfertigen als die zur Publikation der in den Tagebuchheften enthaltenen, fragmentarischen erzählerischen Texte. Es gibt blendend geschriebene Passagen in den Briefen und Tagebüchern, und zweifellos enthüllen sie viel von der qualvollen inneren Zerrissenheit dieses äußerst verschlossenen, in sich gekehrten Genies. Der Charakter dieser Enthüllungen – im Verein mit Kafkas Verfügung, sie ungelesen zu verbrennen – wäre Grund genug gewesen, seine Wünsche zu erfüllen. Brods Argument für die Erhaltung und Veröffentlichung der fragmentarischen literarischen Texte, daß diese nämlich »die wundervollsten Schätze, auch an seinem eigenen Werk gemessen« enthielten, konnte für die privaten Aufzeichnungen Kafkas nicht angeführt werden. Die Tagebücher geben nur spärlich Auskunft über Kafkas Leben und sagen relativ wenig wirklich Bezeichnendes über die wichtigsten Ereignisse und die ethischen, literarischen oder politischen Fragen seiner Zeit aus. Auf Kafkas Briefwechsel mit Milena Jesenská oder auch mit Felice Bauer trifft weitgehend zu, was er in einem Augenblick der Verzagtheit an Milena schrieb:
Und eigentlich schreiben wir immerfort das Gleiche. Einmal frage ich ob Du krank bist und dann schreibst Du davon, einmal will ich sterben und dann Du, einmal will ich Marken und dann Du, einmal will ich vor Dir weinen wie ein kleiner Junge und dann Du vor mir wie ein kleines Mädchen. Und einmal und zehnmal und tausendmal und immerfort will ich bei Dir sein und Du sagst es auch. Genug, Genug.4
Nach dem Tod Kafkas hatte Brod Felice und Milena nicht gedrängt, ihm die Briefe zur Vernichtung auszuhändigen oder sie selbst zu verbrennen, deshalb verlor er die Übersicht über ihr Schicksal in der Folgezeit. Als die deutsche Wehrmacht 1939 in Prag einmarschierte, vertraute Milena die Briefe in ihrem Besitz einem Freund an, dem Schriftsteller Willy Haas (1891-1973), der auch Kafka gekannt hatte. Haas veröffentlichte sie 1952 – in gekürzter und bearbeiteter Form – in Deutschland, mit dem Argument, daß Milena keine Einwände dagegen gehabt hätte. Milenas Tochter widersprach dieser aus der Luft gegriffenen Behauptung: Weder Kafka noch ihre Mutter würden jemals ihre Zustimmung dazu gegeben haben. Felice Bauer verließ Deutschland 1931 zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern und ging zunächst in die Schweiz. 1936 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten; Kafkas Briefe nahm sie mit. Einige Jahre vor ihrem Tod, verkaufte sie das Konvolut an den Verlag Schocken Books, und zwar einschließlich der Briefe Kafkas an ihre Freundin Grete Bloch (1892-1944), die er durch sie kennengelernt hatte. Kafkas Briefe waren ihr 1935 von Grete Bloch ausgehändigt worden.
Obwohl Kafkas Romane und Erzählungen streng ahistorisch sind, schrieb er doch nicht in einer Landschaft, die so leer und öde war wie die winterlichen Felder, durch die der glücklose Landvermesser K. auf seinem Weg zu Graf Westwests Schloß stapft. Als Felice erklärt hatte, sie sei eifersüchtig, weil Kafka seinem Roman
Amerika so viel Aufmerksamkeit zukommen lasse, schrieb er ihr galant:
Liebste, ich bitte Dich jedenfalls mit aufgehobenen Händen, sei nicht auf meinen Roman eifersüchtig. Wenn die Leute im Roman Deine Eifersucht merken, laufen sie mir weg, ich halte sie ja sowieso nur am Zipfel ihrer Kleidung fest. Und bedenke, wenn sie mir weglaufen, ich müßte ihnen nachlaufen, und wenn es bis in die Unterwelt wäre, wo sie ja eigentlich zuhause sind. Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich, wo wäre da, ich bitte Dich, der geringste Platz für Eifersucht?5
Kafka war verankert in Prag und in der deutschsprachigen jüdischen Mittelschicht und hatte die für einen Mann in seiner Stellung und seiner Zeit typische Sensibilität. Willy Haas, der erste Herausgeber der Briefe an Milena Jesenská und Mitglied des Prager Literatenkreises, in dem auch Kafka verkehrte, schrieb:
Kafka hat gewiß alles gesagt, was wir auf der Zunge hatten und niemals sagten, niemals sagen konnten. … Ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendein Mensch ihn überhaupt verstehen kann, der nicht in Prag und nicht um 1890 oder 1880 geboren ist. … Kafka scheint mir ein … österreichisches, jüdisches, Prager Geheimnis zu sein, zu dem nur wir den Schlüssel haben.6
Haas’ Behauptung ist reichlich übertrieben, enthält aber dennoch ein Körnchen Wahrheit, und zwar ein wichtiges: Schon ein ganz bescheidenes Wissen über Kafkas Leben und sein soziales Umfeld kann unser Verständnis seines Werks bereichern. Böhmen, Prag und Kafkas Familie scheinen ein guter Ausgangspunkt dafür zu sein.
I. »Das Leben ist bloß schrecklich«
Franz Kafka wurde 1883 als das erste Kind Herrmann Kafkas (1852-1931) und seiner Ehefrau Julie (1856- 1934), die mit Mädchennamen Löwy hieß, geboren; die Eltern waren Juden.
Er hatte zwei jüngere Brüder, die beide kurz nach der Geburt starben, und drei jüngere, ebenfalls in Prag geborene Schwestern: Elli (1889-1941), Valli (1890-1942) und Ottla (1892-1943), seine Vertraute und Lieblingsschwester. Unter dem Druck nationalistischer tschechischer Boykotte und gewalttätiger Übergriffe auf Geschäfte mit »deutschen« Eigentümern – deutschsprachige Böhmen, Christen wie Juden, galten als Deutsche – strich Herrmann erst ein R, dann ein N aus seinem Namen und wurde zu Heřman. Damit wollte er erreichen, daß sein Name weniger aggressiv deutsch klang.
»Prag läßt nicht los«, schrieb Kafka an Oskar Pollak, seinen besten Freund aus der Schulzeit im Gymnasium. »Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen …«1 Als Kafka geboren wurde, war »dieses Mütterchen« die drittwichtigste Stadt im Österreichisch-Ungarischen Kaiserreich – übertroffen nur von Wien und Budapest. Prag war die Hauptstadt des alten Königreichs Böhmen gewesen, das seit 1547 vom Haus Habsburg regiert wurde, nachdem Ferdinand I. zum König von Böhmen gewählt und von den böhmischen Ständen als Herrscher durch Erbrecht anerkannt worden war. Er hatte damit viel gewonnen, denn sein Herrschaftsbereich umfaßte nicht nur Böhmen, sondern auch die bedeutenden Provinzen Mähren und Schlesien. Rudolf II., 1575 in Prag zum böhmischen König gekrönt, machte die Stadt zu seiner Residenz und zur Hauptstadt des Habsburgerreichs – Beleg für die damalige Bedeutung der Stadt. 1617 wurden jedoch Regierungssitz und kaiserliche Residenz nach Wien verlegt, von wo aus auch zur Zeit von Kafkas Geburt Böhmen als Kronbesitz verwaltet wurde. Im Besitz der Habsburger blieb es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs; danach wurde eine unabhängige tschechische Republik ausgerufen, die zunächst aus Böhmen und Mähren bestand, der aber zwei Tage später auch das Nachbarland Slowakei beitrat, so daß die Republik fortan Tschechoslowakei hieß. Schlesien war schon durch den Österreichischen Erbfolgekrieg an Preußen verlorengegangen und wurde Teil Deutschlands, als die deutschen Staaten sich 1871 zum Deutschen Reich zusammenschlossen. Der Versailler Vertrag schlug einen Teil Schlesiens Polen zu.
Heřman und Julie Kafka
Das siebzehnte Jahrhundert war für Böhmen eine Zeit verheerender Kriege, die aus politischen wie auch aus religiösen Gründen geführt wurden. Ein steiler wirtschaftlicher Niedergang war die Folge, tschechische Großgrundbesitzer aus altem Adel wurden enteignet, ihre Ländereien ausländischen Familien zugesprochen, die den Kaiser mit Söldnern unterstützt hatten. Böhmische Protestanten wurden unterdrückt oder vertrieben und der römische Katholizismus zur Staatsreligion erklärt. Teil der Repressalien war auch, daß die tschechische Sprache auf den Status eines bäuerlichen Dialekts herabgestuft und Deutsch zur Verwaltungssprache erklärt wurde; die Angehörigen der Ober- und Mittelschicht sprachen untereinander Deutsch. Ende des achtzehnten Jahrhunderts entstand jedoch eine von den Ideen der Französischen Revolution angeregte tschechisch-nationale Bewegung; sie konnte in Wien Reformen durchsetzen, zu denen die Anerkennung des Tschechischen als einer gleichberechtigten Unterrichtssprache an Schulen und der Prager Universität gehörte. Im neunzehnten Jahrhundert wuchsen aber die Erbitterung und der Zorn der tschechischen Nationalisten; ihre Feindseligkeit richtete sich gegen alles, was deutsch war.
Böhmen und Mähren besaßen wie Österreich selbst und andere Habsburger Kronländer einen kleinen jüdischen Bevölkerungsanteil, der aber für die Wirtschaft von großer Bedeutung war. Die größte Konzentration jüdischer Untertanen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie fand sich in Galizien, einer polnischen Provinz, die bei der ersten polnischen Teilung Österreich zugeschlagen worden war. 1918, nach der Niederlage der Mittelmächte, kehrte der größte Teil Galiziens wieder zu der gerade unabhängig gewordenen Republik Polen zurück. Die Juden in Böhmen waren harten Gesetzen und Vorschriften unterworfen: Wie andernorts in Europa durften sie generell nur in Ghettos wohnen und hatten eine Vielzahl von gesetzlichen Restriktionen und Demütigungen zu erdulden.
Kafka im Alter von etwa zehn Jahren mit seinen Schwestern Elli und Valli
Die Schwestern Kafkas: Valli, Elli, Ottla (etwa 1898)
So mußten in Dörfern ansässige Juden sich zwar nicht in Ghettos versammeln, sie durften aber weder Land besitzen noch pachten. Jahrelang mußten Juden im Reich Maria Theresias für das Privileg, in Böhmen leben zu dürfen, eine Sondersteuer bezahlen. Die Französische Revolution bot den europäischen Juden Aussicht auf verbesserte Lebensbedingungen. Die 1789 vom Nationalkonvent verabschiedete Erklärung der Menschenrechte versprach allen Menschen Gleichheit und Freiheit der Religionsausübung. Das Versprechen erfüllte sich für französische Juden, als ihnen 1791 uneingeschränkte Bürgerrechte zugesprochen wurden. Die Welle von Revolutionen, die 1848 Kontinentaleuropa überrollte, führte dazu, daß in Wien am 25. April 1848 eine Verfassung verabschiedet wurde, die allen Minderheiten in den Provinzen des Reiches, also auch in Böhmen, freie Religionsausübung zusicherte; sie erklärte auch die Sondersteuern und andere den Juden auferlegte Restriktionen für hinfällig. Prompt folgte eine Gegenrevolution: Der liberale, aber schwache Kaiser Ferdinand I. dankte ab, und sein Nachfolger wurde sein ausgesprochen konservativer Neffe, Kaiser Franz Joseph. Zur großen Freude der Juden verkündete Franz Joseph jedoch 1849 eine neue Verfassung, die ihnen neue wichtige Rechte zusicherte, unter anderem das auf Eheschließung nach eigener Wahl, auf freie Wahl des Wohnorts und auf Grunderwerb. Das löste jedoch überall im Habsburgerreich und besonders in Böhmen heftige antisemitische Reaktionen aus, die sich in Hetzreden und antijüdischen Krawallen äußerten. In der Folge wurden jüdische Rechte wieder eingeschränkt, und erst 1867 hob eine nochmals geänderte Habsburger Verfassung alle auf Juden anwendbaren rechtlichen Benachteiligungen auf. Daß die Emanzipation der Juden vorangetrieben wurde, war kein Anzeichen für einen kaiserlichen Philosemitismus, es beruhte vielmehr auf der Kalkulation der Regierung, daß die unternehmerische Begabung der Juden, wenn man ihnen freie Hand ließe, die wirtschaftliche Stagnation Österreichs und Böhmens beenden würde. Und tatsächlich geschah das »böhmische Wunder«, bei dem Juden eine große Rolle spielten: Es kam zu einer rapiden Industrialisierung und einem Aufblühen des Handels im Land. Die Kehrseite des Fortschritts zeigte sich im Wiener Börsenkrach von 1873 und in der Wirtschaftskrise der achtziger Jahre; beide zusammen hatten verheerende Wirkungen – vergleichbar mit denen der großen Depression von 1929 – und führten 1879 zur Wahlniederlage der Liberalen. Ein anderer Nebeneffekt der raschen Industrialisierung war die Destabilisierung der böhmischen Landwirtschaft – die Schuld daran schob man den Juden zu.
In Österreich-Ungarn wie in den deutschen Staaten hatte es schon vorher einzelne Juden gegeben, die große Vermögen zusammengetragen hatten und deshalb als nützliche Untertanen von ihren Landesherren zu »Hofjuden« oder »Schutzjuden« ernannt wurden, so daß ihnen das Ghettoleben erspart blieb. Sie waren aber die Ausnahmen. Für die meisten anderen Juden waren die neuen Rechte ein lange erhofftes Signal; sie ermöglichten es ihnen, aus dem mittelalterlichen Sumpf herauszukriechen, die Chancen zu einem freieren Leben zu nutzen, Zugang zu einer deutschen Erziehung und Kultur zu gewinnen und damit die Eintrittskarte zur Mittelklasse zu erlangen. Dieser neue Optimismus verleitete Juden jedoch nicht zu einer Fehleinschätzung der Folgen einer Gleichheit de jure: De facto waren die Schranken nicht beseitigt, die Antisemitismus und Klassenbewußtsein errichtet hatten. In der Regel blieb die Offizierslaufbahn in der Habsburger Armee Juden versperrt, ebenso wie Lehrstühle an den Universitäten und mittlere oder höhere Beamtenstellen. Bis in die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatten sie in der k.u.k. Monarchie jedoch ungehinderten Zugang zu freien Berufen, und die Anzahl jüdischer Rechtsanwälte und Ärzte war sehr viel höher, als es der Gesamtzahl jüdischer Bürger entsprochen hätte. In Böhmen bildete sich ein Generationenmuster heraus: Orthodoxe Großeltern, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts geboren worden waren, hatten sich schlecht und recht in Dörfern und Kleinstädten, manchmal, aber nicht immer, in Ghettos als Händler, Hausierer, Handwerker oder Wirte durchgeschlagen; ihre Kinder arbeiteten sich hoch, wurden Kaufleute mit florierenden Geschäften und zogen nach Prag oder in andere größere Städte, weil sie sich dort mehr Entfaltungsmöglichkeiten versprachen und weil sie dem Haß der tschechischen Landbevölkerung entkommen wollten. Diese zweite Generation hielt an Glaubensregeln fest, aber das Judentum bildete nicht mehr den Mittelpunkt ihres Lebens. Die Enkelgeneration entfernte sich noch weiter von religiösen Geboten, ergriff einen der freien Berufe oder übernahm das Familienunternehmen und baute es weiter aus. Natürlich folgten nicht alle Kinder den Regeln dieses Gewinnspiels. Manche wurden statt dessen Schriftsteller. Darauf bezog sich ein Witz: Siehst du einen Juden in einem Prager Kaffeehaus, wird er wohl ein Schriftsteller sein.
Die Entwicklung innerhalb von Kafkas Familie entsprach dem Muster. Als sein Sohn Franz geboren wurde, war der Vater als Inhaber eines Galanteriewarengeschäfts in Prag fest etabliert. Aber Heřman, vierter Sohn eines Schächters und Fleischhauers in Wossek, einem südböhmischen Dorf mit kaum hundert Einwohnern, hatte nicht die Bildung und den Schliff, die ihm den Zutritt zu den höheren Rängen der assimilierten jüdischen Mittelschicht verschafft hätten. Sein Sohn ärgerte sich, daß der Vater seinen vom Glück stärker begünstigten Kindern regelmäßig die Armut der Fleischhauerfamilie und seine eigene harte Jugend unter die Nase rieb.
Unangenehm ist es, zuzuhören, wenn der Vater mit unaufhörlichen Seitenhieben auf die glückliche Lage der Zeitgenossen und vor allem seiner Kinder von den Leiden erzählt, die er in seiner Jugend auszustehen hatte. Niemand leugnet es, daß er jahrelang infolge ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen hatte, daß er häufig gehungert hat, daß er schon mit 10 Jahren ein Wägelchen auch im Winter und sehr früh am Morgen durch die Dörfer schieben mußte – nur erlauben, was er nicht verstehen will, diese richtigen Tatsachen im Vergleich mit der weiteren richtigen Tatsache, daß ich das alles nicht erlitten habe, nicht den geringsten Schluß darauf, daß ich glücklicher gewesen bin als er, daß er sich wegen dieser Wunden an den Beinen überheben darf, daß er von allem Anfang an annimmt und behauptet, daß ich seine damaligen Leiden nicht würdigen kann und daß ich ihm schließlich gerade deshalb, weil ich nicht die gleichen Leiden hatte, grenzenlos dankbar sein muß. Wie gern würde ich zuhören, wenn er ununterbrochen von seiner Jugend und seinen Eltern erzählen würde, aber alles dies im Tone der Prahlerei und des Zankens anzuhören, ist quälend. Immer wieder schlägt er die Hände zusammen: »Wer weiß das heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute ein Kind!«2
Ein Jude wird mit dreizehn Jahren, mit der Feier seiner Bar-Mizwa, zum Mann. Von jenem Zeitpunkt an war Heřman auf sich gestellt; er arbeitete als Wanderhändler für einen Kaufmann im nahegelegenen Pisek. Trotzdem hatte er, wahrscheinlich in der jüdischen Schule in Wossek, genug gelernt, um das Tschechische, das seine »Leitsprache« war, so gut lesen und schreiben zu können wie das Deutsche, das er fließend sprach. Er verstand auch genug Hebräisch, um sich im Gebet-buch zurechtzufinden. Wenn er in der Synagoge, wie es Brauch war, zur Kanzel gerufen wurde, konnte er aus der Thora vorlesen. Als er zwanzig war, wurde er zum Militär eingezogen. Sein Vater, der Fleischhauer, war ein Mann mit erstaunlicher Körperkraft gewesen, angeblich konnte er einen Sack Mehl mit den Zähnen hochheben. Heřman schlug ihm nach. Beim Militärdienst tat er sich hervor und brachte es bis zum Feldwebel. Nach seiner Entlassung versuchte er weiter sein Glück als Hausierer, fand aber, wie so viele Juden, das politische und soziale Klima Prags toleranter. Er ließ sich in der Stadt nieder und heiratete ein Jahr später, 1882, Julie Löwy. Mit der finanziellen Unterstützung seiner Schwiegereltern konnte er eine Galanteriewarenhandlung eröffnen, die sich nach und nach zu einem Engrosgeschäft entwickelte.
Die Großeltern Kafkas, Jakob Kafka und seine Frau Franziska
Seine Frau Julie kam aus einer bessergestellten Familie. Gesellschaftlich waren ihre Eltern, assimilierte und deutschsprachige Juden, der Familie Heřman Kafkas um eine Generation voraus. Franz Kafka verfasste später einen romantisch gefärbten Bericht über seine Vorfahren mütterlicherseits:
Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die 6 Jahre alt war, als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlungen erbitten mußte.
Sie erinnert sich auch an die vielen die Wände füllenden Bücher des Großvaters. Er badete jeden Tag im Fluß, auch im Winter, dann hackte er sich zum Baden ein Loch ins Eis. Die Mutter meiner Mutter starb frühzeitig an Typhus. Von diesem Tode angefangen wurde die Großmutter trübsinnig, weigerte sich zu essen, sprach mit niemandem, einmal, ein Jahr nach dem Tode ihrer Tochter, gieng sie spazieren und kehrte nicht mehr zurück, ihre Leiche zog man aus der Elbe. Ein noch gelehrterer Mann als der Großvater war der Urgroßvater der Mutter, bei Christen und Juden stand er in gleichem Ansehen, bei einer Feuersbrunst geschah infolge seiner Frömmigkeit das Wunder, daß das Feuer sein Haus übersprang und verschonte, während die Häuser in der Runde verbrannten. Er hatte 4 Söhne, einer trat zum Christentum über und wurde Arzt. Alle außer dem Großvater der Mutter starben bald. Dieser hatte einen Sohn, die Mutter kannte ihn als verrückten Onkel Nathan, und eine Tochter, eben die Mutter meiner Mutter.3
Julie Kafkas Vater, Jakob Löwy, hatte in Podiebrad, einer kleinen alten Stadt östlich von Prag, eine Tuchwarenhandlung besessen. Da keiner seiner Söhne das Geschäft übernehmen wollte, verkaufte er es, zog nach Prag, etablierte sich dort als Brauer und verdiente genug Geld, um im Smetanahaus am Altstädter Ring, einem der schönsten Häuser Prags, wohnen zu können. Jakobs Brüder waren ebenfalls Brauer oder Tuchfabrikanten. Als Heřman und Julie heirateten, war es noch üblich, daß Ehen unter Juden mit Hilfe von Heiratsvermittlern zustande kamen oder zumindest mit Billigung der Eltern geschlossen wurden. Heřman war ungebildet und arm, also ein Heiratskandidat für Julie, der die Eltern befremdet haben mag. Womöglich fürchteten ihr Vater und ihre Stiefmutter aber, daß die Tochter in Gefahr sei, eine alte Jungfer zu werden; sie war schon sechsundzwanzig. Vielleicht erkannten sie aber auch Heřmans Qualitäten: seinen Geschäftssinn, seinen Ehrgeiz und seinen aufrichtigen Wunsch, eine Familie zu gründen.
Kafka glaubte, zwischen der väterlichen und der mütterlichen Seite seiner Familie herrsche ein starker Gegensatz. Im
Brief an den Vater, den er seiner Mutter zum Lesen überlassen hatte, mit der Aufforderung, ihn anschließend an den Vater weiterzureichen – was sie nicht tat -, erklärte er dem Adressaten:
Als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach.
Vergleiche uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken, ein Löwy mit einem gewissen Kafka’schen Fond, der aber eben nicht durch den Kafka’schen Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch einen Löwy’schen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung wirkt und oft überhaupt aussetzt. Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit, natürlich mit allen zu diesen Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und manchmal auch Dein Jähzorn hineinhetzen.4
Seine geliebte jüngste Schwester Ottla hielt er für einen besonders komplizierten Fall:
Hier [war] etwas wie eine Art Löwy, ausgestattet mit den besten Kafka’schen Waffen. … Noch heute ist von uns vier Ottla vielleicht die reinste Darstellung der Ehe zwischen Dir und der Mutter und der Kräfte, die sich da verbanden. … Auf Deiner Seite die Tyrannei Deines Wesens, auf ihrer Seite Löwy’scher Trotz, Empfindlichkeit, Gerechtigkeitsgefühl, Unruhe und das alles gestützt durch das Bewußtsein Kafka’scher Kraft.5
Die Zahl der Onkel und Vettern väterlicherseits war groß. Aber die größte Bedeutung für Franz Kafkas Leben und Phantasie hatten die Onkel mütterlicherseits, und zwar vor allem drei von Julies insgesamt fünf Brüdern und Halbbrüdern. Alfred Löwy (1852-1923), der »Madrider Onkel«, in den Augen seines Neffen eine von einigem Glanz umgebene Gestalt, hatte es zum Direktor einer spanischen Eisenbahngesellschaft gebracht. 1907 nutzte er in einem entscheidenden Augenblick seine Verbindungen, um Kafka zu seiner ersten Anstellung zu verhelfen. Der Onkel Rudolf Löwy (1861-1921), der sich das Leben nahm, war Zielscheibe von Heřman Kafkas Spott, denn er war ein Sonderling, »der Narr der Familie«, der sich damit zufriedengab, als Buchhalter für eine Brauerei in einer Prager Vorstadt zu arbeiten. Außerdem blieb er Junggeselle und lebte mit seinem Vater zusammen, obwohl er diesen nicht ertragen konnte. Als klar wurde, daß Kafka weder Unternehmer werden noch als Anwalt Karriere machen würde, fing Heřman an, ihn damit zu hänseln, daß er Onkel Rudolf ähnlich sei. Der Ansicht Kafkas nach, der erst kurz zuvor ausgelotet hatte, wie tief das Unverständnis der Mutter für die Komplexität seiner Persönlichkeit war, war das eine halbe Wahrheit, die er glaubte anerkennen zu müssen.
Kommt beim Anblick meiner ganzen Lebensweise, die in eine allen Verwandten und Bekannten fremde falsche Richtung führt, die Befürchtung auf und wird sie von meinem Vater ausgesprochen, daß aus mir ein zweiter Onkel Rudolf, also der Narr der neuen nachwachsenden Familie, der für die Bedürfnisse einer andern Zeit etwas abgeänderte Narr werden wird, dann werde ich von jetzt ab fühlen können, wie in der Mutter, deren Widerspruch gegen solche Meinung im Laufe der Jahre immer kleiner wird, alles sich sammelt und stärkt, was für mich und was gegen Onkel Rudolf spricht und wie ein Keil zwischen die Vorstellungen von uns beiden fährt.6
Als Kafka im Januar 1922 einen schweren Nervenzusammenbruch erlitt, kam ihm sein Onkel Rudolf in den Sinn. Die Tagebuchnotiz über den Onkel ist ein erschreckendes Selbstporträt des Neffen in dieser Phase äußerster Angst und Depression:
Die Ähnlichkeit mit O. R. ist … verblüffend: beide still (ich weniger), beide von den Eltern abhängig (ich mehr), mit dem Vater verfeindet, von der Mutter geliebt (er noch zu dem schrecklichen Zusammenleben mit dem Vater verurteilt, freilich auch der Vater verurteilt), beide schüchtern überbescheiden (er mehr), beide als edle, gute Menschen angesehn wovon bei mir nichts und meines Wissens auch bei ihm nicht viel zu finden war (Schüchternheit, Bescheidenheit, Ängstlichkeit gilt als edel und gut, weil sie den eigenen expansiven Trieben wenig Widerstand entgegensetzt), beide zuerst hypochondrisch, dann wirklich krank, beide als Nichtstuer von der Welt ziemlich gut erhalten (er, weil er ein kleinerer Nichtstuer war, viel schlechter erhalten, soweit man bis jetzt vergleichen kann), beide Beamte (er ein besserer), beide allereinförmigst lebend ohne Entwicklung jung bis zum Ende, richtiger als jung ist der Ausdruck konserviert, beide nahe am Irrsinn, er, fern von Juden, mit ungeheuerem Mut, mit ungeheuerer Sprungkraft (an der man die Größe der Irrsinnsgefahr ermessen kann) in der Kirche gerettet, bis zum Ende noch, soweit man sehen konnte, lose gehalten, er selbst hielt sich wohl schon Jahre lang nicht. Ein Unterschied zu seinen Gunsten oder Ungunsten war, daß er eine kleinere künstlerische Begabung hatte als ich, also in der Jugend einen bessern Weg hätte wählen können, nicht so zerrissen war, auch durch Ehrgeiz nicht. Ob er um Frauen (mit sich) gekämpft hat, weiß ich nicht, eine Geschichte, die ich von ihm gelesen habe, deutete darauf hin, auch erzählte man, als ich ein Kind war, etwas dergleichen. … Es ist auch unwahr, daß er nicht gut war, ich habe an ihm keine Spur von Geiz, Neid, Haß, Gier bemerkt; um selbst helfen zu können, war er wahrscheinlich zu gering. Er war unendlich viel unschuldiger als ich, hier gibt es keinen Vergleich. Er war in Einzelheiten eine Karrikatur von mir, im Wesentlichen aber bin ich seine Karrikatur.7
Kafkas Lieblingsonkel war jedoch Siegfried Löwy (1867-1942), ein Landarzt in Triesch, einer mährischen Kleinstadt. Der Neffe verbrachte im August 1907 seine Sommerferien bei ihm. In einem Brief aus Triesch an Brod zählte er auf, was er dort – angeblich – alles tat: »Ich fahre viel mit dem Motorrad, ich bade viel, ich liege lange nackt im Gras am Teiche, bis Mitternacht bin ich mit einem lästig verliebten Mädchen im Park …«, und so ging es weiter.8
Dr. Siegfried Löwy, der »Landarzt«
Siegfried war der Onkel, an den sich die Familie 1924 um Rat wandte, als Kafka todkrank war. Wie Rudolf nahm sich auch Siegfried Löwy das Leben, aber aus einem ganz anderen Grund als sein Bruder; er entzog sich auf diese Weise der Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt.
Franz wurde in der kleinen ersten Wohnung von Heřman und Julie Kafka geboren; das Haus, in dem sie lag, befand sich an der Ecke Karpfengasse/Enge Gasse, am Rand der Josefstadt, dem alten jüdischen Ghetto, das im Rahmen der Slumsanierung aufgelassen worden war. Als seine finanzielle Situation sich zu bessern begann, mietete Heřman Kafka für sich und die Seinen zunehmend bessere Wohnungen in oder nahe der Prager Altstadt an. 1907 zog die Familie in ein am Ende der Niklasstraße in der Nähe der Moldau gelegenes Haus. Außer den sechs Kafkas lebten in dieser Wohnung auch Marie Werner, das Faktotum der Familie – »das Fräulein«, eine Jüdin, die nur Tschechisch sprach -, die Köchin, zwei Katzen und ein Kanarienvogel. Das Geschäft der Familie befand sich seit 1907 nicht mehr in der Zeltnergasse 12, sondern war in größeren Räumlichkeiten im Palais Kinsky am Altstädter Ring untergebracht.
Kafkas Schwestern teilten sich in der Wohnung im Haus Niklasstraße 36 ein Zimmer. Er aber hatte jetzt, als Vierundzwanzigjähriger, zum ersten Mal ein Zimmer für sich, allerdings ein Durchgangszimmer zwischen Elternschlafzimmer und Salon, von dem auch die Tür zum gemeinsamen Bad abging.
Das Palais Kinsky mit dem Geschäft von Kafkas Vater (im Erdgeschoß rechts)
Das Zusammenwohnen mit der Familie war für Kafka trotz dieses eigenen Zimmers eine Qual. Er war empfindlich und geräuschanfällig, und alle seine Sinne standen in der elterlichen Wohnung unter Dauerbelastung.
Eine Tagebuchnotiz von 1911 ist ein Zeugnis dafür:
Ich will schreiben, mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt durch das Vorzimmer wie durch eine Pariser Gasse ins Unbestimmte rufend ob denn des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt das Geschrei einer antwortenden Stimme.9
Den Lärm und alle anderen Störungen hätte Kafka womöglich leichter ertragen, wären sie nicht hauptsächlich auf das Konto des Vaters gegangen, wie zum Beispiel durch das allabendliche Kartenspiel:
… der Lärm des Kartenspiels und später der gewöhnlichen vom Vater, wenn er gesund ist wie heute, laut wenn auch nicht zusammenhängend geführten Unterhaltung.10
Wenn Heřman später um den kleinen Felix, Kafkas 1911 geborenen ersten Neffen, großes Aufheben machte, steigerte Eifersucht die Qual noch weiter:
Es ist jetzt nach dem Essen, gerade ist der kleine Felix auf dem Arm des Fräuleins durch mein Zimmer ins Schlafzimmer befördert worden, hinter ihm geht mein Vater, hinter ihm der Schwager, hinter ihm die Schwester. Nun ist er ins Bett der Mutter gebettet worden, und jetzt horcht der Vater in meinem Zimmer an der Tür des Schlafzimmers, ob ihn Felix nicht doch noch rufen wird, denn ihn liebt er am meisten. Tatsächlich ruft er noch »Dje-Dje«, was Großvater heißt, und nun öffnet der Vater zitternd vor Freude noch einigemal die Tür, steckt einigemal noch schnell den Kopf ins Schlafzimmer und entlockt so dem Kind noch ein paar Dje-Dje-Rufe.11
Die Eltern Kafkas mit ihrer Tochter Elli, deren Mann Karl Hermann und Enkel Felix (vermutlich um 1915)
»Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war«, erinnerte Kafka seinen Vater,
war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. … Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast, mußte das Kind sich beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: »zuerst iß, dann sprich« oder »schneller, schneller, schneller« oder »siehst Du, ich habe schon längst aufgegessen«. Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt, daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren.12
Kein Wunder, daß Kafka ein überzeugter missionarischer Vegetarier wurde – bis die Diät, zu der er im Kampf gegen die Tuberkulose gezwungen war, das Fleischessen notwendig machte – oder daß er auf das »Fletschern« schwor und jeden Bissen, wie von dem britischen Ernährungsreformer Horace Fletcher (1849- 1919) empfohlen, zweiunddreißig Mal kaute.
Die Tischsitten des Vaters erregten Kafkas Widerwillen, aber die intime Nähe zu seinen Eltern entsetzte ihn. In einem Brief an Felice vom 7. Juli 1913, wenige Wochen nachdem er ihr zum ersten Mal die Ehe angetragen hatte, schrieb er, es sei, »als ob mir der Anblick derer, von denen ich herkomme, Entsetzen erregt«. Dann beschrieb er Felice eine Landpartie mit der Familie:
Wir waren gestern alle, die Eltern, die Schwester und ich, durch einen Zufall gezwungen auf einer kotigen Landstraße schon im Dunkel etwa eine Stunde lang zu gehn. Die Mutter war natürlich trotz aller Mühe, die sie sich gab, sehr ungeschickt gegangen und hatte die Stiefel und gewiß auch die Strümpfe und Röcke ganz beschmutzt. Nun bildete sie sich zwar ein, nicht so eingeschmutzt zu sein, wie es zu erwarten gewesen wäre, und verlangte dafür zuhause, im Scherz natürlich, Anerkennung, indem sie verlangte, daß ich ihre Stiefel anschaue, sie seien ja gar nicht so schmutzig. Ich aber war, glaube mir, ganz außerstande hinunterzuschauen, und nur aus Widerwillen und nicht etwa aus Widerwillen vor dem Schmutz. Dagegen hatte ich … fast eine kleine Zuneigung zum Vater oder besser Bewunderung für ihn, der imstande war, das alles zu ertragen, die Mutter und mich und die Familien der Schwestern auf dem Lande und die Unordnung dort in der Sommerwohnung, wo Watte neben dem Teller liegt, wo auf den Betten eine widerliche Mischung aller möglichen Dinge zu sehen ist, wo in einem Bett die mittlere Schwester liegt, denn sie hat eine leichte Halsentzündung und ihr Mann sitzt bei ihr und nennt sie im Scherz und Ernst »mein Gold« und »mein Alles«, wo der kleine Junge in der Mitte des Zimmers, wie er nicht anders kann, während man mit ihm spielt, auf dem Fußboden seine Notdurft verrichtet, wo zwei Dienstmädchen sich mit allen möglichen Dienstleistungen durchdrängen, wo die Mutter durchaus alle bedient, wo Gansleberfett auf das Brot geschmiert wird und günstigsten Falles auf die Hände tropft … Nicht weil es Verwandte sind, sondern nur deshalb, weil es Menschen sind, halte ich es in den Zimmern mit ihnen nicht aus … Ich kann nicht mit Menschen leben, ich hasse unbedingt alle meine Verwandten, nicht deshalb, weil es meine Verwandten sind, nicht deshalb, weil sie schlechte Menschen wären … sondern einfach deshalb, weil es die Menschen sind, die mir zunächst leben.13
Schließlich erklärte er Felice, daß er
in einer Wüste, in einem Wald, auf einer Insel … unvergleichlich glücklicher leben wollte als hier in meinem Zimmer zwischen dem Schlafzimmer und dem Wohnzimmer meiner Eltern. … Hüte Dich Felice das Leben für banal zu halten, wenn banal einförmig, einfach kleinsinnig heißen soll, das Leben ist bloß schrecklich, das empfinde ich, wie kaum ein anderer. Oft – und im Innersten vielleicht ununterbrochen – zweifle ich daran ein Mensch zu sein.14