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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House

Für Franklin Earl Williams, meinen Vater

KAPITEL EINS
Die Jagd
Han Alister hockte neben der dampfenden Schlammquelle und betete, dass die dünne, verkrustete Schicht der Therme ihn tragen würde. Er hatte sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden, aber seine Augen brannten nach wie vor und tränten von den Schwefeldämpfen, die aus dem köchelnden Schlick aufstiegen. Er streckte seinen Stock nach ein paar Pflanzen mit seltsamen grünen Blüten aus, die am Rand der Quelle wuchsen, schob die Spitze unter die Erde und befreite ihre Wurzeln aus dem Schlamm. Dann zog er die Pflanzen heraus und ließ sie in die Hirschledertasche fallen, die über seiner Schulter hing. Vorsichtig, einen Fuß neben den anderen setzend, erhob er sich wieder und machte sich daran, sich auf festeren Boden zurückzuziehen.
Er hatte es beinahe geschafft, als er mit einem Fuß durch die brüchige Oberfläche stieß und bis zur Wade in dem grauen, klebrigen und heißen Schlamm versank.
»Bei Hanaleas blutigen Gebeinen!«, rief er aus, warf sich nach hinten und hoffte, nicht rücklings in einem anderen Schlammloch zu landen. Oder schlimmer noch in einer der Blauwasserquellen, in der das Fleisch auf seinen Knochen in kürzester Zeit verkochen würde.
Glücklicherweise landete er auf festem Boden, inmitten von Küstenkiefern. Der harte Aufprall ließ die Luft aus seiner Lunge geradezu explodieren. Hinter sich hörte Han, wie Fire Dancer den Hang herunterkletterte und dabei versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. Dancer packte Han an den Handgelenken, zog ihn auf festen Boden und lehnte sich dabei nach hinten, um das Gleichgewicht zu halten.
»Wir sollten deinen Namen ändern, Hunts Alone«, sagte Dancer und hockte sich neben Han. Dancers lohfarbenes Gesicht war ernst, die verblüffend blauen Augen blickten durch und durch unschuldig drein, aber seine Mundwinkel zuckten. »Wie wäre es mit ›Wades in the Mudpot‹, wo Du doch gerade so schön durch das Schlammloch gewatet bist? Oder nur ›Mudpot‹?«
Han fand das gar nicht witzig. Schwitzend packte er eine Handvoll Blätter und bearbeitete damit seinen Stiefel. Er hätte seine alten, abgetragenen Mokassins anziehen sollen. Die kniehohen Stiefel hatten ihn zwar vor ernsthaften Verbrennungen bewahrt, aber der rechte war jetzt voll von stinkendem Matsch. Und er wusste, dass er dafür einiges zu hören bekommen würde, wenn er nach Hause kam.
»Diese Stiefel sind clangefertigt«, würde seine Mutter sagen. »Hast du eine Ahnung, was sie kosten
Es spielte keine Rolle, dass sie für die Stiefel gar nichts bezahlt hatte. Dancers Mutter Willo hatte sie Han im letzten Frühling gegeben, als er den seltenen Todherrenpilz gefunden hatte. Seine Mutter war nicht gerade glücklich gewesen, als er sie mit nach Hause gebracht hatte.
»Stiefel?« Sie hatte ihn ungläubig angestarrt. »Extravagante Stiefel? Wie lange wird es wohl dauern, bis du aus i hnen rausgewachsen bist? Hättest du nicht um etwas Geld bitten können? Oder um Korn, damit wir was zu Essen haben? Feuerholz oder warme Decken zum Schlafen?« Sie war mit der Gerte auf ihn losgegangen, die sie stets schnell bei der Hand hatte. Han war zurückgewichen, denn er wusste aus Erfahrung, dass ein hartes, arbeitsreiches Leben seiner Mutter einen kräftigen Arm beschert hatte.
Sie hatte ihm Striemen auf dem Rücken und den Armen verpasst. Aber er hatte die Stiefel behalten.
Ihr Wert überstieg bei Weitem das, was er im Tausch dafür Willo gegeben hatte, das wusste er. Willo hatte sich gegenüber Han, seiner Mutter und seiner Schwester Mari immer großzügig gezeigt, denn ihnen fehlte ein Mann im Haus. Sofern man Han nicht als Mann zählte, was die meisten Leute nicht taten. Obwohl er fast schon sechzehn war und beinahe erwachsen.
Dancer kam mit Wasser von der Feuerlochquelle und goss es über Han’s dreckigen Stiefel. »Wie kommt es, dass nur widerliche Pflanzen, die an widerlichen Orten wachsen, wertvoll sind?«, fragte er.
»Wenn sie in einem Garten wachsen würden, wer würde dann noch gutes Geld für sie ausgeben?«, knurrte Han, der sich die Hände an seinen Clan-Leggins abwischte. Auch seine silbernen Armreifen waren schlammverkrustet. Der Schmutz hatte sich tief in ihre filigrane Gravur gegraben. Er tat gut daran, sie ordentlich auszubürsten, bevor er nach Hause kam, sonst würde er auch dazu was zu hören kriegen.
Es war das passende Ende für einen rundum enttäuschenden Tag. Seit dem Morgengrauen waren sie unterwegs, und alles, was er vorweisen konnte, waren drei Schwefellilien, ein großer Beutel mit Zimtrinde, etwas Scharfkraut und eine Handvoll gewöhnliches Schnappkraut, das er auf dem Flatland-Markt als Frauengras ausgeben konnte. Die leere Geldbörse seiner Mutter hatte ihn zu früh für diese Jahreszeit in die Berge getrieben.
»Das ist Zeitverschwendung«, sagte Han, obwohl es ursprünglich seine Idee gewesen war. Er griff nach einem Stein und warf ihn in das Schlammloch, in dem er mit einem hässlichen Platschen verschwand. »Versuchen wir was anderes.«
Dancer legte den Kopf schief, und seine mit Perlen verzierten Zöpfe schwangen hin und her. »Was hast du vor?«
»Gehen wir jagen«, sagte Han und berührte dabei den Bogen auf seinem Rücken.
Dancer runzelte nachdenklich die Stirn. »Wir könnten es auf der Wiese der Verbrannten Bäume probieren. Das Felswild zieht gerade vom Flachland hoch. Bird hat es vorgestern gesehen.«
»Dann gehen wir.« Han musste nicht lange überlegen. Es war die Zeit des Hungermondes. Die Töpfe mit den Bohnen, dem Kohl und dem getrockneten Fisch, die seine Mutter für den Winter vorbereitet hatte, waren leer. Auch wenn er noch so gerne eine weitere Mahlzeit aus Bohnen und Kohl gehabt hätte, es gab letztlich nichts anderes mehr als Haferbrei. Und noch mehr Haferbrei, manchmal mit einem salzigen Stück Fleisch, das dem Ganzen wenigstens etwas Geschmack verlieh. Fleisch auf dem Tisch würde die magere Ausbeute dieses Tages mehr als ausgleichen.
Sie machten sich nach Osten auf und ließen die rauchenden Quellen hinter sich zurück. Dancer legte ein unerbittliches Tempo vor, als er das Flusstal der Drynne entlangmarschierte, und angesichts der körperlichen Anstrengung besserte sich Han’s schlechte Laune etwas.
Es war gar nicht so leicht, an einem solchen Tag wütend zu bleiben. Überall um sie herum machten sich die ersten Vorboten des Frühling bemerkbar. Stinkkohl und Frauenkuss und Maiäpfel bedeckten den Boden, und Han genoss den Geruch der warmen, von der Winterdecke befreiten Erde. Die Drynne ergoss sich schäumend über Steine und stürzte in laut tosenden Wasserfällen nach unten, genährt von dem geschmolzenen Schnee der oberen Hänge. Es wurde wärmer, während sie weiter abstiegen, und schon bald zog Han seine Jacke aus Hirschleder aus und schob die Ärmel seines Hemdes über die Ellenbogen.
Die Wiese der Verbrannten Bäume war erst kürzlich einem Feuer zum Opfer gefallen. In ein paar Jahren würde der Wald sich diese Stelle zurückgeholt haben, aber jetzt glich sie einem Meer aus hohem Gras und Wildblumen, durchsetzt mit den aufrechten Stämmen verkohlter Küstenkiefern. Andere Stämme lagen überall verstreut herum, als wären sie von Riesen als Wurfgeschosse benutzt worden. Kniehohe Kiefern bedeckten den Boden, und Brombeeren und Dornensträucher badeten im Sonnenlicht, wo einst ein dichter Kiefernwald Schatten gespendet hatte.
Ein Dutzend Felswildtiere standen mit gesenkten Köpfen da und fraßen vom saftigen Frühlingsgras. Mit ihren großen Ohren verscheuchten sie Insekten und ihr rötliches Fell hob sich schimmernd von den Braun- und Grüntönen der Wiese ab.
Han’s Puls beschleunigte sich. Dancer war zwar der bessere Bogenschütze und geduldiger darin, sein Ziel anzuvisieren, aber Han war schließlich auch keine komplette Niete. Und so sah er keinen Grund, wieso nicht jeder von ihnen ein Tier schießen sollte. Bei dem Gedanken an saftiges Fleisch und einen duftenden Eintopf knurrte sein ständig leerer Magen nur noch heftiger.
Han und Dancer gingen in Windrichtung um die Wiese herum und entfernten sich hangabwärts von der Herde. Han hockte sich hinter einen großen Felsen und nahm den Bogen von seinem Rücken, befestigte die Sehne und prüfte sie mit seinem schwieligen Daumen. Der Bogen war neu. Han hatte ihn bekommen, weil er noch mal ein ganzes Stück gewachsen war. Der Bogen war clangefertigt, wie alles in seinem Leben, das Schönheit und Zweckmäßigkeit in sich vereinte.
Han erhob sich und zog die Sehne bis zum Ohr zurück. Dann hielt er inne und schnupperte in die Luft. Eine schwache Brise wehte deutlich den Geruch eines Waldbrands zu ihnen her. Han’s Blick wanderte den Berg hinauf, bis er an einer dünnen Rauchlinie hängen blieb, die über den Hang wanderte. Er sah Dancer an und hob fragend die Augenbrauen. Dancer zuckte mit den Schultern. Der Boden war feucht und die frisch sprießenden Frühlingsblätter waren grün und saftig. In dieser Jahreszeit konnte eigentlich nichts brennen.
Das Wild auf der Wiese nahm den Geruch jetzt ebenfalls wahr. Die Tiere hoben die Köpfe, schnaubten und stampften unruhig und das Weiß ihrer feuchten braunen Augen trat deutlich hervor. Han sah wieder zum Berg hin. Jetzt konnte er orangefarbene, purpurrote und grüne Flammen am Fuß der Rauchlinie erkennen, und der vom Hang herunterwehende Wind wurde heißer und war voller Qualm.
Purpurrote und grüne Flammen?, dachte Han. Gab es tatsächlich Pflanzen, die in diesen Farben brannten?
Die Herde lief einen Moment unruhig herum, als wäre sie unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Dann drehten sich die Tiere alle gleichzeitig um und kamen direkt auf Han und Dancer zugestürmt.
Han hob hastig wieder seinen Bogen an und schaffte es, einen Pfeil abzuschießen, als die Tiere vorbeiliefen. Aber er verfehlte sein Ziel vollständig. Auch Dancer hatte nicht mehr Glück.
Han rannte über alle Hindernisse hinweg hinter der Herde her und hoffte, noch eine Chance zu erhalten, aber es war sinnlos. Er konnte nur noch einen schmerzlichen Blick auf die weißen Flecken an ihren Schwänzen erhaschen, ehe die Tiere zwischen den Kiefern verschwanden. Leise vor sich hinmurmelnd, kehrte er zu Dancer zurück, der noch immer an der gleichen Stelle stand und zum Berg hochblickte. Die grelle Flammenlinie rollte immer schneller auf sie zu und hinterließ eine verbrannte und kahle Landschaft.
»Was geht da vor sich?« Dancer schüttelte den Kopf. »Um diese Jahreszeit gibt es keine Waldbrände.«
Das Feuer gewann zusehends an Fahrt und setzte sogar über Erdspalten hinweg. Glutstücke landeten überall um sie herum und wurden mit dem Fallwind mitgerissen. Die Hitze brannte auf Han’s ungeschütztem Gesicht und seinen Händen. Er wischte sich Asche vom Kopf und schlug Funken von seinem Hemd. Endlich begann er zu begreifen, in welcher Gefahr sie schwebten. »Komm. Wir sollten besser von hier verschwinden!«
Sie rannten, so schnell sie konnten, los und rutschten und schlitterten auf dem Schiefergestein und den nassen Blättern dahin. Ein Sturz, das wussten sie, war das Schlimmste, was ihnen jetzt passieren konnte. Sie suchten Zuflucht hinter einem Felsvorsprung, der zwischen der dünnen Pflanzenschicht des Berges hervorragte. Kaninchen, Füchse und andere kleinere Tiere rasten auf der Flucht vor dem Feuer an ihnen vorbei – dicht gefolgt von den zischenden und knisternden Flammen, die alles begierig verzehrten, was auf ihrem Weg lag.
Und dann folgten drei Reiter, die die Flammen wie Schäfer vor sich hertrieben. Han starrte sie fasziniert an. Es waren Jungen, und sie waren nicht älter als er und Dancer, aber sie trugen schöne Mäntel aus Seide und Sommerwolle, die bis zu ihren Steigbügeln reichten, und lange Stolen, auf denen fremdartige Abzeichen glitzerten. Ihre Pferde waren keine Bergponys, sondern Flatland-Pferde mit langen, schönen Beinen und stolz geschwungenen Hälsen, und die Sättel und das Zaumzeug waren silbern beschlagen. Han kannte sich mit Pferden aus und wusste, dass diese hier den Jahreslohn einfacher Leute kosten mussten.
Und den eines ganzen Lebens für ihn.
Die Jungen ritten locker und voll lässiger Arroganz dahin, als würden sie die atemberaubende Landschaft um sich herum gar nicht wahrnehmen.
Dancer erstarrte. Der Ausdruck seines bronzefarbenen Gesichts verhärtete sich und der Blick seiner blauen Augen war leer und düster. »Amulettschwinger«, flüsterte er atemlos und benutzte den Begriff der Clans für Magier. »Ich hätte es wissen müssen.«
Amulettschwinger, dachte Han, und Angst und Aufregung wallten gleichermaßen in ihm auf. Er hatte noch nie einen aus solcher Nähe gesehen. Magier verkehrten nicht mit Leuten wie ihm. Sie lebten in den kunstvollen Palästen um Fellsmarch Castle herum und gehörten zum Hof der Königin. Sie zogen als Gesandte ganz gezielt in fremde Länder. Denn die Gerüchte über die Macht ihrer Magie hielten fremde Eindringlinge fern.
Der Mächtigste von ihnen wurde als Hohemagier bezeichnet und war – was die Magie betraf – der Berater und Vollstrecker der Königin der Fells.
»Halte dich von den Magiern fern«, pflegte Han’s Mutter zu sagen. »Ihre Aufmerksamkeit ist das Letzte, was du auf dich ziehen solltest. Wenn du ihnen zu nahe kommst, wirst du vielleicht bei lebendigem Leib verbrannt oder in etwas Schlechtes und Unheiliges verwandelt. Einfache Leute sind für sie wie Dreck unter den Stiefeln.«
Wie alles, was verboten war, faszinierten Han auch die Magier, aber was dieses Verbot betraf, hatte er noch nie die Gelegenheit gehabt, es zu missachten. Amulettschwinger wurden in den Spirit Mountains nicht geduldet, abgesehen von ihrem Versammlungshaus auf Gray Lady, dem Berg, der sich über dem Vale erhob. Und sie pflegten auch nicht in Ragmarket einzudringen, der schäbigen Ecke von Fellsmarch, die Han seine Heimat nannte. Wenn sie etwas von den Märkten benötigten, ließen sie es sich von ihren Dienern besorgen.
Auf diese Weise hielten die drei Bevölkerungsgruppen der Fells einen zerbrechlichen Frieden aufrecht: die Magier von den Nördlichen Inseln, das Volk des Vales und die Clans der Berge.
Als die drei Reiter sich ihrem Versteck näherten, musterte Han sie eingehend. Der Amulettschwinger an der Spitze hatte glatte schwarze Haare, die von einem spitzen Haaransatz zurückfielen und bis über seine Schultern reichten. Er trug verschiedene Ringe an seinen langen Fingern und ein raffiniert gearbeiteter Anhänger hing an einer schweren Kette um seinen Hals. Zweifellos handelte es sich um ein mächtiges Amulett.
Seine Stolen waren mit Silberfalken versehen, deren Klauen zum Angriff ausgestreckt waren. Silberfalken, dachte Han. Vermutlich das Emblem seines Magierhauses.
Die anderen beiden waren rothaarig, hatten ähnlich breite, flache Nasen, und auf ihren Stolen waren Zähne fletschende Fellskatzen zu sehen. Sie müssen Brüder oder Vettern sein, dachte Han. Sie folgten ein Stück hinter dem schwarzhaarigen Magier und schienen ihm gegenüber voller Ehrfurcht. Han konnte nicht erkennen, ob auch sie irgendwelche Amulette trugen.
Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn er und Dancer sich weiter verborgen gehalten hätten, um die Gruppe an sich vorbeiziehen zu lassen. Aber Dancer hatte offenbar etwas anderes im Sinn. Er stürzte aus dem Schatten des Felsens hervor und sprang den Pferden fast vor die Hufe, sodass die drei Reiter sich alle Mühe geben mussten, in den Sätteln zu bleiben.
»Ich bin Fire Dancer«, rief Dancer in der Allgemeinen Sprache des Landes, »vom Marisa-Pines-Camp.« Er übersprang geflissentlich das Begrüßungsritual, das eigentlich zwischen Reisenden üblich war, und kam gleich zur Sache. »Dieses Camp will wissen, wer Ihr seid und was Magier auf Hanalea zu suchen haben, obwohl ihnen der Aufenthalt hier nach der Fuegung untersagt ist.« Dancer stand aufrecht da, die Hände zu beiden Seiten zu Fäusten geballt, und dennoch wirkte er neben den drei Fremden auf ihren gewaltigen Pferden klein.
Was ist bloß in Dancer gefahren?, fragte Han sich, der zögernd aus seinem Versteck kam, um sich neben seinen Freund zu stellen. Es gefiel ihm nicht, dass sich die Amulettschwinger in ihrem Jagdgebiet aufhielten, aber er besaß genug gesunden Menschenverstand, um es nicht mit der verfluchten Magie aufzunehmen.
Der schwarzhaarige Junge starrte finster auf Dancer hinunter, dann zuckte er zusammen, und seine schwarzen Augen weiteten sich vor Überraschung, ehe er wieder zu der kühlen, geringschätzigen Miene zurückfand.
Kennt er Dancer? Han blickte von einem zum anderen. Dancer sah nicht so aus, als würde er ihn kennen.
Obwohl Han größer war als Dancer, schien der Blick des Magiers über ihn hinwegzugleiten wie Wasser über Stein, um dann zu seinem Freund zurückzukehren. Han sah seine schlammverschmierten Leggins aus Hirschleder an und das Hemd vom Lumpenmarkt und er beneidete den Fremden um seine schöne Kleidung. Er kam sich unbedeutend vor. Geradezu unsichtbar.
Dancer ließ sich durch die Amulettschwinger nicht einschüchtern. »Ich habe nach Euren Namen gefragt«, sagte er und deutete dann auf die Flammen, die jetzt zurückwichen. »Das sieht für mich aus wie magisches Feuer.«
Woher weiß Dancer denn, wie magisches Feuer aussieht?, fragte sich Han. Oder tut er etwa nur so, als wüsste er es?
Der Junge mit dem Falkenabzeichen warf den anderen einen Blick zu, als versuchte er herauszufinden, wie er reagieren sollte. Als er von seinen Freunden keine Hilfe erhielt, wandte er sich wieder Dancer zu. »Ich bin Micah Bayar von Aerie House«, sagte er, als würde allein sein Name sie in die Knie zwingen. »Wir sind auf Befehl der Königin hier. Königin Marianna und die Prinzessinnen Raisa und Mellony jagen weiter unten im Vale. Wir treiben das Wild zu ihnen hinunter.«
»Die Königin hat den Befehl gegeben, den Berg in Brand zu setzen, damit sie einen schönen Jagdausflug hat?« Dancer schüttelte ungläubig den Kopf.
»Sagte ich das nicht gerade?«, fragte Bayar. Da war jedoch etwas in seiner Miene, das Han verriet, dass es nicht ganz die Wahrheit war.
»Das Fellswild gehört nicht der Königin«, warf Han ein. »Wir haben das gleiche Recht, es zu jagen, wie sie.«
»Auf jeden Fall seid Ihr unmündig«, sagte Dancer. »Es ist Euch gar nicht erlaubt, Magie anzuwenden. Und auch nicht, ein Amulett zu tragen.« Er deutete auf den Edelstein, der um Bayars Hals hing.
Woher weiß Dancer das alles?, fragte sich Han. Er selbst wusste nichts über die Regeln und Gesetze der Magier.
Dancer musste einen wunden Punkt getroffen haben, denn Bayar starrte ihn finster an. »Das ist Sache der Magier«, sagte der Amulettschwinger. »Das geht dich nichts an.«
»Nun, Micah Fluchbringer«, sagte Dancer und benutzte damit das abfällige Clan-Schimpfwort für Magier, »wenn Königin Marianna im Sommer Wildtiere jagen will, kann sie ins Hochgebirge kommen, wie sie es immer getan hat.«
Bayar hob seine schwarzen Augenbrauen. »Wo sie auf dem Erdboden schlafen darf, Schulter an Schulter mit einem Dutzend dreckiger Clan-Mitglieder, und eine ganze Woche ohne Bad auskommen muss, um dann, nach Holzkohle und Schweiß stinkend und von Insektenstichen übersät, nach Hause zurückzukehren?« Er schnaubte vor Lachen und seine Freunde stimmten mit ein. »Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen, dass sie die Unterbringung im Vale vorzieht.«
Er hat keine Ahnung, dachte Han und sah die gemütlichen Hütten mit ihren Schlafbänken vor sich, hörte die Lieder und Geschichten, die am Feuer erzählt wurden, und musste an die gemeinsamen Mahlzeiten denken, bei denen sich alle aus dem gemeinschaftlichen Topf bedienten. So viele Nächte war er schon unter Fellen und Clan-Decken eingeschlafen, während ein Hauch der alten Lieder seine Träume durchzog. Han war kein Clan-Mitglied, aber er wünschte sich oft, er wäre es. Der Clan war der einzige Ort, an dem er sich zu Hause fühlte. Der einzige Ort, an dem er nicht das Gefühl hatte, ständig um seinen Platz kämpfen zu müssen.
»Prinzessin Raisa hat drei Jahre lang im Demonai-Camp gelebt«, sagte Dancer und streckte das Kinn trotzig vor.
»Ihr Vater ist ein Clan-Geborener und hat ziemlich verschrobene Ideen«, erwiderte Bayar, und wieder lachten seine Kameraden. »Niemals würde ich ein Mädchen heiraten, das in den Camps gelebt hat. Ich hätte zu viel Angst, dass sie verdorben worden ist.«
Plötzlich hielt Dancer sein Messer in der Hand. »Wiederholt das, Fluchbringer«, sagte er. Seine Stimme klang kalt, wie das Wasser der Drynne.
Bayar riss heftig an den Zügeln seines Pferdes und ließ es einen Schritt zurückweichen, um mehr Abstand zwischen sich und Dancer zu bringen.
»Ich vermute, dass Frauen mehr von den Amulettschwingern zu befürchten haben als von irgendwem in den Camps«, sprach Dancer weiter.
Han’s Herz schlug schneller. Er trat neben Dancer und tastete mit einer Hand nach dem Heft seines eigenen Messers, darauf bedacht, nicht Dancers Arm zu behindern, falls er seines werfen wollte. Dancer hatte flinke Beine und konnte gut mit der Klinge umgehen. Aber was konnte eine Klinge schon gegen Magie ausrichten? Oder auch zwei Klingen?
»Entspann dich, Pilzesser.« Bayar benetzte sich die Lippen, den Blick auf Dancers Messer geheftet. »Es ist so: Mein Vater sagt, dass Mädchen, wenn sie aus den Camps zurückkehren, stolz und eigensinnig sind, und man sie nur noch schwer lenken kann. Das ist alles.« Er grinste, als hätte er einen Witz gemacht, über den sich alle amüsieren konnten.
Dancer verzog keine Miene. »Wollt Ihr damit sagen, dass die reinblütige Thronerbin der Fells es nötig hat … gelenkt zu werden?«
»Dancer«, warf Han ein, aber dieser tat die Warnung mit einer heftigen Kopfbewegung ab.
Han versuchte, die drei Amulettschwinger einzuschätzen, wie er es auch bei anderen Gegnern in einem Straßenkampf tun würde. Sie alle trugen schwere, kunstvolle Schwerter, die offenbar noch nicht häufig benutzt worden waren. Wir müssen sie von ihren Pferden kriegen, dachte er. Das könnte ein rascher Hieb gegen den Sattelgurt erledigen. Und sie dann angreifen, wenn ihre Schwerter ihnen nichts nützen werden. Wenn wir Bayar ausschalten, werden die anderen abhauen.
Einer der rothaarigen Magier räusperte sich nervös, als würde ihm der Verlauf des Gesprächs nicht behagen. Er war der Ältere der beiden, stämmig und mit plumpen, bleichen, von Sommersprossen übersäten Händen, die die Zügel fest packten. »Micah«, sagte er in der Sprache des Vales und machte eine nickende Kopfbewegung in Richtung des Hochtals. »Gehen wir. Wir werden noch die Jagd verpassen.«
»Warte, Miphis.« Bayar starrte auf Dancer hinunter. Seine schwarzen Augen funkelten in dem bleichen Gesicht. »Heißt du nicht Hayden?«, fragte der Junge wieder in der Allgemeinen Sprache und benutzte den Namen, den Dancer trug, wenn er ins Vale hinunterging. »Du heißt lediglich … Hayden, nicht wahr? Ein Bastardname, da du keinen Vater hast.«
Dancer erstarrte. »Das ist mein Flatland-Name«, sagte er und reckte trotzig das Kinn. »Mein richtiger Name lautet Fire Dancer.«
»Hayden ist der Name eines Magiers«, erwiderte Bayar und fingerte an dem Amulett um seinen Hals herum. »Wie kannst du es wagen, dir anzumaßen …«
»Ich maße mir gar nichts an«, unterbrach ihn Dancer. »Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Ich gehöre zum Clan. Wieso sollte ich mir einen Namen der Fluchbringer aussuchen?«
Gute Frage, dachte Han und sah von einem zum anderen. Einige Clan-Mitglieder benutzten typische Flatland-Namen, wenn sie im Vale waren. Aber woher kannte ein Fluchbringer wie Micah Bayar überhaupt Dancers Namen?
Bayar lief rot an, und es dauerte einen Moment, ehe er eine Antwort zustande brachte. »Das behauptest du, Hayden«, sagte er gedehnt. »Vielleicht hast du dich ja selbst gezeugt. Was bedeuten würde, dass du und deine Mutter …«
Dancers Arm zuckte nach oben, aber Han gelang es gerade noch rechtzeitig, ihn zur Seite zu stoßen, als er das Messer warf, sodass es zitternd in einem Baumstamm stecken blieb.
Komm schon, Dancer, dachte Han und zog den Kopf zwischen die Schultern, um dem finsteren Blick seines Freundes auszuweichen. Einen Magier zu töten, der auch noch zu den Freunden der Königin gehörte, würde ihnen einen Haufen Ärger einbringen.
Der Amulettschwinger Bayar saß einen Moment wie erstarrt da, als könnte er nicht glauben, was gerade geschehen war. Dann wurde sein Gesicht weiß vor Wut. Er richtete seine Hand gebieterisch auf Dancer, packte mit der anderen sein Amulett und begann, eine magische Formel zu murmeln, auch wenn er dabei etwas ins Stottern geriet.
»Micah«, wandte der schlankere Fellskatzen-Magier ein und drängte sein Pferd näher zu ihm heran. »Tu das nicht. Das ist es nicht wert. Das Feuer war eine Sache, aber wenn sie herausfinden, dass wir …«
»Sei still, Arkeda«, antwortete Bayar. »Ich werde diesen nichtsnutzigen Pilzessern beibringen, was Respekt heißt.« Verärgert über die Unterbrechung, fing er noch einmal von vorne an.
Das kommt dabei raus, wenn man versucht, Frieden zu stiften, dachte Han. Er nahm den Bogen vom Rücken, legte einen Pfeil an und zielte damit auf Bayars Brust. »He, Micah«, rief er. »Was ist hiermit? Wenn Ihr nicht sofort aufhört, schieße ich.«
Bayar blinzelte Han an, als wäre er erneut überrascht, ihn zu sehen. Vielleicht begriff er auch, dass er tatsächlich tot sein würde, ehe er seinen Zauberspruch vollendet hatte, denn er ließ das Amulett los und hob die Hände.
Beim Anblick des Bogens griffen Miphis und Arkeda nach ihren Schwertern. Aber als auch Dancer einen Pfeil an seinen Bogen legte, ließen sie los und hoben ebenfalls die Hände.
»Das ist sehr klug«, sagte Han mit einem Nicken. »Ich vermute, Flüche brauchen länger als Pfeile.«
»Selbst dann, wenn Ihr wirklich wissen solltet, was Ihr da tut«, fügte Dancer hinzu.
»Du hast versucht, mich umzubringen«, sagte Bayar zu Dancer, als wäre er überrascht, dass so etwas geschehen konnte. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wer ich bin? Mein Vater ist der Hohemagier, der Berater der Königin. Wenn er herausfindet, was du getan hast …«
»Wieso lauft Ihr nicht zurück nach Gray Lady und erzählt ihm alles?«, fragte Dancer und machte eine Kopfbewegung in Richtung des bergab führenden Pfades. »Geht. Ihr gehört nicht hierher. Verschwindet von diesem Berg. Sofort.«
Bayar wollte sich jedoch in Anwesenheit seiner beiden Freunde nicht so einfach geschlagen geben. »Vergiss nur eines nicht«, sagte er leise und fingerte wieder an seinem Amulett herum. »Es ist ein langer Weg den Berg hinunter. Und unterwegs kann alles Mögliche passieren.«
Bei den Gebeinen, dachte Han. Man hatte ihm oft genug in den Straßen und Gassen der Fells aufgelauert. Er kannte sich gut mit brutalen Kerlen aus und wusste, dass auch Bayar einer war. Dieser Junge würde sie verletzen, wenn er nur konnte, und das würde alles andere als fair ablaufen.
Han hielt die Bogensehne straff gespannt und deutete mit dem Kinn auf den Magier. »Ihr da«, befahl er. »Nehmt das Zauberstück ab und werft es auf den Boden.«
»Das hier?« Bayar berührte den geradezu böse wirkenden Edelstein, den er um seinen Hals trug. Als Han nickte, schüttelte der andere den Kopf. »Das kannst du unmöglich ernst meinen«, schnaubte er und schloss die Faust darum. »Weißt du, was das ist?«
»Ich hab so eine Ahnung«, sagte Han. Er machte eine Bewegung mit dem Bogen. »Nehmt es ab und werft es auf den Boden.«
Bayar erstarrte in seinem Sattel und wurde bleich. »Ihr könnt es aber gar nicht benutzen«, sagte er und wandte den Blick von Han ab und Dancer zu. »Wenn ihr es auch nur berührt, werdet ihr verbrennen.«
»Das Risiko gehen wir ein«, antwortete Dancer und warf Han einen Blick zu.
Der Amulettschwinger kniff die Augen zusammen. »Dann seid ihr also nichts weiter als Diebe«, sagte er spöttisch. »Ich hätte es wissen müssen.«
»Strengt mal Euren Kopf an«, sagte Han. »Was sollte ich wohl mit dem Ding da machen wollen? Ich habe nur keine Lust, mich den ganzen Weg nach Hause ständig umsehen zu müssen.«
Arkeda beugte sich zu Bayar hinüber und murmelte erneut etwas in der Sprache des Vales. »Gib es ihm lieber. Du weißt, was man über die Pilzesser sagt. Sie schneiden dir die Kehle durch, trinken dein Blut und verfüttern dich an die Wölfe, damit niemand deine Knochen findet.«
Miphis nickte heftig. »Oder sie benutzen uns für ihre Rituale. Sie verbrennen uns bei lebendigem Leib. Opfern uns ihren Göttinnen
Han biss die Zähne zusammen und bemühte sich, seine Überraschung und Erheiterung sich nicht anmerken zu lassen. Es schien, als hätten die Fluchbringer ihre eigenen Gründe, die Clans zu fürchten.
»Ich kann es ihnen nicht geben, du Idiot«, zischte Bayar. »Du weißt, warum. Wenn mein Vater herausfindet, dass ich es genommen habe, werden wir alle bestraft.«
»Ich habe dich davor gewarnt«, murmelte Arkeda. »Ich habe dir gesagt, dass es keine gute Idee ist. Aber du wolltest ja unbedingt Prinzessin Raisa beeindrucken.«
»Du weißt, dass ich es nicht genommen hätte, wenn wir unsere Eigenen haben dürften«, sagte Bayar. »Es war das Einzige, was ich … was starrt ihr so?«, fragte er, als er Han’s und Dancers Interesse an der Unterhaltung bemerkte und vermutlich zum ersten Mal begriff, dass sie die Sprache des Vales verstanden.
»Ich starre jemanden an, der ganz schön in Schwierigkeiten steckt und noch tiefer hineingeraten wird«, antwortete Han. »Und jetzt lasst das Amulett fallen.«
Bayar funkelte Han an, als sähe er ihn jetzt tatsächlich zum ersten Mal. »Du gehörst nicht einmal zum Clan. Wer bist du?«
Han war klug genug, einem Feind nicht seinen wahren Namen zu verraten. »Man nennt mich Shiv«, sagte er, indem er irgendeinen Namen aus dem Gedächtnis holte. »Streetlord von Southbridge.«
»Shiv, sagst du.« Der Magier versuchte, ihn mit seinem Blick zu bezwingen, aber seine Augen glitten immer wieder von ihm ab. »Es ist seltsam. Da ist etwas … du scheinst …« Seine Stimme versiegte, als wäre ihm der Gedanke verloren gegangen.
Han sah am Pfeilschaft entlang. Er spürte, wie der Schweiß zwischen seinen Schulterblättern hinabrann. Wenn Bayar nicht nachgab, musste er überlegen, was er als Nächstes tun würde. Im Augenblick hatte er keinen blassen Schimmer. »Ich zähle bis fünf«, sagte er und setzte seine undurchdringliche Miene wie früher in den Straßen auf. »Dann schieße ich Euch einen Pfeil in den Hals. Eins.«
Mit einer raschen, zornigen Handbewegung riss Bayar sich die Kette über den Kopf und warf das Amulett auf den Boden. Es klirrte leise, als es aufkam.
»Versuch ruhig, es aufzuheben«, sagte der Amulettschwinger und beugte sich im Sattel nach vorn. »Du traust dich ja doch nicht.«
Han sah von Bayar zu dem Amulett. Er war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte oder nicht.
»Geht! Verschwindet von hier!«, rief Dancer. »Denkt lieber darüber nach, wie Ihr dieses Feuer löschen wollt. Denn wenn es Euch nicht gelingt, das garantiere ich Euch, dann wird die Königin nicht sehr glücklich darüber sein. Egal, ob sie Euch befohlen hat, es zu entfachen oder nicht.«
Bayar starrte ihn einen Moment an und seine Lippen formten stumme Worte. Dann riss er das Pferd herum und schlug ihm die Fersen in die Flanken. Pferd und Reiter preschten hangabwärts, als wollte er tatsächlich versuchen, das Feuer zu löschen.
Arkeda starrte ihm nach, dann wandte er sich an Dancer. Er schüttelte den Kopf. »Ihr Idioten! Wie soll er es wohl ohne das Amulett löschen?« Er wendete sein Pferd und die beiden Magier folgten Bayar in etwas weniger halsbrecherischem Tempo.
»Ich hoffe, er bricht sich den Hals«, murmelte Dancer, während er den drei Amulettschwingern hinterhersah.
Han atmete geräuschvoll aus, löste die Spannung des Bogens und hängte ihn sich über die Schulter. »Was hatte die Sache mit deinem Namen auf sich? Bist du Bayar schon einmal begegnet?«
Dancer steckte seinen Pfeil mit einer heftigen Bewegung zurück in den Köcher. »Wo könnte ich schon einem Fluchbringer begegnet sein?«
»Wieso hat er so was über deinen Vater gesagt?«, ließ Han nicht locker. »Woher weiß er, dass …«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Dancer. Sein Gesicht war hart und wütend. »Vergiss es einfach. Gehen wir.«
Offensichtlich wollte Dancer nicht darüber sprechen. Auch gut, dachte Han. Er hatte kein Recht, sich zu beklagen. Schließlich hütete er selbst genug Geheimnisse.
»Was machen wir mit dem da?« Han ging in die Hocke und musterte das Zauberstück vorsichtig. Er hatte Angst, es anzufassen. »Glaubst du, er hat geblufft?« Er sah zu Dancer hoch, der aus sicherem Abstand zusah. »Ich meine, glaubst du, sie brauchen das hier wirklich, um das Feuer zu löschen?«
»Lass es einfach liegen«, sagte Dancer schaudernd. »Verschwinden wir von hier.«
»Bayar wollte es um keinen Preis hergeben«, gab Han zu bedenken. »Es muss wertvoll sein.« Han kannte Händler in Ragmarket, die magische Gegenstände verkauften. Er hatte mit ihnen ein- oder zweimal verhandelt, als er auf der Straße gelebt hatte. Ein Fund wie dieser hier konnte den Lebensunterhalt für ein ganzes Jahr sichern.
Du bist kein Dieb. Nicht mehr. Wenn er es oft genug sagte, würde es vielleicht sogar stimmen.
Aber er konnte das Amulett nicht liegen lassen. Ihm haftete etwas Böses und zugleich Faszinierendes an. Macht strömte von ihm aus, wie Hitze von einer Feuerstelle – und sie wärmte seine Brust, während sich der Rest seines Körpers vergleichsweise kühl anfühlte.
Mithilfe eines Stöckchens hob er das Amulett auf und ließ es an seiner Kette baumeln. Es drehte sich beinahe einschläfernd im Sonnenlicht: ein grüner, durchsichtiger Stein, der sich raffiniert in Form einer Schlange um einen Stab wand. An der Spitze des Stabes befand sich ein strahlender, rundgeschliffener Diamant, der größer war als jeder andere, den er bisher gesehen hatte. Die Augen der Schlange waren blutrote Rubine.
Han hatte hin und wieder mit Edelsteinen gehandelt, und er erkannte, dass dieser hier vorzüglich geschliffen war und die Steine von allerbester Qualität waren. Aber die wahre Verlockung dieses geheimnisvollen Gegenstands übertraf die Summe seiner einzelnen Bestandteile noch bei Weitem.
»Was hast du damit vor?«, fragte Dancer hinter ihm. In seiner Stimme schwang Missfallen.
Han zuckte mit den Schultern und betrachtete weiterhin den sich drehenden Edelstein. »Ich weiß es nicht.«
Dancer schüttelte den Kopf. »Du solltest das Amulett in die Schlucht werfen. Wenn Bayar es ohne Erlaubnis genommen hat, soll er auch erklären, was mit ihm geschehen ist.«
Han konnte sich einfach nicht vorstellen, das Amulett wegzuwerfen. Es gehörte nicht zu jenen Dingen, die man einfach so herumliegen lassen konnte, sodass es dann irgendjemand – vielleicht ein Kind aus dem Camp – fand.
Er fischte ein rechteckiges Stück Leder aus seiner Tasche und breitete es auf dem Boden aus. Nachdem er das Amulett in die Mitte gelegt hatte, wickelte er das Leder vorsichtig zusammen und steckte es in seine Tasche. Die ganze Zeit über fragte er sich, wie es nur so weit hatte kommen können. Wie es möglich gewesen war, dass er und Dancer in eine so verfahrene Situation mit den Magiern geraten waren. Und welche Verbindung zwischen ihnen und Dancer bestand.
Vielleicht aber war das nur der Auftakt zu einer Reihe von unglückseligen Ereignissen. Denn Han schien stets in Schwierigkeiten zu geraten, egal wie sehr er sich bemühte, ihnen aus dem Weg zu gehen.

KAPITEL ZWEI
Ungeahnte Folgen
Raisa rutschte ungeduldig im Sattel hin und her, sah sich suchend um und blinzelte dabei gegen das Sonnenlicht, das den Pfad vor ihr sprenkelte.
»Lass das, Raisa!«, schnappte ihre Mutter sofort. Es war eine jener Bemerkungen, die einen guten Teil der Konversation mit der Königin ausmachten. Dazu zählte auch so etwas wie: »Setz dich gerade hin!« und »Was hast du denn vor?« sowie das universelle »Raisa ana’Marianna!«
Also legte Raisa eine Hand über die Augen, während sie weiterhin in den Wald hinein Ausschau hielt. »Reiten wir endlich los«, sagte sie. »Sie hätten schon vor einer halben Stunde hier sein sollen. Wenn sie es nicht schaffen, pünktlich zu sein, sollten wir sie zurücklassen. Wir vergeuden den Tag.«
Lord Gavan Bayar drängte sein Pferd näher zu ihr heran und legte seine Hand auf Maggies Zaumzeug. »Bitte, Hoheit, gebt ihnen noch ein paar Minuten. Micah wird ziemlich enttäuscht sein, wenn er die Jagd verpasst. Er hat sich die ganze Woche darauf gefreut.« Der gut aussehende Hohemagier schenkte ihr ein übertriebenes Lächeln, wie Erwachsene es gegenüber Kindern zu tun pflegten, wenn andere Erwachsene dabei waren.
Micah hat sich auf die Jagd gefreut?, dachte Raisa. Bestimmt nicht annähernd so sehr wie ich. Er kann schließlich tun und lassen, was er will.
Vielleicht ist er noch wegen gestern Abend verärgert, dachte sie weiter. Und lässt uns deshalb warten. Er ist es nicht gewohnt, einen Korb zu bekommen.
Raisa drückte Maggie die Knie in die Flanken und die Stute befreite sich mit einem heftigen Ruck ihres Kopfes aus dem Griff des Magiers. Sie schnaubte und scheute vor einem herabschwebenden Blatt. Sie war genauso wild darauf, endlich loszureiten, wie Raisa.
»Ich bin auch oft zu spät dran«, flötete Raisas jüngere Schwester Mellony und drängte ihr Pony vorwärts. Ihre hellen Haare leuchteten im Sonnenlicht. »Vielleicht sollten wir etwas geduldiger sein.«
Raisa warf ihr einen schneidenden Blick zu und Mellony biss sich auf die Lippe und sah zur Seite.
»Micah hat vermutlich die Zeit vergessen«, sprach Lord Bayar weiter. Er versuchte, sein eigenes Pferd – einen großen Hengst – zu beruhigen. Eine Brise zerzauste seine silberne Mähne, die durchsetzt war mit den roten und goldenen Strähnen der Magier. »Ihr wisst, wie Jungen sind.«
»Vielleicht solltet Ihr ihm dann zu seinem nächsten Namenstag eine Taschenuhr schenken«, entgegnete Raisa säuerlich, womit sie ein sofortiges »Raisa ana’Marianna!« ihrer Mutter auf sich zog.
Es ist mir egal!, dachte sie. Es war schlimm genug, dass sie seit der Sonnenwende auf Fellsmarch Castle eingesperrt war und sich mit Lehrern und dem unsinnigen Lernstoff von drei Jahren herumschlagen musste.
Zum Beispiel mit so etwas: Eine Lady kann sich mit jedermann unterhalten, unabhängig von Rang und Alter. Bei Tisch ist es die Pflicht der Gastgeberin, alle Anwesenden in die Konversation einzubeziehen. Sie sollte die Unterhaltung ablenken von Fragen der Politik und solchen Themen, welche die Gesellschaft entzweien könnten, und darauf vorbereitet sein, notfalls selbst andere Gesprächsinhalte einzubringen.
Wenn eine Lady dies tun sollte, dachte Raisa, sollte das dann auch ein Mann tun? Wurde es auch von ihm verlangt?
Sowohl Raisa als auch ihre Mutter hatten sich verändert während der drei Jahre, die sie im Demonai-Camp verbracht hatte, und nun kam es Raisa so vor, als wären sie ständig anderer Meinung. Ihr Vater Averill, ein Clan-Geborener, war immer wie ein Puffer zwischen ihnen gewesen. Jetzt allerdings war er ständig unterwegs, und Marianna hörte nicht auf, Raisa wie ein Kind zu behandeln.
In der letzten Zeit konnte Raisa das Getuschel nicht mehr überhören, das der Königin folgte. Die einen sagten, sie würde ihre Aufmerksamkeit zu wenig auf die Finanzen, die Politik und die Staatsangelegenheiten richten. Die anderen sagten, sie würde dem Hohemagier und dem Rat auf Gray Lady zu viel Beachtung schenken. War das schon immer so gewesen, oder bemerkte Raisa es einfach erst jetzt, da sie älter war?
Vielleicht war es dem Einfluss ihrer Großmutter Elena zu verdanken. Die Matriarchin des Demonai-Camps hatte viele Meinungen und Ansichten über die Politik des Vales und den wachsenden Einfluss der Magier. Und sie hatte während der drei Jahre, die Raisa bei der Familie ihres Vaters gelebt hatte, nie gezögert, sie kundzutun.
Nachdem Raisa im Demonai-Camp verhältnismäßig viel Freiraum genossen hatte, war es nun furchtbar für sie, ihre Füße in kneifende Schuhe und raffinierte Strümpfe zu zwängen, die am Hof bevorzugt wurden, und in den gerafften, mädchenhaften Kleidern, die ihre Mutter für sie aussuchte, schwitzen zu müssen und von Juckreiz gequält zu werden. Sie war fast sechzehn, beinahe erwachsen, doch meistens kam Raisa sich vor wie eine mehrstufige Hochzeitstorte auf zwei Beinen.
Aber nicht an diesem Tag. An diesem Tag hatte sie ihr Hemd und ihre Clan-Stiefel angezogen, und darüber trug sie ihren hüftlangen Reitumhang. Sie hatte sich ihren Bogen über die Schulter geworfen und einen Köcher mit Pfeilen in einen Schaft am Sattel gesteckt. Lord Bayar hatte sie von oben bis unten gemustert, als sie Maggie aus dem Stall führte, und seinen Blick dann auf die Königin gerichtet, um deren Reaktion zu sehen.
Raisas Mutter hatte die Lippen zusammengepresst und einen schweren Seufzer von sich gegeben. Aber sie hatte offenbar entschieden, dass es bereits zu spät war, um ihre Tochter zum Umziehen zurückzuschicken. Mellony dagegen ähnelte ganz ihrer Mutter mit ihrer taillierten Jacke, dem langen, geteilten Reitkleid und dem Schwall von Unterröcken, die sich über ihre Stiefel ergossen.
Raisas jüngere Schwester Mellony war ganz das Ebenbild ihrer Mutter. Sie hatte Mariannas blonde Haare und ihren cremefarbenen hellen Teint geerbt, und alles deutete darauf hin, dass sie auch genauso groß oder sogar noch größer werden würde. Raisa dagegen kam mit ihren dunklen Haaren, den grünen Augen und der kleinen Statur mehr nach ihrem Vater.
Und so waren sie an diesem schönen, sonnigen Tag hier bereit zum Aufbruch und voller Erwartung auf die Jagd versammelt, und Raisa vergeudete ihre Zeit damit, auf den unpünktlichen Micah Bayar und seine beiden Vettern zu warten.
Micah war ein wagemutiger Reiter und ein draufgängerischer, kämpferischer Jäger. Er war genauso alt wie sie, und bei seinem dunklen, gefährlich gut aussehenden Anblick fiel die Hälfte der Mädchen am Hof in Ohnmacht.
Seit ihrer Rückkehr nach Fellsmarch hatte er sie mit schmeichelhafter Hartnäckigkeit umworben, und sie konnte es einfach nicht lassen, darauf einzugehen. Die Tatsache, dass ihre Romanze verboten war, machte sie nur umso verführerischer. Fellsmarch Castle hatte überall Augen und Ohren, und doch fanden die beiden immer wieder einen Platz, an dem sie sich unbeobachtet treffen konnten. Micahs Küsse waren berauschend und seine Umarmungen machten sie ganz schwindlig.
Aber es war mehr als das. Er hatte einen verwegenen, zynischen Witz, mit dem er die Gesellschaft, aus der sie beide stammten, aufs Korn nahm. Er brachte sie zum Lachen, was in diesen Tagen jedoch nicht oft geschah.
Raisa wusste, dass schon der Flirt mit Micah Bayar gefährlich war, doch war es zugleich eine Möglichkeit, gegen ihre Mutter und die Zwänge am Hof zu rebellieren. Allerdings ging diese Rebellion nicht sehr weit. Sie war schließlich nicht so strohdumm wie Missy Hakkam, die bereit war, ihre Keuschheit für ein bisschen schlechte Dichtkunst und einen Kuss auf das Ohrläppchen einzutauschen.
Doch Geduld zählte nicht gerade zu Micah Bayars Stärken. Deshalb auch der Streit am vorangegangenen Abend.
Sie hatte sich darauf gefreut, mit ihm auf die Jagd zu gehen, aber sie war nicht bereit, ewig zu warten. Die Zeit verrann und die günstige Gelegenheit noch dazu. Das war wohl ihr Schicksal.
Auch Hauptmann Edon Byrne und ein Tripel von neun Soldaten saßen aufbruchbereit auf ihren Pferden. Die Männer unterhielten sich leise miteinander. Byrne war der Hauptmann der Wache der Königin, der letzte einer langen Reihe von Byrnes in dieser Position. Er hatte trotz der Einwände von Lord Bayar darauf bestanden, mit einer Eskorte an der Jagd teilzunehmen.
Jetzt wandte sich Byrne an die Königin. »Soll einer meiner Männer nach den Jungen suchen, Euer Gnaden?«, fragte er.
»Wenn es nach mir ginge, könntet Ihr alle gehen, Hauptmann Byrne«, sagte Lord Bayar in betont gedehnter Weise. »Königin Marianna und die Prinzessinnen sind vollkommen in Sicherheit. Es ist absolut überflüssig, dass Ihr und Eure Männer wie ein allzu langer Drachenschwanz hinter uns herzieht. Die Clans sind vielleicht unzivilisiert und unberechenbar, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas anstellen, solange ich da bin.« Er fingerte an dem Amulett herum, das um seinen Hals hing, für den Fall, dass Byrne ihn nicht verstanden haben sollte. Der Hohemagier sprach stets überaus langsam und deutlich mit Hauptmann Byrne, als wäre dieser ein Schwachkopf.
Byrne hielt dem Blick des Magiers ungerührt stand; sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht blieb undurchdringlich. »Schon möglich, aber es sind auch nicht die Clans, worüber ich mir Sorgen mache.«
»Nun, das ist offensichtlich.« Bayar zeigte ein dünnes Lächeln. »Wo Ihr und der Königsgemahl doch die junge Prinzessin Raisa wiederholt zu ihnen gebracht habt.« Abscheu flackerte in seinem Gesicht auf.
Da war noch etwas, das Raisa ärgerte: Lord Bayar nannte ihren Vater nie mit Namen. Er sprach von Averill Demonai als dem Königsgemahl, ganz so, als würde er ein Amt bekleiden, das jeder erhalten konnte. Viele Adelige des Vales verachteten Raisas Vater, weil ihm als Clan-Händler eine Ehe ermöglicht worden war, die sie selbst gerne eingegangen wären.
Aber tatsächlich hatte es gute Gründe gegeben, die die Königin der Fells zu dieser Heirat bewogen hatten. Averill hatte die Unterstützung der Clans mitgebracht, die ein Gegengewicht zu der Macht des Magierrates darstellte. Etwas, das dem Hohemagier natürlich nicht gefiel.
»Lord Bayar«, sagte die Königin scharf. »Ihr wisst sehr genau, dass Prinzessin Raisas Aufenthalt bei den Clans dem entspricht, was in der Fuegung vereinbart wurde.«
Die Fuegung war das Abkommen zwischen den Clans und dem Magierrat, mit dem die Große Zerstörung beendet worden war – jene magische Katastrophe, die die Welt fast ausgelöscht hätte.
»Aber es ist sicher nicht nötig, dass Prinzessin Raisa so viel Zeit fernab vom Hof verbringen muss«, erwiderte Bayar und lächelte die Königin an. »Armes Ding. Wenn ich nur an all die Tänze und Festlichkeiten und Feiern denke, die sie verpasst hat.«
Und das Sticken und die Sprecherziehung, fügte Raisa im Stillen hinzu. Wirklich verdammt schade.
Byrne musterte Raisa wie ein Pferd, dessen Kauf er in Erwägung zog, und dann sagte er auf seine unverblümte Weise: »Man sieht’s ihr nicht an. Und sie reitet wie eine Demonai-Kriegerin.«
Das war ein großes Lob von jemandem wie Byrne. Raisa richtete sich augenblicklich etwas auf.
Königin Marianna legte Byrne eine Hand auf den Arm. »Haltet Ihr es wirklich für so gefährlich, Edon?« Sie war stets erpicht darauf, Auseinandersetzungen so rasch wie möglich zu beenden, selbst wenn das bedeutete, deren Ursachen einfach unter den Tisch zu kehren.
Byrnes Blick wanderte zur Hand der Königin auf seinem Arm und dann wieder hinauf zu ihrem Gesicht. Seine schroffen Züge wurden ein bisschen weicher. »Euer Gnaden, ich weiß, wie sehr Ihr die Jagd liebt. Aber wenn es darum geht, einer Herde in die Berge zu folgen, kann Lord Bayar Euch nicht begleiten. Die Grenzlande sind jedoch voller Flüchtlinge. Ein Mann, dessen Familie vom Hungertod bedroht ist, wird alles tun, um sie am Leben zu erhalten. Söldner reisen durch dieses Gebiet und wollen entweder in den Krieg nach Arden ziehen oder sie kommen von dort. Die Königin der Fells wäre eine wertvolle Beute für sie.«
»Ist das alles, was Euch Sorgen macht, Hauptmann Byrne?«, versetzte Bayar mit zusammengekniffenen Augen.
Byrne zuckte nicht mal mit der Wimper. »Gibt es etwas anderes, das mir Sorgen machen sollte? Etwas, das Ihr mir gern mitteilen würdet?«
»Vielleicht sollten wir losreiten«, meinte Königin Marianna und zog die Zügel straff. »Es dürfte Micah und den anderen nicht schwerfallen, uns zu folgen und einzuholen.«
Lord Bayar nickte steif. Micah wird was zu hören kriegen, dachte Raisa. Der Hohemagier sah aus, als wäre er drauf und dran, jemandem den Kopf abzubeißen und dann die Zähne auszuspucken. Raisa drängte Maggie vorwärts und nahm die Führung der Gruppe ein. Byrne brachte seinen großen Braunen neben sie, während die anderen ihnen folgten.
Der Weg führte zwischen üppigen Hochlandwiesen hindurch, auf denen Borretsch und Butterblumen leuchteten. Rot geflügelte Schwarzdrosseln klammerten sich auf beinahe unmögliche Weise an schwankende Samenkapseln, die noch vom vergangenen Jahr an den Bäumen hingen. Raisa saugte alle Einzelheiten in sich auf wie ein Maler, der einen ganzen Sommer lang ohne Farbe hatte auskommen müssen.
Auch Byrne sah sich um, aber aus einem anderen Grund. Er suchte unentwegt den Wald nach allen Seiten ab, den Rücken aufrecht, die Zügel locker in den Händen. Seine Männer schwärmten in großen Bogen um sie herum und kundschafteten den Weg aus, richteten ihr Augenmerk nach vorn und zurück, und während die Gruppe eine Meile zurücklegte, brachten die Soldaten drei hinter sich.
»Wann kommt Amon nach Hause?«, fragte Raisa und erprobte ihre schwer erkämpften Konversationsfertigkeiten an dem mürrischen Hauptmann.
Byrne musterte sie lange, ehe er antwortete. »Wir rechnen jeden Tag mit ihm, Hoheit«, sagte er dann. »Wegen der Kämpfe in Arden musste er jedoch den langen Weg von Odenford hierher nehmen.«
Es war mehr als drei Jahre her, seit Raisa Amon zum letzten Mal gesehen hatte – Byrnes ältesten Sohn. Als sie nach ihrem dreijährigen Aufenthalt im Demonai-Camp zur Sonnenwende an den Hof zurückgekehrt war, hatte sie erfahren müssen, dass Amon auf der militärischen Schule bei Odenford, Wien House, war. Er wollte in die Fußstapfen seines Vaters treten und Soldaten begannen ihre Ausbildung nun mal früh.