SadJoe ist Punkrocker, zahlt jede Woche die Miete aber fürs System ist so einer trotzdem’ne Niete SadJoe hat kein Glück, greift meistens ins Klo sein Rottweiler heiϐt Candy und ziert seinen Hals als Tattoo seine Freundin sitzt an der Kasse in der Knitting Fac-to-ry sie bringt ihn zu allen Bands, und zahlen muss er nie trinkt auf SadJoe, unsern Drummer, Mikkey Dee, sieh dich vor, Joe ist die gröϐere Nummer.
Die Sängerin hatte Präsenz. Sie war keine Schönheit, und sie traf nicht immer den richtigen Ton, aber sie hatte Präsenz. Tabachnik beobachtete sie. Bei Gott, das Mädchen konnte brüllen. Von Zeit zu Zeit musterte er die jungen Gesichter in der Menge. Die Art, wie die Kids sie anstarrten – die weiter hinten sprangen hoch, um besser sehen zu können -, bestätigte seinen Instinkt. Das Mädchen war eine Sparbüchse, die darauf wartete, geknackt zu werden.
Tabachnik und ein übel riechender Australier standen neben der Bühne, vor einer Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR REDRÜM-PERSONAL! Die meisten Kids im Redrüm waren da, um die Headliner zu sehen, Postfunk Jemimah, aber die Vorgruppe, die Taints, drohte ihnen die Schau zu stehlen. Es gab weder Slamdancing noch Crowdsurfing noch Stagediving – alle bewegten nur rhythmisch den Kopf im Beat des Schlagzeugs und starrten auf die Sängerin. Sie schlich in einem flaschengrünen metallisch wirkenden Netzminikleidchen über die Bühne, das so kurz war, dass Tabachnik immer wieder in die Knie ging und den Kopf schief legte, um festzustellen, ob ihre Unterwäsche zu sehen war. Ihre Unterwäsche war nicht zu sehen.
Als der Song zu Ende war, wandte sich Tabachnik an den Australier und fragte: »Wie heißt der?«
Der Australier hatte vor Kurzem ein unabhängiges Plattenlabel namens Loving Cup Records gegründet. Die Taints waren die erste Band, die er unter Vertrag hatte. Sein Schädel war kahl rasiert, und sein schwarzer Trainingsanzug stank nach Schweiß und Zigarettenrauch.
»Der ist gut, was? ›SadJoe-Song‹. SadJoe hat die Band gegründet.«
»Wer schreibt die Songs?«
»Molly«, sagte der Australier und deutete auf die Sängerin. »Molly Minx.«
Sie sah nicht aus wie eine Molly Minx. Tabachnik war nicht sicher, wie eine Molly Minx aussehen sollte, auf jeden Fall nicht so. Er vermutete, dass sie Thailänderin war. Ihr Haar war extrem kurz geschoren und blond gefärbt. Das Tattoo eines schwarzen Drachens schlang sich um ihr Handgelenk.
»Wie man hört«, fuhr der Australier fort, »soll sie sich wahnsinnig in SadJoe verknallt haben, und da schreibt sie diesen Song, und eines Abends singt sie ihn ihm vor. Mitten auf der Straße, ein Ständchen. Na ja, Sie wissen schon, die Liebe. Peng. Und er fordert sie auf, in seiner Band mitzumachen.«
Tabachnik hatte vor diesem Abend noch nie von dem Australier gehört, was bedeutete, dass der Australier im Musikgeschäft keine Rolle spielte. Egal, was für einen Vertrag Loving Cup Records mit der Band hatte, er konnte nichts taugen, mitten in der Nacht zusammengeschustert von einem Anwalt auf Koks, der die Zulassung im dritten Anlauf erhalten hatte. Zumindest war das Tabachniks Vermutung, und in derlei Dingen hatte er im Allgemeinen recht.
An Musikern Geld zu verdienen war so leicht, dass drittklassige Gauner aus der ganzen Welt glaubten, das auch zu können; sie schwärmten um untalentierte Bands herum wie dicke Hausfrauen um Spielautomaten, tranken billiges Bier und tauschten Gerüchte über riesige Gewinne aus. Drittklassige Gauner waren dazu verdammt, auf zweitklassige Gauner hereinzufallen – sofern sie nicht das Pech hatten, von einem echten Profi aufs Kreuz gelegt zu werden.
Nachdem die Taints ihren Auftritt beendet hatten, zog sich Tabachnik mit dem Australier in den VIP-Raum zurück. Er rechnete damit, dass der Mann sich einen Joint anzünden und ihm einen Zug anbieten würde; als das geschah, schüttelte Tabachnik den Kopf und trank wieder einen Schluck Mineralwasser.
»Schon kapiert«, sagte der Australier und lehnte sich auf dem Polstersofa zurück. Er zog an seinem Joint und behielt den Rauch so lange in der Lunge, dass man hätte meinen können, er habe das Ausatmen vergessen. Schließlich ließ er den Rauch durch die Nase austreten, zwei Schwaden, die kräuselnd zur Decke stiegen. Es war eine beeindruckende Darbietung, und Tabachnik wusste sie zu schätzen – Australier machten ständig solchen Scheiß -, aber sie war ohne Bedeutung. Er hatte nicht vor, mit Loving Cup Geschäfte zu machen, sofern es nicht unbedingt erforderlich war, was er zu diesem Zeitpunkt stark bezweifelte.
»Schon kapiert«, wiederholte der Australier. »Du willst einen klaren Kopf für die Verhandlungen behalten.«
»Welche Verhandlungen?«
Der Australier grinste verschlagen und begutachtete die Asche am Ende seines Joints. Er hatte Tabachnik seinen Namen genannt. Tabachnik vergaß nie einen Namen, aber für ihn war der Australier schlicht und einfach »der Australier«. Er war überzeugt, dass er selbst für den Australier schlicht und einfach »wichtiges Plattenlabel« war, aber irgendwann würde daraus »dieses Arschloch Tabachnik« werden.
»Okay«, sagte der Australier. »Schieß los.«
»Was meinst du?«
»Komm schon. Lassen wir die Spielchen. Du bist doch wegen der Band hier.«
»Ich verstehe nicht ganz. Hast du Postfunk Jemimah unter Vertrag?«
Der Australier blinzelte durch die Rauchschwaden. »Die Taints.«
»Worüber reden wir dann? Ich bin wegen Postfunk Jemimah hier.«
»Die Taints gefallen dir«, sagte der Australier und drohte mit dem Zeigefinger, als wäre Tabachnik ein unartiges Kind. »Ich hab doch gesehen, wie du das Publikum beobachtet hast. Und, willst du sie haben?«
»Wen?«
»Die Taints.«
Tabachnik lächelte seine Version eines Lächelns: die Lippen zusammengepresst, ein sichelförmiges Grübchen in der linken Wange. »Wir führen hier zwar ein Gespräch, aber wir kommunizieren nicht. Ich bin da, um mir Postfunk Jemimah anzuschauen.«
»Zu spät, Mann. Die haben bei Sphere einen Sechs-plus-eins unterschrieben.«
»Stimmt«, sagte Tabachnik und ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren. »Und wir sind dabei, Sphere zu kaufen.«
Der Australier riss den Mund auf, machte ihn zu, riss ihn wieder auf. »Ihr kauft Sphere? Erst vorgestern Abend hab ich Greenberg im VelVet getroffen. Er hat kein Wort davon gesagt.«
»Wer ist Greenberg?«
Der Australier lachte. »Der Präsident von Sphere.«
»Greenspon. Und er ist gesetzlich verpflichtet, Stillschweigen zu bewahren. Ich mache mich strafbar, wenn ich darüber spreche, aber« – Tabachnik deutete mit der freien Hand auf den leeren Raum – »ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Der Australier nickte feierlich und tat wieder einen langen Zug an seinem Joint. Tabachnik schätzte, dass er achtundvierzig Stunden benötigen würde, um das Mädchen zu kriegen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass dieses mickrige Label sein Interesse an der Sängerin witterte und sie an die Kette legte, ihren Vertrag umformulierte. Wenn das geschah, musste er Loving Cup eine Abfindung zahlen, und Tabachnik hasste es, Mittelsmänner zu bezahlen. Im großen Weltenplan machten die Musiker die Musik, und die Konsumenten kauften die Musik, und jeder dazwischen, Tabachnik eingeschlossen, war ein Mittelsmann. Aber Tabachnik glaubte nicht an den großen Weltenplan. Es gab bescheidene Pläne, und es gab grandiose Pläne, aber es gab keinen großen Weltenplan.
»Ich kann dich mit Heaney bekannt machen«, sagte der Australier, sich verzweifelt an einen Strohhalm klammernd. »Dem Manager von Postfunk Jemimah.«
»Ich weiß. Wir haben gestern Abend zusammen gegessen. Trotzdem danke.« Tabachnik lächelte wieder sein schmallippiges Lächeln. Sein Lächeln war immer schmallippig, weil Tabachnik bis vor wenigen Monaten eine Zahnspange getragen hatte. Er trug sie zwei Jahre lang, weil seine Zähne so schief geworden waren, dass er sich beim Essen jedes Mal die Lippen und die Wangen von innen blutig biss. Jetzt waren die Zähne gerade, die Klammern weg, aber er hatte sich antrainiert, mit geschlossenem Mund zu lächeln und zu lachen.
Eigentlich sollte er eine Zahnspange bekommen, als er zwölf war, wie jeder normale Amerikaner, aber seine Mutter und sein Vater, die sich im Jahr davor getrennt hatten, konnten sich nicht einigen, wer sie bezahlen sollte. »Dein einziger Sohn wird mal aussehen wie ein englischer Buchmacher«, sagte seine Mutter immer am Telefon, während sie eine Zigarette rauchte und Tabachnik winkte, wenn sie sah, dass er zuhörte. »Entschuldige mal, entschuldige mal, ich würde ja arbeiten, und weißt du auch, warum ich keinen Job habe? Weißt du eigentlich, wer in den letzten zwölf Jahren deinen Sohn großgezogen hat?«
Als das Geld für die Zahnregulierung dann endlich eintraf, teilte Tabachnik seiner Mutter mit, dass er keine Spange wolle. »Schätzchen«, sagte sie, »willst du dein Leben lang mit kreuz und quer stehenden Zähnen rumlaufen?«
Tabachnik fand das Gefeilsche um seine Zähne so demütigend, dass er sich weigerte, sie richten zu lassen. Er wollte nie wieder auf das Geld eines anderen angewiesen sein. Sein Studium an einem College in New Hampshire verdiente er sich im Büro für Alumni-Angelegenheiten, wo er Kopien anfertigte und Akten ablegte, bis er bessere Methoden herausfand, um zu Geld zu kommen. Er überredete den Besitzer des chinesischen Restaurants in der Stadt, ihn gegen zwanzig Prozent des Gewinns einen Lieferservice aufziehen zu lassen; er stellte Kommilitonen ein, die für Trinkgeld und kostenlose Mahlzeiten arbeiteten und Speisekarten in der Stadt verteilten. Tabachniks Rechnung ging auf, bis dem Restaurantbesitzer klar wurde, dass er Tabachnik nicht mehr brauchte. Diese Episode lehrte Tabachnik, wie wichtig ein guter Vertrag ist.
Er managte eine Band namens The Johns, eine Gruppe ortsansässiger Kids, die als Wachmänner und Sicherheitsleute am College arbeiteten. Die Johns waren immer ausverkauft, wenn sie in den Bars der Stadt auftraten, und Tabachnik fuhr mit ihnen zu einem Wettbewerb für junge Bands in Burlington, Vermont, wo sie Zweite hinter einer Gruppe namens Young Törless wurden. Young Törless nannte sich daraufhin Beating the Johns und landete einen Hit mit einem Remake eines alten Zombies-Songs. Tabachnik las zu diesem Zeitpunkt bereits die Variety, und er merkte, wie viel Geld Beating the Johns ihrem Label einbrachten, und er dachte, Herrgott, dabei sind die nicht mal gut. Und ihm wurde klar, dass Qualität keine Rolle spielt, und wem das erst einmal klar ist, dem gehört die Welt.
Als Postfunk Jemimah zu spielen begann, gingen Tabachnik und der Australier raus, um zuzuhören, und anschließend setzten sie sich mit der Band, ihrem Manager Heaney und den Taints auf einen Joint in das Privatbüro des Clubbesitzers. Den VVIP-Raum. Tabachnik war schon in Lokalen mit vier zunehmend exklusiveren Bereichen gewesen, wo die Herde an jeder Tür von mit Klemmbrettern bewaffneten Bodyguards, die die Lahmen abwiesen, gelichtet wurde. In einige dieser Räume war so schwer hineinzukommen, dass eine ganze Nacht vergehen konnte, ohne dass jemand Einlass fand. Leute, die noch nie abgewiesen worden waren, Leute, die Ablehnung nicht gewohnt waren, hünenhafte Basketballspieler und Dessous-Models mit einem Selbstbewusstsein so groß wie ihr Busen beschimpften dann den Rausschmeißer und beriefen sich auf ihre lebenslange Freundschaft mit dem Besitzer, und der Rausschmeißer nickte und sagte Nein. Tabachnik war kein VVVVIP, doch das störte ihn nicht. Er hatte den Verdacht, dass man, falls man jemals in den vierten Raum hineinkam, dort nur eine weitere geschlossene Tür vorfand, die zu einem noch kleineren Raum mit noch weniger Leuten führte, und dass, falls man den Rausschmeißer dazu bewegen konnte, einen durchzulassen, man in einen noch kleineren Raum gelangte, und dass das immer so weiterging, bis man sich zuletzt in einem Raum befand, der so eng war, dass man nur selbst hineinpasste, und dort würde der letzte Rausschmeißer, der kräftigste, brutalste von allen, dich angrinsen, die Fichtenholztür zuschlagen und dich in die Grube hinablassen.
Tabachnik bat Heaney um ein kurzes Gespräch im anderen Raum; sie drückten sich in eine Ecke des VIP-Raums mit einem V und ignorierten die Poser, die sie anglotzten und sich fragten, wer sie waren.
»Gratuliere«, sagte Tabachnik. »Wie ich höre, hast du bei Sphere unterschrieben.«
»Stimmt, denen werden wir auf immer und ewig gehören, aber das kann uns nur recht sein.«
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten …«
Als sie in den VVIP-Raum zurückkamen, stierte der Australier sie deprimiert an. Heaney sammelte seine Band ein, und alle zogen in gehobener Stimmung los, um im Kiev Piroggen zu essen. Tabachnik blieb, ebenso die Taints und der Australier, der mit der missmutigen Miene des Bedeutungslosen herumhing.
»Tja«, sagte der Australier und gab den Joint an SadJoe weiter, »nächstes Jahr im Budokan.«
Es gab weder Stühle noch Sofas im Raum, nur große rosa Sitzkissen. Alle fläzten sich in einem losen Kreis hin, und Tabachnik kam sich vor wie ein Elternteil, der in die Pyjamaparty seiner Kinder hineinplatzt. Nur Molly Minx saß mit geradem Rücken da, sehr aufrecht und korrekt. Ihre Beine lagen auf einem Kissen, und Tabachnik besah sie sich: Sie waren geformt wie Hühnerschlegel, kräftige Muskeln an den Schenkeln, schlank an den Fesseln. Sie trug Fußkettchen mit violetten Perlen und schwarze Slipper wie die, die Bruce Lee in seinen Filmen trug. Ihre Hände lagen gefaltet auf dem straffen Schoß ihres grünen Kleidchens; ihr Gesicht unter der gefärbten Stoppelfrisur war breit und gelassen. Thailänderin oder Filipina? Sie lächelte Tabachnik an, und er lächelte zurück, dachte bei sich, dass ein guter Fotograf sie wunderschön aussehen lassen könnte.
Der Gitarrist begann zu schnarchen. Der Bassist bastelte aus Streichhölzern kleine Soldaten; er hatte einen Stapel Redrüm-Zündholzbriefchen neben sich liegen und stellte seine Truppen auf dem grauen Teppichboden auf. Sie waren sehr gut gemacht, hatten winzige Speere und einen General auf einem Zündholzbriefchenpferd, und Tabachnik schaute zu und fragte sich, wann der Krieg beginnen würde.
SadJoe trug kein Hemd. Sein schwarzer Irokese war mit großen Schuppen gesprenkelt. Der Kopf eines Rottweilers war unbeholfen auf seinen Hals tätowiert, der Name Candy in grüner Schreibschrift unter dem Nietenhalsband des Hundes eingeritzt. Die Luft war stickig von Marihuanarauch und Körpergeruch. SadJoe zog zufrieden am Joint, bis Molly ihn mit dem Ellbogen anstieß.
»Andere wollen auch mal, Süßer.«
Er grunzte und gab ihr den Joint; sie rauchte und gab ihn an Tabachnik weiter; Tabachnik nahm einen Zug, behielt den Rauch kurz im Mund und atmete aus. Er gab den Joint an den Bassisten weiter und fragte den Schlagzeuger: »Wie bist du zu dem Namen SadJoe gekommen?«
SadJoe deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Revolver an und schob ihn sich in den Mund.
Molly sagte: »Er hat es satt, die Geschichte zu erzählen.«
Wenn man sich SadJoe nennt, dachte Tabachnik, sollte man auf ein bisschen Neugier gefasst sein.
»Ich erzähl’s ihm«, sagte der Australier. Das Weiße in seinen Augen war inzwischen überwiegend rot. Aus einem seiner Nasenlöcher rann ein Schleimfaden, und Tabachnik wollte schon etwas sagen, beschloss dann aber, es bleiben zu lassen.
»SadJoe ist in New Jersey aufgewachsen«, begann der Australier. »Wo noch mal?«
»In der Nähe von Elizabeth«, sagte SadJoe.
»In der Nähe von Elizabeth. Und in der Straße, in der er gewohnt hat, ich nehme mal an, es war ein ruhiger kleiner Ort, da haben alle Kinder zusammen gespielt. Football und so weiter.«
»Straßenhockey«, sagte SadJoe. »Straßenhockey war der große Hit. Ich war immer Torhüter. Der Torhüter ist der beste Sportler im Team.« Er gab Molly Minx einen Stups, und sie lächelte ihn an.
»Dann haben eben alle zusammen Straßenhockey gespielt. Das war noch, bevor aus SadJoe SadJoe wurde. Damals hieß er einfach Joe.«
»Einige haben mich Joey genannt.«
»Okay. Und dann zieht eine neue Familie mit einem kleinen Jungen ein. Dieser Junge war leider von Geburt an nicht ganz normal. Irgendwie anders halt, stimmt’s?«
»Er war ein Mongo«, sagte SadJoe. Molly warf ihm einen finsteren Blick zu, und SadJoe zuckte mit den Schultern. »Wie heißt das korrekte Wort für mongoloid?«
Alle sahen Tabachnik an. Sein Gesicht hatte etwas, das den Eindruck erweckte, als wisse er Dinge, mit denen sich sonst niemand befasste.
Er sagte: »Ein Junge mit Downsyndrom, nehme ich an.«
»Mon-go-lo-id », sagte SadJoe und sang Molly die Silben ins Ohr. »Mon-go-lo-id.«
»Aber ein liebes Kerlchen«, fuhr der Australier fort. »Hat immer gelächelt, immer gelacht.«
»Manchmal hat er mich auf den Mund geküsst«, sagte SadJoe und kratzte sich unter der Achsel. »Aber ich glaub nicht, dass er schwul war. Geistig Minderbemittelte können manchmal nicht zwischen Richtig und Falsch unterscheiden.«
»Herrgott«, sagte Molly.
»Jedenfalls«, sagte der Australier, »hieß dieser Junge Joe. Aber die Kids konnten ihn ja nicht Joe nennen, weil doch unser Freund hier schon so hieß. Also fingen sie an, ihn Happy Joe zu nennen.«
»Er war ein nettes Kind«, sagte SadJoe.
»Und wenn es«, schloss der Australier, »einen vergnügten Joe gibt, der Happy Joe genannt wird, dann wird aus dem anderen Joe irgendwann der traurige Joe, also Sad Joe.«
»Tata!«, sagte Molly und steckte sich einen neuen Joint an.
»Und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende«, sagte der Australier und blickte gierig auf das frische Dope.
»Nicht wirklich«, sagte SadJoe. »Happy Joe wurde von einem UPS-Laster überfahren.«
Alle starrten ihn an. Er seufzte und strich sich mit der offenen Hand über den harten Kamm seiner Irokesenfrisur. »Der erste Tote, den ich gesehen hab.«
»Das hast du mir noch nie erzählt«, sagte Molly stirnrunzelnd.
»Der Tod macht mich trübsinnig, Baby.«
Der Club schloss um vier Uhr morgens, doch Tabachnik und die Taints blieben bis fünf, als der Manager kam und ihnen mitteilte, dass jetzt zugesperrt wurde. Sie schlurften ins Freie und standen zitternd an der Straßenecke.
»Ich weiß, was wir jetzt machen«, sagte SadJoe. »In ein paar Minuten macht der Fischmarkt auf, drunten in der Fulton Street. Da gehen wir hin.«
»Warum?«, fragte Molly. Sie trug einen alten Pelzmantel. Einer der Ärmel hatte einen Riss, aber es schien ein echter Pelz zu sein.
»Weil dann der Fisch am frischesten ist«, erklärte ihr SadJoe.
Der Australier und der Bassist und der Gitarrist murmelten bekifft Verabschiedungen, hielten ein Taxi an und fuhren nach Brooklyn. Endlich, dachte Tabachnik.
»Falls ihr Lust auf einen Kaffee habt, würde ich gerne was mit euch besprechen.«
»Nee, ich geh lieber heim«, sagte SadJoe. »Der erste Zug fährt sicher bald.«
Molly sah Tabachnik an und dann SadJoe. »Vielleicht sollten wir doch einen Kaffee trinken.«
»Ohne mich, Baby. Entweder Fisch oder gar nichts.« Er hielt Tabachnik die Hand hin, und der schüttelte sie. Der Schlagzeuger hatte einen festen Griff. »Ein andermal, Kumpel.«
»Lad ihn doch zu deiner Party ein«, sagte Molly, die SadJoe noch immer vielsagend ansah.
SadJoe schaute sie an, zog die Augenbrauen hoch und zuckte dann mit den Schultern. »Ich geb morgen Nachmittag eine Party. Drüben in Jersey.«
»Wir können zusammen hingehen«, sagte Molly zu Tabachnik. »Die Adresse ist schwer zu finden.«
Tabachnik gab ihr eine Karte des Hotels, in dem er abgestiegen war, auf der oben bereits in ordentlichen eckigen Ziffern seine Zimmernummer vermerkt war. »Ruf mich an. Ich komme gerne mit.«
SadJoe kaute auf seiner Unterlippe herum und verfolgte das Ganze schweigend. Schließlich sagte er: »Sag mir noch mal deinen Namen, Mann.«
»Tabachnik.«
»Okay, alles klar. Wir sehen uns.«
SadJoe und Molly Minx gingen davon, und Tabachnik blickte ihnen nach. SadJoes schwere schwarze Stiefel schlugen gegen den Asphalt, und auf dem Rücken seiner alten Militärjacke standen verblasste Wörter in schwarzem Magic Marker.
Am nächsten Nachmittag holte Tabachnik Molly in der obskuren Boutique im East Village ab, wo sie arbeitete. Sie nahmen die Subway zur Penn Station. Tabachnik war seit Jahren nicht mehr Subway gefahren. Er sehnte sich danach, daheim in Los Angeles zu sein, wo angeblich Millionen von Menschen lebten, die man im Grunde aber nie sah. Er konnte eine halbe Stunde durch sein Viertel spazieren, auf breiten Gehwegen unter hohen Palmen, und nur einer alten Frau in gelben Hosen und einem kleinen Jungen mit Skateboard begegnen. Alle anderen waren irgendwo sicher weggesperrt.
Tabachnik und Molly Minx hielten sich an einer Metallstange fest, als die Bahn anfuhr und durch den Tunnel raste. Tabachnik trug schwarze Wollhosen, einen schwarzen Rollkragenpullover aus Kaschmir und einen bodenlangen schwarzen Mantel. Molly trug einen taubenblauen Catsuit mit einem Reißverschluss am Rücken. Der Winter war noch nicht vorbei, aber genau das trug sie. Ihr Slip war zwischen ihren Pobacken eingeklemmt. Alle Männer in Sichtweite hatten diesen Sachverhalt bemerkt. Ein alter Mann, der einen Kartoffelpuffer aß, starrte auf ihren Hintern, sah kurz zu Tabachnik hoch und starrte dann wieder auf ihren Hintern. Die anderen Männer gaben vor, nicht auf ihren Hintern zu starren, sondern nur im passenden Moment aufzublicken – beispielsweise wenn der Schaffner eine unverständliche Durchsage machte -, und starrten dann verstohlen auf ihren Hintern. Wenn Tabachnik sie dabei ertappte, blickten sie rasch weg, aber Tabachnik wollte, dass man auf ihren Hintern starrte. Er wollte, dass die ganze Welt scharf war auf Molly Minx.
An der Penn Station stiegen sie in den 16 Uhr 12 und setzten sich in den letzten Wagen. Tabachnik blätterte vier Musikmagazine durch, die er am Vormittag gekauft hatte. Molly spielte auf ihrem Handy herum.
Als der Zug aus dem Tunnel unter dem Hudson herausschoss, wirkte das blasse Sonnenlicht New Jerseys seltsam und feindselig. Sie rasten durch industriell genutztes Flachland, vorbei an Schornsteinen, die wie die Finger einer riesigen Hand zum Himmel zeigten. Als der Zug die Geschwindigkeit verringerte, sagte Molly: »Wir sind da«, und Tabachnik dachte, sie mache Witze. Hier lebten doch keine Menschen.
Sie gingen an ausgedehnten Chemiefabriken entlang, umgeben von Maschendrahtzäunen mit Stacheldraht obendrauf. Alle paar Meter waren Warnschilder angebracht. BETRETEN VERBOTEN. FIRMENGELÄNDE! UNBEFUGTE HABEN KEINEN ZUTRITT. Überall stank es nach Methan.
SadJoes Straße war eine ganz normale Vorstadtstraße – zwei parallele Reihen einstöckiger Häuser mit Aluminiumverkleidung -, außer dass es sich dabei um die einzige Wohngegend des ganzen Industriegebiets handelte. Vor jedem Haus lag ein gepflegter Rasen. Angeleinte Hunde knurrten. Tabachnik und Molly gingen unter den ausladenden Ästen blattloser Rotahorne weiter.
SadJoes Haus war das letzte in der Reihe. Hinten im Garten fand ein Barbecue statt. SadJoe stand am Grill, in der einen Hand eine Bierflasche, in der anderen eine Zange. Er trug schwarze Jogginghosen und kein Hemd, obwohl es weniger als zehn Grad hatte. Tabachnik fiel zum ersten Mal auf, dass SadJoes Brust und Arme mit dünnen blassen Narben übersät waren. Candy, die Rottweilerhündin, saß ihrem Herrchen zu Füßen. Wenn SadJoe ihr verbrannte Fleischbrocken zuwarf, fing der Hund sie in der Luft auf und leckte sich die schwarzen Lefzen.
Tabachnik folgte Molly zum Grill, sah zu, wie sie den Drummer auf den Mund küsste, sah zu, wie SadJoe mit der Flasche in der Hand über Mollys Hintern fuhr. Als sich die beiden voneinander lösten, nickte SadJoe Tabachnik zu und wedelte mit der Zange und der Bierflasche zum Zeichen, dass er ihm nicht die Hand schütteln konnte.
»Tja«, sagte SadJoe, den Blick auf die über den Kohlen brutzelnden Hamburger gerichtet, »willkommen in der Nachbarschaft.«
Dann herrschte langes Schweigen, bis Tabachnik auf die Narben an SadJoes Brust und Armen deutete. »Woher sind die?«
»Was?« SadJoe blickte an sich hinunter und musterte seine Haut. »Ach so. Rasierklingen.«
Tabachnik wartete auf Einzelheiten. Als er merkte, dass nichts mehr kam, fragte er: »Wieso hast du Rasierklingennarben auf der Brust?«
»Noch aus der Schulzeit. Wie willst du deinen Burger?«
Tabachnik schüttelte den Kopf und sagte, dass er bereits gegessen habe. In einer roten Plastikwanne mit Eis lag ein Bierfässchen. Auf einem Gartentisch mit einem schwarz-weiß karierten Tischtuch standen Schüsseln mit Kartoffelsalat und Krautsalat, Flaschen mit Cola und eine Schokoladentorte mit der Zahl »200 000!« in gelbem Zuckerguss. Die meisten Männer trugen Arbeitsstiefel, Bluejeans und karierte Flanellhemden. Sie standen grüppchenweise zusammen, tranken Bier aus Plastikbechern und riefen SadJoe zu, er solle ja nicht die verdammten Burger anbrennen lassen. SadJoe zeigte ihnen jedes Mal den Stinkefinger, und dann lachten die Männer und setzten ihr Gespräch fort. Die Frauen saßen am Gartentisch. Sie beobachteten Tabachnik und Molly und unterhielten sich leise.
Ein älterer Mann mit leuchtend blauen Augen unter buschigen weißen Augenbrauen saß bei den Frauen. Er trug ein Footballtrikot der Jets, auf dem hinten über der Zahl Zwölf der Name NAMATH prangte. Als er Molly sah, stand er auf und humpelte auf sie zu. Er küsste sie auf die Wange.
»Das ist SadJoes Vater«, erklärte sie Tabachnik. »Wir nennen ihn OldJoe.«
»Nicht wenn ich in der Nähe bin.«
OldJoe grinste und schüttelte Tabachnik die Hand. Sein Griff war so fest wie der seines Sohnes. »Holen Sie sich ein Bier, Sportsfreund. Ich schau mal kurz nach Joeys Mom.«
Er humpelte zum Haus, machte die Fliegentür auf und verschwand drinnen. Es begann dunkler zu werden. Jemand schaltete die Scheinwerfer ein, und die Leute aßen ihre Burger und tranken Bier und Cola, und Tabachnik fragte sich, ob er der Einzige war, der schier erfror. Schließlich war es die erste Märzwoche. Wer gab denn in der ersten Märzwoche ein Grillfest?
Nach dem Essen versammelten sich alle auf dem Rasen vor dem Haus. SadJoe und sein Vater und einige von SadJoes Freunden waren in die Garage gegangen. Ein Motor heulte auf, und die Leute auf dem Rasen jubelten.
Molly lächelte. »Darauf freut er sich schon seit drei Jahren.«
Ein schwarzer Ford Galaxie 500 kam aus der Garage gerollt, glänzte frisch gewachst im Scheinwerferlicht. Alle außer Tabachnik jauchzten vor Freude. SadJoe saß auf dem Fahrersitz, wo sein schwarzer Irokese das Dach des Wagens berührte. Sein Vater saß neben ihm. Vier weitere Männer hatten sich auf die Rückbank gequetscht. Alle Seitenfenster waren heruntergekurbelt, und aus den Lautsprechern des Wagens dröhnte ein Song, den Tabachnik wiedererkannte. Der »SadJoe-Song«.
SadJoe winkte seine Freunde zu sich ans Fenster, und einer nach dem anderen ging hin. Jeder beugte sich in den Innenraum, besah sich etwas am Armaturenbrett und schüttelte dann SadJoe die Hand. Als Molly an der Reihe war, beugte sie sich hinein und gab ihrem Freund einen langen Kuss, und die Leute begannen zu pfeifen und Schmatzgeräusche zu machen. Als sie sich aufrichtete, winkte sie Tabachnik. Tabachnik hatte keine Lust, sich in den Wagen zu beugen, und er nahm an, dass SadJoe auch nicht erpicht darauf war. Aber Molly lockte weiter mit dem gekrümmten Zeigefinger, und alle schienen zu warten, sich zu fragen, wer er war, und so ging Tabachnik zum Wagen und duckte sich, bis sein Kopf auf gleicher Höhe mit dem von SadJoe war.
SadJoe deutete auf den Meilenzähler. »Was steht denn da, Kumpel?«
Tabachnik schielte auf die Zahlen, weiß auf schwarzem Grund. »Neunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig.«
»Und neun Zehntel. Die ersten hunderttausend sind schon drauf. Gleich ist Meile Nummer zweihunderttausend fällig.«
»Toll«, sagte Tabachnik. Toll hörte sich blöd an, aber was hätte er sonst sagen sollen?
Er schüttelte SadJoe die Hand und trat zurück. SadJoe hängte sich mit dem Oberkörper aus dem Fenster und rief seinen versammelten Freunden zu: »Allen, die im Lauf der Jahre an diesem Wagen mitgeholfen haben, Gary und Sammy und Gino, vielen Dank. Vielen Dank, Lisa, für die Radkappen. Molly, danke für meinen Song. Mom, wenn du mich da drin hören kannst, danke, dass du dich nie beschwert hast, wenn ich Schlagzeug geübt habe. Und vor allem möchte ich meinem Dad dafür danken, dass er mir dieses Auto gekauft hat, als ich noch in der Highschool war, als es nur neunzigtausend Meilen auf dem Tacho hatte.«
Alle klatschten und pfiffen, und SadJoe legte den Gang ein und ließ den Galaxie auf die Straße rollen. Er bog nach links ab und fuhr ganz langsam weiter, und alle seine Freunde folgten ihm. Candy, der treue Vierbeiner, trottete neben dem Wagen her. Tabachnik bildete die Nachhut. Er warf einen Blick auf SadJoes Haus und sah eine alte Frau am Fenster stehen, die den Vorhang zurückgeschoben hatte und ihn festhielt. Sie verfolgte die würdevolle Triumphfahrt des Wagens. Sie sah viel älter aus als SadJoes Vater.
Auf halber Länge der Straße trat SadJoe auf die Bremse, drückte auf die Hupe und begann zu brüllen und wie wild die linke Faust zu schütteln, die er aus dem Fenster gestreckt hatte. Die vier Männer auf der Rückbank sprangen heraus und klatschten reihum alle ab, als hätten die Jets endlich wieder den Super Bowl gewonnen. Die Menge jubelte und begann a cappella den »SadJoe-Song« zu singen. Ein paar Jungs im Highschool-Alter schossen Feuerwerkskörper ab. Alle schauten den Raketen nach, die über der hell erleuchteten Straße in den dunklen Himmel rasten, höher und immer höher, dann in der Dunkelheit verschwanden, und immer noch schauten alle weiter nach oben, die Gesichter dem nächtlichen Himmel zugewandt, warteten darauf, dass die Raketen explodierten, dass sich funkelnde blaue Blüten öffneten und langsam herabsanken. Alle schauten eine volle Minute nach oben, bis feststand, dass die Raketen Blindgänger waren.
Auf der Bahnfahrt zurück nach Manhattan fragte Tabachnik Molly, ob sie SadJoe liebe. Er hatte nicht vorgehabt, ihr diese Frage zu stellen, und er hielt es auch nicht für besonders klug, aber er wollte es wissen.
Sie sah unverwandt zum Fenster hinaus. Sie sagte: »Nicht weit von da, wo er aufgewachsen ist, war anscheinend eine Shell-Tankstelle. Und er und seine Freunde hatten ein Gewehr, und ab und zu haben sie sich betrunken und das S kaputt geschossen. Um daraus »hell« wie Hölle zu machen. Und eine Woche später war immer ein neues S da, und SadJoe und seine Freunde sind hin und haben es wieder kaputt geschossen. Irgendwann wurden sie dann erwischt. Und der Richter hat gesagt, na ja, du bist zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, und hat SadJoe laufen lassen. Seine Freunde waren vorbestraft und wurden in die Jugendstrafanstalt gesteckt. Aber eine Woche später hat er das S wieder kaputt geschossen. Und er kam vor den gleichen Richter, und da hat SadJoe gesagt: ›Ich will zu meinen Freunden.‹«
Tabachnik nickte und studierte die Namen der Orte in New Jersey, die auf der Fahrkarte aufgelistet waren. Er glaubte die Geschichte nicht. Sie war zu romantisch, passte zu perfekt in den Lebenslauf eines rebellischen Punkrockers. Aber er dachte an die Straße, in der SadJoe aufgewachsen war, mit ihrem Stacheldraht und Methangestank, und er dachte an die Rasierklingennarben und an die Mutter hinter dem Fenster, mit dem zusammengerafften Vorhang in der Hand, und er dachte an die Freunde, die sich auf die Rückbank gezwängt hatten, um bei der zweihunderttausendsten Meile dabei zu sein, und er dachte, wenn einer das S auf dem Schild einer Shell-Tankstelle kaputt schießt, nur um mit seinen Kumpeln zusammen zu sein, dann SadJoe.
Tabachnik wollte Molly gegenüber nichts davon erwähnen, und so sagte er stattdessen: »Die Hölle sind die anderen.«
Molly wandte sich vom Fenster ab und sah ihn scharf an. »Wirklich?«
»Nein, ich meine, das ist ein Zitat. Das stammt nicht von mir.«
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sagte: »Das habe ich noch nie gehört.«
Tabachnik schaute zum Fenster hinaus, aber es war zu dunkel, um draußen etwas sehen zu können. Er sah nur sein eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte, und Mollys gesenkten Kopf und die leeren Sitze um sie herum.
Sie gingen in ein rund um die Uhr geöffnetes türkisches Restaurant in der Houston Street, tranken kleine Tässchen bitteren schwarzen Kaffees, aßen siruptriefende Baklava. Der Türke an der Registrierkasse hatte das Kreuzworträtsel der Daily News zwischen den Ellbogen auf dem Tresen liegen. Er kaute auf dem Radiergummi am Ende seines Bleistifts herum.
»Ich werde dich zum Star machen«, sagte Tabachnik zu Molly. Er lächelte nie, wenn er diese Worte sagte; er machte nie Witze damit. Er sagte den Satz ganz ruhig, sprach jede Silbe deutlich aus und blickte seinem Gegenüber dabei direkt in die Augen. Er wusste, dass alle Kids in Amerika nur darauf warteten, diese Worte zu hören, zumindest alle Kids, die ihm wichtig waren. Sie wollten ihm glauben. Sie brauchten es, ihm zu glauben.
Molly holte tief Luft. Sie lächelte und blickte hinunter auf ihre Finger, die die einzelnen Schichten des Gebäcks auseinanderzupften. Sie wirkte sehr jung, sehr schüchtern, ein errötender Backfisch beim ersten Rendezvous.
»Ich vögle auch so mit dir«, sagte sie. »Du musst mir nicht in den Arsch kriechen.«
Tabachnik nahm Blickkontakt mit dem Türken am Tresen auf. Der Türke grinste.
»Zahlen«, sagte Tabachnik.
Sie hatte ein kleines Zimmer in einer Wohnung in Alphabet City, die sie sich mit fünf weiteren Musikern und Schauspielern teilte. Sie führte Tabachnik an der Hand durch die düsteren Flure, vorbei an Stapeln schmutziger Wäsche, einem schlafenden Hund und einer Wasserpfeife, die umgekippt und ausgelaufen war.
Als sie in ihr Zimmer kamen, machte sie die Tür zu und schob den Schließriegel vor. Sie sah Tabachniks hochgezogene Augenbrauen und sagte: »Hier passieren merkwürdige Dinge. An Silvester wurde ein Typ niedergestochen.«
Tabachnik wollte keine Details hören. Er legte die Hand an ihre Wange und küsste sie auf den Mund, und sie schnallte seinen Gürtel auf und öffnete den Reißverschluss seiner Hose, und er dachte, Herrgott, wozu die Eile? Und dann wurde ihm bewusst, dass er sehr, sehr alt war. Bald war es so weit, dass er keine Ahnung mehr hatte, was die Kids im Radio hören wollten. A&R-Leute wurden nicht mit Würde alt – entweder stiegen sie auf oder sie wurden abgesägt. Tabachnik war gut, ein Mann für alle Jahreszeiten, aber er hatte nie den ganz großen Treffer gelandet. Er hatte nie eine Gruppe unter Vertrag genommen, aus der eine Supergruppe wurde wie Nirvana oder R. E. M. oder Pearl Jam. Die Männer, die Supergruppen unter Vertrag nahmen, waren nicht mehr A&R. Sie waren VVVVIPs.
Er zog den Reißverschluss an ihrem Catsuit auf. Ihre Haut war wunderschön, die Farbe einer Zimtstange, und rötete sich an den Stellen, die sein Mund berührte. Molly schälte sich aus dem Catsuit und stand nackt vor ihm, die Hände aus gespielter Scham vor ihr Geschlecht gelegt. Tabachnik küsste ihren Hals und ihre Brüste und ihren Bauch, ging tiefer und tiefer, bis er vor ihr kniete.
Hinterher lagen sie auf dem Rücken im Bett und hörten dem schlafenden Hund zu, der im Flur im Traum stöhnte.
»Ich möchte dich nach L. A. mitnehmen und drüben Demotapes mit dir machen.«
»Wir haben Demos«, sagte Molly und deutete auf einen schwarzen Gettoblaster, auf dem Musikkassetten aufgestapelt waren.
»Ich möchte professionelle Tapes. Wir können morgen rüberfliegen.«
»Was ist mit den anderen? Ich lasse die Band doch nicht einfach im Stich.«
Und ob du das tust, wollte Tabachnik sagen, aber stattdessen fuhr er mit dem Zeigefinger im Kreis um ihren Nippel herum und sagte: »Ich kann es mir nicht leisten, die ganze Band rüberzufliegen. Wir bringen dich rüber, machen dich mit einigen Leuten bekannt, lassen die anderen später nachkommen.«
»Das wird SadJoe nicht gefallen. Die Taints sind seine Band.«
»Pass mal auf, Molly, die Taints mögen zwar seine Band sein, aber du bist diejenige, die die Leute sehen wollen. Du bist diejenige, die die Songs schreibt. Ich habe die Kids beobachtet, die gestern Abend im Club gewesen sind, um euren Auftritt zu sehen. Und ich habe gesehen, auf wen sie geschaut haben, nämlich nur auf dich. Kein Mensch interessiert sich für den Schlagzeuger.«
»Ich interessiere mich für den Schlagzeuger.«
Tabachnik war seit zehn Jahren in dieser Branche, und er war zu der Überzeugung gelangt, dass Loyalität nur dann bestand, wenn es sich für alle Beteiligten lohnte. Er hatte noch nie eine Band erlebt, die er nicht zerschlagen konnte. Es bereitete ihm kein Vergnügen, eine Gruppe auseinanderzureißen, er war kein Sadist, aber er hatte auch keine Schuldgefühle. Alle glaubten, dazu bestimmt zu sein, ein Star zu werden, und waren sehr traurig, ihre Freunde zurückzulassen, aber sie kamen schnell darüber hinweg. Sie wussten, dass nicht jeder ein Star sein konnte.
Tabachnik sah Molly Minx an und merkte, dass sie ihn ansah. Sie wartete darauf, mehr zu hören. Sie würde Einwände erheben, aber nicht allzu vehement.
»Du bist die, die Talent hat«, erklärte er ihr. »Ich mag SadJoe, er ist ein anständiger Kerl, aber du bist diejenige, die Talent hat.«
»Ich weiß nicht mal, was Talent ist«, sagte sie. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch er hüllte sich in Schweigen; er wollte, dass sie sich etwas mehr Mühe gab. Sie hatte einen Song für den armen Kerl geschrieben, da konnte sie sich doch wenigstens ein bisschen für ihn einsetzen.
»Eigentlich glaube ich nicht so recht an Talent«, sagte sie schließlich.
Tabachnik glaubte an Talent. Eine Band, für die er sich interessierte, war in Atlanta als Vorgruppe von Buddy Guy aufgetreten, und Tabachnik war geblieben und hatte den Main Act des Abends erlebt, hatte Buddy Guy Gitarre spielen hören. Auf der Rückfahrt in sein Hotel hatte Tabachnik gedacht: So gut werde ich nie auf einem Gebiet sein. Das war nicht gerade weltbewegend – die meisten Menschen würden nie auf einem Gebiet so gut sein, wie Buddy Guy es an der Gitarre war. Es war traurig, sich eingestehen zu müssen, dass man zur großen Masse gehörte, aber es war auch nicht gerade weltbewegend.
Trotzdem verstand er, was Molly Minx meinte. Er versuchte ja nicht, sie wegen ihres Talents zu verpflichten; den Quatsch hatte sie gleich durchschaut. Er wollte sie, weil sich mit ihr Platten verkaufen ließen. Das bedeutete weder, dass sie talentiert war, noch dass sie untalentiert war. Talent war bei dieser Gleichung irrelevant.
»Hör zu«, sagte er zu ihr, »mir ist durchaus klar, dass ich dich in eine schwierige Situation bringe. Aber ganz so kompliziert ist die Sache auch wieder nicht. Komm mit nach L. A., und wir bringen dich groß raus.«
Sie blickte hinauf zu dem Batiktuch, das an die Decke genagelt war, und sagte nichts.
»Übrigens«, fügte er hinzu, »hast du zufällig eine Kopie deines Plattenvertrags da?«
»Ich glaube, schon. Warum?«
»Lass mich mal reinschauen.«
Sie verließ das Bett, und er setzte sich mit dem Rücken an das Kopfbrett und schaute zu, wie sie sich neben einer blauen Obstkiste hinhockte und in einer Sammelmappe mit Quittungen, Rechnungen und Zeugnissen kramte. Ihm gefiel ihre effiziente Körperhaltung. Sie sah aus, als könnte sie stundenlang so dahocken, eine Bäuerin, die Erbsen enthülst.
Als sie den Vertrag gefunden hatte, nahm er ihn ihr ab und las ihn aufmerksam durch. Er war auf einem Nadeldrucker gedruckt worden, dessen Farbband schon den Geist aufgab. Nur eine Seite. Der braune Ring einer Kaffeetasse rahmte die Unterschriften exakt ein. Tabachnik seufzte. Die Menschen waren so dumm, dass er sich über ihre Dummheit nicht mehr freuen konnte.
»Wie ist dein richtiger Name, Molly?«
»Jennifer.« Sie saß auf der Bettkante und beobachtete ihn.
»Dein voller Name.«
»Jennifer Serenity Prajadhikop.«
»Woher bist du?«
»Aus Toronto.«
»Wirklich? Okay. Serenity. Das ist gut. Wir werden Molly Minx in Rente schicken müssen.«
Er faltete den Vertrag zusammen und gab ihn ihr zurück. Sie fächelte sich damit zu und sagte: »Ich habe nichts dagegen. Ich habe den Namen sowieso allmählich satt. Ich bin schon seit der Highschool Molly Minx.«
Am nächsten Tag ging er mit ihr Mittag essen und anschließend in das New Yorker Büro der Plattenfirma. Die Empfangsdame saß hinter einem hufeisenförmigen Tresen, der mit schwarzem Granit verkleidet war. Hinter ihr blickten fast sieben Meter hohe Fenster hinaus auf den Hudson.
»Guten Tag, Mr Tabachnik. Guten Tag, Serenity.«
Molly sah die Frau blinzelnd an, wie um sie irgendwo unterzubringen, vielleicht in der Schulzeit, und dann sagte sie »Hey!«, und zupfte Tabachnik am Jackenärmel. »Die kennen mich ja schon!«
Er führte sie in einen Konferenzraum, wo er sie allein ließ und sie staunend die Platinschallplatten an der Wand und die riesigen Fotos von grinsenden Sängern betrachtete. Aus einem unbenutzten Büro rief er Steinhardt an, den Präsidenten der Plattenfirma, und wartete, bis man ihn durchstellte.
»Tabachnik? Wie steht’s mit der Kleinen?«
»Wir haben sie. Die Gauner haben die Gruppe einen Zwei-plus-eins unterschreiben lassen, aber das Mädchen erscheint im Vertrag und in der Unterschrift mit ihrem Künstlernamen.«
»Ha, kolossal! Aber sie könnten uns wegen Verstoß gegen Treu und Glauben verklagen.«
»Ich habe Lefschaum schon eine Kopie gefaxt. Die können uns nichts anhaben.«
»Scheiß auf Treu und Glauben. Bringen Sie sie her. Setzen Sie ihren Namen auf einen Sechs-plus-eins, und dann wollen wir die Kleine mal glücklich machen.«
»Sie hat sich übrigens als Kanadierin entpuppt.«
»Aha«, sagte Steinhardt. »Jeder entpuppt sich irgendwann als Kanadier.«
Tabachnik wusste nicht, was er damit meinte. Wenn man der Boss ist, kann man unverständliches Zeug reden, und alle nicken, als wäre soeben Konfuzius wiedergeboren und hätte die Erleuchtung gebracht.
»Wie geht’s Ihrer Frau?«
»Lenis?«, fragte Steinhardt, als wäre das Wort Frau zu unbestimmt. »Sie ist mit den Hunden übers Wochenende in Montana. Ich muss los, alter Knabe. Übrigens, gute Arbeit. Sie sind mein Ass.«
Tabachnik legte den Hörer auf und blickte hinaus auf den Hudson. Ein Ausflugsdampfer schob sich Richtung Norden durch das graue Wasser. Touristen drängten sich an der Steuerbordreling und fotografierten die Skyline von Manhattan. Tabachnik winkte. Blitzlichter blitzten auf, unsinnigerweise, und Tabachnik winkte mit beiden Händen, obwohl er wusste, dass er auf keinem der Schnappschüsse zu sehen sein würde.
Nichts ging schief. Er flog mit Molly Minx zurück nach L. A. Sie fing an, sich mit Serenity vorzustellen – »Einfach Serenity«, pflegte sie zu sagen -, aber für ihn war sie weiterhin Molly Minx. Er veranlasste, dass ein Mädchen aus der Firma mit ihr in der Melrose einkaufen ging, und am Abend führte sie ihm ihre neuen Klamotten vor. Er sagte ihr, dass sie in Vinyl gut aussah, und sie sagte: »Sind meine Brüste zu klein?«
Er fand, dass dies wahrscheinlich zutraf, aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Nicht für mich.«